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Leseprobe

Huntington

Der Kuss des Herzogs

Kajsa Arnold

Huntington

Der Kuss des Herzogs

Kajsa Arnold

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Danksagung

Leseprobe Kajsa Arnold schreibt als Elaine Rosefield im Cumedio Verlag

Kapitel 1

Hyde Park

London, 1837

Wie der Wind fegte Sweet Lady über den Rasen. Mähne und Schweif des Pferdes wehten unkontrolliert hin und her. Es kam Dawn vor, als würde sie über den Boden fliegen. Tief hing sie über den Kopf des Tieres gebeugt, um den Widerstand so gering wie möglich zu halten. Sie musste sich beeilen. Sie durfte auf keinen Fall zu spät kommen. Ein Menschenleben hing davon ab, ein Leben, das ihr lieb und teuer war.

Sie musste ihn retten. Raven – ihren jüngeren Bruder. Keine Ahnung, wie er es wieder einmal geschafft hatte, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Auch wenn er nur ihr Halbbruder war, den ihr Vater niemals anerkennen würde, so war er doch ihr Bruder, den sie über alles liebte.

Es war nicht das erste Mal, dass Dawn ihn aus einer brenzligen Situation retten musste. Als Jugendlicher war er in einen Brunnen gefallen und sie hatte ihn mit einem Seil dort herausziehen müssen. Was wirklich kein leichtes Unterfangen gewesen war. Dann hatte sie vor einem Jahr seine Spielschulden begleichen müssen, damit die Schläger von ihm abließen, die man geschickt hatte, um das Geld einzutreiben. Doch nun hatte er es wirklich auf die Spitze getrieben.

Ein Duell im Morgengrauen!

Das allein war schon schlimm genug. Wenn ihr Vater davon erfuhr, würde er Raven niemals als seinen leiblichen Sohn und Erben anerkennen. Aber ein Duell mit dem gefährlichsten Mann von ganz London würde ihren Vater umbringen. Und Raven vermutlich auch. Also musste Dawn tun, was getan werden musste. In erster Linie das Leben ihres Bruders retten und vor allem den guten Ruf ihrer Familie bewahren.

Sie ritt, so schnell sie konnte, immer den Tod ihres Bruders vor Augen. Seine Mutter war gestorben, als er drei Jahre alt gewesen war. Sie war eine Schneiderin gewesen und die Cholera hatte sie hingerafft. Ihr Vater hatte ihn ins Haus aufgenommen und Dawns Mutter hatte ihn so lieb gewonnen wie einen eigenen Sohn. Nach Dawn war sie nicht mehr schwanger geworden und Raven war der Sohn, den sie ihrem Mann niemals hatte schenken können, denn seine Ehefrau war vor sieben Jahren ebenfalls verstorben. Dennoch weigerte sich der Viscount Woodstock bis heute, Raven als seinen leiblichen Sohn anzuerkennen, und dies würde bald weitreichende Folgen haben, wenn sie es nicht schaffte, pünktlich die Lichtung zu erreichen.

Nebel waberte an diesem frühen Morgen über den Feldern, an denen sie vorbeiritt. Es war kühl und ihr Cape wärmte sie nur unzulänglich. Sie hatte sich allein ankleiden müssen und auf ein Korsett verzichtet. Dawn hoffte, dass ihr Aufzug das verbarg. Aber sie hatte nicht gewollt, dass jemand vom Personal Wind davon bekam, dass sie zu so unchristlicher Zeit das Haus verließ.

Unterwegs hatte sie ihre Reitkappe verloren, sodass sie die Kapuze des Capes über ihren Kopf zog.

Sie ritt zum westlichen Ende des Hyde Parks. Kurz vor der Grenze zu den Kensington Gardens, am Bugden Hill, sah sie eine kleine Gruppe von Männern stehen, die sich zu so früher Stunde dort eingefunden hatten. Zwei der Männer liefen in entgegengesetzter Richtung los, ihre Pistolen im Anschlag.

»Halt!«, rief sie laut, doch ihre Stimme verklang ungehört in der Stille des Morgens. Dawn trieb Sweet Lady an. Sie durfte nicht zu spät kommen. »Halt! Aufhören!«, schrie sie und sah, wie die Männer sich umdrehten und aufeinander zielten.

Ihr blieb keine andere Wahl. Sie erkannte Raven von hinten, ritt auf ihn zu. Als ihr Pferd scheute und mit den Vorderhufen aufstieg, drehte Raven sich um, trat erschrocken zur Seite und dabei löste sich ein Schuss.

Ein weiterer Schuss hallte mit einem ohrenbetäubenden Knall durch den Morgen und riss Dawn vom Pferd. Unsanft kam sie auf dem Boden auf und es presste jegliche Luft aus ihren Lungen. Der Schmerz ließ sie schwindeln und ihr schwarz vor Augen werden. Ihr wurde bewusst, dass sie die Besinnung verlieren würde.

Nein, das durfte nicht geschehen. Sie hatte doch eine wichtige Aufgabe zu erledigen.

»Ich muss … mit dem Duke of Huntington sprechen«, flüsterte sie, dann glitt sie ins Reich der Träume und Dunkelheit legte sich über sie. So hatte sie sich das nicht vorgestellt.

»Dawn!« Raven Woodstock war in Sekundenschnelle wieder auf den Beinen, nachdem ein Pferd ihn fast über den Haufen getrappelt hätte. »Oh mein Gott, Dawn! Was machst du hier?«

Finnegan Maxfield, Duke of Huntington, beobachtete die Szene aus einiger Entfernung, als wäre es ein verschwommenes Bild aus einem Traum. Er schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können.

»Verflucht!«, murmelte er und schritt auf die Menge zu, die sich um die Person geschart hatte, die vom Pferd gefallen war. Er reichte seine Pistole an seinen Adjutanten weiter. »Balian, verwahre sie für mich. Was ist denn da los?«

Er lief mit großen Schritten über den Rasen, versuchte, aufrecht eine gerade Linie zu schreiten, um den Eindruck zu erwecken, dass er nüchtern war, was ganz und gar nicht der Wahrheit entsprach. Er hatte heute Nacht eindeutig zu viel getrunken. So viel, dass er sich von einem Jungspund hatte provozieren und zum Duell fordern lassen.

»Was ist hier los? Wer ist das?«, bellte er und sah, als die Männer die Sicht freigaben, eine Frau auf dem Boden liegen.

»Sie haben sie angeschossen, Sie verfluchter Bastard, Huntington!«, schrie Woodstock laut.

Allein für diesen Satz hätte er erneut Satisfaktion verlangt, wenn hier nicht eine Frau zu seinen Füßen läge.

»Schnell! Wo bleibt der Arzt?«, rief Finnegan aufgebracht und sah sich um.

Ein Mann mit einer Arzttasche bahnte sich den Weg. »Zur Seite, Männer«, brummte der Doktor und kniete sich neben die Frau. Er schob das Cape zur Seite und der Blick auf ihr Gesicht wurde freigegeben. Er konnte ihre Züge nicht genau erkennen, weil ihr offenes brünettes Haar ihm die Sicht versperrte.

»Wer ist das?«, fragte Finnegan erneut.

»Meine Schwester!«, schrie Raven wie von Sinnen. »Und gnade Ihnen Gott, wenn sie das nicht überlebt!«

»Beruhigen Sie sich, junger Mann. Es ist nur ein Streifschuss am Oberarm. Die Lady kommt wieder zu Bewusstsein«, verkündete der Doktor und half der Frau in eine sitzende Position. »Wie geht es Ihnen, Lady?«, fragte er nach und zog ihren Umhang von der Schulter, um den Arm zu begutachten.

»Ich muss mit Huntington sprechen«, murmelte sie benommen.

»Wir wollen Sie erst einmal verarzten.« Der Doktor öffnete seine Tasche.

»Nein, jetzt nicht«, wehrte sie ab und reichte ihrem Bruder die Hand, damit er sie auf die Füße zog. Suchend sah sie sich um, bis ihr Blick an Finnegan hängen blieb. »Sind Sie der Duke of Huntington?«, fragte sie in seine Richtung.

»Finnegan Maxfield, Duke of Huntington. Zu Ihren Diensten, Mylady.«

»Ich muss mit Ihnen sprechen«, erklärte sie atemlos und wollte weitersprechen, doch Finnegan hob die Hand und brachte sie so zum Schweigen. Der Arzt drückte ihr Mull auf die Wunde, um die Blutung zu stoppen.

»Mylady, aber ich denke, doch nicht hier.« Er sah sich um. Mehr als zehn Männer standen als Zeugen im Halbkreis herum. »Da meine verirrte Kugel Sie getroffen hat, biete ich Ihnen an, Sie in meiner Kutsche zu meinem Haus zu begleiten.«

»Auf keinen Fall allein«, mischte Raven sich ein.

»Der Doktor wird uns begleiten, um Ihre Wunde zu versorgen.« Er sah auf das Rinnsal Blut, das ihren Arm hinunterlief.

Finnegan blickte den Arzt fragend an, der zustimmend nickte.

»Sie wird ganz bestimmt nicht mit Ihnen gehen«, rief Raven aufgebracht, sodass sein Adjutant Eskil Hardy, Baron of Cavendish, ihn zurückhalten musste.

»Halt dich da raus«, erklärte Dawn und deutete mit dem Finger auf Raven. »Fahr nach Hause. Du hast für heute schon genug angerichtet. Ich will nichts mehr von dir hören.« Sie sprach mit ihm, als wäre sie seine Mutter oder Gouvernante.

»Gehen Sie, Woodstock, die Show hier ist vorbei. Sie hatten Ihre Genugtuung.« Finnegan stemmte die Hände in die Hüften, blickte die Männer an. »Bitte gehen Sie alle. Das Duell ist unentschieden geendet. Es gibt hier nichts weiter zu sehen.«

»Ich werde Dawn nicht Ihrer Obhut überlassen.«

Woodstock wollte einfach keine Ruhe geben. Er hatte ebenfalls zu tief ins Glas geschaut. Viel zu tief.

»Raven, es reicht. Reite nach Hause und warte dort auf mich.« Dawn machte einen Schritt auf Finnegan zu. »Wo steht Ihre Kutsche, Euer Gnaden?«, fragte sie hoheitsvoll und nahm den Arm, den der Doktor ihr anbot. Sie presste die Lippen aufeinander. Sie musste Schmerzen haben, wollte sie aber nicht zeigen, das sah man ihr an. Sie stützte sich auf den Arm des älteren Mannes, während Finnegan ihr das Cape über die Schultern hing. Er war feucht und beschmutzt, dennoch würde er sie wärmen an diesem frühen Morgen, an dem der feuchte Frühnebel sie mit seinen eisigen Klauen umfing.

Diese Frau hatte Wagemut, das musste er ihr lassen. Sie war couragiert und schön. Zwei Attribute, die man selten in einer Person fand.

Kapitel 2

Portman Square

London, 1837

Sorgfältig wusch sich Doktor Storkes die Hände in der Waschschüssel. Der Duke of Huntington hatte Dawn ein Gästezimmer in seinem Londoner Stadthaus zur Verfügung gestellt, das ganz in der Nähe des Hyde Parks lag.

»Sie sollten den Verband einmal am Tag wechseln, damit sich die Wunde nicht entzündet.«

»Ich werde darauf achten«, erklärte Dawn. Der Schuss hatte ihren Oberarm gestreift und eine Wunde hinterlassen, die zwar nicht genäht werden musste, trotzdem wie die Hölle brannte.

»Es war sehr unvorsichtig von Ihnen, Lady Dawn, so zwischen die Fronten zu reiten.« Storkes sah sie strafend an.

»Ich musste das tun. Es war der einzige Weg, um dieses Duell zu beenden.«

»Nun, das ist Ihnen auf jeden Fall gelungen, Mylady.«

Der Doktor schloss seine Arzttasche und öffnete die Tür. Davor stand der Duke of Huntington und spähte vorsichtig ins Zimmer.

»Sie wird es überleben, Euer Gnaden«, sagte Storkes und verbeugte sich.

»Schicken Sie mir die Rechnung«, forderte Huntington und betrat den Raum, ließ die Tür offen. Ein Dienstmädchen betrat geschwind das Zimmer, um die Waschschüssel abzuholen, und verschwand genauso schnell wieder.

Huntington räusperte sich verlegen. Er war hochgewachsen und wesentlich jünger, als Dawn es vermutet hatte. Sie hatte bisher nur Gerüchte über ihn gehört. Dass ihm Frauen reihenweise zu Füßen lagen, er sein Vergnügen mit ihnen suchte, aber niemals einer sein Herz schenkte. Bis es zu einem Skandal gekommen war, der ihn vor einigen Jahren aufs Land verschlagen hatte.

»Lady Dawn, ich denke, wir sollten in den Salon wechseln. Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?«

»Ein Kaffee wäre mir lieber«, erklärte sie selbstbewusst und richtete den Ärmel. »Das Kleid ist ruiniert«, murmelte sie und zog das Cape über, das in kaum besserem Zustand war.

»Ich werde Ihnen das Kleid ersetzen«, erklärte Huntington und deutete ihr an, voranzugehen. An der Treppe ins Erdgeschoss bot er ihr den Arm, damit sie nicht hinunterstürzte und sich noch den Hals brach.

»Glauben Sie wirklich, dass es mir um das Geld geht, Euer Gnaden?«, fragte sie freiheraus und sah sich neugierig in dem Salon um, in den er sie führte.

Er war üppig mit Blumen ausgestattet. In großen Vasen waren wunderschöne Sträuße drapiert. Besonders die Lilien und Chrysanthemen stachen hervor. Die Sitzmöbel waren mit hellgrüner Seide bezogen, die sich in den Vorhängen an den Fenstern wiederfand. Dieser Raum trug eindeutig die Handschrift einer Frau.

»Ein wahrlich schöner Raum.«

»Danke. Er wurde von meiner Mutter eingerichtet und seitdem nicht verändert.« Der Herzog deutete auf ein Sofa und orderte bei seinem Butler zwei Tassen Kaffee.

Galant ließ Dawn sich nieder, ordnete ihr Kleid samt Umhang und wartete ab, bis der Kaffee serviert wurde.

»Danke, Norton, wir brauchen Sie nicht mehr.«

Der Butler verließ mit einer Verbeugung das Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich.

»Also, Lady Dawn, was führt Sie dazu, mitten in ein Duell zu reiten und Ihr Leben aufs Spiel zu setzen?«, fragte Huntington und nahm einen Schluck Kaffee, schloss für einen kurzen Moment die Augen, als würde er die Wärme des Getränks genießen.

Als seine Augen sie wieder musterten, beschlich Dawn eine Angst, ob sie sich mit ihrem Anliegen wirklich an diesen Mann wenden konnte. Er hatte sich in einem lederbezogenen Sessel niedergelassen und sah sie aufmerksam an. Seine sanften braunen Augen ruhten auf ihr, warteten in Ruhe ab, bis Dawn sich gesammelt hatte und genug Mut aufbrachte, ihr Anliegen vorzutragen. Das Weiß seiner Augen war gerötet und sie vermutete, dass auch er, wie Raven, zu viel getrunken hatte. Allerdings sprach er ruhig und deutlich. Er vertrug wohl mehr als Raven.

»Ich musste das Leben meines Bruders retten. Meines Halbbruders«, führte sie ergänzend aus.

»Raven Woodstock ist also Ihr Bruder«, hakte er ein.

Dawn nickte. »Und genau das ist das Dilemma. Mein Vater, der Viscount Woodstock, ist nicht bereit, Raven als seinen legitimen Sohn anzuerkennen, obwohl er fast sein ganzes Leben bei uns verbracht hat und mit mir aufgewachsen ist.«

»Was daran ist das Problem?«

Dawn beugte sich vor, griff nach der Tasse und wärmte sich ihre kalten Finger daran. »Das Problem ist, dass mein Cousin den Titel und die Güter erben wird, sollte mein Vater das Zeitliche segnen. Es geht ihm gesundheitlich nicht gut. Mein Cousin, Lord Worsley, ist ein Widerling und würde das Erbe innerhalb eines Jahres durchbringen. Er ist ein Spieler und Lebemann. Niemand, dem das Wohl der Familie am Herzen liegt. Raven und ich würden verarmen und aus dem Haus geworfen werden. Ein wahrlich grauenhafter Gedanke.« Sie trank schnell einen Schluck.

»Lancelot Worsley ist Ihr Cousin? Kein Wunder, dass Sie nicht möchten, dass er das Erbe Ihres Vaters antritt. Er ist wahrlich kein angenehmer Zeitgenosse. Ich habe üble Dinge über ihn gehört und zum Glück bisher noch nicht seine Bekanntschaft gemacht.«

»Das sagt man von Ihnen ebenfalls«, erklärte Dawn und zog eine Augenbraue in die Höhe. »Nun, mein Vater ist blind hinsichtlich der Taten von Baron Worsley, und was mich betrifft, so zwingt er mich …« Sie hielt inne. Wollte sie das wirklich alles vor dem Duke of Huntington ausbreiten?

»Zu was zwingt er Sie?«, fragte er nach, scheinbar neugierig geworden.

Dawn drückte ihren Rücken durch, straffte den Körper. Es war nicht einfach, das in Worte zu fassen. Besonders nicht, wenn man es einem völlig Fremden erzählen musste. »Er will mich an einen Mann verschachern, der mehr als dreißig Jahre älter ist, als ich es bin. Dazu steht dieser Mann in dem Ruf, widerwärtig zu sein. Er soll seine letzte Frau in den Tod getrieben haben.«

»Sie sprechen nicht zufällig vom Marquess of Richmond?« Ein feines Lächeln zeigte sich auf dem Gesicht des Herzogs. »Ich kenne den Mann und kann nur bestätigen, was Sie sagen. Er ist ein widerlicher alter Kerl, der es auf Jungfrauen abgesehen hat.«

Überrascht blickte Dawn ihn an. »Ja, das ist er«, gab sie zu.

»Er ist also an Ihnen interessiert«, schlussfolgerte er.

»Aber ich nicht an ihm. Eher gehe ich ins Wasser. Doch wenn ich ihn nicht heirate, wird Raven nicht zu seinem Erbrecht kommen. Wie Sie sehen, befinde ich mich in einer verzwickten Lage. Mein Vater will Raven nur anerkennen, wenn ich den Marquess heirate.«

Mit völlig ruhiger Hand stellte er die Tasse auf dem Tisch ab. »Aber ich sehe immer noch nicht den Zusammenhang, warum Sie das Duell gestört haben.«

»Euer Gnaden, wir wissen beide, dass mein Bruder ein Dummkopf ist. Wenn er sein Leben verliert, wird Baron Worsley alles erben und damit alles vernichten. Ich musste das tun. Würden Sie meine Entschuldigung im Namen meines Bruders annehmen? Er ist noch ein Jungspund, weiß nicht, was er redet, besonders wenn er zu tief ins Glas geschaut hat. Ich bitte Sie inständig, verschonen Sie sein Leben. Wir wissen beide, dass Sie der bessere Schütze sind.«

Huntington schmunzelte. »Nun, wenn man bedenkt, dass ich Sie getroffen habe, kann ich Ihnen da nicht zustimmen. Aber unter den gegebenen Umständen wurde der Satisfaktion Genüge getan. Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Mylady.«

Sie nickte ihm erleichtert zu. »Das ist aber nicht alles, Euer Gnaden, um das ich Sie bitte.«

Er lachte leise. »Mylady, ich glaube, Sie wissen nicht um meinen Stand in der Gesellschaft Londons.«

Dawn hob die Hand. »Oh doch, Ihr Ruf ist mir bekannt, und genau deshalb wende ich mich an Sie.« Ihr Blick wanderte unruhig umher, weil sie es nicht wagte, Huntington in die Augen zu sehen. Es war einfach zu peinlich, aber was hatte sie für eine Wahl.

Keine.

»Nun, es gibt Gerüchte, dass Sie viele Frauen … also, ich meine … man nennt Sie einen Frauenhelden, und da dachte ich …« Oh Gott, es war verdammt schwer, ihre Bitte in Worte zu fassen.

»Lady Dawn, ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen.« Er blickte sie unverständlich an.

»Gerade weil Sie diesen gewissen Ruf haben, meine ich, es wird Ihnen nichts ausmachen, wenn wir, also Sie und ich … wenn Sie aus mir keine Jungfrau mehr machen.«

Himmel, was redete sie da für einen Unsinn. Aber ihr fehlten einfach die passenden Worte.

Überrascht sah Huntington sie an und war für einen Augenblick tatsächlich sprachlos.

Finnegan blickte Dawn an und fragte sich, ob er sie richtig verstanden hatte. Oder hatte er doch zu viel getrunken und sich ihre Worte nur eingebildet? Dass ihre Wangen feuerrot glühten, war zumindest ein Indiz dafür, dass er sich nicht verhört hatte. Verlegen räusperte er sich. »Also, Mylady, nur um klarzustellen, ob ich es richtig vernommen habe. Sie möchten, dass ich mit Ihnen das Bett teile?«, fragte er in klaren Worten nach.

Dawn senkte den Kopf, mied seinen Blick. Es war ihr peinlich, unverkennbar.

Langsam erhob er sich und ließ sich auf dem Sofa neben ihr nieder. Sie blickte ihn an und sah dabei aus wie ein verwundetes Tier.

»Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben«, erklärte er sanft.

»Das habe ich nicht, Mylord.«

»Aber finden Sie es nicht ein wenig übertrieben? Ihre Bitte scheint mir doch ein wenig einschneidend.«

Sie seufzte leise. »Ich habe keine andere Wahl, wenn ich das Erbe meiner Familie erhalten will. Mein Vater scheint langsam den Verstand zu verlieren und steht unter dem Einfluss meines Cousins. Ich kann wenig ausmachen. Eine Heirat mit Lord Richmond ist für mich undenkbar. Wenn er erfährt, dass ich keine Jungfrau mehr bin, wird er mich niemals zur Frau nehmen wollen. Lieber werde ich ein Leben als unverheiratete Frau leben und als Gouvernante mein Dasein fristen, als solch einem Mann zu gehören.«

Ihre Stimme klang fest und sie schien genau zu wissen, was sie wollte.

»Sie haben einen gewissen Ruf, Mylord, und scheinbar wird es Ihnen nichts ausmachen, dass wir … nun, einmal dürfte doch kein Problem sein. Ich möchte Sie daran erinnern, dass Sie mir etwas schuldig sind.«

Sie deutete auf ihre Wunde am Oberarm und blickte ihn dann direkt an. Ihm fiel dieses auffällige Grün auf. Sie hatte wunderschöne Augen. Auch wenn man sie nicht auf den ersten Blick als wunderschön bezeichnen würde, Dawn Woodstock hatte etwas an sich, das ihn interessierte. Ob es Selbstsicherheit, Stolz oder Mut war, konnte er nicht sagen. Aber was es auch war, es imponierte ihm und machte ihn neugierig.

»Sie werden verstehen, dass ich diese Entscheidung nicht sofort treffen kann. Wie viel Zeit haben wir?«

Abrupt erhob sie sich und brachte ein wenig Abstand zwischen sich und ihn. »Leider nicht sehr viel, Euer Gnaden. Trotzdem kam ich verstehen, dass Sie das nicht ohne Bedenkzeit entscheiden wollen. Ich überlasse es Ihnen und werde auf Ihre Antwort warten. Ich muss mich nun entschuldigen, ich bin schon viel zu lange in Ihrem Haus. Raven wird ungeduldig auf mich warten, und wenn ich ihn länger warten lasse, wird er noch hier auftauchen.«

Finnegan erhob sich ebenfalls. »Ich werde über Ihre Bitte nachdenken, Mylady. Mein Kutscher wird Sie nach Hause fahren.« Er schritt voran und rief nach Norton, der sie hinausbegleitete.

Kapitel 3

Knightsbridge

London, 1837

Leider konnte Dawn sich nicht ganz so heimlich ins Haus schleichen, wie sie es hinaus geschafft hatte. Mittlerweile war es fast neun Uhr morgens und die Stadt war auf den Beinen. Sie betrat das Haus durch den Haupteingang und traf direkt in der Halle auf ihren Bruder.

»Dawn, wie geht es dir?« Er hatte auf sie gewartet.

»Ich habe Schmerzen«, erklärte sie so leise wie möglich.

»Warum hast du das getan?« Raven schüttelte unverständlich den Kopf.

»Sollte ich etwa dabei zusehen, wie man dich erschießt?«, zischte Dawn. »Du kannst froh sein, dass Lancelot es mir überhaupt erzählt hat.«

Wie auf Kommando betrat ihr Cousin die Halle. Er kam aus dem Speisezimmer. »Dawn! Wie schön, Sie lebend zu sehen«, erklärte Lancelot Worsley. Er trug den Titel eines Barons und erwartete, dass Dawn ihn förmlich anredete, obwohl er gerade mal drei Jahre älter war als sie. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, ihr nach seinem nächtlichen Streifzug davon zu berichten, dass Raven sich einem Duell hatte stellen müssen. Nun war er, ganz entgegen seinem üblichen Verhalten, bereits auf den Beinen. Oder immer noch? Bekanntlich schlief er bis tief in den Mittag hinein.

»Lord Worsley, hatten Sie gehofft, dass ich erschossen werde?«, fragte sie spitz. »Haben Sie mir deshalb von dem Duell erzählt?«

Er hielt das für einen Scherz und lachte. »Nun, man kann nie wissen.«

»Ich muss Sie enttäuschen. Ich bin noch sehr lebendig.«

»Ihr Vater erwartet Sie in der Bibliothek. Lord Richmond ist bei ihm.« Er grinste süffisant.

Das Herz tat Dawn weh. Im Augenblick war es ihr gar nicht recht, diesem Mann unter die Augen zu treten. Was machte er zu dieser Zeit schon hier im Haus?

»Ich muss mich herrichten«, erklärte sie knapp und wollte die breite Treppe ins Obergeschoss hinaufgehen, doch Worsley stellte sich ihr in den Weg.

»Er will Sie sofort sprechen.«

Sein Ton ließ keinen Widerspruch zu und Dawn fügte sich.

Wütend machte sie auf dem Absatz kehrt, warf ihrem Bruder noch einen finsteren Blick zu und lief die Halle entlang. Sie klopfte an die Tür und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten. Die Szene, die sich ihr bot, kannte sie zur Genüge. Der Marquess und ihr Vater saßen bei einem Glas Brandy vor dem Kamin, obwohl es früher Morgen war.

»Da bist du ja! Komm herein, Dawn, und begrüße unseren Gast.« Ihr Vater winkte ihr zu. Er war betrunken, das erkannte sie sofort. Seine Bewegungen waren langsam, seine Augen blutunterlaufen.

Nur zögerlich trat sie zwei Schritte näher. »Lord Richmond«, erklärte sie leise. Diese beiden Wörter kamen ihr kaum über die Lippen, ohne dass ihr übel wurde.

»Lady Dawn! Wie immer eine Augenweide«, rief Richmond und sah sie an, als wäre sie ein saftiges Stück Fleisch. Er leckte sich über die Unterlippe. Er hatte die fünfzig bereits weit überschritten und war wie üblich ganz in Schwarz gekleidet. Es gab ihm das Aussehen des Teufels, der er wohl war.

»Darf ich mich entfernen, Vater? Ich leide unter Kopfschmerzen.« Sie rieb sich die Schläfen.

»Nein. Der Marquess ist hergekommen, um mit mir einen Termin für eure Hochzeit festzulegen.« Ihr Vater lächelte zufrieden.

Diese Nachricht traf sie wie ein Schlag. Hochzeit? Seit wann waren sie schon so weit?

»Ich denke, dafür scheint es noch ein wenig früh, lieber Vater. Der Marquess hat noch nicht einmal um mich geworben.«

Es war ein Versuch, etwas Zeit zu gewinnen.

Viscount Woodstock lachte auf, als hätte Dawn einen Witz gemacht. »Das wird wohl kaum notwendig sein, Kind. Richmond und ich sind uns einig. Du wirst ihn heiraten, schon in zwei Wochen. Der Marquess hat eine Sondergenehmigung erwirkt.«

Für Dawn fühlte es sich an, als würde ein Fallbeil auf ihren Hals zurasen.

»Sieh zu, dass bis dahin alles vorbereitet ist. Die Hochzeit wird hier im Haus stattfinden.« Ihr Vater warf ihr einen warnenden Blick zu, der ihr riet, besser nichts zu erwidern.

»Ich freue mich schon sehr auf diesen Tag, Mylady«, sagte Richmond und der Klang seiner Stimme ließ Dawn frösteln. Er erhob sich und trat auf sie zu. Im Gegensatz zu ihrem

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Kajsa Arnold
Bildmaterialien: ielanum - Getty Images
Cover: Andrea Wölk
Tag der Veröffentlichung: 31.08.2022
ISBN: 978-3-7554-1987-7

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