Cover

Leseprobe

HERZGEFLÜSTER IN PARIS

RESERVIERUNG FÜR LUCKY ONE

KAJSA ARNOLD

INHALT

Reservierung for Lucky One

Zitat

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Last Minute for Lucky One

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

First Class for Lucky One

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Danksagung

Bücher von Kajsa Arnold

Deutsche Neuausgabe August 2018

Copyright © 2013 - 2018 Kajsa Arnold

Alle Rechte vorbehalten

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung

1. Auflage

Covergestaltung: Wolkenart, Marie Becker

Foto: Getty Images

Kajsa Arnold ./. Tresjoli

www.kajsa-arnold.de

RESERVIERUNG FOR LUCKY ONE

Für Dich

Der meine Nächte bewacht

ZITAT

Die Erfahrung lehrt uns, dass Liebe nicht darin besteht, dass man einander ansieht, sondern dass man gemeinsam in die gleiche Richtung blickt.

Antoine de Saint-Exupery

KAPITEL 1

Bahnhöfe haben mich schon als Kind begeistert. Die unruhige Atmosphäre des ständigen Kommens und Gehens beschert mir in unregelmäßigen Abständen eine Gänsehaut. Das Gewimmel der unterschiedlichsten Menschen auf engstem Raum, das Stimmengewirr und die vielen verschiedenen Sprachen wecken in mir die Abenteuerlust, nur dass ich bisher nie den Mut hatte, mich in ein wirkliches Abenteuer zu stürzen. Bis jetzt.

Heute ist der Beginn meines neuen Lebens. Alte Zöpfe abschneiden, würde meine Großmutter sagen. Manchmal muss etwas Einschneidendes im Leben geschehen, damit es besser wird, heißt es, doch in Wirklichkeit sind es die kleinen Dinge, die das Wesentliche verändern. Der kleine Flügelschlag, der den Sturm weckt, das letzte Tröpfchen, das das Fass zum Überlaufen bringt. Meine Kleinigkeit fängt mit dem Buchstaben B an. Nichts Riesiges also, ein senkrechter Strich mit zwei Bäuchen. Es gibt Größeres im Leben, mit mehr Gewicht, und doch veränderte es für mich alles!

Das B bringt mich dazu, ein neues Kapitel in meinem Leben aufzuschlagen. Eines mit der blinkenden Überschrift: Paris.

Ich schiebe meinen neuen Rollkoffer durch die Halle des Frankfurter Hauptbahnhofs und freue mich, wie leichtfüßig die Rollen über den Belag gleiten. Vor einer Viertelstunde bin ich mit dem Zug aus Düsseldorf angekommen und habe noch zehn Minuten Zeit, bis mein Anschluss nach Paris abfährt. Ein TGV wird mich in noch nicht einmal vier Stunden an mein Ziel bringen. Langsam schlendere ich auf dem Bahnsteig entlang und weiche spielenden Kindern aus, die mit ihren Familien in die Osterferien reisen. Ich hoffe, dass sie nicht alle nach Paris wollen. Es ist doch die Stadt der Liebenden, nicht die der Familien. Oder der Alleinreisenden, wie mich. Vielleicht sollte ich mein Ziel doch noch einmal überdenken. Alaska wäre eine gute Alternative.

Ich habe gerade einen freien Platz auf einer Sitzbank gesichtet, als sich die Lautsprechanlage einschaltet. Leider sind diese Durchsagen auf Bahnhöfen dermaßen leise, dass man immer nur Bruchstücke versteht. Worte wie: TGV – nicht planmäßig – Bahnsteig 7 dringen an mein Ohr. Mein Blick fällt auf meine Bahnsteiganzeige: 2.

Oh Mist.

Eine Herde Schafe bricht zu neuen Ufern auf und ich mitten drin. Eigentlich muss ich nicht hasten, denn ich habe eine Sitzplatzreservierung. Wenn ich den Zug verpasse, ist die Reservierung allerdings für die Katz, also gebe ich Gas. Zum Glück ist der Koffer nicht so schwer, was braucht man schon für 5 Tage Paris? Vermutlich einen Regenschirm.

Treppe runter, Treppe rauf, Bahnsteig 7.

Der Zug ist schon eingefahren und ich suche die 1. Klasse. Nein, ich bin nicht so versnobt, dass ich immer das Beste brauche, aber ich dachte mir, für den Start in ein neues Leben wäre das genau der richtige Rahmen.

Sobald ich den Bereich der 1. Klasse betrete, werden die Menschenmassen um mich herum dünner. Erleichtert finde ich den richtigen Großraumwagen. Ich mag diese Ansammlung von Menschen nicht, fühle mich dann wie auf dem Schulhof, werfe nervöse Blicke über die Schulter, ob sich auch niemand nähert, um mich zu schikanieren. Ich gehörte nicht zu den beliebtesten Mädchen auf unserer Schule und wurde stets gemieden. Nun bin ich vierundzwanzig Jahre alt, freie Grafikerin und schaue immer noch über meine Schulter. Und aus genau diesem Grund bin ich hier, naja, nicht nur aus diesem Grund – zu dem B gehört auch noch ein E.

Mein Koffer ist nicht schwer, aber ich bleibe trotzdem an einer Bodenrille hängen und falle fast samt Koffer hin.

»Verdammt«, fluche ich leise und schiebe mich weiter voran. Ich suche Platz 26. Meine Glückszahl. Habe sie mir extra reservieren lassen und sehe ihn schon von Weitem. Bevor ich ihn erreiche, schmeißt sich so ein Typ mit Mütze und kleiner Reisetasche auf den Sitz. Hey, das ist meiner!, schreit es in meinem Kopf. Ich haste zu dem Sitz und bleibe ungefähr zehn Sekunden sprachlos stehen, bis ich mich räuspere, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.

»Entschuldigung, aber ich habe reserviert.« Meine Stimme ich freundlich, aber bestimmt.

Natürlich nimmt mich dieser Platzdieb gar nicht wahr. Genauso wenig, wie die Bedienung an der Fleischtheke mich wahrnimmt, oder der Beamte bei einer Verkehrskontrolle. Ich habe seit fünf Jahren einen Führerschein, bin jedoch noch niemals kontrolliert worden. Nicht dass ich unbedingt heiß darauf wäre, von einem missmutig dreinblickenden Polizisten angehalten zu werden, um ihm Wahndreieck und Verbandskasten zu zeigen, besonders wo mir im Augenblick entfallen ist, wo ich es hingepackt habe, aber über ein bisschen Aufmerksamkeit würde ich mich schon freuen. Es würde mir zeigen, dass ich doch nicht das Hologramm bin, für das ich mich manchmal selbst halte.

»Entschuldigung, aber ich habe reserviert«, wiederhole ich meinen Satz und verschaffe mir damit endlich Gehör.

Der Sitzplatzdieb dreht seinen Kopf in meine Richtung und lächelt mich an. Er ist jung und trägt eine von diesen Slouch Beanie Mützen, die am unteren Ende herunterhängen. Ich würde damit aussehen, wie ein Mainzelmännchen, aber ihm steht sie.

»Schön für dich. Soll ich dir suchen helfen?«

»Nein danke, ich habe ihn bereits gefunden. Du sitzt drauf.« Der Typ ist wirklich die Höhe. In dem Bord über dem Fenster steht dick und fett RESERVIERT und er pflanzt sich einfach auf meinen Platz.

»Oh«, sagt er und schaut sich im Abteil um. »Es sind aber noch eine Menge Sitze frei. Nimm doch einfach einen anderen.« Er grinst wieder und zeigt eine Reihe ebenmäßiger weißer Zähne. Seine blonden kurzen Haare schauen ein wenig unter der Mütze hervor, und wenn er lacht, zeigen sich kleine Fältchen an seinen Augen. Er ist älter, als er auf den ersten Blick wirkt. Hätte ich ihn vorher auf siebzehn geschätzt, kann man locker zehn Jahre drauflegen. Auch wenn er wirklich passable aussieht, habe ich kein Mitleid und stehe kurz vor dem Overkill.

»Was hältst du davon, dir einen neuen Platz zu suchen? Immerhin habe ich diesen hier reserviert und dafür bezahlt.«

»Genau diesen Platz?«, fragt er.

Ich nicke. »Genau diesen.«

Eine Familie mit mehreren Koffern kommt den Gang entlang gerobbt und ich muss zusehen, dass ich mich dünnemache. Also rücke ich dem Typen mit der Mütze etwas auf die Pelle, schiebe meinen Koffer zwischen seine Beine und stütze mich mit der Hand am Fenster ab. Im Schneckentempo bewegt die Familie sich an uns vorbei, als sich der Zug in Bewegung setzt, meinem Ziel entgegen. Eigentlich wollte ich es mir da schon auf meinem Platz gemütlich gemacht haben, doch ich stehe immer noch im Gang und verliere den Halt.

»Hey, vorsichtig, Golden Eye, festhalten.« Der Typ greift nach meiner Taille und ich plumpse wie ein nasser Sack auf seinen Schoß. Oh Gott, peinlicher geht es bei mir immer. Verflucht! Schnell versuche ich, auf die Beine zu kommen und strampele wie ein Käfer auf dem Rücken.

»Nicht, dass du dir noch etwas brichst«, meint der Mützentyp und hält mich weiter fest.

Hektisch mache ich mich frei. »Entschuldigung«, murmele ich verlegen und gewöhne mich langsam an das Rattern unter meinen Füßen. »Also, was ist jetzt mit meinem Sitzplatz?« Ich lasse einfach nicht locker. »Du solltest dir einen Neuen suchen.«

Ergeben hebt Mütze die Hände und steht auf. »Bevor du dir noch den Hals brichst, setz dich lieber«, meint er lachend und schmeißt sich mir gegenüber auf den freien Platz. Er schaut nach oben und zeigt mit dem Finger auf das Schild: »Nicht reserviert.«

Nun trennt uns nur das gemeinsame Tischchen. Das heißt also, ich werde Mütze eine Zeit lang ertragen müssen. Warum kann er sich nicht woanders hinsetzen? Hat er überhaupt ein Ticket für die 1. Klasse?

Ich schiebe meinen Koffer unter das Tischchen, zum Glück passt er darunter. Endlich sitze ich und kann mich ein wenig entspannen. Ich hänge meinen kurzen Trenchcoat an den vorgesehenen Haken und puste mir eine braune Locke, die sich aus meinem Pferdeschwanz gelöst hat, aus der Stirn.

»Warum hast du nicht diesen Platz hier genommen, er war doch frei?«, fragte Mütze neugierig. Er hat mich die ganze Zeit beobachtet.

»Erstens habe ich genau diesen Platz reserviert und zweitens muss ich in Fahrtrichtung sitzen«, erkläre ich knapp.

»Sonst was?«

»Was wohl? Sonst wird mir schlecht und ich verbringe den Rest der Fahrt auf der sicherlich nicht so hygienischen Bordtoilette.«

Er lacht laut auf. »Sorry, ich stelle mir das gerade bildlich vor.«

»Solltest du lieber nicht«, knurre ich genervt und sage laut: »Du musst ja nicht hier bleiben, es sind in der 1. Klasse noch andere Plätze frei.« Vielleicht setzt er sich ja woanders hin, oder er fährt nur bis Kaiserslautern oder Saarbrücken und ich bin ihn gleich los.

»Warum? Hier gefällt es mir richtig gut. Wohin fährst du?«, fragt er neugierig.

Misstrauisch mustere ich ihn von oben bis unten. Er trägt ein sauberes blauweiß kariertes Hemd mit einem dunkelblauen T-Shirt darunter, Bluejeans und Converse. Ans Fenster hat er eine schwarze Lederjacke mit grauer Stoffkapuze gehängt. Nun, er sieht zwar nicht wie ein Landstreicher aus, aber die würden vermutlich auch nicht 1. Klasse fahren. Das blaue Hemd passt zu seinen hellblauen Augen, und wenn er mir nicht den letzten Nerv rauben würde, fände ich ihn sogar süß.

»Und? Bist du bald mit deiner Beobachtungstour fertig?«

Seine Stimme reißt mich aus meinen Überlegungen und mir wird ganz heiß im Gesicht. Vermutlich bin ich jetzt wieder puterrot. Mist, erwischt!

»Also, wohin fährst du?«

Er scheint es mir noch nicht einmal übel zu nehmen, dass ich ihn so ungeniert gemustert habe, da will ich mal nicht so sein. »Paris.«

Er nickt und als ich nichts weiter sage, fragt er: »Willst du nicht wissen, wohin ich fahre?«

»Ich wüsste nicht warum.«

»Nun, wo wir uns schon mal hier kennengelernt haben.« Er beugt sich vor und reicht mir die Hand. »Ich bin Henning und fahre auch nach Paris.«

KAPITEL 2

Na klasse, das war es wohl mit dem baldigen Ausstieg. Jetzt klebt er mir vermutlich für den Rest der Fahrt an der Backe und quatscht mir die Ohren voll. Dass diese Typen sich immer nur mit Vornamen vorstellen, als wären sie ohne Familiennamen in diese Welt geboren worden. Henning wie? Henning Junge? Henning Mensch?

»Hallo Henning ... und wie weiter?«, frage ich.

»Was weiter?«

»Heißt du nur Henning?«

Er lacht wieder. »Nein, natürlich habe ich auch einen Nachnamen, nur bringt er die Menschen immer zum Lachen.«

»Wieso, heißt du Blödmann?«, rutscht es mir heraus und ich schlage mir erschrocken die Hand vor den Mund. Im ersten Moment denke ich, jetzt bin ich ihn los, doch dann lacht er. Laut und aus vollem Hals.

»Du bist echt komisch, Golden Eye«, sagt er und grinst verwegen.

»Warum nennst du mich so?«, frage ich genervt und rücke meine Brille zurecht. Ja, sorry, ich habe vergessen zu erwähnen, dass ich eine Brille trage. Ohne sie bin ich blind wie ein Maulwurf. Normalerweise schaffe ich es, mich dahinter zu verstecken, doch dieser Henning scheint meine schlimmsten Seiten hervorzubringen. Er bringt mich irgendwie dazu, schneller zu sprechen als mein Gehirn arbeitet.

»Deine Augen sind braun und haben kleine goldene Sprenkel – darum Golden Eye.« Er lächelt nicht, sondern schaut mich ernst an.

Ich muss schlucken und erwidere seinen Blick. »Also, sag schon, wie lautet dein Nachname?«

»Glück«, er grinst verlegen. »Meine Freunde nennen mich Lucky.«

»Schön für deine Freunde.« Ich schaue aus dem Fenster. Lucky – der Name eines siebzehnjährigen Skaters.

»Und wie ist deiner?«, fragt er ungeniert.

»Maybach.«

»Ich meine deinen Vornamen, nicht deine Automarke.«

Er lächelt über seinen Witz. Als hätte ich den nicht schon oft gehört.

»Alina.«

»Hübscher Name. Passt zu dir, Lilly.«

»Ja, hört sich ganz nach der Zicke an, die ich bin.« Auch das habe ich schon zu oft gehört.

Der Schaffner erweist sich für mich als rettender Engel und unterbricht uns, als er nach den Fahrkarten fragt. Henning zückt sein Ticket und hält es dem Schaffner unter die Nase. Der Fahrschein wird gescannt und der Schaffner wendet sich mir zu. Ich suche hektisch in meiner Handtasche. Mist, ich weiß genau, dass ich ihn eingesteckt habe.

»Reserviert?«, fragt Henning leise nach und ich werfe ihm einen bösen Blick zu.

»Einen Moment noch, meine Freundin braucht für ihre Tasche einen Kompass«, witzelt Henning.

»Findest du so was lustig?«, fauche ich ihn wütend an. Dieser Typ scheint wirklich das geistige Alter eines Teenagers zu haben.

»Immer mit der Ruhe.« Die sonore Stimme des Schaffners beruhigt mich nicht sonderlich.

»Ich habe ein Ticket und eine Reservierung«, brumme ich vor mich hin.

»Ja, auf die Reservierung ist sie besonders stolz.«

Ich könnte Henning den Hals umdrehen. Obwohl er nichts dafür kann, dass mein Ticket verschwunden ist, ist er der ideale Blitzableiter. Dann fällt es mir wieder ein: meine Jackentasche. Dort finde ich den Umschlag mit Fahrkarte und Reservierung. Erleichtert reiche ich dem Schaffner die Papiere.

»Ich wünsche Ihnen beiden eine gute Weiterfahrt und schöne Tage in Paris.« Er lächelt uns an und widmet sich dem nächsten Fahrgast. Oh Gott, er denkt, Henning und ich gehören zusammen. Na toll, das kann ich nun nicht mehr richtigstellen.

»Was sollte das gerade?«, frage ich und funkele mein Gegenüber wütend an.

»Was meinst du?«, fragt er scheinheilig.

»Ich bin nicht deine Freundin.«

»Aber du wärst es gerne.«

Pah, das ist wirklich an Unverfrorenheit nicht zu übertreffen! Mit einem vernichtenden Blick mustere ich ihn von oben bis unten. »Du bist wohl nicht ganz meine Altersklasse. Wie alt bist du? Siebzehn? Höchstens achtzehn?«

Sein klares Lachen erfüllt den Raum. »Schätzen gehört nicht gerade zu deinen Stärken, aber danke für die Blumen. Wenn du neun Jahre drauflegst, kommen wir der Sache schon näher.«

Ich beobachte ihn aus dem Augenwinkel. Siebenundzwanzig, da lag ich mit meiner ersten Schätzung eben ja eigentlich ziemlich gut, aber das musste er ja nicht erfahren. »Warum kleidest du dich dann wie ein Teenager?«

»Das ist meine übliche Reisekleidung, locker und bequem.« Er schaut mich abschätzend an. »Wie alt bist du, Lilly?«

Ich rücke meine Brille zurecht. »Vierundzwanzig, und nein, ich wäre nicht gerne deine Freundin«, antworte ich der Höflichkeit halber, bin nun aber nicht mehr gewillt, ihm noch weitere Infos zu geben. Ich weiß gar nicht, warum ich überhaupt damit angefangen habe.

»Aber du hast keinen Freund.« Das ist keine Frage, sondern eine Feststellung. Es fuchst mich ungemein, nicht nur weil er so bestimmend ist, sondern auch, weil er recht hat. Na klar, einem Mädchen wie mir traut man auch keinen Freund zu. Eher eine Karriere als Buchhalterin.

Unvermittelt steht er auf und geht. Ich traue meinen Augen nicht. Bin ich ihn wirklich los? Aber nein, er hat ja seine Reisetasche und die Jacke hängen lassen. Vermutlich muss er mal für kleine Königstiger. Mein Blick fällt auf seine Kehrseite und bleibt an seinem Hintern hängen. Knackig in der gut sitzenden Jeans. Er ist schon einen zweiten Blick wert. Wenn er nur nicht so ein Blödmann wäre.

Ich krame aus meiner Tasche ein kleines Notizbuch – mein Tagebuch. Nein, ich schreibe dort nicht die Träume oder Wünsche eines kleines Mädchen hinein, sondern es ist ein Reisetagebuch, damit ich mich später an mein spontanes erstes Abenteuer erinnern kann, das mich neben dem B und E auch ein T vergessen lassen soll.

»Was schreibst du da?«

Hennings Kopf schiebt sich neugierig über meine Schulter. »Hier für dich.« Er hält mir eine Tasse mit duftenden Kaffee unter die Nase.

Ich komme nicht umhin, genussvoll zu stöhnen. Ohne Kaffee bin ich nur ein halber Mensch und heute Morgen hatte ich noch keinen. Ich bedanke mich verwundert und sehe, dass er seinen mit Milch trinkt.

»Ich wusste, dass du Kaffee magst, nur nicht wie.«

Ich nicke. »Danke, genau richtig, ohne Milch und Zucker. Wofür ist der?«

»Ein Friedensangebot, ich denke, wir fangen noch einmal von vorne an. Hey, ich bin Henning Glück und freue mich dich kennenzulernen, Lilly.« Er reicht mir die Hand und setzt sich. Ich ergreife sie zögerlich, weiß nicht so recht, was er damit bezweckt. Seine Hand ist warm – und angenehm. Nicht schwitzig, schlanke saubere Finger. Ich muss lächeln, schöner Po, schöne Hände. Irgendwie.

»Wir haben das gleiche Ziel. Was machst du in Paris?«, fragt er und nimmt einen Schluck Kaffee.

Ich bin versucht, ihm einfach eine Geschichte aufzutischen, doch warum Spielchen spielen? Ich sollte das hier nehmen als das, was es ist – eine nette Unterhaltung auf einer langweiligen Zugfahrt. Wir werden uns ja nie wieder über den Weg laufen.

»Ich fahre meinem ersten Abenteuer entgegen und mache fünf Tage Urlaub in Paris, um mir die Stadt anzusehen. Ich bin noch nie allein verreist. Meine Eltern haben mich ständig mitgeschleppt, aber im Alleingang ...«

»Wow, Lilly Adventure, cool. Aber warum ausgerechnet Paris? Ich meine – die Stadt der Liebe.«

Verlegen schaue ich aus dem Fenster, beiße mir auf die Wange, bloß nicht weinen, nicht jetzt, nicht hier. Ich probiere ein scheues Lächeln.

»Okay, blöde Frage. Ich fahre ja auch allein«, beantwortet Henning seine Frage selbst und ich bin froh darüber.

»Warum fährst du allein?«, hake ich nach, ich kann nicht anders.

Henning schaut mich offen und ehrlich an. »Weil ich mich getrennt habe.«

So wie ich, geht es mir durch den Kopf, sage es aber nicht laut, sondern nicke nur. Es entsteht ein peinliches Schweigen, bis er plötzlich sagt: »Ist schon eine Weile her, da war der Kurzurlaub aber schon geplant, ich konnte ihn nicht mehr stornieren. Also fahre ich eben allein.« Er grinst und zu meiner Überraschung wirkt das echt. Er scheint wirklich über diese Sache hinweg zu sein. Ganz im Gegensatz zu mir. Dafür ist sie zu frisch.

Wir halten in Kaiserslautern. Einige Fahrgäste steigen zu und das Abteil füllt sich. Menschen schieben sich an mir vorbei und ich rutsche unruhig auf meinem Sitz hin und her. Henning beobachtet alles mit wachen Augen. Irgendwie ist er mir gar nicht mehr so unsympathisch wie zu Anfang unserer Reise. Er hat tolle Augen, die wie helle Sterne in der Nacht strahlen.

»Was ist das für ein komischer Kasten, den du an deinen Koffer geschnallt hast?« Henning reißt mich aus meinen Gedanken und ich folge seinem Blick zu meinem Koffer. »Das ist meine Geige. Ich weiß auch nicht, warum ich sie mitgenommen habe.«

»Machst du das beruflich? Spielst du in einem Orchester?« Seine Neugier scheint geweckt, doch ich winke ab.

»Nein, ich spiele nur gelegentlich privat.«

»Bist du ein weiblicher David Garrett?«

Ich lache laut auf. »Da überschätzt du mich aber gewaltig.«

Er sieht mich einen Moment lang ganz komisch an. »Dein Lachen gefällt mir, Lilly«, sagt er ganz spontan und ich werde rot, »du musst unbedingt für mich spielen.«

Ich schaue mich hektisch um. »Hier? Nein, das geht nicht.«

Henning schüttelt den Kopf. »Nicht hier. In Paris.«

KAPITEL 3

Der Zug setzt sich wieder in Bewegung, der nächste Halt ist Saarbrücken. Verwundert stelle ich fest, dass Henning nachdenklich aus dem Fenster starrt. Überhaupt ist er in den letzten Minuten still geworden, seit die Sprache auf seine beendete Beziehung kam, vermutlich macht es ihm doch mehr zu schaffen, als er zugeben will.

Ich will ihn nicht stören und mache meine ersten Reisenotizen. Schreibe über meinen überstürzten Aufbruch, dem ein B-E-T-R zugrunde liegt. Halte das Kennenlernen mit Henning Glück fest und den Schreck dem verschwundenen Fahrschein. Danach ziehe ich meinen Reader aus der Tasche und fange zu lesen an. Ich spüre Hennings Blick, doch ich ignoriere ihn.

»Was liest du da?«

»Emma«, antworte ich knapp.

»Oh, Jane Austen.«

»Du kennst es?« Ich bin ehrlich gesagt etwas baff.

»Ja, was ist daran so ungewöhnlich?«

»Nun ...«, ich stottere und suche nach Worten, »alle lesen Stolz und Vorurteil, dabei gibt es wesentlich bessere Bücher von ihr. Ich liebe Emma«, gebe ich errötend zu.

Nickend stimmt Henning mir zu. »Ich liebe Sinn und Sinnlichkeit.«

Überrascht lasse ich den Reader sinken. »Du liest Austen?«

Sein tiefes Lachen hallt zu mir herüber und ich glaube, das ist der Moment, wo ich diesen nicht-siebzehnjährigen Skater in einem völlig neuen Licht sehe.

»Ich gebe zu, ich bin über die Filme zu den Büchern gekommen, aber die Bücher haben mich dazu bewegt, Literatur zu studieren.«

Ich bin erstaunt. Literatur. Wow. Das wäre auf der Liste das Letzte gewesen, was ich vermutet hätte und diese Liste ist ganz schön lang. Angefangen von Profisurfer, über Gitarrist in einer Boyband, bis hin zu Spieleentwickler bei Lego.

»Du studierst wirklich Literatur? Das hätte ich nun wirklich nicht vermutet.«

»Ja, aber nur neben meinem Job.«

»Ha, wusste ich es doch, du studierst, wenn gerade keine Surfsaison ist.«

Ein Lächeln breitet sich über sein Gesicht aus, es reicht bis zu seinen Augen, die sofort zu strahlen beginnen. Mein Gott, er sieht wirklich klasse aus.

»Ja, gelegentlich surfe ich auch.«

Oh Gott, habe ich das etwas gerade laut gesagt? Ich wollte es doch nur denken. Was ist mit meinem Kopf los?

»Was machst du, wenn du nicht surfst und Austen liest?«, frage ich schnell, um diesen weiteren peinlichen Moment meines Lebens schnell hinter mich zu bringen.

»Du meinst beruflich?«

Ich nicke.

»Ich entwickle Computerprogramme. Habe eine kleine Firma und arbeite meistens von zu Hause aus.«

»Oh, wirklich? Ich auch«, schießt es aus mir heraus.

»Echt? Was machst du?« Er setzt sich aufrecht hin und scheint neugierig.

»Nichts Besonderes. Ich bin Designerin.«

»Für Mode?« Sein Ton verrät mir, dass er das nicht für sehr wahrscheinlich hält.

»Nein, ich designe Tapeten«, erwidere ich kleinlaut. Ich weiß, dass dies nicht besonders innovativ klingt, aber es macht mir Spaß und bringt genug Geld ein.

»Du meinst dieses Papier, das sich einige Leute an die Wände hängen?«

Ich nicke. »Genau, Tapeten. Ich habe Design studiert und mich schon während des Studiums selbstständig gemacht. Es gefällt mir und ich verdiene genug und ich muss nicht ...«

»Aus dem Haus«, beendet er meinen Satz für mich. »Ich habe schon bemerkt, dass du nicht besonders mutig und abenteuerlustig bist.«

»Daran arbeite ich gerade.« Es passt mir gar nicht, dass Henning mich so schnell durchschaut hat, obwohl er mich gar nicht kennt. Bin ich für andere ein offenes Buch? Offensichtlich. Nun, daran muss ich dringend etwas ändern. Doch die geheimnisvolle Alina muss wohl erst noch geboren werden.

»Hey, das war nicht böse gemeint, nur eine Feststellung.«

Ich nicke nur. Es muss keine weiteren Menschen geben, die mir sagen, wie langweilig ich bin. Einer allein reicht schon aus. Ich greife in meine Tasche und hole den iPod heraus. Wenn ich Musik höre, muss ich mich nicht unterhalten. Chasing cars von Snow Patrol, eine Ballade, die mir die Tränen in die Augen treibt. Ich liebe die Musik von Snow Patrol, aber im Moment drückt sie mir doch zu sehr auf meine Stimmung. Ich will das nächste Lied hören, doch Henning wedelt aufgeregt mit der Hand vor meinem Gesicht herum.

»Dein Handy«, meint er und zeigt auf meine Tasche, aus der die Melodie von Crack the Shutters ertönt. Schnell fische ich es auf der Tasche. Unbekannter Anrufer.

»Ja«, melde ich mich vorsichtig.

»Wo bist du?«

Tom, mein seit-gestern-Exfreund, auch unter dem Pseudonym B-E-T-R-U-G bekannt. Die Verbindung ist schlecht, und wenn ich gewusst hätte, dass er am anderen Ende der Leitung ist, hätte ich das Gespräch nicht angenommen. Warum habe ich es bloß nicht ausgeschaltet? Andererseits, wer hätte mich schon erreichen wollen? Außer meinen Eltern gibt es nicht viele, doch die sind zurzeit selbst verreist.

»Ich wüsste nicht, was dich das noch angeht?«, erwidere ich giftig.

»Ich wollte nur wissen, ob es dir gut geht?«

»Es geht mir ausgezeichnet. Wie geht es Stefanie?«, frage ich und spiele damit auf die Tussi an, mit der er mich betrogen hat. Aber eigentlich will ich es gar nicht wissen.

»Alina, jetzt sei nicht so uncool. Was machst du gerade?«

Ich sehe, dass Henning mich aufmerksam beobachtet, auch wenn er so tut, als höre er nicht zu.

»Ich erweitere gerade ... wie nanntest du es gestern ... meinen beschränkten Horizont und versuche nur noch halb so langweilig zu sein, wie du mich findest.«

»Mensch, Baby, wer kann denn so unrelaxed sein?«

»Bin ich doch gar nicht. Und weißt du was, ich gönne dir dein Leben. Ich gönne dir Stefanie, über die schon halb Düsseldorf gerutscht ist und ich gönne dir, dass sie dir bestimmt bald ein Kind anhängt, das noch nicht mal von dir sein wird ... während ich«, ich schaue kurz zu Henning, der mich nun neugierig anblickt, »... die Zugfahrt mit angenehmer Begleitung genieße, und hoffe, dass, wenn ich aus Paris zurück bin, du deine restlichen Sachen aus meiner Wohnung geräumt hast und der Schlüssel im Briefkasten liegt.«

Ein lautes »Das glaubst du doch wohl selbst nicht!«, tönt aus dem Handy, sodass ich es mir vom Ohr halten muss, um keinen Hörsturz zu erleiden.

Wie aus dem Nichts greift Henning nach dem Handy und nimmt es an sich. »Hi, du Blödmann! Hier ist Henning. Wir werden dir eine Ansichtskarte aus Paris schreiben, und jetzt sieh zu, dass du das Feld räumst, verstanden?.« Dann legt er auf und gibt mir das Handy zurück.

»Du solltest es ausschalten, wir sind schon über der Grenze«, sagt er mit einem Schmunzeln und zieht sich seine Mütze von Kopf.

Mit einem Lächeln schreibe ich kurz eine SMS an meine Eltern, dass ich ein paar Tage nicht zu erreichen sein werde, und schalte das Gerät erst einmal aus.

Unter meinen dichten Wimpern schaue ich zu Henning. »Danke«, flüstere ich.

Er nickt mir zu, sagt aber nichts. Doch irgendwie habe ich das Bedürfnis mich zu erklären. »Zum Glück waren wir nicht sehr lange zusammen. Ich glaube, er hat nur einen Platz zum Schlafen gesucht.«

»Meinst du wirklich?«

»Ich glaube schon.«

»Glauben oder wissen?«

»Um das herauszufinden, fahre ich nach Paris.«

Jetzt lächelt Henning mich an. »Mit einer angenehmen Begleitung?!«

Ich hebe die Schultern. »Es gibt Schlimmere.«

»Hey«, ruft er und wirft seine Mütze nach mir, die ich lachend auffange und aufsetze.

»Was ist, möchtest du noch einen Kaffee?«, frage ich und erhebe mich.

»Ein Wasser wäre toll.« Er versucht mir die Mütze abzunehmen, doch ich bin schneller und flüchte Richtung Speisewagen.

KAPITEL 4

Es herrscht richtiges Reisewetter. Draußen sind es um die zwanzig Grad, ein Frühlingsanfang, wie man ihn sich nicht schöner wünschen kann, und die Sonne scheint strahlend blau vom Himmel. Die Farbe erinnert mich an Hennings Augen und ich muss lächeln. Schade, dass wir schon die Hälfte der Zugfahrt hinter uns haben, bald erreichen wir Paris und unsere Wege werden sich trennen. Leider, denke ich. Er ist eine nette Reisebegleitung, mit ihm würde Paris sicherlich mehr Spaß machen, doch ich darf mich hier nicht in Wünsche verrennen. Vielleicht können wir in Paris ja mal einen Kaffee zusammen trinken.

Ich kehre mit einem Wasser und einer Cola Light zu meinem Platz zurück. Mittlerweile ist der Zug voll und ich kann es kaum noch erwarten, bis wir endlich unser Ziel erreichen.

»Du stehst auf Snow Patrol

Ich frage mich, woher Henning das schon wieder weiß.

»Dein Handyklingelton«, erklärt er kurz.

Ich nicke. »Ja, die finde ich super. Was ist mir dir, was hörst du so?«

»Her Name Is Calla – sagt dir das etwas?«

Ich schüttele den Kopf, da holt er sein iPhone aus der Tasche, stöpselt meine Kopfhörer ein und reicht es mir. Einen kurzen Moment ist es still, dann baut sich ganz langsam eine Melodie auf – Schlaginstrumente, Keyboard, es wird lauter und dann setzt eine Stimme ein. Monoton, doch das Lied zieht mich in seinen Bann, trägt mich in höhere Sphären. Ich blicke in Hennings Augen und bin in diesem Augenblick verloren. Die Musik wird immer lauter.

Der Song berührt mich so sehr, dass ich es kaum beschreiben kann. Ich nehme die Stöpsel aus meinen Ohren.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Kajsa Arnold
Bildmaterialien: Nick Starichenko, Ekaterina Pokrovsky Shutterstock
Cover: Wolkenart, Marie Becker
Tag der Veröffentlichung: 04.02.2022
ISBN: 978-3-7554-0708-9

Alle Rechte vorbehalten

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