Kajsa Arnold
9 Worte Liebe
Rhys by night
9. Teil
9 WORTE LIEBE
RHYS BY NIGHT
KAJSA ARNOLD
Deutsche Erstveröffentlichung
Copyright © 2023 Kajsa Arnold
Alle Rechte vorbehalten
Nachdruck, auch auszugsweise, nicht gestattet
1. Auflage
Covergestaltung: Andrea Wölk
Foto Copyright: Cat back G - Adobe Stock
Tresjoli, Lutherstr. 16, 46414 Rhede
www.kajsa-arnold.de
INHALT
Zitat
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Danksagung
Bücher von Kajsa Arnold
Leseprobe Corporate Raider
Leseprobe Huntington
ZITAT
Das einzige Wichtige im Leben
sind die Spuren der Liebe,
die wir hinterlassen, wenn wir gehen.
(Albert Schweizer)
1
Ich stehe an dem Grab meines besten Freundes und fühle mich, als hätte man mir das Herz herausgerissen. Ich kann mir keinen Augenblick vorstellen, an dem Matt mich jemals im Stich gelassen hat. Und nun bin ich für seinen Tod verantwortlich. Auch wenn ich ihn nicht persönlich getötet habe, trage ich dies auf meinen Schultern. Alle Menschen in meinem Dunstkreis scheinen zu sterben. Es ist, als würde ich eine Spur von Leichen hinter mir herziehen. Das muss endlich ein Ende haben. Ich blicke zu Jazman, deren Augen gerötet sind. Sie hat eine Menge Tränen vergossen. Tränen, zu denen ich nicht fähig bin. Sie hat sie an meiner statt vergossen. Ich bin dem Menschen, der für mich ins Gefängnis gegangen ist, mehr schuldig, als nur ein paar Tränen. Ich schulde ihm mein Leben. Niemals werde ich Matt das zurückgeben können, was ich ihm schuldig bin.
»Rhys, wir sollten gehen.« Jaz sieht mich traurig an. Ihr Haar ist feucht. Es hat vor einigen Minuten zu regnen begonnen. Das Schicksal führt Regie und schafft die richtige Umgebung für diesen Moment der Trauer. Es kommt mir vor, als würde ich einen Film sehen, als würde ich von außen dieser Szene beiwohnen. Als wäre ich kein Teil von ihr, sondern nur ein Zaungast.
»Rhys? Geht es dir gut?«
Ich erwache aus meiner Trance. »Ja … ja natürlich. Du bist ja ganz nass. Komm, wir fahren nach Hause.« Ich nehme ihren Arm und führe sie zu meinem Wagen. Den Wagen, den Matt immer für mich gefahren hat. Er war nicht nur mein Fahrer, er war mehr. Mein Bodyguard, mein Beschützer, mein Vertrauter, mein Geschäftspartner und das Wichtigste – er war mein Freund. Ich wende meinen Kopf, blicke noch einmal zurück zu dem Grab in dem Matt jetzt liegt, nachdem Jaz auf dem Rücksitz platzgenommen hat. »Mach`s gut mein Freund«, murmele ich und dann steige ich zu ihr. Ich will hier weg, habe es eilig, denn ich habe einen Auftrag. Ich werde den Mörder meines Freundes finden und zur Strecke bringen, selbst wenn es das Letzte ist, was ich tue. Ich bin mir sicher, wer Matt auf dem Gewissen hat, der hat auch unsere Kinder entführt. Doch vorher muss ich etwas tun, was mir freie Hand gewährt und dafür brauche ich Hilfe.
»Fahren Sie uns ins Appartement, John«, gebe ich die Anweisung an meinen neuen Bodyguard und er nickt mir über den Spiegel zu.
Als wir dort ankommen, legt Jazman sich hin, weil sie Ruhe braucht. Das alles hat sie schwer mitgenommen. Sie hat Matt genauso geliebt, wie ich ihn. Sein Tod hat mir die Augen geöffnet. Es muss etwas geschehen, so können wir nicht weitermachen.
* * *
John und sein Geschäftspartner Walter warten bereits im Meetingraum. Vor ihnen steht eine Tasse Kaffee, die Janice, meine Assistentin ihnen gebracht hat. Auch für mich bringt sie eine Tasse herein.
»Danke Janice. Bitte keine Störungen.«
Sie nickt mir zu und schließt die Tür hinter sich. Sie gehörte wie viele andere Personen meiner Firma, die an der Beerdigung von Matt teilgenommen haben, zu dem Kreis, die für Matt mehr waren, als nur Arbeitskollegen. Ich habe ihnen allen für den Rest des Tages freigegeben, doch Janice lässt es sich nicht nehmen, im Büro Stellung zu beziehen, weil sie weiß, dass es eine Menge zu tun gibt.
Ich setze mich zu den Männern an den Tisch.
»Das ist gehörig in die Hose gegangen«, nimmt Walter das Gespräch auf. »Wir sollten …«
Ich hebe die Hand und bringe ihn so zum Schweigen. »Bevor wir weitere Überlegungen anstellen, will ich, dass wir Jazman aus der Schusslinie bringen. Jetzt, wo sie schwanger ist, muss sie von hier fort. Das ist das Wichtigste, ich will nicht noch einen geliebten Menschen verlieren. Matt war wie ein Bruder für mich. Er gehörte für mich zu meiner Familie, ich habe ihm mein Leben anvertraut und er hat seines für mich geopfert. Es hat genug Tote gegeben«, erkläre ich und schaue beide Männer abwechselnd an.
Walter nickt mir zu. »Aber wo wollen wir sie unterbringen? Ich denke nicht, dass sie damit einverstanden sein wird.«
Das denke ich auch. »Das ist mir egal. Sie darf jetzt nicht nur an sich denken. Wir müssen sie überzeugen, dass wir sie außer Landes schaffen müssen. Es reicht nicht, wenn wir sie nach Los Angeles oder Hawaii bringen. Sie muss ganz verschwinden. Ich meine damit eine ganz neue Identität. Können Sie das veranlassen, Walter?«
»Eine neue Identität? Das ist eine meiner Spezialitäten. Wo wollen wir sie hinbringen?«
»Ich habe einen Freund in Paris, der dort eine Galerie betreibt. Ich habe ihn kontaktiert und gebeten, Jaz als neue Angestellte aufzunehmen. Wir werden ihr erklären, dass es eine Spur der Kinder gibt, die dorthin führt und sie für uns Undercover arbeiten soll. Ich hasse es, meine Frau zu belügen, doch sie wird sonst nicht gehen wollen. Das Risiko ist mir zu groß. Ich will nicht, dass sie am Ende noch das Kind verliert. In Paris ist sie so weit entfernt, um in die Schusslinie zu geraten. Was halten Sie von der Idee?« Ich blicke die Männer fragend an.
John nickt. »Im Grunde eine gute Idee, doch Jazman ist schlau. Glauben Sie nicht, dass sie Sie durchschauen wird?«
»Nicht, wenn ich überzeugend genug bin.«
»Jazman wird Sie durchschauen, Rhys, machen Sie sich nichts vor. Ihre Frau ist zu klug und will ihre Kinder zurück. Sie ist wie eine Löwin.«
Ich nicke, weil Walter Recht hat.
»Sie sollten es mit der Wahrheit versuchen, Rhys, sonst wird Ihnen die Sache um die Ohren fliegen«, schlägt John vor. »Ihre Frau wird es verstehen und vielleicht ist sie auch dankbar, hier herauszukommen. Sie haben Recht, sie muss an das neue Leben denken, das in ihr wächst. Das sind Argumente, denen Jazman nichts entgegenzusetzen hat. Wir werden die Öffentlichkeit davon überzeugen müssen, dass Ihrer Frau etwas zugestoßen ist.«
»Wir können sie doch nicht wieder mit einem Flugzeug abstürzen lassen?«, rufe ich aufgebracht.
»Warum nicht? Es hat bereits ein erstes Mal geklappt. Vielleicht bringt das die Entführer dazu, aus dem Loch zu kriechen, wo sie sich versteckt halten. Grace Rafter kann nicht allein gehandelt haben. Sie ist tot, ihr Bruder ebenfalls. Es muss also jemanden geben, der Ihnen Böses will, Rhys. Jemand aus ihrem alten Leben. Wenn Jazman uns durch ihr Verschwinden damit helfen kann, wird sie dazu bereit sein.« John sieht mich herausfordernd an.
Verdammt, er hat Recht. Seit wann kennt er meine Frau besser als ich? Ich lächele milde. »Das ist eine gute Idee. Muss ich mir Sorgen machen?«
John grinst. »Ich bin eben ein Frauenversteher«, erklärt er und verbirgt sein Lächeln hinter der Kaffeetasse.
Walter legt die Hände gefaltet auf dem Tisch ab. »Gut, Sie kümmern sich um Jazman. John und ich werden uns um die Kinder kümmern. Wir haben sie gesehen, das heißt, sie sind am Leben, was ein gutes Zeichen ist. Doch sie sind während der Schießerei verschwunden. Das stützt Johns Theorie, dass Rafter einen Komplizen haben muss, und es sind nicht diese beiden Polizisten. Sie geben sich nicht mit Kleinkindern ab. Es muss jemanden geben, der eine riesige Wut auf Sie hegt.« Walter sieht mich eindringlich ein.
Ich schüttele den Kopf, weil mir niemand auf Anhieb einfällt. »Natürlich habe ich einigen Leuten ans Bein gepinkelt, ihnen gute Geschäfte vor der Nase weggeschnappt, aber es ist niemand darunter, der so weit gehen würde«, überlege ich laut.
»Doch den gibt es und es ist unsere Aufgabe, diesen Jemand zu finden, dann finden wir auch die Kinder.« Walter lässt nicht locker.
»Was ist mit dem FBI?«, will ich wissen.
»Das halten wir als Ass im Ärmel. Diese Bürokraten handeln langsam. Was Sie wollen, Rhys, ist ein schnelles Ergebnis. Die Spur der Kinder ist heiß, wenn wir in einem Monat immer noch kein Ergebnis haben, werden wir uns an die Behörden wenden. Aber bis dahin bitten wir noch um Ihr Vertrauen.« Walter blickte John an, der zustimmend nickt.
Ich klopfe mit den Knöcheln auf den Tisch. »Okay, meine Herren. Tun Sie, was Sie tun müssen. Ich werde jetzt mit Jazman reden.«
2
Gil hätte sofort die Treppe nehmen sollen. Der bescheuerte Aufzug ist mal wieder stecken geblieben und der verzweifelte Ruf einer Frau hallt durch das Treppenhaus. Er nimmt zwei Stufen auf einmal Richtung Erdgeschoss aus der fünften Etage und stellt fest, dass der Fahrstuhl zwischen dem ersten und zweiten Stock festhängt. Da dieser ein Relikt aus den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts ist, besteht er lediglich aus einem Stahlgestell, wie es in den nostalgischen Häusern in Paris üblich ist.
»Zum Glück, endlich lässt sich jemand blicken!«, stöhnt die junge Frau, die im Aufzug feststeckt. »Ich bin hier schon seit einer Viertelstunde gefangen. Können Sie mir bitte helfen?«
Überlegend bleibt Gil Bruel stehen. Marianne wird ihn steinigen, wenn er sie versetzt, und er will sie nicht verärgern, dafür ist sie einfach zu gut im Bett. »Tut mir leid, ich sage dem Concierge Bescheid, ich will zu meinem Termin nicht zu spät kommen.« Mit einem bedauernden Schulterzucken will er weitereilen, aber ehe er auch nur einen Schritt machen kann, bremst sie ihn aus.
»Hey!«
Der Befehlston der Fremden passt so gar nicht zu ihrem hübschen Äußeren und lässt ihn innehalten.
Sie trägt ein gerahmtes Bild bei sich, das sie rasch auf dem Boden abstellt, um mit ihren Händen an der Gittertür zu rütteln. Sie ist jung, hübsch und vermutlich Malerin oder Kunststudentin.
»In welchen Stock wollen Sie?« Jetzt ist Gil neugierig.
»In die fünfte Etage.«
Das dachte er sich. Nervös fährt er sich durch sein Haar. Die Uhr tickt und er verliert immer mehr Zeit. »Sie sind hier falsch. Sie suchen vermutlich die Galerie. Die ist in der Rue du Louvre, hier haben wir nur unser Büro.« Dann läuft er weiter.
»Oh shit! Sie lassen mich wirklich hier hängen! Ist das zu fassen?«, ruft sie laut und in ihrer Wut kann sie ihren amerikanischen Akzent, den sie vorher ein wenig überspielt hat, nicht mehr unterdrücken.
Unten angekommen informiert Gil den Hausmeister, dass der Aufzug mal wieder streikt und eine hübsche junge Frau darin feststeckt.
Gil hofft, Éric Berteloot, dem Chefgaleristen, gefallen ihre Werke, dann ergibt sich vielleicht eine Gelegenheit, sie auf einer Vernissage unter etwas entspannteren Bedingungen wiederzusehen. Sie ist wirklich hübsch und wäre einen zweiten Blick wert gewesen, doch ihm fehlt dafür die Zeit.
Er läuft zu seinem Q7 und sieht, dass ihn jemand in zweiter Reihe zugeparkt hat. Na klasse! Verdammt, jetzt kommt er wirklich zu spät. Marianne hat nur eine Stunde Mittagspause, das ist ziemlich knapp, um es ihr richtig zu besorgen.
Den Concierge findet er im Treppenhaus, bei dem feststeckenden Aufzug. »Victor, mein Wagen wurde zugeparkt. Finden Sie diesen Idioten und sehen Sie zu, dass er seinen Kleinwagen wegfährt. Ich bin in einer Stunde wieder zurück.«
»Sprechen Sie von dem kleinen silbernen Smart?« Die junge Frau im Aufzug wendet sich ihm neugierig zu.
»Ja.« Gil ist ungeduldig und ihm steht nicht der Sinn nach Konversation.
»Das ist mein Wagen. Da Sie es ja vorziehen, mich hier sitzen zu lassen, freue ich mich, dass ich mich bei Ihnen revanchieren kann.« Sie zeigt auf die Gitterstäbe ihres Gefängnisses.
Gil findet sie ziemlich frech, aber das gefällt ihm. »Dann gehört der Smart also Ihnen? Parkt man in den USA so?«, ruft er und ist schon wieder auf dem Weg nach unten.
Er läuft die wenigen Meter bis zum Taxistand und schaltet sein Mobilgerät aus. Ungeplante Anrufe seitens seines Vaters kann er jetzt nicht gebrauchen. Er kann nämlich die Uhr danach stellen, dass sein Vater immer in den Momenten anruft, in denen er lieber ungestört ist. Meistens, wenn er tief in einer seiner zahllosen Freundinnen steckt.
Als Gil endlich bei Marianne ankommt, ist sie verstimmt, dass er sich so verspätet hat. Er versucht sie mit schmeichelnden Worten zu beruhigen und die Situation zu erklären, doch sie hört ihm gar nicht zu. Als sie endlich im Bett landen, ist er schon nicht mehr hart und sämtliche Bemühungen von Marianne, ihn wieder anzutörnen, misslingen. Immer wieder sieht er ein Gesicht vor sich, das in einem Aufzug gefangen ist.
»Was ist los mit dir?«, keift Marianne los. »Hast du eine andere? Du kannst doch sonst immer!«
»Ich bin schließlich keine Maschine, was denkst du von mir?«
»Ich denke, dass wir einfach nicht mehr so gut zusammenpassen wie früher.« Sie schält sich aus dem Bett und zieht sich wieder an. Marianne ist sehr schlank, mit kleinen Brüsten, die ihre Figur schon fast knabenhaft wirken lassen, was Gil persönlich gar nicht so gut gefällt. Er mag lieber Frauen, die einen schönen runden Körper haben. »Ich muss zurück zur Arbeit«, sagt sie patzig.
»Ich weiß nicht, wann ich das nächste Mal Zeit habe. Warte nicht auf meinen Anruf«, meint Gil und zieht sich ebenfalls an. Bevor sie überhaupt etwas sagen kann, hat er die Tür bereits hinter sich zugezogen.
Für den Rückweg nimmt er sich Zeit. Das Wetter ist schön, er schlendert die Champs-Élysées entlang, biege dann in die Avenue Matignon, um von dort in die Avenue Gabriel zu laufen, in der sein Büro liegt. Schon merkwürdig, dass es in einer Straße liegt, die seinen Namen trägt. Immer, wenn er das Straßenschild sieht, muss er grinsen. Fügung des Schicksals.
Am Gebäude angekommen, einer alten Villa aus Sandstein, lässt er den vermutlich immer noch defekten Aufzug links liegen, läuft lieber gleich die Treppen hinauf. Anscheinend wurde die hübsche Malerin mittlerweile befreit, denn der Aufzug steckt nicht mehr zwischen den Etagen fest.
Kaum betritt er das Büro, ruft sein Vater nach ihm. Das Lächeln auf Gabriels Gesicht stirbt einen schnellen Tod. Der Ton von Luc Bruel kann nichts Gutes bedeuten.
»Gil, kommst du bitte in mein Büro?«
Er scheint sich zu beherrschen, klingt auf eine unnatürliche Art distanziert freundlich, das kann nur bedeuten, dass er Besuch hat.
Seine Bürotür steht halb offen und beim Eintreten sieht Gil die Mademoiselle aus dem Fahrstuhl dort sitzen.
»Gil, darf ich dir Reese Sturgess vorstellen? Mademoiselle Sturgess, das ist mein Sohn, Gabriel Bruel, mit dem Sie ab sofort zusammenarbeiten werden.«
Diese Mitteilung lässt Gil in seiner Bewegung, ihr die Hand zu reichen, kurz innehalten, dann hat er sich wieder im Griff. Sie trägt einen klassischen Hosenanzug, unter dem er aber einen scharfen Körper erahnen kann. Das brünette Haar fällt ihr in weichen Wellen über die Schulter und ihre Augen haben einen seltsamen Glanz. Obwohl sie nicht blond ist, fällt sie genau in sein Beuteschema und er ist wirklich von ihr beeindruckt.
»Mademoiselle Sturgess? Das ist aber kein französischer Name?«
»Nein, ich bin Amerikanerin und gerade erst in Paris angekommen«, sagt sie und erwidert seinen Händedruck kräftig.
»Oh, eine Amerikanerin in Paris, ich hoffe, Sie haben Ihren Schirm dabei«, versucht er zu Scherzen, und denkt an die Filmszene mit Gene Kelly.
»Nein, und ich glaube, ein Schraubenzieher und ein Lehrbuch über Benehmen wären sinnvoller gewesen.«
»Autsch.« Das war dann wohl die verbale Backpfeife dafür, dass er sie im Fahrstuhl hat hängen lassen. Mittlerweile bereut Gil es sogar. Sie zu befreien, wäre mit Sicherheit wesentlich unterhaltsamer gewesen, als es sein Streit mit Marianne war.
Sein Vater wohnt dem Schauspiel sprachlos bei, schaut staunend von einem zum anderen.
»Ihr kennt euch?«, fragt er überrascht.
Reese schüttelt den Kopf. »Nein, nicht wirklich.«
Gil sieht das Bild an der Wand lehnen und geht neugierig darauf zu. »Sie sind also Malerin? Ich freue mich, wenn wir demnächst eine Vernissage für Sie ausrichten dürfen.«
»Nein«, klärt sein Vater ihn auf, »Mademoiselle Sturgess ist keine Malerin. Sie ist Galeristin und wird in Zukunft zusammen mit dir das Unternehmen leiten.«
3
Sonnyboy ist es anzumerken, dass diese Information für ihn neu ist. Scheinbar hat Luc Bruel über seinen Kopf hinweg entschieden, ihm jemanden zur Seite zu stellen, der ihn auf Kurs bringt. Immerhin war bisher von Gabriel Bruel, außer in den Klatschspalten der Illustrierten, nicht viel zu hören oder zu sehen. Ich soll das jetzt ändern und kann mir ein Lächeln nicht verkneifen, als ich seinen entsetzten Gesichtsausdruck sehe. Irgendwie fühlt es sich wie die Rache dafür an, dass er meine missliche Lage im Fahrstuhl ignoriert hat.
»Luc, darf ich dich einen Augenblick in meinem Büro sprechen?« Gabriel, dessen Spitzname Gil mir ausgesprochen gut gefällt, obwohl mir die Abkürzung total fremd ist, schaut seinen Vater eindringlich an.
Zu meiner Verwunderung schüttelt Monsieur Bruel den Kopf. »Nein, ich wüsste nicht, warum. Mademoiselle Sturgess wird ab sofort in alles eingeweiht, also besteht kein Grund, warum wir nicht offen vor ihr sprechen können.«
»Bitte nennen Sie mich doch Reese, das vereinfacht die Sache ungemein«, biete ich den beiden Männern an.
»Gern, meine Liebe. Also, Reese, mein Sohn wird Ihnen jetzt erst mal Ihr Büro zeigen und dann unsere Galerie. Danach wird er Sie in die Wohnung fahren. Ich bin mir sicher, Paris wird Ihnen gefallen, Reese. Ich werde mich so schnell wie möglich um eine eigene Wohnung für Sie bemühen.«
Luc Bruel strahlt so viel Zuversicht aus, dass ich ihm nicht widersprechen kann. Gabriel scheint das wohl ganz anders zu sehen, sein Gesichtsausdruck ist nicht gerade freundlich. Dabei würde ihm ein Lächeln wirklich gutstehen. Er ist schlank, groß, mindestens einen Meter fünfundachtzig, hat schwarze Haare, die ihm leicht zerzaust in der Stirn hängen. Er ist sehr stilvoll gekleidet mit einem taillierten grauen Anzug, weißem Hemd mit offenem Kragen und einem modischen Leinenschal. Doch am eindrucksvollsten sind seine grünen Augen. Sie gleichen nichts zuvor Gesehenem. Weder oft beschriebenem Flaschengrün noch Smaragden, weder dem Meer noch grünen Inseln. Sie ähneln eher dem Gefieder eines exotischen Vogels, dem eines Kolibris. Dunkelgrün schimmernd, mit gelben Schattierungen durchsetzt. Nur ein wahrer Künstler würde diese Farbe auf Leinwand bannen können. Ausgesprochen ungewöhnlich und das weiß er wohl auch.
»Woher kennst du Mademoiselle Sturgess?«, fragt Gabriel seinen Vater.
»Ein guter Freund aus New York, Rhys Cunningham, hat sie mir empfohlen und den Kontakt hergestellt.«
»Wo wird Mademoiselle Sturgess wohnen?«
Ich registriere, dass Gabriel meinen Vornamen wohl nicht gebrauchen will.
»Was für eine Frage … bis wir eine Wohnung für sie gefunden haben, wird sie bei dir wohnen, du hast mehr Zimmer, als du nutzen kannst.«
Dem fassungslosen Gesichtsausdruck von Gabriel Bruel nach zu urteilen, muss man mir wohl eine ansteckende Krankheit ansehen, von der ich nichts ahne.
»Bei mir?«, fragt er entgeistert nach, als wäre sein Vater nicht mehr ganz zurechnungsfähig.
»Du hast doch oft Gäste die für längere Zeit bei dir übernachten, also was stört dich daran?«
»Ich ... also, ich weiß auch nicht. Ich denke, Mademoiselle Sturgess möchte etwas mehr Privatsphäre.«
»Sie soll ja auch nicht in deinem Zimmer schlafen, sondern in einem der acht anderen.«
Ich erhebe mich. »Können wir?«, frage ich an Gabriel gewandt und schnappe mein Bild, das immer noch an der Wand lehnt.
* * *
Ich öffne meine Augen, als ich ein Gewicht spüre, das sich zu mir auf das Bett setzt. »Hi Darling, hast du gut geschlafen?«
Rhys sieht mich liebevoll an. »Ja«, sage ich und nicke. Ich brauche einige Sekunden, bis mein Blick klar wird, ich richtig denken kann. Dann stürzt wieder alles auf mich ein.
Matt ist tot!
Die Kinder leben, aber wir wissen nicht, wo sie sind. Mein Kopf beginnt sich schon wieder zu drehen. Ich kann nicht aufhören damit, mir wird schon wieder schwindlig und ich lehne mich zurück.
Rhys nimmt meine Hand in seine, sieht mich sorgenvoll an. »Jazman, ich habe einen Plan und möchte, dass du mir zuhörst, ohne mich zu unterbrechen. Ich werde mir dann deine Meinung anhören, egal wie sie ausfällt, doch ich bitte dich, dass du mich erst zu Ende anhörst.«
Ich beiße mir auf die Unterlippe, nicke dann langsam. Keine Ahnung, was er sich ausgedacht hat, doch es muss wichtig sein.
»Gut, also ich habe mit John und Walter gesprochen. Wir sind der Meinung, dass es für dich zu gefährlich in New York oder in den USA ist.«
Ich will etwas sagen, doch er hebt die Hand und ich schließe meinen Mund. Ich hatte ja versprochen, ihn aussprechen zu lassen.
»Ich will dich nach Paris schicken. Dorthin habe ich gute Verbindungen, von denen nicht viele Menschen wissen. Ich will dich und unser ungeborenes Kind aus dem Verkehr ziehen. Du fragst dich natürlich warum. Das will ich dir erklären. Walter ist der Meinung, dass die Entführer etwas mit meinem früheren Leben zu tun haben. Grace Rafter wollte sich für ihren Bruder rächen, doch sie hat nicht allein gehandelt, sonst wären die Kinder nach ihrem Tod aufgetaucht. Walter und John sind an der Sache dran, doch ich will, dass du das Land verlässt, und zwar nicht als Jazman Cunningham, sondern Walter wird dir eine neue Identität besorgen. Es ist ein letzter Versuch, die Entführer aus ihrem Loch zu locken, wenn wir damit nicht erfolgreich sind, werden wir das FBI einschalten.« Er verstummt und sieht mich erwartungsvoll an.
Mein erster Instinkt ist, alles sofort abzuwenden. Ich will hier nicht weg. Gleichzeitig bin ich mit meinen Nerven ziemlich am Ende und ich überlege länger, als ich es will. Dann frage ich: »Was ist das für ein Kontakt in Paris?«
»Luc Bruel betreibt mehrere Galerien in Frankreich. Der Hauptsitz ist in Paris. Er will sich bald zur Ruhe setzen, doch sein Sohn Gabriel, nimmt seinen Job nicht ganz so ernst, wie er sollte. Er will, dass du ihn in die Spur bringst. Wenn das jemand kann, dann bist du es.« Er lächelt und ich grinse ebenfalls. Er kennt mich eben zu gut.
»Luc wird sich um dich kümmern, sobald du in Paris landest.«
»Weiß er Bescheid, wer ich bin?«
Rhys schüttelt den Kopf. »Nein, ich habe dich als eine gute Bekannte ausgegeben, die hier in
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Kajsa Arnold
Bildmaterialien: Cat back G - Adobe Stock
Cover: Andrea Wölk
Tag der Veröffentlichung: 27.02.2022
ISBN: 978-3-7554-0869-7
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