Cover

Leseprobe

The Leader

of the free World

Rhiana Corbin

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Leseprobe

  • Deutsche Erstausgabe
  • Copyright © 2019, Rhiana Corbin
  • Alle Rechte vorbehalten
  • Nachdruck, auch auszugsweise,
  • nur mit Genehmigung
  • 1. Auflage
  • Covergestaltung unter Verwendung folgender Fotos:
  • © uschools by Getty Images, LightField Studios by Bigstock.com
  • Rhiana Corbin c/o Andrea Wölk,
  • Lutherstr. 16, 46414 Rhede
  • www.mybooklove.de

Eins

Stan

Sir.«

»Guten Morgen, Hector.« Mein Stabschef sieht wie aus dem Ei gepellt aus. Wie jeden Morgen. Er trägt Anzüge, die ihm auf den Körper geschneidert werden, wie meine übrigens auch, doch ihm stehen sie wesentlich besser, so habe ich zumindest das Gefühl. Ich zupfe an meiner Manschette, dabei gibt es überhaupt keinen Anlass, nervös zu sein. Ich atme tief aus und blicke mich um, stehe in der Mitte des Oval Office. Hier bin ich der Chef und doch kommt es mir vor, als würde ich vor meiner Examensprüfung stehen.

»Sie sehen nervös aus, Sir. Miss Gordon ist nur eine Lehrerin«, erklärt Hector und reicht mir eine dunkelblaue Kladde.

»Lehrkräfte machen mich eben nun mal nervös. Das kann ich nicht ändern. Was ist das?« Ich halte die Mappe in die Höhe.

»Das Dossier, das Sie über Miss Gordon angefordert haben. Es steht nichts Wertvolles darin. Sie ist seit über dreißig Jahren Lehrerin, kein Ehemann, keine Kinder. Scheint nur für ihren Beruf zu leben. Sie haben also nichts von dieser Frau zu befürchten.«

Ich zerre an meiner Krawatte, die mir den Hals zuschnürt. »Wenn sie nur für ihren Beruf lebt, habe ich sehr wohl etwas zu befürchten«, knurre ich und schlage die Mappe auf.

»Sir, wenn ich Sie daran erinnern darf, Miss Gordon ist die Lehrerin Ihres Sohnes, nicht die Ihre«, erklärt mir Hector mit einem gewissen Unterton, als machte er sich über mich lustig.

Ich blicke auf und er grinst halbseiden. »Das ist mir sehr wohl bewusst. Aber Philip hat im letzten Jahr genug durchgemacht. Erst der Tod seiner Mutter, dann starb sein Hund und wenn er jetzt auch noch schlechte Noten erhält, wird ihn das nicht aufbauen. Aber genau das ist es, was mein Sohn braucht. Positive Ereignisse, sagen diese sogenannten Experten.«

Hector nickt. »Wenn jemand Miss Gordon davon überzeugen kann, dass Philip ein guter Junge ist, dann sind Sie es, Mister Präsident.«

Ich blicke auf. »Ihr Wort in Gottes Gehörgang, Hector. Ich wäre dann so weit. Bringen Sie Miss Gordon herein.«

Miss Gordon ist eine Frau von sechzig Jahren, mit grauen Haaren. Gekleidet in einem grauen Wollrock, trägt dazu eine beigefarbene Bluse, sowie Schuhe mit Keilabsatz. Sie sieht vital und gesund aus … und sehr streng.

»Miss Gordon! Willkommen im Weißen Haus. Ich freue mich, Sie endlich persönlich kennenzulernen.« Ich gehe mit ausgestreckter Hand auf sie zu, und sie erwidert diesen Gruß mit einem festen Griff.

»Mister Präsident, guten Morgen. Ich bin es nicht gewohnt, die Eltern zu besuchen. Normalerweise kommen die Eltern zu mir«, erklärt sie ohne ein Lächeln.

Ups. Abfuhr kassiert. Das hier wird hart werden, so viel ist mir schon mal klar.

Ich räuspere mich. »Dafür bin ich Ihnen auch sehr dankbar, Miss Gordon. Sie können sich jedoch sicher vorstellen, dass Elternabende für einen Präsidenten schwierig sind. Ich möchte die anderen Eltern nicht mit meinem Team vom Secret Service verschrecken.«

»Ich bevorzuge Madam, auch wenn ich nicht verheiratet bin«, erklärt sie mit knappen Worten und schaut sich diskret um. Der Raum hat bisher noch jeden beeindruckt.

»Natürlich, Madam Gordon«, verbessere ich mich. Gut, wenn sie das so möchte. »Wenn Sie bitte Platz nehmen wollen.« Ich zeige auf die Sofas, die sich im Oval Office gegenüberstehen. Nun komme ich mir wirklich vor, als wäre ich ihr Schüler und nicht mein Sohn. Tief atme ich aus, versuche mich darauf zu besinnen, dass ich der Führer der freien Welt bin.

»Mister Präsident, ich muss ein ernstes Wort mit Ihnen reden«, beginnt sie, nachdem sie einen Blick auf die seidenen Vorhänge am Fenster, den aufgeräumten Schreibtisch und das Portrait von George Washington, das an der Wand hängt, geworfen hat. »Bitte entschuldigen Sie, dass ich das Wort an mich reiße, aber Ihr Sohn braucht dringend Hilfe. Er ist ein kluger Junge, doch wenn er nicht spricht und sich total verweigert, kann ich ihn nicht weiter unterrichten. Ich würde ihn ungern aus der Klasse nehmen, weil er dort einige Freunde hat und diese sozialen Kontakte braucht, doch mir sind die Hände gebunden. Meine Kollegen und ich können ihn nicht beurteilen, wenn er sein Verhalten nicht ändert.«

»Liebe Madam Gordon, Sie als seine Lehrerin wissen um die Umstände und das Unglück, das uns widerfahren ist. So etwas ist nicht einfach für einen Jungen, der sensibel ist.«

»Natürlich habe auch ich Anteil am Tod Ihrer geliebten Frau genommen. Glauben Sie ja nicht, ich würde nicht verstehen, warum es Philip nicht gutgeht. Aber das ändert ja nichts daran, dass der Junge schnellstens Hilfe benötigt. Er braucht meines Erachtens eine weibliche Bezugsperson. Jemanden, der sich seiner annimmt und damit meine ich keine Kinderfrau.«

Ich lehne mich überrascht nach vorne. »Sie meinen, ich sollte wieder heiraten?«, frage ich, erstaunt über ihr Verhalten.

»Nun, Sie werden wohl nicht den Rest Ihres Lebens allein bleiben wollen. Sie sind doch noch jung, Mister Präsident. Philip würde es guttun. Bis dahin sollten Sie vielleicht eine Betreuerin für Ihren Sohn engagieren, der sich mit ihm beschäftigt, mit ihm Hausaufgaben macht, für die Arbeiten lernt und etwas Zeit mit ihm verbringt. Eine Frau, die sich mit traumatisierten Kindern auskennt, jemand vom Fach.«

»Und Sie meinen, eine Frau würde Philip akzeptieren?« Ich bin mir dessen nicht so sicher.

»Er braucht jemand, der einen Zugang zu ihm findet, das ist das Wichtigste. Und ja, eine Frau wäre eine gute Wahl. Wenn Sie niemanden kennen, könnte ich mich umhören.«

»Das wäre sehr freundlich von Ihnen, Madam Gordon. Ich bin für jegliche Hilfe dankbar.«

Zwei

Jordan

Guten Morgen, Ihr Lieben!«, rufe ich gutgelaunt, als ich an diesem grauen Morgen das Büro auf dem Fairfax Drive in Arlington betrete.

»Hallo, Jordan«, erwidert Maggie, die Empfangsdame der Praxis, in der ich seit einem Jahr angestellt bin. »Ist es nicht fürchterlich kalt geworden? Der Winter kommt nun mit großen Schritten auf uns zu. Mir graut es schon davor, wenn die Geschäfte überfüllt und die Menschen schlecht gelaunt sind.«

»Hi Jordan.« Dean hebt grüßend die Hand. Er arbeitet hier ebenfalls als Therapeut, wenn auch schon wesentlich länger als ich. »Ich warte schon auf dich. Hast du Zeit für ein Gespräch? Oder hast du direkt einen Termin?«

Ich blicke auf meine Uhr. »Eine halbe Stunde hätte ich. Geht es um einen Patienten?« Erst jetzt nehme ich zwei Männer in dunklen Anzügen und Sonnenbrillen wahr, die im Wartebereich stehen. »Ist etwas passiert?«, frage ich Dean besorgt, doch er schüttelt lächelnd den Kopf.

»Nein, mach dir keine Sorgen, es ist alles in Ordnung. Ich glaube, ich habe einen sehr interessanten Job für dich.« Er schiebt mich quasi in sein Büro, wo ich wider Erwarten einen Mann anstatt eines Kindes vorfinde.

»Jordan, darf ich dir Hector Raid vorstellen? Er ist der Stabschef des Präsidenten, aber das weißt du sicherlich, wenn du die Politik verfolgst … Mister Raid, das ist Jordan Holland. Sie ist eine sehr erfahrene Therapeutin, die sich auf die Arbeit mit Kindern spezialisiert hat.«

Der Stabschef erhebt sich und reicht mir die Hand. »Es ist mir eine Freude, Miss Holland.«

»Sir.« Ich schüttele ihm die Hand und mein Herz rutscht mir in die Hose. Verschüchtert nehme ich Platz. Keine Ahnung, was der Stabschef hier will. Ich werfe Dean einen fragenden Blick zu, doch er behält sein Pokerface.

»Jordan, Mister Raid ist auf der Suche nach einer Therapeutin.«

»Ich behandele keine Erwachsenen«, schiebe ich schnell ein. Dass Hector Raid eine Therapie benötigt, war klar. So geht es wohl jedem, der mit Stanley Wheeler in Berührung kommt.

»Miss Holland, wir sind auch nicht auf der Suche nach einer Therapeutin für mich, sondern es handelt sich um Philip Wheeler, den Sohn des Präsidenten. Er ist zehn Jahre alt und braucht dringend Ihre Hilfe.«

Sofort versteift sich alles in mir. Nein, das kann nicht wahr sein. Mein Herz scheint für einen Augenblick still zu stehen. Doch es schlägt weiter, mein Gehirn funktioniert noch, denn ich suche fieberhaft nach einer Ausrede, warum ich diesen Job nicht übernehmen kann.

»Ich, ähm, also mein Terminkalender ist voll«, bringe ich mühsam heraus. Ich spüre, wie sich der Schweiß zwischen meinen Brüsten sammelt. Mir wird warm, obwohl mir eigentlich kalt ist.

»So voll ist er doch gar nicht, Jordan. Ich könnte deine Termine übernehmen, denn die Arbeit impliziert einen dauerhaften Aufenthalt im Weißen Haus.«

Nein, das geht auf keinen Fall. »Ich kann es nicht übernehmen, es tut mir leid.«

»Miss Holland … oder darf ich Jordan sagen?«, fragte Raid und lächelt gewinnend.

Ich nicke und kenne diesen Trick. Er will eine Nähe zu mir aufbauen. Aber ich falle nicht darauf rein, werde mich nicht einwickeln lassen.

»Jordan, bitte erklären Sie mir, warum Sie dem Präsidenten nicht helfen können?« Seine Stimme klingt besorgt.

Oh Gott! Wie soll ich das nur erklären? Die beiden Männer starren mich an und ich muss meine Absage erläutern. »Ich habe ihn nicht gewählt«, rutscht es mir ohne große Überlegung heraus.

Es herrscht für eine Sekunde Stille, dann lacht Raid leise. »Jordan, ich glaube, das ist in diesem Fall wohl egal. Das wird der Präsident Ihnen sicherlich nicht nachtragen und ich verspreche meine Lippen sind versiegelt. Aber es geht hier nicht um den Präsidenten, sondern um Philip. Sie haben sicherlich mitbekommen, dass der Junge seine Mutter vor mehr als einem Jahr verloren hat. Er leidet und braucht Unterstützung, die sein Vater ihm nicht geben kann, weil er ein Land zu regieren hat«, erklärt Raid und schlägt die Beine übereinander. Er sitzt mir zugewandt, lächelt mich wohlwollend an. »Wir benötigen eine Fachkraft, damit wir keinen Schaden anrichten. Es geht hier um eine empfindliche Kinderseele, aber das muss ich Ihnen ja nicht zu erklären.«

»Mister Raid …«

»Bitte, ich bin Hector, so wie mich alle Mitarbeiter im Weißen Haus nennen«, unterbricht er mich kurz.

»Hector, ich habe natürlich mitbekommen, welches Schicksal die Familie Wheeler ereilt hat, und genau wie der Rest der Welt, habe ich Anteil daran genommen. Doch ich bin kein Kindermädchen, das einem Jungen die Mutter ersetzen kann.«

»Glauben Sie mir, meine Liebe, darum geht es nicht. Der Junge braucht wirklich Hilfe, niemanden, der ihm die Zeit vertreibt. Seit dem Tod seiner Mutter spricht er nicht, außer mit seinem Vater, und ich habe mich umgehört, wer infrage kommt, immer wieder wurde mir der Name Ihrer Praxis genannt. Allerdings müssen wir vermeiden, dass die Öffentlichkeit von Philips Schwierigkeiten erfährt, daher wäre es notwendig, wenn Sie für einige Zeit ins Weiße Haus ziehen. Ich bitte Sie inständig, nochmal darüber nachzudenken. Wenn es keine weiteren Hindernisse gibt, fassen Sie sich ein Herz und helfen einem kleinen zehnjährigen Jungen, der seinen Platz in dieser Welt erst noch finden muss.«

Verdammt, er spielt genau die richtige Karte zur richtigen Zeit aus. Das Herz-Ass. Die-armer-kleiner-Junge-braucht-dringend-Hilfe-Karte.

»Jordan, bitte überlege es dir«, schlägt Dean in die gleiche Kerbe. Er sieht mich erwartungsvoll an. Natürlich denkt er auch an das Prestige, das dieser Patient uns bringt.

»Warum ich? Also, warum muss es eine Frau sein?« Ich will mich einfach nicht geschlagen gegeben. Auch wenn es hier um einen Jungen geht, der offenbar wirklich Hilfe braucht, meine Hilfe.

»Wir richten uns da nach der Empfehlung seiner Lehrerin, Madam Gordon. Anscheinend fehlt Philip eine weibliche Bezugsperson. Sie selbst ist mit über sechzig bereits zu alt. Es ist nur ein Versuch, aber alles andere hat bisher nicht gefruchtet. Sie sind so zu sagen unser letzter Rettungsanker.«

Wieder spüre ich die Blicke der beiden Männer, die mich eindringlich mustern.

»Über Ihr Honorar müssen wir nicht diskutieren, das steht außer Frage. Nennen Sie uns eine Summe und sie wird bezahlt werden«, schiebt Raid noch nach.

Schnell nenne ich ihm meinen Stundenlohn, der weit über dem normalen Satz liegt. Vielleicht lehnt er ab und ich komme so aus dieser Geschichte heraus. Doch Raid nickt nur und Dean sieht mich ungläubig an.

»Dann sind wir im Geschäft, Jordan.« Der Stabschef erhebt sich und hält mir seine Rechte entgegen. Ich muss also nur noch einschlagen, um diesen besonderen Fall zu übernehmen. Auch wenn ich mir überhaupt nicht sicher bin, dass das alles eine gute Idee ist, strecke ich meine Hand aus und schlage ein. Das Lächeln, das mir Raid entgegenbringt kann ich nur bedingt erwidern.

Drei

Jordan

Mein Gepäck ist überschaubar, ich rechne nicht damit, dass ich lange im Weißen Haus verweilen werde. Spätestens, wenn er mir über den Weg läuft, ist es aus mit meinem Job hier.

Ich bekomme einen Besucherausweis und eine Assistentin bringt mich in die Räume, die ich für meinen Aufenthalt beziehe. Die Lincoln Suite.

»Bitte richten Sie sich in Ruhe ein. Philip ist in der Schule und Sie werden ihn später kennenlernen. Ihr Büro befindet sich auf diesem Flur, die letzte Tür auf der linken Seite. Falls Sie etwas brauchen, wählen Sie bitte die Elf, dann landen Sie sofort bei mir, Miss Holland. Ich werde alles besorgen, was Sie brauchen. Mein Name ist Nancy und ich bin die Assistentin des Stabschefs.« Die junge Frau lächelt mich gewinnend an.

»Vielen Dank Nancy, und bitte nennen Sie mich Jordan, das ist einfacher.«

»Gerne. Ich glaube, Sie kommen klar. Denken Sie daran, nur die Elf wählen.« Sie verlässt die Räumlichkeiten und ich bin allein.

Es gibt nicht nur das Wohnzimmer, sondern auch ein Schlafzimmer, inklusive Bad. Im Grunde genommen ist es eine kleine Wohnung und sie ist edel ausgestattet. Aber ich habe auch nichts anderes erwartet. Es ist immerhin das Weiße Haus. Die Fenster gehen in den Garten auf die Südseite hinaus. Wow! Niemals habe ich mir vorgestellt, dass ich einmal das Weiße Haus aus der Nähe sehen würde, geschweige denn dort zu wohnen. Die Ausstattung ist gediegen, altmodisch, aber sehr edel. Feine Seide, hochwertige Stoffe und Hölzer. Genauso habe ich es mir vorgestellt.

Ich packe meinen Koffer aus und richte mich im Bad häuslich ein. Danach werfe ich noch einen Blick in den Spiegel. Heute werde ich Philip kennenlernen und ich möchte sympathisch rüberkommen. Der erste Eindruck ist immer wichtig und der Junge soll mich mögen, weil ich ihm helfen will, denn ich weiß, dass ich es kann. Ich kenne den Sohn des Präsidenten natürlich. Oft habe ich Bilder von ihm gesehen und auch als die Beerdigung seiner Mutter im Fernsehen übertragen wurde, habe ich sein blasses Gesicht auf dem Bildschirm beobachtet. Er ist groß für sein Alter, aber sein Vater ist ebenfalls hochgewachsen. Stanley Wheeler ist stattlich, gutaussehend und unheimlich sexy. Aber das würde ich niemals laut aussprechen. Und sein Sohn wird ebenfalls einmal ein gut aussehender Mann werden, dem die Mädchenherzen nur so zufliegen werden.

Ich sehe auf die Uhr. Es ist gerade mal zwei Uhr. Bis Philip aus der Schule kommt, vergeht noch einige Zeit, also mache ich mich auf den Weg in mein Büro, um nachzusehen, ob es etwas gibt, was ich dringend benötige.

Die letzte Tür auf der linken Seite. Oder ist es die rechte? Oh Gott! Ich hätte besser hinhören müssen. Doch ich habe mich ablenken lassen, diese ganze Gebäude bedeutet Ablenkung. Diese historischen Räume flüstern mir Ehrfurcht ein. Mir wird ganz schwindelig, ich habe plötzlich keine Ahnung mehr, wie ich hier aufgeschlagen bin. Aber nun bin ich einmal hier und werde einige Nächte dort verbringen, wo Weltgeschichte geschrieben wird.

Ich entscheide mich für die Tür auf der linken Seite und trete ein. Es ist auf jeden Fall ein Büro. Definitiv, aber so wie es aussieht wohl nicht meines.

»Sie müssen die Therapeutin sein und ich bin …«

»… Sie sind der Präsident der Vereinigten Staaten«, beende ich seinen Satz. Stanley Wheeler sieht mich an, als würde er einen Geist sehen. »Mein Name ist Jordan Holland. Bitte entschuldigen Sie, ich habe die falsche Tür erwischt, das hier ist wohl Ihr privates Büro.« Ich mache einen Stritt rückwärts.

»Jordan? Die kleine Jordan?«, fragt Stanley leise. Oh nein, er erinnert sich also sofort an mich. Wie peinlich.

»Na ja, so klein bin ich wohl nicht mehr«, sage ich kleinlaut. Warum muss ich mich in der Gegenwart dieses Mannes immer so bedürftig fühlen? Das war schon immer so und muss sich definitiv ändern. »Ich wollte Sie nicht stören. Mein Büro liegt wohl auf der anderen Seite.«

»Nicht so schnell, Jordan. Wo du schon mal hier bist … bitte, setz dich doch.« Er deutet auf das Sofa im Raum und mir bleibt nichts anderes übrig, als seiner Anweisung Folge zu leisten.

Stanley schließt die Tür und kommt auf mich zu, setzt sich mir gegenüber.

»Ich bin die Therapeutin, die Raid angeheuert hat, um Philip zu helfen«, erkläre ich, obwohl er es ja wissen muss.

Er nickt wissend. »Als ich deinen Namen hörte, konnte ich nicht glauben, dass du es wirklich bist. Ich dachte an eine Namensgleichheit. Wie geht es dir? Wie geht es John?« Er schlägt die Beine übereinander und legte einen Arm ausgestreckt auf die Lehne des Möbelstücks. Er ist total entspannt, während ich mich ziemlich unwohl fühle.

»John? Du kennst doch meinen Bruder. Er arbeitet als Anwalt für eine Umweltorganisation und rettet irgendwo die Welt. Du kennst ihn besser als ich. Er war dein bester Freund. Ich habe ihn letztes Mal Weihnachten vor zwei Jahren gesehen.«

Leise lacht Stanley. »Er ist immer noch mein bester Freund. Ich habe versucht, ihn für meinen Stab zu gewinnen, doch er hat damals dankend abgelehnt.« Er grinst und ich nicke zustimmend. Das ist mein Bruder.

»Ja, das kann ich mir gut vorstellen. Er ist ein Idealist und ich beneide ihn manchmal um seine Ansichten. Er ist so gradlinig, wirklich zu beneiden.«

»Bist du das etwa nicht?« Stanleys Blicke durchbohren mich. Seine Augen sind immer noch so grau, wie dunkle Wolken am Himmel, getrieben vom Wind. Als junges Mädchen habe ich von seinen Augen geträumt. Seinen Händen, die so stark und schön sind, den dunkelroten Lippen, die sich so zart anfühlten. Das dunkle Haar, das sich wellt, sobald es länger wird. Ich schüttele innerlich den Kopf. Diese Gedanken muss ich vergessen. Es ist lange her. Mehr als zehn Jahre und ich muss es endlich hinter mir lassen. Doch jetzt, wo ich im Netz der Spinne gefangen bin, wird das wohl unmöglich sein. Stanley sieht einfach noch verdammt gut aus. Nein, er sieht sogar noch attraktiver als vor zehn Jahren aus. Seine Größe, die herben Züge seines Gesichts, die gleichzeitig so interessant sind, seine tiefe Stimme, sein dunkles Haar, das sind alles Dinge, die mir schon immer imponiert

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Rhiana Corbin
Bildmaterialien: • © uschools by Getty Images, LightField Studios by Bigstock.com

Cover: Andrea Wölk
Tag der Veröffentlichung: 06.12.2020
ISBN: 978-3-7487-6735-0

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /