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Leseprobe

Seattle Story

Kajsa Arnold

Inhalt

The Rain

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Epilog

The Night

Zitat

Prolog 2

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

The Storm

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Danksagung

Danke für eure Geduld

The Rain

The Rain

Prolog

Die Tür fiel leise ins Schloss und der Schlüssel verriegelte sie ohne Probleme. Die Fensterläden waren alle geschlossen. Als ich zurücktrat, rastete die Fliegentür automatisch ein. Ich blickte zur Seite auf die weißen Holzmöbel, die immer noch auf der Terrasse standen, und dachte an den Augenblick, als sie neu gestrichen wurden. Ein kleines Lächeln huschte über meine Lippen. Ich hätte sie gerne mitgenommen, ein letztes Stück Erinnerung an meine Kindheit, denn sie standen hier schon, seit ich denken konnte. Doch ich hatte es mir geschworen: keine Andenken.

Nichts, das mich an das Vergangene erinnerte. Ich schloss meine Erinnerungen in diesem Haus ein. Dort würden sie für immer verschlossen bleiben, wie Wasser gefangen im ewigen Eis. Nichts konnte es zum Tauen bringen, zu tief war es gefroren.

Den Schlüssel legte ich wieder unter den großen Blumentopf neben der Tür, wo er schon immer gelegen hatte, unbemerkt für Nichteingeweihte. Langsam strich ich über die Blüten der Hortensienbüsche, die mir ihre Köpfe entgegenstreckten als warteten sie nur darauf, von mir berührt zu werden. Ich ging ein letztes Mal um das Haus in den Garten und prüfte, ob die Terrassentür auch wirklich verschlossen war, zu oft hatte ich es vergessen.

Mein Blick fiel auf den Platz, an dem früher die Rosen standen. Sie würden später durch Lupinen ersetzt werden, ich konnte die Rosenbüsche nicht zurücklassen. Dafür waren sie zu liebevoll gepflegt worden.

In dem großen Sommerflieder saßen zahllose Schmetterlinge und saugten geschickt mit ihren kleinen Rüsseln den Nektar der Blüten auf. Nur für einige Sekunden verharrten sie, dann flatterten sie leichtfüßig zur nächsten Blume. Ihr Flügelschlag wog für einen Augenblick so wenig, konnte aber so viel bewirken.

Ich riss mich vom Anblick der Schmetterlinge los und ging weiter zur Garage, um mich zu vergewissern, ob ich auch das Tor gut verschlossen hatte. Auf dem Gehweg blickte ich noch ein letztes Mal zum Haus ohne Wehmut, ging mit festen Schritten an dem Schild ‚zu verkaufen‘ vorbei und stieg in den Wagen, der schon am Straßenrand mit laufendem Motor auf mich wartete.

Kapitel 1

Ankunft

Die Straße zog sich endlos hin, fortwährend die gleichen Richtungsschilder. Ich fuhr die Interstate 5 von San Francisco Richtung Portland über Eugene.

Seit elf Stunden identische Laubbäume, monotoner Asphalt, austauschbare Landschaften. Sogar das Radio schien endlos dieselben Lieder zu spielen. Ich schaltete es aus und legte eine CD ein. Leise erklangen die Töne von ‚O Mio Babbino Caro‘. Es war ein Instrumentalstück, ohne schrille Stimmen oder Texte, die man im Kopf mitsang.

Ich beachtete die Namen auf den Hinweisschildern schon gar nicht mehr. Mit der Zeit passierte ich drei Bundesstaaten von Kalifornien über Oregon nach Washington. Der Highway am Meer entlang wäre eine Alternative gewesen, doch ich hatte mich für die Interstate entschieden. Ich wollte keinen Abstecher zum Strand, sondern so schnell wie möglich ankommen, damit ich ohne Umstände wieder abreisen konnte. Einige Städtenamen kamen mir bekannt vor, aber es gab auch viele, an die ich mich noch sehr gut erinnerte. Doch gab es nur einen Namen, in dessen Richtung ich fuhr. Nach Hause.

Zuhause, ein großer Begriff und etwas was ich nicht hatte, schon lange nicht mehr. Es bereitete mir Unbehagen, das Wort auszusprechen. Vor über vierzehn Jahren hatte ich es verlassen und kehrte nun zurück, da mein Pflichtgefühl es verlangte. Eine Pflicht, der sich kein Mensch entziehen konnte.

Langsam flogen die Bäume an dem Seitenfenster vorbei. Ich schenkte ihnen nur wenig Beachtung. Je weiter ich in Richtung Norden fuhr, umso grüner wurde die Natur. Immer mehr Nadelbäume mischten sich in die Vegetation. Die Farben vor meinen Augen gingen von einem hellen Gelbgrün in dunkles Grünblau über.

Wolken zogen am Himmel auf, sie passten gut zu meiner Stimmung und der Leere in meinem Kopf. Mein Weg führte mich geradewegs in ein Gewitter, doch es machte mir nicht viel aus. Als es zu regnen begann, empfand ich den Regen wie einen schützenden Mantel, den ich eng um meinen Körper schlang.

Die Straße war rutschig, ich hatte es aber nicht eilig. Der Regen wurde immer dichter und nahm mir fast jegliche Sicht. Die großen Tropfen flogen mir nur so entgegen und stürzten sich auf die Windschutzscheibe, wo sie in kleinen Bächen hinunterrannen. Weder vor noch hinter mir fuhren Autos, es war fast so, als sei ich der einzige Mensch auf dieser Welt. Einsamkeit, mein ständiger Begleiter.

Gegen Abend erreichte ich mein Ziel. Olympia. Die Hauptstadt des Staates Washington, hoch oben im Nordwesten der USA, in meinen Augen eher eine Kleinstadt. Schon bei der Einfahrt wurde mir klar, sie war unverändert. Mir war, als hätte ich sie erst vor wenigen Wochen verlassen. Der Regen ließ endlich nach und einige letzte Sonnenstrahlen kamen langsam durch die Wolken gekrochen. Sie warfen ein warmes Licht auf die Stadt. Jetzt, Anfang Mai, standen die ersten Frühblüher in voller Pracht und hießen neue Touristen herzlich willkommen.

Ich fuhr langsam durch die Straßen, die mir immer noch vertraut waren, und glaubte mich sogar an das eine oder andere Schlagloch zu erinnern. Der Weg führte mich unweigerlich am State Capitol Museum vorbei. Bei seinem Anblick kamen vertraute Gefühle auf. Ob ich sie zulassen wollte, darüber war ich mir noch nicht im Klaren. Viele Jahre war es mein Zufluchtsort für schwierige Stunden gewesen. Dort hatte ich die Zeit vergessen können und mich in unzähligen Büchern vergraben, in eine andere Welt geträumt, an einen unbekannten Ort.

Ich parkte das Auto und schaute zur Museumskuppel hinauf. In der untergehenden Sonne erstrahlte sie in ihrem Weiß, nie war sie schöner gewesen. So stand ich dort eine ganze Weile und eine gewisse Zuversicht machte sich in mir breit, denn ich wusste, ich hatte mein Ziel erreicht. Ich war angekommen.

Kapitel 2

Dich wiedersehen

Für die erste Nacht hatte ich mir von San Francisco aus ein Hotelzimmer reserviert. Nachdem ich den Mietwagen zurückgegeben hatte, machte ich mich zu Fuß auf den Weg zum Hotel. Es war einfach, aber sauber, das Bett bezogen mit frischer Bettwäsche. Darüber hing ein gerahmtes Poster mit einem Dali Druck ‚Die Versuchung des Heiligen Antonius‘. Für eine Nacht genau das Richtige.

Gegen zwanzig Uhr hatte ich endlich eingecheckt. Über vierzehn Stunden war ich auf den Beinen. Von zwei kleinen Pausen einmal abgesehen, war ich den ganzen Tag durchgefahren. Selbst das Essen hatte ich darüber vergessen, wie so oft, seitdem ich wusste, dass ich nach Olympia zurückkehren würde.

Früher gab es einen kleinen guten Diner, in dem ich mich nach der Schule ab und an mit einigen Freunden traf. Vielleicht gab es ihn heute noch, ich machte mich auf zum Black Lake Boulevard. Die Luft hatte sich erheblich abgekühlt, nachdem die Sonne fast ganz untergegangen war. Der Duft des wunderbaren Shrimps Omelette stieg mir in der Nase, das ich dort oft bestellt hatte. Unglaublich, ich konnte mich nach all den Jahren an den Geschmack des Erdbeershakes erinnern. Frankies Corner war leicht wiederzufinden, allerdings hieß er jetzt Kayleys Diner.

Hoffentlich gab es wenigstens den Koch noch.

Als ich den Laden betrat, registrierte ich schnell, dass sich außer dem Namen nicht viel verändert hatte. Die gleiche Anzahl an Tischen und eine lange Theke, an der es einige Sitzplätze gab.

Alles sehr überschaubar.

Die Vorhänge an den vier Fenstern zur Straßenseite waren neu. Ein freundliches Hellblau hatte die alten braunen Staubfänger abgelöst. Ich setzte mich an einen Tisch, direkt hinter der Eingangstür. Es war nicht viel los. Außer mir gab es nur einen einzelnen Gast, der mit dem Rücken zu mir in der anderen Ecke des Raumes saß. Neugierig blätterte ich in der Speisekarte, in der Hoffnung, auf mein geliebtes Shrimps Omelette zu stoßen.

»Guten Abend, was darf ich Ihnen bringen?« Die Bedienung war geräuschlos an meinen Tisch getreten.

»Also, wenn das Shrimps Omelette immer noch so gut ist, wie zu Frankies Zeiten, hätte ich das gerne und ein Glas …!«

»Oh mein Gott, Amber … Amber Maguire! Ich werde verrückt, dich gibt es noch?«

Erschrocken hob ich den Kopf und blickte in die Augen von Kayley Schapiro. Sie war früher zu High-School-Zeiten meine beste Freundin gewesen. Die Anzahl meiner Freundinnen war schon damals überschaubar und das hatte sich nach meinem Fortgehen auch nicht geändert.

»Amber, dass ich dich noch einmal wiedersehe, ich kann es nicht fassen. Wo hast du gesteckt, wo kommst du her, was machst du hier?« Mit einem lauten Seufzer ließ Kayley sich auf der Bank mir gegenüber nieder.

Sie war eine schöne junge Frau Mitte dreißig, nicht sehr groß, aber mit viel Durchsetzungskraft. Ich kannte sie nicht anders, als dass sie ihre langen blonden Locken offen auf ihre Schultern fallen ließ. Sie passten gut zu ihren großen blauen Augen. Kayley war eine Südstaatenschönheit, obwohl sie ihr ganzes Leben in Olympia verbracht hatte. Sie hier wiederzusehen, freute mich ungemein.

»Hallo Kayley, das sind aber viele Fragen auf einmal.«

Sie strahlte über das ganze Gesicht. »Ich kann es nicht glauben«, und schüttelte wild ihre Locken. »Ich muss dich umarmen, damit ich weiß, dass ich nicht träume.« Kurz entschlossen sprang sie auf und setzte sich auf meine Seite der Bank. Sie legte die Arme um meine Schultern und drückte mich fest an sich. Ein frischer Veilchenduft ging von ihr aus.

»Wie ist es dir ergangen, was machst du hier?«

Ich versuchte, das Lächeln aufrecht zu halten. »Nun, ich bin zur Beerdigung meiner Mutter gekommen.«

»Das mit deiner Mom tut mir leid, ich habe davon gehört.« Sie drückte leicht meine Hand. »Ich würde dir gerne mehr dazu sagen, aber deine Mutter lebte in den letzten Jahren sehr zurückgezogen. Ich habe sie kaum gesehen.«

»Ja, meine Mom war gern allein, selbst als ich noch bei ihr wohnte. Ich glaube, das war einer der Gründe, warum ich es hier nicht länger ausgehalten habe.« Meine Mundwinkel zuckten leicht.

»Und was willst du jetzt machen?«

»Ich muss mich erstmal um die Beerdigung kümmern. Das Haus verkaufen und all diese Dinge.« Müde strich ich mir über die Stirn.

»Du willst es nicht behalten? Also wirst du Olympia bald wieder verlassen?«

»Um ehrlich zu sein, ich habe keine Ahnung. Ich bin gerade erst angekommen. Ich bin in den letzten Jahren viel gereist und denke schon, dass ich einige Zeit hier bleiben werde, um alles ins Reine zu bringen. Was danach kommt, weiß der Himmel.«

Etwas hilflos hob ich die Schultern. »Aber lass uns nicht immer nur von mir reden, dazu haben wir bestimmt noch später Zeit. Wie ist es dir ergangen? Was ist mit Frankie passiert, hat er den Laden aufgegeben?«

Etwas stolz berichtete Kayley: »Es ist seit acht Jahren mein Lokal, nachdem Frankie sich zur Ruhe gesetzt hat. Kaum zu glauben, wie lange das alles schon her ist. Hier hat sich nicht viel verändert. Olympia ist immer noch die Kleinstadt, die sie war. Einige unserer Freunde sind wie du in die weite Welt gezogen, andere sind hier geblieben und …«, mit einem kleinen Lächeln fügte sie hinzu, »manche kommen zurück! Hey, erinnerst du dich noch an Hayden Dawson, er sitzt dort drüben, wie fast jeden Abend … Hayden! Schau mal, wer wieder da ist!«, rief sie dem Gast zu, der allein am anderen Ende des Raumes saß. Langsam drehte er sich zu uns um und mir wurde mit einem Schlag klar, warum ich Olympia so viele Jahre den Rücken gekehrt hatte.

Er stand langsam auf und kam mit seiner entspannten Art, die mich schon immer auf die Palme gebracht hatte, zu uns herüber.

»Hayden erinnerst du dich noch an Amber Maguire? Wir waren im gleichen Jahrgang.« Kayley schaute ihn mit großen Augen an.

Lässig, die Daumen in den Hintertaschen seiner Jeans vergraben blieb er vor mir stehen, und musterte mich mit einem abschätzenden Blick. Er sah sehr gut aus. Aus dem dünnen Jungen war ein großer breitschultriger Mann geworden. Das Gesicht war mit scharfen Konturen geschnitten, die Nase gerade über seinen sinnlichen Lippen und die hellblauen Augen waren messerscharf auf mich gerichtet. Sein dunkelbraunes Haar trug er bis zum Kinn, unter seinem schwarzen Hemd zeichneten sich überdurchschnittliche Muskeln an Armen und Oberkörper ungemein sexy ab. Seine enge Jeans saß lässig auf den Hüften und die Beine steckten in abgetragenen, aber coolen Doc Martens.

Mir war, als würde mein Herzschlag für einen Augenblick aussetzen. Ohne zu fragen, setzte er sich auf die gegenüberliegende Bank an unseren Tisch. Bevor er antwortete, legte er seine Hände sorgsam gefaltet auf die karierte Tischdecke.

»Natürlich erinnere ich mich an Amber«, sagte er mit einem Unterton, den nur ich verstand. Vielleicht bildete ich es mir auch nur ein, doch ein kurzer unsicherer Blick in seine eisblauen Augen bestätigte meine Vermutung.

»Hallo Hayden, schön dich zu sehen«, kam es mir leise über die Lippen. Hitze stieg in mir auf. Ihn nach all den Jahren hier wiederzusehen, warf mich regelrecht aus der Bahn. Es hatte mich vollkommen unerwartet getroffen, als wäre ein Güterzug in voller Fahrt über mich hinweg gerast.

»Ist das nicht Wahnsinn, da schneit sie an einem schönen Sonntagabend einfach in mein Lokal, so als wäre sie nie weg gewesen.« Kayley war immer noch ganz außer sich.

»Ja, das kannst du wohl sagen.« Hayden wählte seine Worte bedächtig. »Mir kommt es auch so vor, als wäre gerade erst der Abend unseres Schulballs gewesen.«

Er ließ mich bei diesem Satz nicht aus den Augen. Unsicher schaute ich aus dem Fenster. Meine Handflächen schwitzten und ich war heilfroh, dass er mir zur Begrüßung nicht die Hand gereicht hatte.

»Jetzt sitze ich hier und vergesse ganz meine Pflichten. Ich bringe euch sofort etwas zu essen.« Ohne eine Bestellung aufzunehmen, verschwand Kayley schnell in die Küche und ließ mich mit Hayden allein am Tisch sitzen.

Mir war nicht wohl in meiner Haut und ich rutschte etwas unruhig auf meiner Bank hin und her.

Haydens Augen waren auf mich gerichtet und er dachte nicht daran, woanders hinzuschauen. Ich hatte nie wieder solch ein helles und durchdringendes Blau gesehen. Die Farben des Meeres an einem eisigen Tag. Diese Augen erkannte ich unter Tausenden wieder. Langsam kam mir der Gedanke, dass er es geradezu genoss, mich so verlegen zu sehen. Daher beschloss ich, in die Offensive zu gehen.

»Und, wie ist es dir so ergangen, Hayden?« Fragend schaute ich ihn an.

Sein gebräuntes Gesicht sah immer noch jugendlich aus. Auch er musste, wie Kayley und ich, mittlerweile um die vierunddreißig Jahre alt sein. Kleine Lachfältchen spielten um seine Augen. Er maß über einen Meter fünfundachtzig, war damit also mindestens zwei Köpfe größer als ich.

»Nun, ich lebe immer noch in Olympia«, es klang nicht wirklich freundlich, »in dem Haus meines Vaters, du weißt ja vermutlich, dass es ganz in der Nähe deines Hauses liegt. Das mit deiner Mutter tut mir leid. Ich habe sie ab und an gesehen. Sie hatte sich nach deinem Verschwinden verändert.«

Es klang nach einem Vorwurf. »Und du, wo hast du dich rumgetrieben?« Sein Tonfall war alles andere als freundlich. Ich wollte ihm gerade eine passende Antwort geben, als Kayley mit zwei großen Tellern an den Tisch trat.

»Du musst ja ganz verhungert sein, Amber. Ich habe dir dein Lieblingsessen zubereitet, Shrimps Omelette, das gibt es bei mir immer noch, konnte es deinetwegen nicht von der Karte nehmen, in der Hoffnung, dass du eines Tages hier hereinschneist und es wieder bestellst. Und wie du siehst, hat es geklappt.«

Ich lächelte Kayley dankbar an.

»Und für dich wie immer Steak und Salat. Weißt du, Amber, Hayden ist mein bester Stammkunde. Seit sein Vater vor einigen Jahren gestorben ist, kommt er fast jeden Abend zum Essen her. Ohne ihn wäre der Laden schon längst pleite.« Sie klopfte ihm lachend auf die Schulter.

In der Zwischenzeit hatten andere Gäste das Lokal betreten und Kayley war bereits auf dem Weg, ihre Bestellungen aufzunehmen. Ich fühlte mich unwohl in der Gesellschaft von Hayden, machte mich aber über das Essen her, denn mein Magen knurrte und verlangte nach Nahrung. Auch er schien hungrig zu sein. Ohne weiter etwas zu sagen, nahm er Messer und Gabel und begann zu essen.

»Dein Vater ist gestorben?«, fragte ich in die Stille hinein, denn nur sein gleichmäßiges Kauen war leise zu hören.

Er nickte und schluckte gleichzeitig. »Ja, vor einigen Jahren. Er hatte einen Autounfall.«

»Das tut mir leid.«

Schweigen.

»Und was machst du so?« Meine Neugier war mir unangenehm, aber mir fiel einfach kein neutrales Thema ein.

»Ich arbeite als Glasbläser.«

»Was? Nein, Hayden ist ein Künstler!«, rief Kayley von der Theke aus zu unserem Tisch herüber. »Er ist ein Meister der Glaskunst und arbeitet im Museum of Glass in Tacoma, das musst du dir unbedingt ansehen.«

»Reichst du mir bitte das Salz herüber?«

Ich hielt Hayden den Salzstreuer hin und für eine Sekunde berührten sich unsere Finger. Mich durchfuhr ein elektrischer Schlag und ich riss meine Hand sofort zurück. Er quittierte diese Geste mit einem spöttischen Lächeln.

»Warum bist du hier?« Hayden schaute mir direkt in die Augen und ich hielt diesmal seinem Blick stand.

»Ich muss die Beerdigung meiner Mutter regeln, den Verkauf des Hauses, all diese Dinge. Deshalb bin ich zurückgekommen.«

»Und ich dachte, wegen des schönen Wetters.«

Nachdem wir gegessen hatten, kam Kayley und brachte uns Kaffee. »Ich würde euch gerne Gesellschaft leisten, aber ich muss dringend in der Küche helfen.« Und schon war sie verschwunden.

Liebend gern hätte ich ihr meine Hilfe angeboten, nur um nicht allein mit Hayden an einem Tisch zu sitzen, doch dazu ließ sie mir keine Gelegenheit.

»Wo kommst du jetzt her?«, nahm er den Faden wieder auf und trank einen Schluck Kaffee, schwarz wie seine Seele.

»Aus San Francisco. Habe dort für einen Reiseführer Landschaften fotografiert. Ich arbeite als freie Fotografin für einen Reisebuchverlag«, antwortete ich nicht ganz ohne Stolz und Hayden nickte wissend.

»Du ranntest schon immer mit diesem Kasten vor der Nase rum, dann hast du sicherlich einiges gesehen.«

»Ja, kann man so sagen. Ich habe ein paar Jahre in New York gelebt. Doch seit geraumer Zeit reise ich durch das Land.«

»Also ganz der unstete Mensch, der du immer schon warst.«

Ich wusste nicht, warum er es darauf anlegte, mich zu provozieren, aber er hatte Erfolg damit.

»Du musst dich nicht mit mir unterhalten, Hayden. Ich bin es gewohnt, allein zu essen. Wenn ich dich langweile, darfst du dich gerne an einen anderen Tisch setzen.« Wütend schaute ich in seine Augen und für einen kurzen Moment sah ich etwas darin aufblitzen. Doch äußerlich war er ganz die Ruhe selbst.

»Von Langeweile kann keine Rede sein«, er sprach leise und bedächtig, nachdem ich etwas zu laut wurde. »Es ist interessant zu hören, was so aus dir geworden ist. Einige haben sich gefragt, wo du abgeblieben bist.«

»Das kann ich mir kaum vorstellen, so viele Freunde hatte ich hier nicht.« Ich griff ebenfalls nach meinem Kaffeebecher, setzte ihn aber wieder ab. Meine Hand zitterte vor Wut.

Es herrschte Schweigen zwischen uns und ich schaute ungeduldig auf die Uhr. Mittlerweile war es halb zehn und meine Augen wurden immer schwerer. Zeit mich zu verabschieden.

»Schön, dass wir uns begegnet sind, aber ich muss jetzt los. Ich werde morgen zum Haus meiner Mom gehen, also sollte ich zeitig aufstehen.«

»Kann ich dich mitnehmen?« Er hatte sich ebenfalls erhoben.

»Oh, nein …«, ich winkte ab, »mein Hotel liegt ganz in der Nähe, das schaffe ich schon, aber danke für dein Angebot.« Ich zog hastig meine Jacke über und schaute noch kurz zu Kayley, um ihr Bescheid zu geben, dass ich morgen wiederkommen würde. Sie winkte mir lächelnd zu und ich verließ das Lokal wie ein gehetztes Tier. So sehr ich mich darüber freute, Kayley wiederzusehen, war ich mir sicher, dass es absolut falsch gewesen war, wieder nach Olympia zurückzukehren.

Kapitel 3

Water Street

Die Nacht war kurz und trotz der großen Müdigkeit fand ich keinen Schlaf. Unruhig wälzte ich mich von einer Seite auf die andere. Ich war es gewohnt in Hotelbetten zu übernachten, ein eigenes hatte ich ja nicht. Doch sobald ich die Augen schloss, tauchten die Bilder von Kayleys Diner in meinem Kopf auf. Es war so wunderbar, ihr lautes und fröhliches Lachen zu hören.

Sie war schon immer ein Wirbelwind gewesen und wir waren bereits als kleine Kinder befreundet. Doch nachdem ich Olympia verlassen hatte, brach der Kontakt komplett ab. Wofür ich natürlich nur mir selber die Schuld geben konnte.

Zu Anfang schrieb ich ihr ab und an eine Postkarte, doch auch das schlief irgendwann ein. Langsam bekam ich ein schlechtes Gewissen. Eigentlich hatte ich es nicht verdient, dass Kayley mich wieder mit offenen Armen aufnahm, nach so langer Zeit, und erwartet hatte ich es erst recht nicht.

Ich stand auf und ging ins Bad. Im grellen Licht des Badezimmers sah ich dunkle Ringe unter meinen Augen im Spiegelbild. Das lange dunkelrote Haar lag wirr um meinen Kopf. Ich fühlte mich benommen. Die weite Fahrt hatte mir mehr zugesetzt, als ich zugeben wollte, aber das war nur die halbe Wahrheit.

Vielmehr grübelte ich über die Worte von Hayden Dawson. Ich dachte wegen des schönen Wetters … also ganz der unstete Mensch, der du immer warst, so ein Schwachsinn, reine Provokation.

Die Worte hallten in meinem Kopf wider. Ich schien nicht die Einzige zu sein, die sich verändert hatte, und musste unbedingt mit Kayley reden. Sie würde mir einige Fragen beantworten müssen.

Nach einer viel zu kurzen und nicht wirklich guten Nacht, machte ich mich bereits früh am Morgen auf den Weg zu Kayley.

Als ich das Lokal betrat, wurde ich herbe enttäuscht.

Anstelle von Kayleys fröhlichem Gesicht blickte mich eine junge Frau an. Auf mein Nachfragen hin erfuhr ich, dass Kayley immer erst ab dem Abend im Diner arbeitete. Nach einem kleinen, aber guten Frühstück beschloss ich, endlich zum Haus meiner Mom zu gehen.

Der Morgen sah vielversprechend aus. Die sommerliche Temperatur und der blaue Himmel versprachen, dass es ein schöner Frühlingstag werden würde. Obwohl es vom Black Lake Boulevard zur Water Street mehr als zwei Meilen waren, lief ich gut gelaunt drauf los. Seit Tagen hatte ich endlich ein gutes Gefühl. Ich wusste nicht woran es lag, ob das schöne Wetter meine Stimmung auf ein Hoch brachte oder Kayleys zauberhaftes Lächeln mir gut tat. Ich war mir nur einer Sache sicher, dass es nicht daran lag, Hayden Dawson begegnet zu sein.

Warum lief ich in der Stadt mit circa vierzigtausend Einwohnern direkt am ersten Abend dem Mann über den Weg, dem ich am allerwenigsten begegnen wollte? Ich haderte mit meinem Schicksal. Womit hatte ich das verdient?

Nachdem ich den Capitol Lake überquert hatte, war es nicht mehr weit, aber je näher ich meinem Ziel kam, umso schwerer und langsamer wurden meine Schritte. Von der 5th Avenue bog ich rechts in die Columbia Street ab. Für einen Montagmorgen herrschte hier eine Menge Betriebsamkeit.

Von hier aus war es nur noch ein kurzes Stück bis zur Water Street. Das Haus lag an der Ecke zur 17th Avenue. Die hellblaue Fassade war mittlerweile verblasst, aber mit den weißen Fensterrahmen sah es immer noch gut aus. Es war der typische Baustil Olympias. Die Fenster mit den Holzläden gingen zu beiden Straßenseiten hinaus. Die kleine Garage stand etwas abseits des Hauses, war aber in den gleichen Farben gestrichen. Das große Blumenbeet mit dem japanischen roten Ahorn an der Ecke, wo beide Straßen aufeinandertrafen, schien schon länger nicht mehr gepflegt worden zu sein. Die Treppe vor dem Haus mit ihren zweimal vier Stufen nahm einen großen Platz ein und wirkte einladend. Den wuchtigen Hortensienbüschen neben dem Eingang erging es nicht anders, als dem Blumenbeet. Sie mussten dringend zurückgeschnitten werden. Trotz der mangelnden Pflege blühten sie in einem üppigen Weiß, Blau und Rosa.

Auf der vorderen Terrasse standen immer noch die Holzmöbel. Auch sie hatten ihre beste Zeit hinter sich, aber sie gaben dem Haus seinen leichten viktorianischen Stil und gehörten für mich schon immer hierher.

In der Ferne war die Kuppel des Capitols sichtbar. Erstaunlich, wie ähnlich es seinem großen Bruder in Washington D.C. sah.

Ruhig stand ich dort und ließ den Eindruck auf mich wirken. Eine breite Rasenfläche verlief u-förmig um das Haus meiner Mutter. Der Rasen musste dringend geschnitten und gegossen werden. Ich sah, es gab viel Arbeit. Doch das hatte Zeit, es gab wichtigere Dinge zu erledigen. Ich öffnete den Briefkasten, der am Straßenrand stand. Wie erwartet gab es nur wenig Post. Neben einigen Rechnungen enthielt er nur einen Brief von dem Bestattungsunternehmen, das sich mit mir über meinen Verlag in Verbindung gesetzt hatte. Darum musste ich mich sofort kümmern, alles andere konnte warten.

Langsam ging ich die Stufen zur Veranda hinauf und ich hatte das Gefühl, einen Berg zu besteigen. Das Atmen fiel mir plötzlich schwerer und die Luft wurde immer dünner. Ich erklomm im übertragenen Sinne einen Gipfel voller Erinnerungen. Zögerlich benutzte ich den Schlüssel, der unter dem großen Blumentopf lag. Kein fantasievolles Versteck, aber Mom war der Meinung gewesen, es gäbe bei ihr nichts stehlen. Die Blüten der Hortensie reichten bis weit über der Veranda. Ich strich ihnen leicht die Köpfe, als wollte ich Hallo sagen. »Bald werde ich mich um euch kümmern«, murmelte ich intuitiv.

Dann betrat ich leise das Haus und lachte über mich selbst, als ob mich jemand hätte hören können. Die Fliegengittertür fiel sanft ins Schloss. Im Wohnzimmer waren alle Möbel mit weißen Stofflaken abgedeckt, so wurden sie wenigstens vor dem Staub geschützt. In der Leseecke, auf der rechten Seite, stand Moms Schaukelstuhl, ein Buch lag noch aufgeschlagen auf dem kleinen Tisch daneben. Langsam ging ich hinüber und hob es auf. City by the bay. Ich kannte es sehr genau. Es war von mir!

Verwundert legte ich es zurück.

Ich streifte weiter durch das Haus, welches fast zwanzig Jahre mein Zuhause gewesen war und das ich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verlassen hatte. Es schien mir eigenartig unverändert und doch war es mir fremd.

Im hinteren Teil des Hauses lag das Esszimmer mit Blick auf die Terrasse. Ich öffnete die Türen und ließ etwas Licht herein. Der Garten war wunderschön. Überall blühten bereits die ersten Rosen und ein Meer von anderen Pflanzen. Es musste meine Mutter viel Zeit und Arbeit gekostet haben, all diese Blumen zu pflegen. Einige Blumen waren vertrocknet, aber im Großen und Ganzen war die kleine Anlage äußerst gepflegt.

Über die Treppe im Wohnzimmer ging ich hinauf in den ersten Stock. Hier befanden sich drei Schlafzimmer und zwei kleine Bäder. Die Teppiche waren schon etwas abgenutzt, aber nicht alt. Am Ende des Flurs lag mein altes Zimmer, alle Türen waren geschlossen, daher betätigte ich den Lichtschalter, doch er funktionierte nicht. Vermutlich war der Strom abgestellt. Unterhalb der Treppe gab es einen Sicherungskasten, ich würde später danach sehen. Etwas unsicher öffnete ich die Tür zu meinem alten Leben. Sie knarrte laut. Ich trat einen Schritt vor, hielt dann aber doch inne. Mein Fensterladen war geschlossen, sodass der Raum im Dunklen lag. Mit dem wenigen Licht, das vom Flur aus ins Zimmer fiel, konnte ich mein altes Bett und das Bücherregal erkennen, auch die Tapete mit den kleinen Lavendelblüten war noch an den Wänden. Nein, ich war noch nicht bereit diesen Raum zu betreten. Ich sollte mich erst einmal um andere Dinge kümmern. Das Zimmer lief nicht weg. Ich machte einen Schritt zurück und spürte plötzlich eine Hand auf meiner Schulter.

»Ah!«, ich schrie erschrocken auf, drehte mich ruckartig um und schlug mit dem Kopf gegen etwas Hartes.

»Aua, kannst du nicht aufpassen?« Hayden Dawson rieb sich seine Stirn, auf der eine rote Stelle hervortrat.

»Mein Gott, Hayden! Musst du dich so anschleichen?«

Meine Stimme klang schrill. Ich rieb mir ebenfalls meinen Hinterkopf. Das würde eine schöne Beule geben.

»Was machst du überhaupt hier? Wie kommst du herein?« Ich rieb immer noch meinen Kopf und funkelte ihn böse an.

»Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken. Die Haustür stand offen. Du sagtest ja gestern, dass du dich um das Haus kümmerst, da dachte ich, dass ich dir lieber den Strom wieder einschalte. Ich hatte ihn abgeklemmt, nachdem deine Mutter …«, den Rest ließ er offen. Er stand wie ein begossener Pudel vor mir. Da tat er mir fast ein wenig leid.

»Ich wollte dich nicht verletzen, ich habe nur nicht mit dir hier im Haus gerechnet.«

»Nein, schon ok. Es war meine Schuld, ich hätte mich eher bemerkbar machen müssen. Es ist nicht der Rede wert.«

Er fuhr sich mit dem Handrücken über seine Stirn. Ein dunkelroter Fleck war jetzt deutlich sichtbar.

»Zeig mal her«, ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um nach seiner Stirn zu sehen. Als ich die Haut um die rote Stelle vorsichtig berührte, wich er mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück.

»Nein, schon gut, es ist ok.«

»Danach sieht es aber nicht aus.«

»Alles in Ordnung.«

Er drehte sich abrupt um und eilte die Treppe hinunter. Ich schloss die knarrende Tür meines alten Zimmers, folgte Hayden Dawson ins Erdgeschoss und fand ihn im Garten.

»Sorry, Amber, das wollte ich nicht.«

Er sah verlegen aus.

»Warum hast du den Strom abgestellt?« Ich blickte ihn fragend an.

»Ich habe mich etwas um das Haus und den Garten gekümmert, seit es deiner Mutter nicht so gut ging.« Dabei mied er meinen Blick.

»Du hast meiner Mom geholfen?« Ich war sehr überrascht.

»Ja, im Garten. Bis vor ein paar Monaten kam sie gut allein zurecht. Ich habe den Rasen gemäht, die Hecken geschnitten und all das.«

»Oh, gut, dann kannst du mir ja helfen, hier Ordnung zu schaffen«, verlegen biss ich mir auf die Lippen, »ich meine ja nur, wenn du Lust und Zeit hast.« Sofort bereute ich die Worte. »Ich werde dich natürlich dafür bezahlen.« Es wurde immer schlimmer. Je mehr ich sagte, umso konfuser hörte es sich an.

»Hm, ich schau mal, ob ich das hinbekomme … stelle dir jetzt den Strom an.« Er drehte sich ohne weiteres um und lief schnurstracks ins Haus.

Ich folgte ihm nicht. Mir war es wohler hier an der frischen Luft, als in der Nähe von Hayden. Die Beule am Hinterkopf pochte laut in meinen Ohren. Auf der Terrasse standen ein rechteckiger Tisch und vier passende Stühle, ebenfalls aus Holz, wie auf der Veranda, nur moderner. Ich setzte mich und blickte in den Garten. Hayden war meiner Mutter zur Hand gegangen, ich wusste nicht einmal, dass sie sich kannten. Plötzlich machte sich ein schlechtes Gewissen in mir breit. Zum ersten Mal kamen in mir wirklich Zweifel auf. War es richtig gewesen, mich all die Jahre nicht zu melden oder hätte ich mich lieber den Problemen mit meiner Mutter stellen sollen, um sie aus der Welt zu schaffen?

Hayden brauchte nicht lange. »So, Strom ist wieder da. Für den Fall, dass du hier wieder einziehen willst.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe mein Hotelzimmer zwar nur für eine Nacht, aber ich kann es verlängern. Ich weiß nicht, ob es richtig wäre, hier zu wohnen.«

»Hast du Angst vor den alten Geistern?« Er lächelte etwas verhalten, doch seine Augen blickten kühl. Na, immerhin ein leichtes Lächeln.

»Nein, eher vor fremden Männern, die plötzlich von hinten nach mir greifen«, schoss ich zurück.

»Ich habe dich nicht angegriffen!«

»Das habe ich auch nicht gesagt.« Ich gab mir Mühe und lächelte ihn an. »Es gibt noch einige Dinge zu erledigen«, entgegnete ich und erhob mich von meinem Stuhl, bevor dies hier in einem Streit enden konnte.

Hayden wandte sich um. »Gut, wenn du was brauchst, du weißt ja, wo ich wohne.« Er blickte mir kurz in die Augen und ging mit großen Schritten über den Rasen zur Straße.

»Danke für den Strom«, rief ich ihm hinterher, doch ich war mir nicht ganz sicher, ob er meine Worte verstanden hatte.

Kapitel 4

Nach Hause kommen

Die Beerdigung meiner Mutter war für den nächsten Samstag geplant. So konnten noch einige unklare Dinge in Ruhe entschieden werden. Wobei ich dem Bestatter ganz freie Hand ließ, was das Wie und Wo betraf. Der Tod war für mich bisher nie ein Thema gewesen, es gab in meinem Leben nicht viele Menschen, die ich hätte verlieren können. Also doch unstetig! Hayden schien mich durchschaut zu haben, aber ich würde den Teufel tun und ihm zustimmen. Was wusste er schon von meinem Leben? Nur weil ich frühzeitig Olympia verlassen hatte, konnte er nicht einfach davon ausgehen, dass ich nur in den Tag hineingelebt hatte. Mein Job als Fotografin war erfüllend, ich verbrachte die meiste Zeit an Orten, die wesentlich schöner waren als Olympia. Er war vermutlich aus den Grenzen von Washington State nicht einmal im Leben herausgekommen. Den Gedanken daran, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn ich meine Mutter und die Stadt nicht verlassen hätte, wollte ich nicht aufkommen lassen.

Man konnte die Vergangenheit nicht ändern, dafür aber die Zukunft planen. Obwohl ich mir eingestehen musste, dass dieses Was-wäre-wenn-Gefühl mich seit einigen Tagen doch sehr beschäftigte.

Am frühen Abend schaute ich bei Kayley vorbei. Ich befürchtete schon, Hayden über den Weg zu laufen, aber als ich den Diner betrat, war nichts von ihm zu sehen. Ich wollte meine Schulden für das Abendessen begleichen, doch Kayley wies mich beleidigt zurück. Das Lokal war noch leer und so konnten wir über alte Zeiten plaudern.

»Erinnerst du dich an Josh Bloom? Ich bin damals auf der High School mit ihm gegangen.« Das Leuchten in ihren Augen entging mir nicht. Ich nickte zustimmend. »Ja, natürlich erinnere ich mich an Josh.«

»Wir sind verheiratet! Schon seit zehn Jahren.«

»Was? Ich habe immer gesagt, dass er der Richtige für dich ist.«

Sie nickte zustimmend. »Ja, das hast du. Und du hattest recht. Er ist das Beste, was mir passieren konnte. Josh hat Jura studiert und arbeitet in einer kleinen Kanzlei und wird bald Partner.«

Ich beneidete Kayley um ihr Leben. Vor allem um den Glanz in ihren Augen, als sie Joshs Namen aussprach. Ich konnte mich noch gut an den großen, blonden, sportlichen Jungen erinnern, den Kapitän des Basketballteams unserer Schule.

»Ich freue mich, dass es dir gut geht, Kayley. Was gibt es sonst Neues, was kannst du mir erzählen?« Nun hatte mich doch die Neugier gepackt.

»Erinnerst du dich noch an Thomas Jefferson?«

»Du meinst den Typ, der sich immer als dritter Präsident vorstellte?« Ich erinnerte mich dunkel.

»Ja, genau. Tom ist Joshs bester Freund. Er arbeitet in der Firma seines Vaters. Sie verkaufen Lachse, er riecht öfters etwas streng.« Sie hielt sich die Nase zu. Wir brachen in großes Gelächter aus, wie zwei High-School-Schülerinnen, die sich ihre Zeit mit dem neusten Klatsch vertrieben. »Was ist aus Alison geworden? Lebt sie noch hier in Olympia?«

»Nein, sie ist nach New York gezogen, hat dort geheiratet. Ab und zu kommt sie ihre Familie besuchen. Aber nicht oft.«

»Und Hayden, was macht er so? Er erwähnte, dass sein Vater bei einem Autounfall ums Leben kam?« Die Frage sollte beiläufig klingen, doch mein Tonfall verriet mich.

»Nun, mit Hayden ist das so eine Sache. Er lebt überaus zurückgezogen. Immer noch in dem Haus seines Vaters. Ein betrunkener Autofahrer nahm ihm die Vorfahrt, er war auf der Stelle tot. Das war ein schwerer Schlag für Hayden, besonders nachdem ihn Elisabeth gerade verlassen hatte. Zwei Schicksalsschläge auf einmal, wer verkraftet so etwas. Da muss man sich nicht wundern, wenn jemand seltsam wird. Aber Hayden war schon immer ein Einzelgänger.«

»Du meinst nicht etwa Elisabeth Miller?«, unterbrach ich sie.

»Doch, Hayden hatte sie, kurz nachdem du Olympia verlassen hast, geheiratet. Es war eine Teenagerromanze. Sie hielt nicht allzu lang. Du kennst ja Elisabeth, sie ist mit irgendeinem Schauspieler durchgebrannt. So hat es Hayden erzählt. Hier aufgetaucht ist sie jedenfalls nicht mehr. Jetzt arbeitet er im Glasmuseum in Tacoma. Dort sind auch einige seiner Werke ausgestellt. Er ist sehr begabt. Du musst es dir unbedingt ansehen. Aber erzähl doch endlich mal etwas von dir. Ich rede die ganze Zeit, dabei bist du durch die weite Welt gereist.«

Sie schaute mich neugierig an.

»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll», gestand ich.

Kayley blickte mich ernst an. »Wie wäre es zum Beispiel mit dem Grund deines Verschwindens? Amber, es fällt mir echt schwer, du bist meine beste Freundin und ich weiß, eigentlich geht es mich nichts an. Doch gerade weil wir so gut befreundet sind, habe ich nie verstanden, warum du es mir nie erzählt hast. Amber, bitte, was ist damals vor vierzehn Jahren geschehen, dass du Hals über Kopf weggelaufen bist?«

Sie blickte mir tief in die Augen und ich wusste, aus dieser Nummer kam ich nicht mehr raus. Es war der Moment gekommen, an dem ich mich der Vergangenheit stellen musste.

»Nachdem mein Vater uns verlassen hatte, veränderte sich meine Mutter. Sie war früher so lebensfroh und aufgeschlossen. Aus ihr wurde ein ganz anderer Mensch. Sie igelte sich komplett ein. Ließ niemanden an sich heran, auch mich nicht. Wollte mich vor allem beschützen. Ich hatte in der High School schon kaum Kontakt zu anderen, außer zu dir und ein paar Mädchen. Einen Jungennamen durfte ich gar nicht erwähnen. Sie machte mir einfach das Leben zur Hölle, ich war eine Gefangene in ihrem Haus. Bis ich es nicht mehr aushielt. Am Abend des Abschlussballs kam es zum Eklat. Sie hatte mir verboten hinzugehen. Dabei hatte ich mich doch verliebt und war mit ihm verabredet! Einmal im Leben ausgehen, mit Freunden feiern …«

Ich starrte gebannt vor mich hin, war nicht in der Lage, Kayley in die Augen zu schauen. Plötzlich war ich wieder zwanzig Jahre alt. »Mom ließ mich nicht gehen. Kaum zu glauben, aber sie sperrte mich in meinem Zimmer ein. Sie verlor völlig die Kontrolle. War wie von Sinnen. In der Nacht packte ich meine Sachen und flüchtete aus dem Fenster.«

Kayley starrte mich mit großen Augen an.

»Amber, warum hast du mir nie etwas gesagt? Wieso bist du nicht zu mir gekommen?«

Ich hob hilflos die Schultern. »Ich konnte es nicht. Was sollte ich dir sagen? Ich schämte mich. Es war nicht zu ändern. Meine Mom war krank und egal was ich tat, sie wollte sich nicht helfen lassen. Darum musste ich gehen. Das war für mich der einzige Weg, um nicht selbst den Verstand zu verlieren.«

»Oh, Amber!« Sie strich mir liebevoll über den Kopf.

»Autsch.« Ich zuckte zusammen.

»Was hast du?«

Ich lächelte. »Sorry, ich habe mir den Kopf gestoßen. Nichts Besonderes.« Leicht rieb ich über meinen Hinterkopf.

»Es stimmt. Es kam mir schon immer komisch vor, dass du dich nur nach der Schule mit uns trafst, nie am Abend. Ich dachte, dir läge nicht viel daran und du steckst deine Nase lieber in die Bücher. Wie konnte ich nur so falsch liegen? Oh, Amber, es tut mir so leid. Warum habe ich nicht eher davon erfahren und dir helfen können?«

Liebevoll nahm sie mich in den Arm, mied dabei sorgfältig die Beule an meinem Kopf. Ihr Trost tat gut. Es war, als würde ich nach einer langen Reise endlich heimkehren.

»Es ist gut Kayley. Das liegt alles hinter mir. Mein Leben ist einfach anders verlaufen als geplant. Man kann das Vergangene nicht umkrempeln. Ich blicke nur noch in die Zukunft. Es ist mir, nachdem ich Olympia verlassen hatte, ganz gut ergangen. Ich reise viel, habe einen guten Job, der mir Spaß macht, und verdiene genug Geld, was will ich mehr vom Leben?« Aufmunternd blickte ich sie an.

Sie nickte stumm und wischte sich verstohlen die Augen. »Du hattest an diesem Abend eine Verabredung? Wer hatte dich eingeladen?«

Ich biss mir auf die Unterlippe und schaute sie unschlüssig an.

Am späten Abend betrat Hayden Dawson ‚Kayleys Diner‘. Er nickte Kayley flüchtig zu, um die Bestellung aufzugeben. Nachdem sie den Teller mit Steak und Salat vor ihn auf den Tisch gestellt hatte, nahm sie ihm gegenüber Platz. Für gewöhnlich aß er allein, nur ab und zu leistete Kayley ihm Gesellschaft, aber nie, wenn der Laden voll war. Sie sah seinen fragenden Blick und winkte ab. »Mary-Lou hilft heute aus, sie kommt allein zurecht.«

Kayley schaute ihm offen ins Gesicht und entdeckte die Beule an der Stirn, die sich leicht Violett färbte.

»Was ist mit deinem Kopf passiert? Hattest du einen Unfall?«

»Nein, habʼ mir den Schädel gestoßen. Nichts Besonderes«, antwortete er mürrisch.

»Komisch, habe ich heute schon einmal gehört. Du hast nicht zufällig Amber getroffen?«

Hayden schaute von seinem Steak auf.

»Ich würde eher sagen, ihr Hinterkopf hat meine Stirn getroffen.«

»Ihr seid doch nicht etwa aneinandergeraten oder?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, es war ein Unfall. Habʼ ihr den Strom im Haus ihrer Mutter eingeschaltet«, antwortete er lakonisch. Mit dem Blick aus dem Fenster aß er weiter.

»Du hast mir nie erzählt, dass du Amber zum Ball eingeladen hast, damals bevor sie verschwand.« Kayley ging in die Offensive und blickte ihm geradewegs in die Augen. Er hielt ihrem Blick stand.

»Hat sie dir das erzählt?«

»Ja.«

»Das hat man davon, wenn man sich auf eine Rumtreiberin einlässt.« Hastig schnitt er ein Stück von seinem Steak, steckte es in den Mund und kaute darauf herum, um nicht weiter sprechen zu müssen. Doch Kayley ließ nicht locker.

»Du hast keine Ahnung, wovon du da sprichst. Bist du so verbohrt zu glauben, dass ein siebzehnjähriges Mädchen ohne triftigen Grund ihr Zuhause verlässt und erst nach vierzehn Jahren wieder vorbei schaut, um mal ‚Hallo‘ zu sagen?« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Als er nichts erwiderte, wurde Kayley langsam wütend.

»Selbst ein Holzkopf wie du muss zugeben, dass mehr dahintersteckt, als man auf den ersten Blick sieht.«

Hayden zuckte mit den Schultern. »Ist mir egal, geht mich auch nichts an.«

Sie schüttelte energisch den Kopf.

»Ich glaube dir kein Wort, mein Lieber!« Kayley ließ das Gesagte im Raum stehen und stand auf. Nach wenigen Schritten kam sie an seinen Tisch zurück.

»Ich erwarte dich morgen früh am Haus von Ambers Mutter. Wir helfen ihr, es ein wenig anders herzurichten, damit sie dort vorübergehend einziehen kann. Ich wünsche, dass du uns hilfst, falls nicht, war es das letzte Steak, das ich für dich gebraten habe.«

Mit viel Schwung riss ich die Laken von den Möbeln im Wohnzimmer. Der Staub, den ich dabei aufwirbelte, tanzte auf den Lichtstrahlen, die durchs Fenster fielen. Es war noch früh am Morgen und angenehm warm.

Ich hatte mir alles sorgfältig überlegt. Für die kurze Zeit, die ich in Olympia verbringen wollte, würde ich in das Haus meiner Mutter ziehen. Nachdem ich mir bei Kayley alles von der Seele geredet hatte, war mir ein großer Stein vom Herzen gefallen. Wohl eher ein ganzer Steinbruch. Der dunkle Zauber war verflogen und helles Licht durchbrach die düsteren Wolken, die die Sonne verdeckt hatten. Was konnte schon falsch daran sein, hier für eine Weile zu wohnen?

Im Esszimmer, im hinteren Teil des Hauses, gab es einen großen Tisch. Er passte hervorragend ins Lesezimmer. Dort gab es nicht so viel Sonnenlicht und ich würde besser an meinem Laptop arbeiten können. Der Tisch musste gut fünfzehn Meter durch das Haus getragen werden, ich wartete daher ungeduldig auf Kayley. Um Platz zu schaffen, räumte ich das Bücherregal leer. Ich besorgte Kartons und begann das Board freizuräumen. Verblüfft stellte ich fest, dass dort alle Bücher standen, die ich in den letzten Jahren veröffentlicht hatte oder in denen Bilder von mir abgedruckt worden waren.

Mom besaß sie alle. Sie standen sortiert nach Jahren im Regal, genau in Augenhöhe. Einige hatten Gebrauchsspuren, so als wären sie öfter zur Hand genommen worden. Es beschämte mich. Ich war davon ausgegangen, dass es meine Mutter nicht interessierte, was ich tat. Und nun entdeckte ich das hier. Langsam ließ ich mich auf einen Stuhl nieder. Meine Arbeit und damit mein Leben waren all die Jahre für sie von Interesse gewesen, ohne dass ich es auch nur geahnt hatte. Diese Erkenntnis machte mich sprachlos.

Aber woher hatte sie es gewusst? Bildbände und Reiseführer stehen in der Regel nicht gerade auf Platz eins der Bestenliste. Wie hatte sie die Informationen erhalten, wo sie doch so gut wie nie das Haus verlassen hatte?

Lautes Getrampel auf der Veranda weckte mich aus meinen Gedanken. Durch das Fenster sah ich Kayley die Stufen heraufkommen.

»Hey, du hast schon angefangen«, rief sie mir fröhlich zu. »Schau, wen ich anheuern konnte uns zu helfen!« Kayley blickte über ihre Schulter in Richtung Tür.

»Oh mein Gott, Tom, schön dich wiederzusehen!«, rief ich überrascht. Thomas Jefferson stand breitbeinig in einem rot karierten Hemd, das hervorragend zu seinem roten Haar passte, in der Tür, deren ganzen Rahmen er ausfüllte. Seine große Statur füllte den Raum, sodass dieser viel dunkler wirkte, als er eintrat. Er umarmte mich herzlich und ich nahm den leichten Fischgeruch wahr, der ihn umgab.

Sein lautes Lachen dröhnte durch das ganze Haus. »Kayley hat erzählt, dass du wieder da bist und Hilfe brauchst. Also, hier bin ich, was soll ich tun?« Tom hatte sich äußerlich etwas verändert, aber an seinen hellroten Haaren würde ich ihn überall wiedererkennen.

»Es ist schön, bekannte Gesichter wiederzusehen. Vielen Dank, dass du gekommen bist.« Toms freundliche Art war richtig ansteckend und ich hatte das Gefühl, meine Freunde wiedergefunden zu haben.

»Darf ich mal vorbei?«

Die missmutige Stimme von Hayden Dawson riss mich aus meiner Fröhlichkeit. Erschrocken drehte ich mich zur Tür. Bei all dem Trubel hatte niemand bemerkt, wie sich die Tür geöffnet hatte. Stampfend hievte er einen großen Werkzeugkasten ins Haus.

»Hallo Hayden«, rief Tom freundlich.

Hayden schaute nicht einmal auf. »Hier riecht es nach Fisch.«

Tom lachte grölend. »Ja, nach Lachs, mein Lieber«, rief er ihm hinterher, als er schon wieder auf dem Weg zu seinem Pick-up war, um weiteres Werkzeug anzuschleppen.

Ich sah Kayley fragend an.

Sie winkte nur ab.

»Der hat heute noch nicht gefrühstückt. Dann hat er immer schlechte Laune.«

So wirkte Hayden auf mich auch, mit ungekämmten Haaren und einem Dreitagebart stampfte er wieder ins Haus. Die Beule auf seiner Stirn war deutlich sichtbar und ich bekam ein schlechtes Gewissen. Der Stoß war doch heftiger gewesen, als er hatte zugeben wollen. Ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, ging er durch das Wohnzimmer hinaus auf die Terrasse und begann den Rasen zu mähen. Die Maschine machte einen ungeheuren Lärm. Ich hielt mir die Ohren zu, bis Kayley die Terrassentür schloss.

»So ist es besser«, lachte sie kopfschüttelnd. »Womit sollen wir anfangen?« Voller Tatendrang stemmte sie die Hände in die Hüften und schaute sich suchend um.

»Bücherregal abbauen, Tisch ins Lesezimmer«, kommandierte ich. Tom und Kayley machten sich mit mir im Haus an die Arbeit, während Hayden schlecht gelaunt im Garten schuftete.

Am Nachmittag war ich schließlich mit Kayley wieder alleine. Tom war mit einem ‚Wir sehen uns bald‘ ver-schwunden und Hayden hatte nicht nur den Rasen, sondern auch die Beete in Ordnung gebracht und war mit einem provokanten ‚So, ich hoffe das reicht für ein Steak‘ und einem zornigen Blick in Kayleys Richtung abgerauscht.

Als ich sie fragend ansah, trat nur ein breites Lächeln auf ihre Lippen, sie machte aber keine Anstalten, Haydens Verhalten zu erklären.

Gegen Abend waren wir fertig und Kayley musste zurück in den Diner. Sie hatte mir einige Lebensmittel besorgt, damit ich zurechtkam. Nachdem wir das Haus von den Staubfängern befreit und einmal ordentlich durchgelüftet hatten, wirkte es ausgesprochen gemütlich. Ich richtete mir eines der Gästezimmer im oberen Stockwerk als Schlafzimmer her. In mein altes Zimmer wollte ich auf keinen Fall zurück.

Der Leseplatz wurde zu einem richtigen kleinen Büro umfunktioniert. Hier konnte ich arbeiten. Wir hatten meinen Laptop aufgebaut und einen Drucker angeschlossen. Meine gesamte Fotoausrüstung verstaute ich in einem der Regale. Ich ließ meinen Blick durch die Wohnung schweifen. Jetzt hatte man von der Sitzgruppe im Wohnzimmer freie Sicht auf die Terrasse. Das Geschirr hob Mom immer noch in der Anrichte neben der Terrassentür auf, aber die Bilder an der Wand hatten gewechselt. Wo früher Familienporträts hingen, gab es jetzt einen großen Keilrahmen, auf dem eine Berglandschaft zu sehen war. Ich entschied, dass es Mount Rainier war. Und es gab eine Menge Glasskulpturen.

Einige waren mit weißen Streifen durchzogen, andere aus farbigem Glas. Es gab gut ein Dutzend dieser Figuren. Ich ging hinüber und schaute mir einige genauer an. Mir gefielen diese fantasiereichen Gebilde. Unter jeder Skulptur gab es eine Prägung in Form zweier Buchstaben, die ineinander verschlungen waren und ein kleines h und d ergaben.

Mit einer aufgebackenen Pizza auf den Knien saß ich am Schreibtisch, die Füße bequem auf der Tischkante und checkte meine E-Mails. Neben einer ganzen Reihe von Informations- und Werbemails hatte ich Post von meinem Verleger erhalten.

Doch ich war zu müde, um sie zu öffnen. Er wusste, dass ich mir eine Woche Urlaub genommen hatte und die wollte ich auch einhalten. Die ersten Ferien seit Jahren. Die E-Mail konnte wohlbehalten in ihrem Postfach warten.

Die Beerdigung meiner Mutter fand an einem tristen Samstagmorgen statt. Das Wetter passte zu meiner Stimmung. Leiser Nieselregen versperrte mir die tränennasse Sicht auf ihr Grab. Ich hatte das Gefühl, dort jemanden zu begraben, den ich nie richtig kennengelernt hatte. Das Bild, das ich von meiner Mutter hatte, veränderte sich mit jeder Minute mehr. Da gab es zum einen meine Bücher, die sie fein säuberlich nach Jahren sortiert aufbewahrte. Es gab ein Abonnement für ein Theater. Sie hatte sich für Kultur interessiert? Das war mir neu. In der Garage fand ich einen kleinen Ford. Er war noch nicht alt und die Schlüssel hingen am Brett neben der Haustür. Ich konnte mich nicht erinnern, dass Mom je ein Auto besessen hatte. Und es gab eine kleine Holzkiste. Sie war mir in die Hände gefallen, als ich nach einem Spiegel suchte. Die Kiste war verschlossen und wunderschön gearbeitet. Sie stand mitten auf meinem Bett und mein Blick fiel sofort darauf, als ich endlich mein altes Zimmer betrat. Ich nahm die Kiste mit hinunter zum Schreibtisch, in der Hoffnung, später den Schlüssel zu finden.

Still stand ich am Grab meiner Mutter, mit der beruhigenden Gewissheit, Kayley in meinem Rücken zu wissen. Ich hatte sie gebeten, mich zu begleiten und das war etwas, was sie mir nicht abschlagen konnte und wollte. Auch waren einige Nachbarn gekommen. Manche Gesichter kamen mir bekannt vor. Es überraschte mich, dass Tom Jefferson erschienen war. Vermutlich hatte Kayley ihn darum gebeten. Es war tröstend, vertraute Gesichter um mich zu haben.

Zu Anfang stand ich dort mit gemischten Gefühlen, kam mir fehl am Platz vor, aber je länger ich am Grab verweilte, umso mehr wurde ich mir des Verlustes bewusst. Ich hatte immer meiner Mutter die Schuld gegeben. Mir war nie in den Sinn gekommen, dass sie mich brauchte, dass auch sie alleine war. Als ich darüber nachdachte, kamen mir die Tränen. Wie ein großer Staudamm, dessen Schleusen endlich nach starkem Druck geöffnet wurden, rannen sie mir die Wangen hinunter. Gestern war ich felsenfest davon überzeugt gewesen, dass ich meine Gefühle unter Kontrolle hatte. Doch jetzt hier im Regen, mit den tief hängenden schwarzen Wolken über meinem Kopf, die auf meine Seele drückten, blieben mir nur die Tränen als guter Freund. Jede Einzelne brannte mir Löcher ins Herz, so gewaltig, dass ich Angst bekam, es würde nie mehr heilen. Als meine Schultern anfingen zu beben, begriff ich, dass ich um einen Menschen weinte, den ich für immer verloren hatte. Und diese Endgültigkeit ließ mich in meinem Handeln so hart und unnachgiebig erscheinen, dass ich mich selbst nicht mehr erkannte. Wenn ich geblieben wäre, hätte ich dann das College beendet, geheiratet und Kinder bekommen? Hätte Mom zugegeben, dass sie falsch gehandelt hatte? Hätten wir wieder zueinandergefunden? All diese Fragen waren nun in diesem Grab eingeschlossen und würden für immer unbeantwortet bleiben. Ich war nicht in der Lage mich zu rühren, selbst als der Regen meine Kleidung langsam aufweichte.

Als alle sich zum Gehen wandten, blieb ich zurück. Kayley und Tom verabschiedeten sich und ich war froh mit meiner Trauer allein zu sein. Mit Mom und meinen Tränen, die sich viele Jahre aufgestaut hatten. Sie rannen mir unaufhörlich über die Wangen, verbanden sich mit dem Regen und schmeckten salzig auf meinen Lippen. Ich legte eine weiße Rose auf ihr Grab, mit einer kleinen Karte, auf der ich ‚Vermisse dich!‘ geschrieben hatte. Und das war genau das, was ich in diesem Moment fühlte. Ich vermisste sie schrecklich und würde alles darum gegeben, sie noch einmal zu sehen. Mit ihr zu sprechen, das Gewesene zu bereinigen.

Nachdem ich eine Weile am Grab stand, berührte ich noch einmal die Rose. Sie war genauso vergänglich wie unser Leben. Ich wandte mich um und nicht weit von mir entfernt entdeckte ich Hayden. Als ich ihn sah, kam er langsam auf mich zu. Er war rasiert und trug ein weißes Hemd zu einem schwarzen Anzug. Mir war bisher gar nicht aufgefallen, wie gut er aussehen konnte, wenn er nicht mürrisch und schlecht gelaunt war. Obwohl er einen Regenschirm über uns hielt, fiel ihm sein nasses Haar in die Stirn.

»Das hatte sie nicht verdient!« Er reichte mir ein sauberes Taschentuch, das genau so weiß wie sein Hemd war. Ich sah ihn fragend an.

»Das hatte sie nicht verdient, so allein zu sterben, Amber.«

»Du kanntest sie, nicht wahr?«

Hayden nickte. »Ja, sie war einsam. Ich verbrachte manchmal etwas Zeit mit ihr. Bin mit ihr nach Seattle gefahren, habe mich um sie gekümmert.«

Meine Mutter war bereits über sechzig Jahre alt gewesen. Mir wollte die Beziehung zwischen ihr und Hayden nicht ganz klar werden.

»Komm, ich will dir etwas zeigen.« Er brachte mich zu seinem Wagen und half mir beim Einsteigen. Wir fuhren den Friedhof entlang und hielten kurz darauf an einer anderen Stelle. Er führte mich an eine Grabstätte, gepflegt mit frischen Blumen. Auf dem Grabstein stand:

Joseph Dawson 1949-2002

»Das Grab deines Vaters?«

Er nickte stumm und wandte mir seinen Blick zu. »Joseph lernte deine Mutter in der Kirche kennen. Sie besuchten immer gemeinsam die Sonntagsmesse. Erst trafen sie sich nach dem Gottesdienst, bald fuhren sie zusammen hin. Nach einiger Zeit gingen sie ins Theater. Sie verbrachten viele Stunden miteinander. Cathrin tat meinem Vater gut. Er war etliche Jahre allein, denn meine Mutter starb kurz nach meiner Geburt und Joseph hat nie wieder geheiratet.« Er blickte starr geradeaus. »Ich denke, er hat deine Mom sehr geliebt und er hat ihr geholfen, damit fertigzuwerden, dass du fort warst. Ich glaube auch, dass Cathrin viel für Joseph empfunden hat, sicherlich nicht so wie für dich, aber als er bei dem Unfall ums Leben kam, brach erneut eine Welt für sie zusammen. Ich besuchte sie ab und zu, half ihr mit dem Haus. Doch ihren Lebensmut hatte sie seit dem Unglück verloren. Ihr Herz wurde immer schwächer, bis es endgültig stillstand. Ich habe sie gefunden, in ihrem Lesezimmer mit deinem Buch in ihren Händen.«

Mein lautes Weinen riss Hayden aus seinem Rückblick. Ich versuchte, meine Tränen schnell mit dem Handrücken wegzuwischen, als könnte ich sie vor ihm verbergen.

»Es tut mir leid, Amber, aber ich bin der Meinung, dass du es wissen solltest. Was auch immer zwischen euch vorgefallen ist, niemand darf so hart bestraft werden. Sie war deine Mutter und die Chance ihr zu vergeben, kommt nie mehr zurück.«

Er schaute auf mich herab. Sein Blick schien mich zu durchbohren, doch ich konnte ihn nicht richtig deuten. Einen Augenblick später zog er mich sanft in seine Arme. Seine Wärme tat mir gut, ich lauschte seinem regelmäßigen Herzschlag. Er wiegte mich leicht wie ein Kind, hin und her. Die Berührung war so zart, doch schenkte sie unendlich viel Trost.

»Komm, ich fahre dich.« Er nahm meinen Arm.

Ich war wie betäubt, ließ mich willenlos führen. Erst als wir Moms Haus erreichten, wachte ich aus meinem Zustand auf.

»Kommst du noch mit rein? Ich möchte mehr über deinen Vater und Mom erfahren«, bat ich, ohne ihn anzuschauen.

»Ich habe dir alles erzählt.« Seine Stimme klang kühl.

»Bitte, ich möchte gerne mehr wissen, warum du mich so verurteilst, wenn du nur eine Seite der Medaille kennst.«

»Ich weiß bereits alles, was wichtig ist.« Er blieb stur.

»Hayden Dawson, in welchem Leben habe ich dir etwas angetan, dass du mich so behandelst?« Wütend blickte ich ihn an. Auch er schaute mir in die Augen und ich sah nichts Gutes darin. Fast wäre es mir lieber gewesen, er wäre gefahren, aber er besann sich dann doch eines Besseren, kam um den Wagen herum und half mir auszusteigen.

Der Regen hatte nachgelassen und einzelne, wärmende Sonnenstrahlen brachen durch die Wolken. Im Fenster der Wagentür erblickte ich mein jämmerliches Spiegelbild. Die dunkelroten Haare hingen in Strähnen von meinem Kopf und unter meinen Augen gab es dicke schwarze Mascara Spuren. Na klasse! Ich bat Hayden ins Lesezimmer und verschwand schnell, um mich umzuziehen. Als ich etwas trockener und mit frischen Sachen ins Erdgeschoss kam, stand Hayden mit zwei dampfenden Tassen vor der Terrassentür.

»Ich habe uns Kaffee gemacht.« Er reichte mir eine, die ich dankbar annahm.

»Sie hat ihre Rosen sehr geliebt.« Ich folgte seinem Blick in den Garten. »Jeden Monat kam sie mit einer neuen Sorte, die ich ihr pflanzen musste. Aber am meisten liebte sie die Evening Star, es war der erste Rosenstock, den Joseph ihr schenkte.«

Ich dachte an die weiße Rose auf ihrem Grab. »Ich freue mich, dass sie etwas gefunden hat, woran ihr Herz hing. Früher hatte sie nie genug Zeit, so was zu genießen. Sie war immer nur damit beschäftigt, sich Sorgen um mich zu machen.«

»Du hättest froh darüber sein sollen.«

»Warum verurteilst du mich so, Hayden?« Ich stand hinter ihm und trotzdem konnte ich gut erkennen, wie sich seine Wangenknochen anspannten.

»Ich verurteile dich nicht.«

Er drehte sich zu mir um und stand direkt vor mir. Ich hob die Hand und strich ihm eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Aber aus irgendeinem Grund bist du so feindselig. Ich möchte wissen warum, was habe ich dir getan?«

Er hob stumm die Schultern. Ein leiser Verdacht regte sich in mir, aber ich wollte ihm nicht nachgehen. Also versuchte ich es auf eine andere Weise.

»Ich möchte dir danken. Du hast dich um meine Mutter gekümmert, was genau genommen meine Aufgabe gewesen wäre, und du hast dich um ihren Garten gekümmert. Danke, dass du mir von Mom und deinem Vater erzählt hast. Ich glaube die Erinnerungen daran sind dir nicht leicht gefallen. Du liebtest ihn zweifellos sehr. Aber wie hätte ich sonst davon erfahren können?«

Ich berührte seine Wange, doch er drehte sich abrupt weg. Mir schien, als würde er meine Berührung nicht ertragen.

»Schon gut, das habe ich für Cathrin getan«, murmelte er mit einem kleinen Lächeln, »und für ein Steak.«

Ich konnte ihm nicht ganz folgen, aber er versuchte auch nicht, es zu erklären.

»Hat meine Mutter dir erzählt, was zwischen uns vorgefallen ist?«

Ich schaute ihn prüfend an.

»Ja«, nickte er, »im Groben. Zuerst hieß es, du bist überraschend zu Verwandten gefahren und würdest dort leben. Aber nach einigen Jahren erzählte mir Cathrin, dass sie nie erfahren hat, wohin du wirklich gegangen bist, bis eines Tages Joseph einen Bildband mit deinem Namen in der Buchhandlung entdeckte. Er schenkte Cathrin das Buch und sie war außer sich vor Freude. Sie wusste, du lebst und das war das Einzige, was ihr wichtig war.«

»Bei dir hört sich das an, als ob ich allein Schuld an dieser ganzen Tragödie trage.« Meine Stimme war nur ein Flüstern.

»Amber, hier geht es nicht um Schuld, es geht um Vergebung. Cathrin war deine Mutter und davon hat man bekanntlich nur eine im Leben. Bist du nicht der Meinung, dass Menschen sich ändern können?« Mit schmalen Augen blickte er mich an.

»Nein, Menschen ändern sich nicht, sie verstellen sich im Allgemeinen für eine geraume Zeit, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen«, gab ich bissig zurück.

»Da irrst du dich aber gewaltig. Cathrin hatte sich geändert. Obwohl sie so schamlos von deinem Vater betrogen und verlassen wurde, fasste sie wieder Vertrauen zu einem anderen Menschen. Es gibt nicht immer nur schwarz und weiß. Das Leben hält viele Facetten bereit. Das dürfte dir nicht ganz neu sein.«

Ich schüttelte widerwillig den Kopf. Als sich unsere Blicke trafen, hätte ich mich am liebsten für eine Sekunde an ihn gelehnt. Das Bedürfnis nach menschlicher Nähe war so stark. Doch eben nur für einen Moment, denn sein harter Blick schien mein Herz zu durchbohren.

»Es ist einfach zu verfahren. Du hattest dein Urteil über mich schon gefällt, bevor ich überhaupt nur einen Fuß wieder in diesen Bundesstaat gesetzt habe. Ich wusste von Anfang an, dass es falsch war, hierher zu kommen. Aber keine Angst, ich werde nicht lange bleiben. In ein paar Tagen bist du mich hier los.«

»Ja, das sieht dir ähnlich. Lauf nur wieder weg. Das konntest du ja schon immer am besten, weglaufen.« Seine Augen blitzten bei diesem Satz böse auf und seine Hände ballten sich zu Fäusten.

»Was ist dein Problem, Hayden? Geht es um meine Mutter, oder vielmehr um dich?«

Er schaute mich fragend an.

»Geht es nicht darum, dass ich nicht mit dir zum Ball gegangen bin, dass ich den einzigen Jungen, der es gewagt hat, mich zu einem Schulball einzuladen, sitzengelassen habe, ohne ein Wort verschwunden bin? Ich glaube, hier liegt eher die Wahrheit begraben!«

Meine Stimme war laut vor Zorn. Sein Gesicht verzog sich zu einem hämischen Grinsen. »Nun, immerhin hat es mich fünfzig Dollar gekostet, dass du nicht erschienen bist, da ich die Wette verloren habe«, war seine schneidende Antwort.

Diese Äußerung zerrte mir den Boden unter den Füßen weg. Ich schloss für einen Moment die Augen, hatte Angst das Bewusstsein zu verlieren. Doch ich riss mich zusammen und hielt Haydens wütendem Blick stand. Nur keine Schwäche zeigen.

Mit einem lauten Knall stellte er die Tasse auf dem Tisch ab und war aus der Tür, ohne dass ich etwas erwidern konnte.

Kapitel 5

Geheimer Schlüssel

Krachend fiel die Fliegentür hinter Hayden ins Schloss und er lief wütend mit schnellen Schritten zu seinem Auto. Er versuchte mehrmals den Schlüssel ins Zündschloss zu stecken, doch verfehlte es jedes Mal, so sehr zitterten seine Hände vor Wut.

Nach dem dritten Versuch klappte es endlich. Er startete den Motor und fuhr geradeaus, um zu seinem Haus am Ende der Straße zu gelangen. Als er vor der Garage parkte, stieg er nicht sofort aus, sondern verharrte auf seinem Sitz.

Seit Jahren hatte es niemand mehr geschafft, ihn so aus der Reserve zu locken. Als er Amber mit Tränen in den Augen am Grab ihrer Mutter hatte stehen sehen, konnte er kaum den Wunsch unterdrücken, sie in seine Arme zu reißen.

Doch sein verflixter Stolz hatte ihn daran gehindert. Sie hatte gerade dort im Haus so klein und verletzlich vor ihm gestanden, doch der Teufel hatte ihn geritten und so hatte er sie noch mehr verletzt.

Wütend schlug er mit der Hand auf das Lenkrad. Verflixt, das war das Letzte, was er wollte. Ihr wehtun. Missmutig stieg er aus dem Wagen und ging in Richtung seines Hauses, die Haare mit den Händen raufend. Von der ersten Sekunde an, als Amber den Diner betreten hatte, war ihm klar gewesen, dass seine ruhigen Tage vorbei waren.

Draußen zogen die Wolken ihre Bahnen, ich konnte sie aus meinem Fenster sehen. Es wurde hell, dann wieder dunkel. Ich nahm es nur schemenhaft wahr. Was bedeutete das schon? Ich lag in meinem Bett und ständig umgab mich ein Schleier aus weißem Nebel.

Die Tage wurden zu Nächten, die Nächte zu Tagen.

Ich hörte Klopfen an der Tür, dann wieder Schritte auf der Veranda. Ab und zu klopfte es an der Terrassentür, ich erkannte den Unterschied, weil es dort heller klang. Aber ich wollte nicht aufstehen, wozu auch. Hier zu liegen und zu träumen, war viel schöner. Es waren so wunderschöne Traumbilder. Darin öffnete ich die Haustür und meine Mutter stand dort. Sie lächelte mich milde an, nahm meine Hand in ihre. Sie war sanft und warm. Liebes, du musst aufstehen. Komm, lass uns in den Garten gehen. Gleißendes Licht fiel durch die Terrassentür, so grell, dass ich nicht hinsehen konnte. Wir saßen auf der Terrasse und tranken Tee. Ich spürte den Geschmack auf meinen Lippen. Er schmeckte süß und nach Pfefferminze. Ich nahm den Duft der Blumen wahr. Weiße Rosen, überall. Evening Star ist meine Lieblingsrose. Danke, dass du sie mir aufs Grab gelegt hast. Sie ist so rein und unberührt und verliert so schnell ihre Schönheit. Sie ist den Menschen so ähnlich. Auch wir verwelken. Ach, Mutter!

Dunkle Wolken trieben am Himmel. Das Klopfen an der Tür wurde lauter. Ich wollte mir die Ohren zuhalten, konnte die Arme aber nicht bewegen. Es dröhnte in meinen Kopf. Dann hörte ich ein Rauschen. Wie Wellen am Strand. Ich sah die dunklen Wolken übers Meer ziehen. Die Brandung wurde stärker und der Wind pfiff bedrohlich in meinen Ohren. Das Hämmern an der Tür hörte einfach nicht auf.

Amber, mach die Tür auf! Ich erkannte Haydens dunkle Stimme. Wir sind verabredet, diesmal kommst du mir nicht so leicht davon. Mach schon auf. Ich habe fünfzig Dollar auf dich gewettet!

Ich öffnete die Tür und da stand Hayden mit einem schwarzen Anzug, weißem Hemd und einem Regenschirm im Arm. Seine hellblauen Augen starrten mich durchdringend an. Ich schaute an mir herunter. Anstelle eines Abendkleides trug ich immer noch einen Pyjama. Ein lautes, hässliches Lachen kam aus Haydens Mund. Ein hysterisches Gelächter. Du bist ja nicht mal fertig, ich verliere meine Wette, du kostest mich fünfzig Dollar.

Er drehte sich um und verschwand im Nebel.

Nein, warte, ich komme!, rief ich so laut ich konnte, aber meine Worte drangen nicht durch den Schleier zu ihm. Ich spürte die Kälte an meinen Waden, sie kroch den ganzen Körper hoch. Kühle auf meiner Stirn, Eis an meinen Handgelenken. Aber innerlich glühte ich. Mein Herz stand in Flammen. Es hatte viele Löcher und aus allen schlug loderndes Feuer.

»Ich lasse ihnen ein Antibiotikum da. Sie muss es dreimal täglich nehmen. Bitte sorgen Sie dafür. Und nach zwei Stunden die Wickel erneuern, damit wir das Fieber in den Griff bekommen. Falls sich ihr Zustand nicht bessert, müssen wir sie ins Krankenhaus verlegen.«

Der Doktor reichte Kayley das Rezept. »Ich komme morgen wieder und sehe nach ihr. Kann jemand über Nacht bei ihr bleiben?«

»Ich werde das organisieren.«

Er reichte ihr seine Karte.

»Gut, wenn ihr Zustand schlechter wird, rufen Sie mich an, Kayley, egal wie spät.«

Sie nickte besorgt und begleitete Dr. James zur Tür. Er wohnte nur ein Haus weiter und kannte Amber bereits seit Kindertagen.

Kayley wählte hastig Tom Jeffersons Handynummer. Es dauerte lange, bis er sich endlich meldete.

»Hi, Tom, kannst du mir helfen? Amber ist krank, vermutlich eine Lungenentzündung. Es muss jemand über Nacht bei ihr bleiben, aber ich habe Dienst im Diner. Kannst du mich ablösen?«

»Kayley, ich würde dir gerne helfen, bin jedoch wegen einer Besprechung in Vancouver. Es tut mir leid.«

»Ok, danke dir.« Sie legte hastig auf.

Die nächste Nummer.

Diesmal klappte es auf Anhieb.

»Ich brauche deine Hilfe. Komm sofort zu Ambers Haus.«

»Was ist denn los?«

»Später, bitte komm sofort.«

Es waren zwei Minuten bis zu Ambers Haus, aber der Tonfall in Kayleys Stimme ließ Hayden die Zeit wie eine Ewigkeit vorkommen.

Es war der gleiche Ton, als Kayley ihm vom Unfall seines Vaters berichtet hatte. Er war damals in Tacoma und sie hatte ihn auf dem Handy erreicht. Ohne zu wissen, was überhaupt passiert war, tat es ihm leid, Amber einfach so stehen gelassen zu haben. Er hatte das Gesagte bereits in der Sekunde bereut, als die Worte seinen Mund verließen, aber sein Stolz hinderte ihn daran, sich dafür zu entschuldigen. Jetzt wünschte er sich nichts mehr, als dass er es getan hätte.

»Amber hat hohes Fieber, vermutlich eine Lungenentzündung. Ich habe sie vorhin gefunden, nachdem ich zwei Tage lang versuchte, sie zu erreichen. Die Terrassentür war nicht verschlossen, sehr leichtsinnig. Kannst du heute Nacht bei ihr bleiben, ich muss ins Diner und löse dich morgen früh ab?» Kayley erwartete ihn bereits an der Tür und es war mehr eine Feststellung, als eine Frage.

»Ok, ich kann bleiben.« Hayden wusste nicht, was oder wer für Ambers Zustand verantwortlich war, aber es regte sich in ihm ein schlechtes Gewissen.

Kayley versorgte ihn mit den nötigen Instruktionen und verschwand. Als er das Gästezimmer betrat und Amber blass und mit verschwitztem Gesicht in dem Bett liegen sah, tat sie ihm leid. Sie sah aus wie ihre Mutter, nur wesentlich jünger. Er konnte seinen Vater gut verstehen, warum er sich in Cathrin verliebt hatte. Obwohl es Amber so schlecht ging, wirkte sie trotz ihres blassen Teints mit den dunkelroten feuchten Haaren sehr anziehend. Er machte sich daran, alle zwei Stunden die Wickel zu erneuern, achtete darauf, dass sie das Antibiotikum bekam, und flößte ihr regelmäßig etwas Pfefferminztee ein, damit sie genug Flüssigkeit erhielt.

Auf dem Nachttisch fand er ein kleines Buch über Rosenzüchtungen und fing an, ihr daraus vorzulesen.

Gegen Mitternacht ging er hinunter in den Garten, um etwas frische Luft zu schnappen. Er schloss alle Türen ab und nahm ihren Bildband, den er auf dem Schreibtisch hatte liegen sehen, mit ins Gästezimmer.

Es war ein Buch über San Francisco, hieß City by the bay und ihre Bilder spiegelten das besondere Leben dort wider. Lustlos blätterte er das Buch durch, bis er auf einige Szenen stieß, die seine Aufmerksamkeit erregten. Es waren Bilder von Paaren auf Parkbänken.

Manche unterhielten sich, andere starrten vor sich hin und wieder einige hielten sich einfach an den Händen. Allesamt waren es schwarz-weiß Fotos mit einer großen Aussagekraft. Jedes ihrer Bilder zeigte ein anderes Gefühl, aber diese Verbundenheit der Paare führte wie ein roter Faden durch das Buch.

Hayden gefielen auch die Fotografien, die den Kontrast der viktorianischen Häuser vor der modernen Skyline von Downtown San Francisco zeigten. Amber hatte eine gewisse Art die Dinge zu zeigen. Je länger er sich mit dem Buch beschäftigte, umso besser gefiel es ihm.

Hin und wieder kontrollierte Hayden, ob das Fieber nicht stieg, doch gegen Morgen sank ihre Temperatur. Er war so in den Band vertieft, dass er den Sonnenaufgang gar nicht bemerkte. Bisher hatte er nie Interesse an Ambers Büchern gehabt und musste nun widerwillig zugeben, dass sie besonders waren.

Gegen halb acht morgens kam Kayley, um ihn abzulösen. »Wie geht es ihr?«

»Besser, das Fieber ist gesunken, sie hat ihre Medizin bekommen und ihr Gesicht hat wieder etwas Farbe.«

»Du kannst dich jetzt ausschlafen, ich danke dir für deine Hilfe.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe einen Termin in Tacoma mit einem Glaslieferanten, den will ich nicht absagen.«

»Du kannst jetzt unmöglich fahren. Du musst schlafen.«

»Ich habe im Sessel etwas geschlafen.«

Kayley sah ihm an, dass er nicht die Wahrheit sagte, wusste aber aus Erfahrung, dass sie ihn nicht umstimmen konnte.

»Ok, bitte fahr vorsichtig.«

Leise ging er aus dem Zimmer, nicht ohne noch einen Blick auf Ambers Gesicht zu werfen, das vom Sonnenlicht erhellt wurde. Sie sah aus, als träumte sie und er hoffte, es waren gute Träume.

Als ich erwachte, brannte ein schrecklicher Durst in meiner Kehle. Meine Wangen glühten, die Augen schmerzten, ich kam um vor Hitze.

»Hey, da bist du ja.« Ich hörte Kayleys Stimme, aber meine Augen konnten sie nicht richtig erkennen. Erst als ich mich vorsichtig aufsetzte, wurde mein Blick klarer.

»Kayley, ich glaube mir geht es gar nicht gut.« Ein fürchterlicher Hustenreiz machte sich in meiner Lunge breit.

»Du siehst auch nicht gut aus, Amber. Was ist mit dir passiert? Seit zwei Tagen versuche ich dich zu erreichen und habe dich gestern Abend hier gefunden. Ich musste Dr. James rufen, so schlecht ging es dir. Er kommt heute noch einmal vorbei, um nach dir zu sehen. Du solltest unbedingt dein Antibiotikum einnehmen, damit du wieder gesund wirst. Was hast du nur angestellt? Nach der Beerdigung deiner Mutter habe ich dich nicht mehr gesehen.«

Vorsichtig strich sie mir das feuchte Haar aus der Stirn. Mit einem Mal waren meine schrecklichen Erinnerungen wieder da. Der Schmerz kam so schnell, dass ich nach Luft schnappte, was in einem erneuten Hustenanfall endete.

»Du solltest dich ausruhen.« Besorgt schaute sie mich an.

»Kayley ich hatte so furchtbare Träume. Ich weiß nicht mehr, was richtig und was falsch ist.«

»Du musst erst gesund werden. Hayden war heute Nacht hier …«

»Hayden!«, keuchte ich.

»Ja, ich musste ins Diner. Es tut mir leid, dass ich nicht bei dir sein konnte. Aber er hat es ganz gut hinbekommen.«

Ich schloss die Augen. In meinem Kopf drehte sich alles.

»Bitte, Kayley, ich möchte Hayden nie mehr in meinem Leben wiedersehen.« Meine Stimme klang hart. »Hörst du, nie wieder.«

»Amber, beruhige dich. Was ist denn passiert? Ich weiß, dass Hayden nicht immer einfach ist. Aber im Grunde ist er ein toller Kerl und man kann sich auf ihn verlassen.«

Ich schüttelte erschöpft den Kopf. »Nie wieder«, flüsterte ich.

»Was ist nur passiert?« Kayley sah mich verständnislos an.

»Hayden hasst mich. Er verabscheut mich so sehr.« Ich vergrub mein Gesicht im Kopfkissen und wollte niemanden sehen, niemals mehr sprechen.

»Oh, Amber, ich glaube, du verstehst das falsch. Vermutlich hast du geträumt, oder es ist das Fieber. Vertraue mir, wenn es dir erst mal wieder besser geht, siehst du die Dinge viel klarer.«

Ich schüttelte energisch den Kopf. »Kayley, du musst mir glauben. Sei mir bitte nicht böse, aber ich muss jetzt allein sein. Du hast recht und ich sollte erst einmal gesund werden. Ich bin dir so dankbar, dass du für mich da bist. Wie kann ich das nur wieder gutmachen?«

Sie winkte heftig ab. Für all ihre Fürsorge war ich ihr so verbunden, aber ich musste erst einmal meine Gedanken und Gefühle ordnen. Ich versprach Kayley vernünftig zu sein, und mich in ein paar Tagen zu melden. Mit dem mir abgenommenen Versprechen schnell wieder gesund zu werden, ließ sie mich allein.

Am Nachmittag besuchte mich Dr. James. Er war ein Nachbar meiner Mutter, der schon sein ganzes Leben in der Water Street lebte und allen Leuten gut bekannt war. Er verordnete mir absolute Bettruhe. Ich sollte mich ausruhen und in den nächsten Tagen keine großen Anstrengungen unternehmen. Die meiste Zeit verbrachte ich im Bett, in schönen Morgenstunden setzte ich mich jedoch auf die windgeschützte Terrasse und ließ die Schönheit der Rosen auf mich wirken. Manchmal entdeckte ich, dass die Blumen und der Rasen gesprengt worden waren, ich vermutete Hayden dahinter, sah oder hörte ihn aber nie. Was auch gut war, denn ich wäre nicht in der Lage gewesen, ihm gegenüberzutreten. Obwohl ich wusste, dass das Unvermeidliche nicht zu ändern war, denn ich hatte schon lange eine alte Schuld zu begleichen.

Zum Ende der zweiten Woche ging es mir endlich besser. Der Verdacht einer Lungenentzündung hatte sich nicht bestätigt und der lästige Husten war auch abgeklungen. Ich hatte in meinem Leben noch nie so viel geschlafen, wie in den letzten Tagen. Aber langsam kehrte die Kraft in meinen Körper zurück.

Jeden zweiten Tag rief ich bei Kayley an, um ihr zu zeigen, dass ich noch am Leben war. Ich erkannte die Besorgnis in ihrer Stimme, aber sie hatte aufgehört Fragen zu stellen. Sie wusste, wenn es so weit war, würde ich von allein mit ihr reden.

Am Samstagnachmittag beschloss ich, mich an meinen Laptop zu setzen, um meine E-Mails abzurufen. Dabei fiel mir die Post meines Verlegers ein. Ich konnte nicht noch länger warten, irgendwann musste ich ja wieder Geld verdienen.

Auf dem Schreibtisch neben dem Laptop entdeckte ich die Holzkiste, die ich am Tag der Beerdigung gefunden hatte. Sie war völlig in Vergessenheit geraten und ich suchte im ganzen Haus nach dem Schlüssel. Aber er blieb verschwunden.

Da die Kiste aus massivem Holz war, wollte ich die wunderschöne Schnitzerei nicht beschädigen. Mir waren beim Suchen Haarklammern in die Hände gefallen, wie man sie für Hochsteckfrisuren benutzte. Sie konnten meine Rettung sein. Ich bog sie so zurecht, dass sie ins Schloss passten und nach vielen endlosen Versuchen sprang der Deckel endlich auf. Ich weiß nicht genau, was ich erwartet hatte, Schmuck oder Geld, was würde man sonst wegschließen und den Schlüssel verstecken? Doch ich irrte mich gewaltig. In der Holzkiste lagen feinsäuberlich mit roten Samtbändern versehen, vier Bündel kleiner Briefe.

Einem ersten Impuls folgend wollte ich die Kassette sofort wieder schließen, da ich das Gefühl hatte, in die Privatsphäre meiner Mutter einzudringen. Doch als ich genauer hinsah, erkannte ich die Schrift meiner Mom. Mit ihrer feinen geschwungenen Handschrift hatte sie auf jedem Brief ein Datum hinterlassen und meinen Namen.

Sie waren sortiert und es gab insgesamt sechsundzwanzig Briefe, in einem Abstand von je einem halben Jahr geschrieben, seit meinem Verschwinden. Der älteste trug das Datum vom 9. Dezember 1997.

Ethan Sumner klickte mit dem Cursor auf Senden und lehnte sich beunruhigt in seinem Schreibtischstuhl zurück. Dies war bereits die vierte E-Mail, die er, ohne eine Antwort zu erhalten, verschickte. Normalerweise war Amber nicht so unzuverlässig. Ganz im Gegenteil.

Sie hatte in den letzten dreizehn Jahren nur für ihre Arbeit gelebt. Er glaubte, ein Privatleben gab es für sie nicht. Aber nun wartete er bereits seit einer Woche auf die Bilder für den Reiseführer über San Francisco. Sie wollte Urlaub machen, hatte sie ihm geschrieben. Da sie vor zwei Wochen aus Frisco in Richtung Seattle abgereist war, konnte sie sich langsam melden.

In spätestens zwei Wochen ging der Band in Druck und bis dahin sollte das gesamte Layout stehen. Verflucht! Würde sich Amber in den nächsten drei Tagen nicht melden, müsste er einen anderen Fotografen beauftragen, oder sich doch an eine der zahllosen Bildagenturen wenden, obwohl ihm das absolut zuwider war. Sein Verlag war klein, aber renommiert, und für ihn kam keine Massenware infrage. Ein zweiter Fotograf würde die Produktionskosten in die Höhe treiben. So ein Mist, wo steckte sie nur? Er drückte die Telefontaste seiner Sekretärin.

»Susan, holʼ mir Amber Maguire an den Apparat, und zwar unverzüglich«, bellte er in sein Headset. Er hatte Wichtigeres zu tun, als seiner Fotografin hinterherzulaufen.

1. Brief

9. Dezember 2001

Liebe Amber,

es ist jetzt ein halbes Jahr her, dass Du fort bist. Ich kann es immer noch nicht glauben und warte jeden Tag darauf, dass Du zurückkommst. Ich verstehe nicht, warum Du nicht begreifst, dass ich Dich nur schützen will. Ich habe Dich auf die Gefahren da draußen nicht vorbereitet. Aber ich weiß, Du wirst bald zurückkehren und mir Recht geben. Dann werden wir hier wieder in unserer kleinen Welt leben. Bei jedem Klopfen an der Haustür hoffe ich, dass Du es bist, aber bisher wurde ich enttäuscht. Doch ich weiß, bald wirst Du vor der Tür stehen und ich kann Dich in meine Arme schließen.

In Liebe Mom

Der Brief war nicht lang. Ich faltete ihn sorgfältig zusammen und steckte ihn zurück in den Umschlag. Er war der Erste von vielen und warf eine Unmenge von Fragen auf. Es hörte sich nicht so an, als ob meine Mutter ihr Verhalten für falsch hielt, zumindest nicht ein halbes Jahr nach meinem Verschwinden. Es gab keine Adresse, sie hatte also nie vorgehabt, die Briefe abzuschicken. Mom hatte sie feinsäuberlich hier in meinem Zimmer für mich aufbewahrt. Hatte sie immer damit gerechnet, dass ich einmal zurückkomme?

Tief in meinem Inneren wusste ich, dass es jemanden gab, der meine Fragen beantworten konnte, aber ich war nicht in der Lage, Hayden gegenüberzutreten. Im Grunde war ich neugierig auf den zweiten Brief, doch das alles setzte mir mehr zu, als ich ertragen konnte. Daher schloss ich die Kiste und nahm mir vor, am nächsten Tag weiterzulesen.

Aus einem Impuls heraus fuhr ich meinen Laptop hoch, um nach meinen E-Mails zu sehen. Im Grunde genommen war es mein schlechtes Gewissen, was mich dazu veranlasste. Ich wusste, dass ich mit meiner Arbeit in Verzug war. Ethan Sumner, mein Verleger aus New York, wartete bereits seit zwei Wochen auf die Bilder meines letzten Auftrages.

Ich hatte drei Monate in San Francisco verbracht, um Fotos für einen Reiseführer zu schießen. Vor einiger Zeit war ich schon mal für ein halbes Jahr dort gestrandet. Damals entstanden die Bilder für meinen Bildband City by

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Kajsa Arnold
Bildmaterialien: avmedved-bigstock,com, jacoblund - Getty Images
Cover: Marie Becker, wolkenart.com
Tag der Veröffentlichung: 19.09.2021
ISBN: 978-3-7487-9509-4

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