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LESEPROBE Kapitel 1-3

Kapitel 1

 

- Cormac -

 

Schnaufend und mit Umzugskisten bepackt quäle ich mich hoffentlich zum letzten Mal für heute die Treppen in die vierte Etage hoch, deren durchgelatschte Stufen und wackliges Geländer offensichtlich zuletzt im 19. Jahrhundert einen Zimmermann zu Gesicht bekamen.

Warum mussten Max und Maci ausgerechnet eine Wohnung in Edinburghs Innenstadt kaufen und obendrein in einem Gebäude, das im Grunde eine Kernsanierung benötigt? Am Geld kann es nicht gelegen haben. Mom und Dad hinterließen uns nicht nur das Haus und eine gut laufende Steinmetzwerkstatt.

Ich werde ihn wohl nie verstehen. Egal, es reicht, ihn zu lieben. Von Verstehen war in Max’ Bedienungsanleitung keine Rede, als er vor dreiundzwanzig Jahren auf die Welt kam. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits zehn.

Wir sind Halbbrüder. Was für mich nie eine Rolle spielte. Mein leiblicher Vater kratzte kurz nach meiner Geburt die Kurve. Als ich drei wurde, verliebte sich Mom erneut und heiratete Dad. Ein weiteres Kind war nie in Planung. Die Vorsehung war anderer Meinung und schenkte ihnen Maximilian.

Kaum dass ich achtzehn wurde, kämpfte ich um Max’ Sorgerecht, da unsere Eltern bei einem beschissenen Busunglück mitten auf der Princes Street Ecke Waverley Bridge ums Leben kamen. Und das nur, weil sie ihren Zug nach London bekommen wollten, um dort einen gigantischen Restaurationsauftrag an Land zu ziehen. Wie sich im Nachhinein herausstellte, ist betreffender Zug aus technischen Gründen gar nicht gefahren. Was diesen Unfall sinnlos erscheinen lässt. Andererseits, wann sind Unfälle schon sinnvoll? Jedenfalls sah sie der Busfahrer zu spät und hatte mit seinem Doppeldeckerbus keine Chance auszuweichen. Sie starben an Ort und Stelle. Tja, das Schicksal ist eine Bitch.

Gott, das ist fünfzehn Jahre her und ich vermisse sie genauso heftig wie am ersten Tag. Das Einzige, was sich mit der Zeit veränderte, ist, dass ich ihnen nicht mehr böse bin. Und das war ich sehr lange. Ich fühlte mich von ihnen verraten und verkauft. Es dauerte, bis sich meine Gefühlswelt meinem Verstand anpasste. Zum Glück war ich nicht gänzlich auf mich allein gestellt.

Maci kenne ich seit unserer gemeinsamen Collegezeit. Nach einer fatalen Nacht mit ihrem damaligen Schwarm – ich war es nicht – wurde sie mit sechzehn schwanger. Maci entschied sich gegen eine Abtreibung, zu der sie ihre Eltern und der Samenspender drängten. Das klingt harmlos für das, was sie ihr antun wollten. Sie versuchten sie mit Gewalt ins Krankenhaus zu schleifen. Maci wehrte sich mit Händen und Füßen, und das nicht nur sprichwörtlich. Nach einem riesigen Krach stand sie mit einem Rucksack völlig verzweifelt vor unserer Tür und wusste nicht wohin.

Ich bekniete Mom und Dad, sie bei uns aufzunehmen, was sie taten, nachdem sie sich mit Macis Eltern irgendwie geeinigt hatten. Was genau ablief, weiß keiner von uns. Ich kann mich nur noch daran erinnern, wie Dad nach Hause kam und meinte: »Die Sache ist erledigt.«

Wir halfen ihr mit der Zurückweisung ihrer Familie und der Schwangerschaft klarzukommen, ohne das College abbrechen zu müssen. Mom war klasse, hat sich um den kleinen Lennox gekümmert, als wäre sie die Großmutter.

Was ich eigentlich sagen will, ist, dass Maci und Lennox seit Jahren zu uns gehören. War eine schwierige und verrückte Zeit nach dem Unfall unserer Eltern. Und dennoch haben wir es geschafft. Maci ist wie eine Schwester für mich und Lennox wie ein Neffe, vielleicht auch mehr.

Und hier stehe ich nun und schleppe Max’ Zeug durch die Gegend, damit er und Maci zusammenziehen können.

Max kennt Maci also ebenso wie ich seit Ewigkeiten, vergötterte sie von der ersten Sekunde an. Ich schob es auf sein Alter und die späteren Umständen. Im Laufe der Jahre entwickelte sich aus kindlicher Zuneigung tiefe Liebe. Maci wollte es nicht wahrhaben und setzte sich vehement zur Wehr. Mein Bruder blieb hartnäckig. Vor zwei Jahren machten sie es dann offiziell.

Ich gebe zu, irgendwie war es seltsam. Nicht nur für mich, vor allem für Lennox. Schließlich kennt er uns sein Leben lang. Er ist mittlerweile siebzehn, kaum sechs Jahre jünger als Max, und tut sich immer noch schwer mit der Situation. Was ich nachvollziehen kann. Nicht dass er sie terrorisiert, immerhin liebt er beide. Für ihn war Max seit jeher wie ein großer Bruder, dem er beinahe eine gewisse Heldenverehrung entgegenbrachte.

Lennox und ich pflegen hingegen eine andere Beziehung. Er sieht in mir eine Vaterfigur.

Merke ich, dass wieder der Haussegen zwischen ihm und seiner Mutter schief hängt, versuche ich zu vermitteln oder nehme ihn mir zur Seite, um ihm den Kopf zurechtzurücken. Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheint, Maci hat trotz alledem das letzte Wort. Und na ja, seiner Mom könnte er niemals etwas abschlagen. Was ihn in seiner momentan rebellischen Phase in eine unerträgliche Zwickmühle bringt. Grundsätzlich läuft es also bei uns nicht anders wie in einer 08/15-Familie. Es wird gestritten. Es wird sich versöhnt. Kinder verlassen das Elternhaus. So spielt das Leben. Das ist mir bewusst. Loszulassen fällt mir dennoch schwer.

Stand der Dinge heute: Maci und Max ziehen in ihre eigene Wohnung und Lennox bleibt weiterhin bei mir. Die Entscheidung trafen wir gemeinsam. Es ist für alle Beteiligten stressfreier. Insgeheim bin ich gottfroh. Ich würde in unserem riesigen Haus vor Einsamkeit eingehen. Sei’s drum.

An der Zarge der offenen Apartmenttür halte ich inne, um zu Atem zu kommen und daraufhin in den Flur zu rufen: »Wenn ihr keinen Lift einbauen lasst, werde ich sicher nicht oft hier sein.«

Eine grinsende Maci blickt um die Ecke. »Und ich dachte, du bist fit genug, alter Mann. Immerhin schleppst du täglich tonnenschwere Steine durch die Gegend.«

Ich trage die Kisten an ihr vorbei ins Wohnzimmer und stelle sie zu den tausend anderen. »Ich werd dir gleich, von wegen alter Mann. Was bist du denn dann? Eine Greisin? Und was hat meine Arbeit mit Treppensteigen zu tun?«

»Beleidigst du grad meine Frau und jammerst schon wieder rum?«, zieht mich Max auf, der mir ein gekühltes Bier reicht. »Setz dich, sonst muss ich noch meine Kollegen holen. Und das, mein Lieber, brauche ich wirklich nicht. Ich bin froh, dass ich sie eine Zeit lang nicht zu Gesicht bekomme.«

Mich setzen? Das muss er mir nicht zweimal sagen, denke ich und falle erschöpft auf die Couch. »Warum denn nicht? Sie könnten mit anpacken. Wobei, jetzt sind wir eh fertig.« Ich stutze. »Warum haben sie das eigentlich nicht?«

»Sind alle im Dienst. Du weißt doch, wie kompliziert es ist, sie unter einen Hut zu kriegen, sobald es an die Planung gemeinsamer Freizeitgestaltung geht.«

»Freizeitgestaltung?« Mir entkommt ein spöttisches Lachen. »Darunter stelle ich mir was anderes vor. Sie haben sich garantiert freiwillig für heute in den Schichtplan eingeschrieben. Ich wünsche ihnen ja nichts Böses, aber hoffentlich bekommen sie viel zu tun und bereuen es, sich gedrückt zu haben.« Mist! Das wollte ich nicht sagen. Immerhin sind sie allesamt Rettungssanitäter. Ihnen viel zu tun zu wünschen, bedeutet im Umkehrschluss, dass es irgendjemandem schlecht geht. Spitzenleistung, Cormac MacLeish!

Ich mustere Maci, die ihren Kopf neigt, als wüsste sie, was hinter meiner Stirn abläuft. Wahrscheinlich stimmt das sogar.

»Sag mal, wo ist eigentlich Lennox?«, lenke ich sofort ab. Ich habe ihn heute früh das letzte Mal gesehen und dachte, er würde beim Umzug helfen.

Sie zuckt beiläufig die Schultern. »Bei seinen Kumpels.« Ihre Hand macht eine abwägende Geste. »Ist im Moment etwas schwierig mit ihm. Du kennst ihn ja, er wird sich schon wieder einkriegen.« Macis Miene ist aussagekräftig genug. Sie mag im Moment nicht weiter auf das Thema eingehen. Ich frage ihn einfach nachher, was los ist. Wobei ich mir denken kann, worum es geht.

Am Nachmittag nimmt er am Bildhauerworkshop teil, den ich seit drei Monaten gebe. Ich hoffe zumindest, dass er kommt. Denn wenn Maci sagt, er ist schwierig, besteht die Gefahr, dass er sich tagelang zurückzieht. Aber gut, ich werde es sehen.

»Macht jetzt auch keinen Unterschied. Immerhin waren das die letzten Kartons.«

»Das klingt fantastisch«, erklärt Maci. Ehe sie ihren Blick schweifen lässt und mich glückselig anlächelt. »Ich kann es immer noch nicht fassen, dass wir das tun.«

Ich seufze trübsinnig. »Ich auch nicht.«

Der Rotschopf beugt sich zu mir runter und küsst mich auf die Wange. »Wir lieben dich. Und obwohl wir nicht mehr unter einem Dach wohnen, sind wir für dich da. Das weißt du doch, oder?«

Ich will jetzt nicht melancholisch werden, weshalb ich abfällig, aber mit einem Augenzwinkern schnaube. »Ich komm schon klar.«

»Gut«, flüstert Maci, ehe sie auf Max zugeht, der sich zwischenzeitig zu uns gesellt hat, ihren Arm um seine Taille legt und sich bei ihm ankuschelt.

Unwillkürlich verziehe ich das Gesicht. Dennoch muss ich mir ein amüsiertes Grinsen verkneifen. Ich wedle genervt in ihre Richtung. »Müsst ihr das machen? Könnt ihr nicht für fünf Minuten die Finger voneinander lassen? Ihr tut gerade so, als hättet ihr euch erst vor zwei Tagen kennengelernt.«

Max beugt sich zu Maci runter und küsst sie sanft auf die Nasenspitze. Ich sehe es noch genau vor mir, als wäre es gestern gewesen, da war Maci einen guten Kopf größer als er. Himmel, die Zeit vergeht. Und jetzt schau sie sich einer an. Sie sind ein verdammt glückliches Paar.

Max sieht wieder zu mir und zieht eine Augenbraue hoch. »Höre ich da Neid?«

Ich pruste. »Ganz sicher nicht.«

Mit einem Klaps auf Max’ Hintern löst sich Maci von ihm und ermahnt mich: »Du bist morgen zur Party bitte pünktlich und«, ihr Zeigefinger ist anklagend auf mich gerichtet, »es wäre schön, wenn du was anderes als ausgewaschene Jeansklamotten anziehen könntest.«

»Hey, ich bin hier, um zu arbeiten. Was hätte ich bitte sonst tragen sollen? Das kleine Schwarze?«

Macis Gesichtsausdruck verspricht nichts Gutes. Sie zieht wie Max eine Augenbraue hoch, sagt jedoch kein Wort, während Max vorsichtshalber in die Küche verschwindet, als ginge er in Deckung. Feigling!

»Also gut, ja, ich werde pünktlich sein – zumindest versuche ich es – und ja, ich könnte mal nachsehen, ob ich etwas finde, das dir besser gefällt.«

Maci winkt ab. »Du scheinst zu vergessen, dass ich den Inhalt deines Kleiderschrankes kenne. Du solltest mit Lennox shoppen gehen. Er kann dir sicher einige Tipps geben.«

Ich genehmige mir endlich einen wohltuenden, kühlen Schluck Bier und runzle zugleich die Stirn. »Sonst noch irgendwelche glorreichen Ideen? Ich hatte nicht vor, anschließend wie ein Lederdaddy rumzulaufen.« Lennox ist seit ein paar Wochen auf dem Ledertrip. Wir nahmen es schweigend zur Kenntnis und hoffen inständig, es wäre eine seiner Phasen. Andererseits sollte es uns nicht kümmern. Wir sorgen uns nur, in welchen Kreisen er im Moment verkehrt.

»An Leder ist nichts auszusetzen«, erklärt Maci.

»Wem es gefällt«, wiegle ich ab.

»Wie dem auch sei. Es hat einen Grund, warum ich möchte, dass du vorzeigbar bist.«

»Ernsthaft, manchmal glaube ich, du bist bei Mom in die Lehre gegangen.«

Im Hintergrund höre ich Max lachen.

Maci grinst schief. »Du hast ja keine Ahnung, mein Schatz. Aber mal im Ernst. Es wäre durchaus möglich, dass du den einen oder anderen Auftrag an Land ziehen könntest.«

»Wie das?«

»Ein paar meiner Kolleginnen und mein Chef Dr. Fisher gehen mir auf den Zeiger, weil sie dich kennenlernen wollen.« Sie setzt eine entschuldigende Miene auf. »Könnte sein, dass ich zufällig erwähnt habe, dass du Steinmetz bist.« Maci arbeitet als Arzthelferin und hat Ende letzten Jahres die Praxis gewechselt.

Hellhörig geworden richte ich mich auf. »Ach ja? Sucht dein Doc etwa jemanden, der Skulpturen für seinen viktorianischen Vorgarten anfertigt?«

»Woher willst du wissen, dass der viktorianisch ist?«

»Sind sie das nicht alle?« Das ist natürlich Quatsch. New Town zum Beispiel wurde im 18. Jahrhundert im gregorianischen Baustil geplant und erbaut. »Egal. Also?«

»Ähm, nein, keine Skulpturen. Einige sind gerade am Renovieren und suchen jemanden, der weiß, wie man mit Granit umgeht.«

Max taucht urplötzlich auf und trällert: »Schatz, mach’s nicht so kompliziert. Sie suchen einen Granitheini, der ihnen die Küchenarbeitsplatten anpasst und montiert, bestenfalls kostenlos.«

»Maximilian MacLeish, du bist und bleibst ein Idiot. Ich bin kein Granitheini und das weißt du sehr wohl«, brumme ich schroff.

Max grummelt mürrisch. Er hasst es, wenn ich ihn Maximilian nenne. Und dabei finde ich den Namen wunderschön.

Wir funkeln uns herausfordernd an, als Maci auch schon dazwischengeht: »Hört sofort auf! Ihr macht wieder so lange, bis einer weint.«

»Mac-Double kann’s einfach nicht lassen«, motzt Max und ignoriert Macis Einwurf. Dieses kleine Aas spielt darauf an, dass in meinem Namen – Cormac MacLeish – zwei Macs enthalten sind, und findet es sauwitzig, mich damit aufzuziehen. Das ist so, seitdem er sprechen kann. Später kam dann der Granitheini dazu, den er bei jeder sich bietenden Gelegenheit anbringt.

»Zum millionsten Mal, nenn mich nicht so!«

»Dann lass du es auch gut sein.«

»Ich erfinde wenigstens keine idiotischen Namen, die nach Burger klingen. Du heißt nun mal Maximilian. Daran kannst du nichts ändern.«

Max macht einen Satz auf mich zu und will sich aus zwei Meter Entfernung auf mich stürzen, als ein schriller Pfiff durch das Wohnzimmer hallt und wir zusammenzucken. Mir klingeln die Ohren und ich höre Maci nur undeutlich fauchen: »Wehe, ihr benehmt euch wie Fünfjährige!«

Aus seiner Starre gelöst, grinst mich Max verschwörerisch an. »Sie ist Mom tatsächlich erschreckend ähnlich.«

Wir gackern wie zwei Blödiane, während Maci das Zimmer verlässt und murmelt: »War klar, dass ihr euch da einig seid.«

 

*

 

Nur weil ich Dads Werkstatt übernommen habe, ist es nicht mein Traum, Inschriften in Grabsteine oder Gedenktafeln zu gravieren, Terrassen zu pflastern, geschweige denn Arbeitsplatten zu verlegen. Vorzugsweise verdiene ich damit mein Geld. Womit ich uns drei bisher recht gut über die Runden gebracht habe, zumindest bis Maci und Max Jobs hatten, da ich mich strikt weigerte, dass Max sein Erbe verschleuderte. Der Laden läuft wie erwähnt zufriedenstellend. Dennoch würde ich mich lieber mit der Bildhauerei beschäftigen, meiner Kreativität Freiraum geben. Nur von irgendwas muss man schließlich seine monatlichen Rechnungen begleichen. Bildhauerei ist neben Malerei, Schriftstellerei und vielen anderen kreativen Betätigungsfeldern eine brotlose Kunst. Man muss schon Glück haben und den Nerv der Zeit treffen, um zu den zwei Prozent zu gehören, die davon leben können. Und das ist okay für mich. Ich würde es niemals aufgeben.

»Lennox?«, rufe ich durchs Haus, das ohne Maci und Max einsam und verlassen wirkt. Ich sprinte die Treppe in die erste Etage hoch und klopfe an seine Tür. »Lennox, bist du da?«

Ein verhaltenes Grummeln dringt zu mir heraus.

»Kann ich reinkommen?«

»Wenn es sein muss.« Na toll, da klingt einer extrem mürrisch.

Mit einem breiten Grinsen öffne ich die Tür. Ich trete ein und sehe ihn in voller Montur auf seinem ungemachten Bett liegen. Seine in dicke Lederstiefel gehüllten Füße schiebe ich seitlich über die Bettkante und setze mich neben ihn. »Du weißt, wie ich es hasse, wenn du die dreckigen Botten aufs Bett packst.«

»Du bist nicht mein Vater«, brummt er halbherzig. Dann stöhnt er genervt, fummelt die Schnürsenkel auf und zerrt sich frustriert die Schuhe von den Füßen, verschränkt die Arme hinter dem Kopf und starrt erneut die Decke an.

»Da erzählst du mir nix Neues, Kumpel.« Ich mustere ihn einen Moment. »Sagst du mir, was los ist?« Ich deute auf den Radiowecker auf seinem Nachtschrank. »Der Workshop geht gleich los. Ich dachte, du hilfst mir bei den Vorbereitungen. Wir müssen ein paar Sandsteinrohlinge aus dem Lager holen und die Meißel schärfen.« Das könnte ich natürlich auch locker allein.

»Hab heute keinen Bock.«

»Okay.« Angespannte Stille breitet sich zwischen uns aus und ich frage ihn das Nächstbeste, was mir in den Kopf kommt. »Wie war’s bei deinem Freund?«

»Cool.«

»Schön.« Ich könnte ihm jetzt vorhalten, wie Scheiße ich es finde, dass er beim Umzug nicht geholfen hat. Damit erreiche ich jedoch nur das Gegenteil. Anstatt sich mir zu öffnen, würde er blocken und keinen Ton mehr sagen.

»Hast du was gegessen?«

»Jupp. War bei Mäckes.«

»Pseudorindfleisch in pappig-weichen Brötchen? Das Zeug hält doch nur für ’ne Stunde vor. Soll ich uns schnell ein paar Sandwiches machen?«

»Nee, lass ma.« Plötzlich wandert sein Blick zu mir. Er wirkt traurig. »Ist Mom sauer?«

Innerlich atme ich tief durch. Denn das ist das Zeichen, worauf ich gewartet habe. Er weiß, dass er Mist gebaut hat. Ich tätschle ihm das Knie. »Sauer würde ich nicht sagen. Vielleicht ein wenig enttäuscht. Aber du könntest es wiedergutmachen.«

»Ich geh morgen sicher nicht mit Blümchen zu ihnen. Verdammt, Max und Mom machen jetzt einen auf Familie. Das ist krank.«

Ich klopfe ihm gegen den Oberschenkel. »Rück mal.«

Ungelenk rutscht er auf die andere Bettseite. Das Leder von Hose und Jacke knarzt und ich werfe ihm einen verständnislosen Blick zu. Es ist draußen nicht warm. Immerhin haben wir Anfang März. Allerdings funktioniert die Heizung wunderbar und hier drin dürften mindestens zweiundzwanzig Grad sein.

»Ist ja gut.« Sofort springt er auf und zieht die Jacke aus. Darunter kommt ein T-Shirt mit einem Bandlogo zum Vorschein. Keine Ahnung, wer das sein soll. Von der Gruppe habe ich noch nie was gehört. Entweder ist es absolut nicht meine Musikrichtung oder ich werde tatsächlich alt. Anschließend fällt Lennox zurück aufs Bett, streicht sich das schulterlange Haar aus dem Gesicht und macht es sich abermals gemütlich.

Mit einem heimlichen Grinsen lege ich mich neben ihn. In der gleichen Pose wie Lenny – Fußknöchel überkreuzt, Arme hinter dem Kopf verschränkt – schaue ich an die Decke.

»Ich weiß, du hörst das jetzt nicht zum ersten Mal. Und ja, ich weiß, Erwachsene können ätzend sein. Aber Max und deine Mom lieben sich. Glaubst du nicht, dass du das irgendwann akzeptieren kannst?« Meine Güte, ich hatte selbst meine Probleme damit, dass meine beste Freundin mit meinem kleinen Bruder zusammen ist. Und da spielte mehr rein als der Altersunterschied. Ich wollte es einfach nicht wahrhaben, da ich glaubte, sie würden mich nun beide verlassen und ich stände am Ende allein da. Wie schwer muss es dann Lennox fallen?

Lenny seufzt. »Ach Scheiße! Das hab ich doch längst. Heißt aber nicht, dass ich es nicht schräg finde. Menschenskind, Max und ich sind fast gleich alt.«

Ich blicke ihn skeptisch von der Seite an. »Na ja, er ist dreiundzwanzig. Wenn du in seinem Alter bist, willst du sicher nicht mit einem Siebzehnjährigen verglichen werden.«

»Du spielst unfair.«

Ich trete ihm sanft ans Schienbein.

»Er ist wie ein Bruder für mich. Und jetzt soll ich Daddy zu ihm sagen?«, nörgelt er weiter.

»Das hat niemand verlangt. Oder doch?«

»Nein.«

»Willst du deine Mom glücklich sehen?«

»Natürlich!«, erwidert Lenny vehement.

»Dachte ich mir. Wo liegt dann das Problem? Ich meine, wir sind eine Familie. Ist doch wurscht, wer welchen Nachnamen trägt und schlussendlich ist auch egal, wer welche Aufgabe übernimmt. Deine Mom ist und bleibt deine Mom. Und der Rest … Das sind Max und ich. Punkt.«

»Stimmt schon.« Er wirft mir einen vorsichtigen Blick zu. »Du hast gesagt, ich könnte es wiedergutmachen.«

»Ich brauch deinen Rat.«

Seine Augen weiten sich erstaunt. »Meinen?«

»Morgen früh musst du mich zu Jenners begleiten und mir beim Klamottenkaufen helfen.« Ich hebe sofort die Hand. »Und nein, ich gehe nicht mit dir in die Lederabteilung.«

»Fuck!« Lenny feixt verschmitzt. »Und dabei würdest du in Leder heiß aussehen.«

Jetzt werden meine Augen riesig. »Habe ich was verpasst?«

Lennox stemmt sich hoch und lacht schallend, wenn auch mit geröteten Wangen. »Nein, kein Stück. Ich hab über Nacht nicht das Ufer gewechselt. Aber mal ehrlich, dein muskulöser Body in Leder? Meine Fresse, du könntest nicht durchs Blooms laufen, ohne über sabbernde Kerle zu stolpern.«

Ich verpasse ihm einen freundschaftlichen Hieb. »Halt die Klappe. Ich brauche keine Nachhilfe im Aufreißen von Kerlen. Und ganz sicher nicht von einer grünschnäbligen Hete wie dir.«

Lenny grinst mich über die Schulter hinweg an und ich sehe ihm an, dass es ihm fürs Erste mit der aktuellen Situation gut geht.

»Also dann haben wir ein Date?«, necke ich ihn.

»Wenn du vom Jenners sprichst, ja.«

»Sehr gut. Fahren wir morgen Abend zusammen zur Party? Du kommst doch, oder?«

Er kaut auf seiner Unterlippe rum.

»Ach, komm schon. Eben hast du noch gesagt, du willst deine Mom glücklich sehen. Da musst du nicht viel für tun, nur dort erscheinen, sie in den Arm nehmen und ihr alles Gute wünschen.«

»Also gut.« Sein Magen knurrt.

»Tja, so viel zu Mäckes.«

»Hattest du nicht was von Sandwiches erzählt?«

Ich rapple mich ebenfalls vom Bett auf. »Na dann aber schnell. Ich will die Mädels nicht vor der Tür warten lassen.«

»Ich auch nicht. Vor allem Peyton nicht.«

Wir schlüpfen in unsere Schuhe und gehen gemeinsam runter in die Küche.

Während ich Käse und Wurst aus dem Kühlschrank hole, frage ich beiläufig: »Peyton, hm?«

Hinter mir klappert Lenny mit Tellern und Besteck. »Sie ist irgendwie nett.«

»Irgendwie?«

»Mehr sage ich jetzt nicht.«

Das kommt so trotzig raus, dass ich lache. »Musst du nicht. Aber wenn dir irgendwann danach ist, ich bin da. Deine Mom auch.«

»Ich weiß.«

Und nur, um ihn zu ärgern, füge ich hinzu: »Und Max.«

Lenny stöhnt verzagt, während er sich ein Grinsen verkneift.

Gut gemacht, MacLeish. Für den Moment ist alles im grünen Bereich. Das muss jedoch nichts bedeuten. Ein neues Drama wartet garantiert gleich hinter der nächsten Ecke. Was soll’s, das bin ich schließlich gewohnt. Um ehrlich zu sein, will ich es gar nicht anders haben.

 

Kapitel 2

 

- Cormac -

 

Eine Woche später

 

Die Woche verlief viel zu reibungslos, was mich misstrauisch macht. Die Skepsis ist angebracht. Wie erwartet ist der Frieden trügerisch, denn das nächste Drama schleicht sich hinterrücks in Form eines Anrufs an.

Ich bin gerade in einem Beratungsgespräch, als es klingelt und Macis Name auf dem Display erscheint. An meine potenziellen Kunden gerichtet sage ich: »Verzeihen Sie bitte, da muss ich rangehen. Sehen Sie sich inzwischen ruhig ein wenig um.«

Kaum bin ich in der Leitung, überfällt mich Maci mit der Frage: »Hast du eine Ahnung, was mit Lennox nicht stimmt?«

»Liebes, er war zwar mit zur Einweihungsparty, aber das heißt noch lange nicht, dass er mit allem im Reinen ist. Gib ihm Zeit.«

»Das meine ich nicht. Ist dir irgendwas an ihm aufgefallen?«

»Okay, du bekommst meine volle Aufmerksamkeit. Gib mir eine Sekunde. Ich bin grad in einem Kundengespräch.«

»Oh, verdammt. Sorry, wenn ich störe. Ruf mich einfach zurück, sobald du ein paar Minuten erübrigen kannst.«

»Blödsinn. Bleib dran. Ich bin gleich bei dir.«

Das ältere Pärchen steht auf der Ausstellungsfläche und studiert Grabsteindesigns. Sie lächeln mich verständnisvoll an und wenden sich den Schriftmustern zu.

Für eine Sekunde bin ich kurz davor, sie vor die Tür zu setzen. Allerdings wäre das eine saublöde Idee. Positive Mundpropaganda ist Gold wert. Negative kann jedoch den Ruin eines Geschäfts bedeuten.

Ich lege das Mobilteil auf den Schreibtisch. »Entschuldigen Sie bitte. Haben Sie noch weitere Fragen?« Aus einem Flyerständer neben der Tür suche ich einige Prospekte zusammen.

Der ältere Herr schüttelt den Kopf und lächelt seine Frau an, während er antwortet: »Ich denke, Sie haben uns umfassend beraten. Nicht wahr, meine Liebe?«

»Ja, absolut. Jetzt müssen wir uns nur entscheiden.«

Die zwei sind nicht das erste Paar, das zu Lebzeiten alles für ihre Beisetzung abklärt und organisiert. Das mag für den einen oder anderen makaber klingen. Ich finde es gar nicht so abwegig. Auf diese Weise unterstützen sie ihre Hinterbliebenen, denen in ihrer Trauer nicht der Sinn danach steht, sich um die Bestattung und später den Grabstein zu kümmern.

»Sollten Sie weitere Fragen haben, rufen Sie mich einfach an. Wenn Sie wollen, kann ich gern bei Ihnen vorbeikommen und wir schauen uns alles noch mal in Ruhe an.«

Er nimmt die Broschüren entgegen. »Das ist sehr zuvorkommend. Und ich glaube, wir nehmen das Angebot an.« Er schaut sich einen Moment um. »Es ist doch ziemlich seltsam, hier zu sein und über sein Ableben zu reden.« Daraufhin deutet er auf den Durchgang zum hinteren Werkstattbereich und lächelt mich entschuldigend an. »Wir waren so frei und haben ein Auge auf Ihre anderen Arbeiten geworfen. Sie sind ein wahrer Künstler, Mr. MacLeish.«

Seine Frau nickt. »Rupert hat recht. Wenn Sie nichts dagegen haben, würden wir über die Grabsteinauswahl bei uns zu Hause weiterreden, aber morgen trotzdem herkommen. Wir hoffen, Sie können uns mehr von Ihren Skulpturen zeigen. Selbstverständlich nur, wenn Sie wollen. Wir wissen ja nicht, ob Sie überhaupt Interesse daran haben, uns ein oder zwei Ihrer Kunstwerke für unsere Eingangshalle zu verkaufen.«

Säße mir Macis Anruf nicht im Nacken, würde ich jetzt vor Freude im Kreis springen. »Oh, das würde mich sehr freuen.«

»Fantastisch! Dann sehen wir uns morgen Vormittag.« Die Lady strahlt ihren Rupert an, bevor wir uns freundschaftlich die Hände schütteln.

»Vielen Dank für die wunderbare Beratung und bis morgen.«

Ich begleite die Herrschaften zur Tür hinaus und kehre anschließend zum Telefon zurück.

»Maci?«

»Bin noch da. Entschuldige, jetzt halte ich dich von deiner Kundschaft ab, die obendrein Interesse an deinen Skulpturen hat.«

»Mach dich nicht fertig. Bis morgen haben Sie vielleicht auch die Sache mit ihren Grabsteinen überdacht. Also, was ist mit Lenny?«

»Er war hier, wollte aber nicht mit mir reden, sondern nur mit dem Doc.«

»Er war bei dir in der Praxis? Ich wusste gar nicht, dass er krank ist. Hast du einen Blick in seine Unterlagen geworfen?«

»Fisher hält nichts davon, Angestellte Einblick in Krankenakten ihrer Verwandten zu gewähren.«

»Was soll denn der Quatsch?«

»Das Gleiche habe ich ihn auch gefragt. Na ja, vielleicht etwas anders formuliert. Er meinte, er hätte schon die absurdesten Dinge erlebt und hat keine Lust mehr, sich von seinen Mitarbeitern sagen zu lassen, welche Behandlungsmethode angemessen für Ehemann, Ehefrau, Mutter, Vater oder Kind wäre. Als ob ich das je tun würde.«

Ich behalte meinen schnippischen Kommentar besser für mich.

»Verdammt und zugenäht, ich bin Lennys Mutter!«

»Na ja, für deinen Doktor Fisher ist er ein Patient, der die Volljährigkeit längst erreicht hat. Von daher sollte man ihn eigentlich dafür bewundern.« Wir Schotten zählen zu den wenigen Ländern, in denen man mit sechzehn die Volljährigkeit erlangt.

»Sei nicht so vernünftig. Du weißt, das hilft mir jetzt nicht wirklich weiter.«

»Also gut. Hat er gesagt, wohin er anschließend wollte? Lenny, meine ich.«

»Nein, er ist mit hochrotem Kopf an mir vorbeigerauscht und hat sich nicht mal verabschiedet.«

»War er allein?«

»Zumindest in der Praxis. Ob draußen jemand auf ihn gewartet hat, kann ich nicht sagen.«

Plötzlich geht die Türglocke und Lennox stapft herein, offensichtlich in Gedanken versunken. Das Haupt gesenkt und sein schulterlanges Haar wie einen Vorhang vor seinem Gesicht.

»Er ist hier. Ich melde mich später zurück, okay?«, unterrichte ich Maci leise, ehe ich auflege und auf den schlaksigen, in Leder gehüllten Lennox zuschlendere.

Sein Kopf ruckt hoch und er schaut mich mit riesigen Augen an, als hätte er mich ausgerechnet hier nicht erwartet.

»Hey du, was gibt’s?«, erkundige ich mich lässig und gehe an ihm vorbei, um die Musterbücher zu sortieren.

»Ähm, nix. Wieso fragst du?«

Ich zucke mit den Schultern. »Nur so. Siehst aus, als würdest du über was rumgrübeln. Aber vor allem wundert mich, dass du durch den Laden ins Haus gehst.« Sonst benutzt er die Vordertür, da es zu umständlich ist, über den Hof, durch mein Geschäft und anschließend durch die Werkstatt zu laufen, um schließlich durch die Küche in den Wohnbereich zu gelangen.

»Was?! Machst du mich jetzt an, weil ich Hallo sagen wollte?«

Ich blicke ihn mahnend an.

Lennox ist sofort klar, dass er sich im Ton vergriffen hat und rudert flugs zurück. »Sorry.«

»Stress mit Peyton?«, lenke ich ein. Auf sein respektloses Benehmen einzugehen bringt im Moment so viel, wie mit einem Bleistift eine Gravur in Marmor kratzen zu wollen.

»Peyton?« Die Stirn gerunzelt, als wüsste er nicht, wovon ich rede.

Die Musterbücher schiebe ich auf die Seite, drehe mich vollends zu ihm um und lehne mich gegen die Tischkante, um dann die Arme zu verschränken und ihn abwartend anzustarren.

»Ach Peyton!«, ruft er nun in vorgetäuschter Erkenntnis. »Jaja, es geht um sie.«

Ich glaube ihm kein einziges Wort. Aber gut, wenn er Spielchen spielen will, das geht auch zu zweit. Ich stoße mich vom Tisch ab, schnappe mir die Ladenschlüssel und schließe zu. »Lass uns hochgehen, Abendessen vorbereiten. Derweil kannst du mir von Peyton erzählen.«

Auf dem Weg ins Haus gehen mir tausend Gründe für sein seltsames Verhalten durch den Kopf. Allem voran die Tatsache, dass er siebzehn und offensichtlich in ein Mädchen verschossen ist. Schlagartig habe ich Maci vor Augen, wie sie vor achtzehn Jahren elend vor unserer Haustür stand und weder ein noch aus wusste.

Er wird doch wohl nicht …? Nein, das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Was die Sache mit den Blumen und Bienen angeht, hatten Maci und ich bereits unsere peinlichen Momente mit Lennox, als er ins Teenageralter kam. Er ist ein aufgeklärter junger Mann und kennt die Geschichte seiner Mom, die ihm immer wieder wegen Verhütung in den Ohren liegt. Ich baue darauf, dass er so viel Verstand walten lässt, der nötig ist, um sein Mädchen nicht in dieselbe missliche Lage zu bringen, in der damals seine Mutter war.

»Ich gehe nur eben schnell unter die Dusche. Kümmerst du dich solange um den Salat? Allzu großen Hunger habe ich nicht. Mir reicht heute ein Baguette dazu. Du kannst dir aber gern das letzte Steak in die Pfanne hauen, wenn du willst.«

»Alles klar. Lass dir Zeit.«

Das hättest du gern.

 

Der Tag war anstrengend, körperlich wie geistig. Am Vormittag musste ich schon wieder zwei von mir angefertigte Grabsteine erneuern. Seit Wochen gehen auf Edinburghs Friedhöfen die Vandalen um. Bisher konnte niemand dingfest gemacht werden. Was ein echtes Dilemma ist. Mir tun die Hinterbliebenen leid, die jedes Mal geschockt bei mir anrufen und mich um Hilfe bitten. Es nimmt inzwischen Ausmaße an, die es mir unmöglich machen, meine Arbeitszeit weiterhin kostenlos zur Verfügung zu stellen. Dennoch sträube ich mich dagegen. Ich hoffe, die Sache ist bald geklärt und der oder die Übeltäter gefasst.

 

Vor Kurzem war ich auf dem Greyfriars Kirkyard beschäftigt, als ich von Inspector Sidney Fleming angesprochen wurde, der in diesem Fall ermittelt. Netter Kerl, schätzungsweise Ende vierzig. Gut aussehend. Jedenfalls unterhielten wir uns, als er mich einen Moment musterte und wissen wollte: »Ist Ihnen eigentlich aufgefallen, dass die Sachbeschädigung nur Ihre Arbeiten betrifft?«

Ich war dermaßen perplex, wusste erst gar nicht, was ich darauf entgegnen sollte. Endlich fand ich meine Stimme wieder und fragte idiotisch: »Sie glauben, da erlaubt sich jemand einen Scherz mit mir?«

»Na ja, von Scherz kann hier nicht die Rede sein, Mr. MacLeish.«

»So hatte ich es gar nicht gemeint.«

Fleming lächelte mich verständnisvoll an. »Dachte ich mir.« Dann wurde er erneut ernst. »Ich denke, es liegt durchaus im Bereich des Möglichen, dass es jemand speziell auf Sie oder besser gesagt, auf Ihre Arbeiten abgesehen hat. Haben Sie vielleicht eine Idee, wer da infrage käme?«

»Keine Ahnung. Ich wüsste auch nicht, welchen Grund es geben sollte. Ich bin zwar nicht der einzige Steinmetz in Edinburgh, aber meine Kollegen und ich können uns nicht über eine schlechte Auftragslage beklagen. Ich würde niemand von ihnen als Konkurrenten ansehen, eher als Mitstreiter, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Ich verstehe voll und ganz. Und es ist wirklich erfrischend zu sehen, dass es noch ein neidloses Miteinander gibt. Ich sage Ihnen, das ist ziemlich selten geworden.« Daraufhin griff er in die Innentasche seiner Jacke und holte eine Visitenkarte hervor, die er mir entgegenhielt. »Falls Sie Fragen haben oder Ihnen etwas einfällt, das wichtig sein könnte, rufen Sie mich an. Jederzeit. Meine private Nummer finden Sie auf der Rückseite.«

Ich muss ihn angeglotzt haben wie Hamish, das Hochlandrind. Er lachte verhalten und schüttelte amüsiert den Kopf, ehe er unmissverständlich erklärte: »Es könnte durchaus passieren, dass mein Mann rangeht.«

Keine Ahnung, was in mich gefahren ist. Wie kam ich nur auf die dämliche Idee, er hätte mich angeflirtet? Gott, das war dermaßen peinlich.

Allerdings scheint Inspector Fleming eine besondere Begabung zu haben, denn nachdem wir uns weitere zehn Minuten unterhielten, fühlte ich mich nicht mehr ganz so idiotisch.

Wir verabschiedeten uns voneinander und gingen fürs Erste unserer Wege.

Heute früh traf ich ihn erneut. Er befragte mich zu den aktuellen Vorfällen. Zu meiner Überraschung lud er mich für morgen Mittag zum Essen ein. Abermals konnte ich seine direkte Art nicht recht einschätzen. Selbstredend bemerkte er es sofort und ruderte zurück. »Oh, ich dachte nur, es wäre praktischer für Sie. Ich würde gern etwas mit Ihnen besprechen. In einem privateren Rahmen.« Er deutete auf die Umgebung. »Wenn möglich nicht auf einem Friedhof. Und da ich morgen mit Neal, also meinem Mann, in einem Pub in Ihrer Nähe verabredet bin …«

»Ach so. Ja klar. Ich komme natürlich. Wo wollen wir uns treffen?«

»Im Sheep

Das Sheep Heid Inn liegt tatsächlich gleich bei mir um die Ecke in der Causway, keine fünf Minuten zu Fuß. »Das klingt gut. Wann?«

»Gegen eins?«

»Perfekt. Ich werde es einrichten.«

 

Somit bin ich morgen zum Essen verabredet. Bin gespannt, was der Inspector mit mir bereden möchte. Wenn es um den Fall ginge, hätte er das genauso gut heute früh erledigen können. Was jedoch nicht viel gebracht hätte, denn auch wenn ich mir seit Tagen das Hirn zermartere, ich habe keinen Schimmer, wer mir schaden wollen würde.

Ich wische mit der flachen Hand über den beschlagenen Spiegel und sehe mich einen Augenblick an. Mein dunkelblondes Haar wirkt im nassen Zustand beinahe schwarz. Ich fahre hindurch und stelle fest, es wird Zeit für den Friseur. Die Seiten sind zu lang. Die mag ich raspelkurz. Pflegeleicht ist angesagt. Das Haupthaar darf ein wenig länger sein, nur bitte nicht zu lang. Ich schwitze viel und hasse es, wenn mir die Strippen ins Gesicht hängen. Aber fürs Erste fühle ich mich wie ein Mensch und wappne mich für das, was mich heute noch erwartet.

Als ich in die Küche komme, empfängt mich der himmlische Duft nach Kräuterbaguette. Der Esstisch ist gedeckt, der Salat angerichtet.

Ich blicke mich erstaunt um. »Wow, das ist ja toll. Solltest du öfter machen. Ich lasse mich gern von dir verwöhnen.« In Wirklichkeit ist es eine Premiere, dass sich Lennox so ins Zeug legt.

»Gewöhn dich besser nicht dran«, mault Lenny, als wir uns an den Tisch setzen.

»Wie läuft es mit Peyton?«, erkundige ich mich, während ich mir den Teller mit Grünzeug befülle, Dressing drüber gebe und mir ein Stück Baguette abbreche.

»Gut.«

In der Hoffnung, Lennox wird ein wenig redseliger, genieße ich schweigend den ersten Bissen. Wird er nicht. Nun gut, dann eben anders. Der tägliche Fragenkatalog ist stets eine willkommene Möglichkeit, das Gespräch anzukurbeln.

»Wie war dein Tag?«

»In Ordnung.«

»Was macht die Schule?«

»Ist immer noch da, wo sie gestern stand.«

»Gut zu wissen. Wann stehen die nächsten Prüfungen an?«

»Mathe am Freitag. Englisch am Mittwoch.«

»Wenn du …«

»Ja, ich weiß«, unterbricht mich Lennox genervt, um gelangweilt fortzufahren. »Wenn ich Hilfe brauche, sag ich Bescheid.«

»Bist du nachher verabredet? Wenn nicht, könnten wir uns zusammen einen Film ansehen.«

Lennox’ ungläubiger Blick trifft mich, ehe er aufgebracht erwidert: »Such dir endlich einen Kerl, mit dem du die Abende verbringen kannst. Ich bin nicht dein Babysitter.«

Allmählich kocht Wut in mir hoch und doch halte ich sie im Zaum. Ich kenne Lennox, seitdem er auf der Welt ist, und weiß genau, es ist nicht seine Art, mich derart anzufeinden. So lässig wie mir in diesem Moment möglich ist, zucke ich die Schultern und konzentriere mich auf eine widerspenstige Tomate, die sich permanent meiner Gabel widersetzt. »War nur ein Vorschlag.«

Während ich darüber nachsinne, wie ich ihn über seinen Besuch beim Doc ausfragen kann, vertilgt er sein Abendessen in Windeseile. Kaum fertig springt er auf und räumt seinen Teller ab. Als Lenny ihn zum Geschirrspüler bringt und sich vorbeugt, um ihn hineinzustellen, rutscht sein T-Shirt nach oben und entblößt den unteren Rücken. Ein riesiger Mullverband, der an allen vier Ecken mit Pflaster befestigt ist, kommt zum Vorschein. Es bedeckt beinahe die gesamte linke Seite.

Alarmiert und zu meinem Leidwesen unüberlegt frage ich spontan: »Hast du dich verletzt? Warst du deswegen bei Doktor Fisher?«

Lenny ruckt hoch, zieht hektisch das Shirt runter und starrt mich wütend an. Zugleich färben sich seine Wangen knallrot. »Woher weißt du …? Verdammt, Mom hat dich angerufen.«

Ich lege die Gabel ab und lehne mich zurück. »Natürlich hat sie das. Glaubst du, sie nimmt es stillschweigend hin, wenn ihr Sohn in ihrer Praxis auftaucht, kein Wort sagt und nach einem Abstecher ins Behandlungszimmer einfach so davonrauscht?«

»Ich bin erwachsen. Ihr müsst nicht immer alles wissen.«

Ich schlucke einen bissigen Kommentar runter und nicke. »Da hast du vollkommen recht. Dennoch wird es uns nach einer derartig irrationalen Aktion von dir gestattet sein nachzufragen, ob du in Ordnung bist.«

»Alles bestens.« Lennox schließt die Klappe des Geschirrspülers und ich rechne damit, dass er bockig aus der Küche rennt. Überraschenderweise stützt er sich rücklings mit den Händen auf der Arbeitsfläche ab und schaut zu Boden.

Irgendwas passt hier mal ganz und gar nicht. Ist es möglich, dass man ihm aufgelauert hat? Besteht womöglich eine Verbindung zwischen den Friedhofsvandalen und seiner Verletzung? Allein der Gedanke, jemand hätte es nicht nur auf mich und mein Geschäft, sondern ebenso auf meine Familie abgesehen, macht mich rasend vor Zorn. Bisher habe ich niemand von meinem Gespräch mit Inspector Fleming erzählt. Natürlich wissen sie über die Sachbeschädigungen Bescheid. Aber ich will keinen von ihnen zusätzlich beunruhigen.

»Lenny, bist du in eine Schlägerei geraten?« Ich versuche die Frage so unverfänglich wie möglich zu formulieren.

Fassungslos blickt er auf. »Was?!« Er verzieht das Gesicht. »Blödsinn! Warum sollte mich jemand verprügeln?«

»Warum solltest du es sonst vor uns verheimlichen wollen?«

»Glaubst du ernsthaft, ich hätte mich nicht zur Wehr gesetzt und das wäre mir peinlich?«

»Na ja, ich könnte es verstehen.«

»Humbug. Ich bin durchaus in der Lage auszuteilen, sollte der Fall eintreten, dass mir einer an die Wäsche will. Na, danke! Scheinst mir ja nicht viel zuzutrauen.«

»So habe ich das nicht gemeint. Und das weißt du.« Innerlich schicke ich Dankesgebete an wen auch immer.

Angespanntes Schweigen. Sein Blick liegt auf mir, als würde er darüber nachdenken, ob er mir nun die Wahrheit sagen soll oder nicht. Im nächsten Moment sehe ich, wie seine Abwehr zerbröselt und höre ihn seufzen. Daraufhin sieht er mich mit gesenktem Kopf von unten herauf an.

Oh ja, ihm ist etwas peinlich, aber nicht das, was ich mir zuvor ausgemalt habe. »Was ist es dann?« Es juckt mir in den Fingern rüberzugehen und unter den Verband zu schauen.

»Es ist total bescheuert«, gibt Lennox kleinmütig zu. »Darum wollte ich euch nichts sagen. In meiner Panik habe ich nicht nachgedacht und bin zum erstbesten Arzt gerannt, der mir eingefallen ist.«

»Doktor Fisher.«

»Jupp.« Lennox wendet sich von mir ab, zieht erneut das T-Shirt hoch und löst auf einer Seite die Bandage, um sie anzuheben und mir zu zeigen, was sich darunter verbirgt.

Im ersten Moment glaube ich, ich gucke nicht richtig. Ein dunkler Fleck, knallrot umrandet und geschwollen. Sieht nach einer heftigen Entzündung und schmerzhaft aus. Ich erhebe mich langsam und gehe zu ihm rüber, um die Sache aus der Nähe zu betrachten.

»Scheiße, Lennox, ist das ein Tattoo?!«

Einerseits bin ich zutiefst erleichtert, dass es sich nicht um Verletzungen aufgrund einer Prügelei handelt. Andererseits kann ich nicht fassen, was ich da vor mir sehe. Ich nehme ihm den Verband aus der Hand und klebe ihn vorsichtig wieder fest, bevor ich ihn zu mir rumdrehe und frage: »Wer hat das gemacht? Und wieso ist das dermaßen entzündet? Du musst Schmerzen haben.« Ich könnte ihn noch fragen, warum er überhaupt so dämlich ist, sich ein Tattoo stechen zu lassen. Das hebe ich mir besser für ein anderes Mal auf. Jetzt will ich nur eins: Die Person in die Finger bekommen, die erstens einem Siebzehnjährigen ein Tattoo sticht und zweitens derart stümperhaft dabei vorgeht.

»Ja, es tut weh. Aber das ist nicht so wild. Der Doc hat mir Schmerzmittel gegeben und es gründlich gereinigt. Er meinte, ich hatte Glück. Hätte ich länger gewartet, wäre es zu einer Blutvergiftung gekommen.« Er wirft verzweifelt die Hände in die Luft. »Keine Ahnung, er hat mir auch was gespritzt, damit die Entzündung zurückgeht.«

»Verdammt, Junge! Warum sagst du denn nichts?«

Lenny verzieht erneut das Gesicht. »Weil ich ein Idiot war.«

»Okay, da widerspreche ich jetzt nicht.«

»Schon klar«, mault Lenny.

Ich schiebe ihn zum Esstisch rüber. »Setz dich und lass uns reden.« Daraufhin gehe ich zum Kühlschrank und öffne das Tiefkühlfach. »Willst du Eis?«

»Der Doc meinte, ich soll nix draufmachen außer der Wundsalbe, die er mir mitgegeben hat.«

Ich stutze und muss dann lachen. »Dummkopf! Doch nicht für dein hässliches Tattoo. Erdbeere oder Schokolade?«

Lenny kichert verhalten. »Schoko wäre klasse.«

Zurück am Tisch drücke ich ihm ein Eis am Stiel in die Hand und nehme ebenfalls Platz. »Also, lass hören. Welches Arschloch hat dich so verschandelt?«

»Mein Kumpel Jordan.«

Ich wickle mein Erdbeereis aus und knabbere an der Waffel, ehe ich frage: »Wer ist Jordan?«

»Er gehört zu der Clique, mit der ich seit einiger Zeit rumhänge.«

»Lass mich raten. Sie tragen alle Kuhhäute und fahren fette Harleys.«

»Quatsch. Na ja, vielleicht doch, aber nicht alle. Wir sind keine durchgeknallte Rockergang, wenn du das meinst.« Der Tonfall und seine Miene drücken unterschwellige Zweifel aus. Ist ihm das überhaupt bewusst? »Sie sind schon irgendwie okay, weißt du?«, fährt er unsicher fort. »Sie stehen füreinander ein und sind da, wenn man jemanden braucht.«

»Das tun wir auch.« Ich hebe sofort die Hand. »Aber ich verstehe, worauf du hinauswillst.« Lenny hatte bisher Pech mit seinen Freunden. Die meisten waren Arschlöcher und nutzten ihn aus.

»Na ja, jedenfalls bot Jordan an, mir das Tattoo kostenlos zu stechen. Er arbeitet mit seinem Bruder zusammen. Sie haben ein Studio in Balgreen.«

»Ich hoffe, nicht die zwielichtige Ecke.«

»Du weißt genauso gut wie ich, dass es in Edinburgh nicht wirklich zwielichtige Ecken gibt. Wir sind nicht in London.«

»Und die Weisheit beziehst du woraus? Aus deinen zahlreichen Reisen nach London?« Diese sarkastische Frage kann ich mir einfach nicht verkneifen.

»Egal. Sie betreiben ein Tattoostudio, das total angesagt ist.«

»Wenn es das ist, bin ich ziemlich verwundert. Wie kann das sein, wenn Jordan so einen Mist abliefert?« Viele Tattoostudios wird es in Balgreen wohl nicht geben. Ich werde diese Frage direkt an den Verursacher richten. Gleich morgen früh. Den Idioten nehme ich mir zur Brust.

»Das sieht bestimmt schlimmer aus, als es ist. Vielleicht kommt das hin und wieder vor.«

»Lenny, sei nicht beleidigt, aber du bist wirklich naiv. Ich sage nur Blutvergiftung. Ich bin mir sicher, dass das«, ich deute auf seinen Oberkörper, »nicht normal ist. Wann hast du es denn stechen lassen?«

»Vor drei Tagen.«

»Herrje! Na gut. Jetzt musst du mich nur noch aufklären, was es überhaupt darstellen soll.«

»Das sieht man doch.«

»Sorry, ich habe nur einen formlosen, schwarzen Fleck gesehen.«

Lenny wirkt plötzlich geschockt. »Ernsthaft?« Ihm fällt das Eis aus der Hand und er rennt zur Küche raus und die Treppe hoch.

Ich eile ihm hinterher und finde ihn im Bad wieder, wo er mit nacktem Oberkörper vor dem Spiegel steht und sich von einer Seite auf die andere dreht. Der Verband liegt vor ihm auf dem Waschtisch.

»Zeig mal her.«

Das helle Badlicht macht den Anblick nicht besser. »Tja, das sieht seltsam aus.«

»Verdammte Scheiße! Ich habe ihm vertraut. Es sollte ein nordischer Knoten werden. Aber das da sieht aus wie hingerotzte Kuhkacke. Dafür bringe ich ihn um.«

Warum fällt ihm das erst jetzt auf? Die Frage verkneife ich mir. Er steht auch so schon völlig neben sich. Ich tätschle seine Schulter. »Das überlass lieber mir.«

»Nein. Ich will nicht, dass du dich einmischst.« Entsetzen ist ihm ins Gesicht geschrieben.

»In Ordnung«, lüge ich prompt. Denn das kann ich nicht auf sich beruhen lassen. Ich werde morgen definitiv hinfahren und dem Arsch den Kopf waschen, bis ihm die Ohren klingeln. Notfalls hetze ich ihm irgendeine Behörde auf den Hals, die ihm die Bude dichtmacht.

»Du erzählst es nicht Mom, oder?« Es ist beinahe ein Wimmern.

»Nein.«

»Oh, Gott sei Dank.«

»Du wirst es tun.«

»Fuck! Mann, das kannst du doch nicht machen.«

»Doch.«

»Sie wird mich killen.«

»Davon gehe ich aus.«

Seufzend sinkt Lenny auf den Wannenrand. »Was soll ich nur tun?«

»Den Mist hast du dir selbst eingebrockt. Jetzt steh dazu wie ein Mann.«

»Ich fasse es nicht, dass ich so ein Idiot war.« Er verbiegt sich noch mal, um draufzusehen, und stöhnt verzagt. »So kann ich niemandem unter die Augen treten. Nicht mal …«

»Peyton wird es verstehen.«

Er blickt mich verwirrt an. Hm, und ich dachte, er wäre auf dem besten Weg, uns irgendwann in naher Zukunft seine erste Freundin vorzustellen.

Nachdem ich Lenny einen neuen Verband angelegt habe, streift er sich sein Shirt wieder über und fragt kleinlaut: »Was für einen Film wolltest du denn gucken?«

Ich lächle verständnisvoll. »Du entscheidest.«

 

Kapitel 3

 

- Jesse -

 

Unter der Woche und vor allem am Vormittag ist es meist ruhig im Studio. Weshalb ich die Zeit nutze und mich mit einem großen Pott Kaffee an meinen Schreibtisch setze, den ich im vorderen Empfangsbereich platziert habe, um Kunden sofort begrüßen zu können. Bisher habe ich niemand eingestellt und führe den Laden allein. Was recht gut funktioniert. Das heißt aber auch, ich muss mich selbst dem verhassten Verwaltungskram widmen, den ich vor mir herschiebe. Es nützt nichts. Wenn ich nicht will, dass mir das Finanzamt aufs Dach steigt, muss ich die Unterlagen auf den neusten Stand bringen. Mein Steuerberater drängelt, da der Vorjahresabschluss seit geraumer Zeit an die Tür klopft. Und die monatliche Rate für meinen Investitionskredit ist in drei Tagen fällig. Letzteres liegt mir von allem am meisten am Herzen, da ich jedes Mal froh bin, ein weiteres Stück meines Schuldenbergs abzutragen. Alles andere ist nicht weniger wichtig, dennoch sehe ich es als eine unausweichlich lästige Notwendigkeit.

Ich wäre vor drei Jahren, als ich das Just Ink eröffnete, gern ohne Kredit ausgekommen. Das ist allerdings illusorisch. Mit den paar Kröten, die ich mir bis dahin mit meinen mies bezahlten Jobs bei der Müllabfuhr und dem Tankstellenachtdienst vom Mund abgespart hatte, konnte ich gerade mal die Kaution für die angemieteten Räumlichkeiten abdecken. Und auch wenn Just Ink nur Tinte bedeutet, gehört wesentlich mehr dazu. Nicht nur das Wissen, welches ich mir im Tattoostudio eines Freundes über Jahre hinweg angeeignet habe. Also biss ich in den sauren Apfel, erstellte einen Businessplan und ging damit zu einer ansässigen Bank, die mir überraschenderweise das Startkapital zur Verfügung stellte.

Abgesehen von der Renovierung fehlte die komplette Möblierung, angefangen vom Schreibtisch bis hin zu Liege und Stuhl für meine Kunden. Und ein Tattoostudio funktioniert natürlich nicht ohne eine vernünftige Tätowiermaschine. Das Handwerkzeug ist gleichermaßen wichtig wie eine ruhige Hand und künstlerisches Talent. Obendrein sollte man Menschen mögen und Feingefühl besitzen. Dann sind da die laufenden Kosten wie Miete, Strom, Wasser, Nadeln, Behälter, Farben, Handschuhe, Einmaltücher und vieles mehr. Nicht zu vergessen, wäre es fantastisch, mit dem, was am Monatsende unterm Strich übrig bleibt, meinen Lebensunterhalt bestreiten zu können.

Wiederverwendbare Nadeln sind mir trotz gründlicher Sterilisierung zu heikel. Ich bin nicht allein für meine ausgefallenen Tattoos bekannt, sondern ebenso für den Hygienestandard. Regelmäßige Kurse halten mich diesbezüglich auf dem neusten Stand. Aufgrund dessen gab es bisher keine gesundheitlichen Probleme. Und ich hoffe, das ändert sich auch nie.

Mittlerweile läuft mein Geschäft gut. Um ehrlich zu sein, besser als erwartet. Ein Umstand, den ich meiner recht ansehnlichen Stammkundschaft verdanke, die mir hin und wieder Neukunden bringt. Was wunderbar ist, denn das erspart mir unnötige Geldausgaben für Anzeigen in einschlägige Zeitschriften.

Ich kann mich also nicht beklagen. Wenn es so weitergeht, ist der Kredit in einem halben Jahr abbezahlt, ohne mir dafür ein Bein ausreißen zu müssen. Gott, ich freue mich drauf, endlich sagen zu können, das Just Ink gehört mir.

Meine Eltern waren anfangs skeptisch. Haben sich jedoch mit dem Gedanken angefreundet, dass ich Körperkunst verkaufe. Mom war letztens sogar hier und verriet mir insgeheim, sie würde darüber nachdenken, sich von mir ein Tattoo stechen zu lassen. Ich war total von der Rolle. Meine Mutter und ein Tattoo? Von mir? Heilige Scheiße, das muss ich mir gründlich überlegen.

Sollte ich das tatsächlich durchziehen, sehe ich Dad jetzt schon wie wild gestikulierend um Worte ringen. Das passiert ihm ständig, sobald er fuchsteufelswild ist. Ihn verlässt im Eifer des Gefechts die Gabe, sinnvolle Sätze zu bilden. Was ihn nur noch mehr aufregt.

Mein Bruder … Tja, der ist ein Fall für sich. Keine Ahnung, was bei seiner Erziehung falsch gelaufen ist. Stimmt nicht, ich weiß es. Jordan hat sehr früh bemerkt, wie er unsere Eltern einwickeln kann, um sein eigenes Ding durchzuziehen. Er geht mir seit Monaten auf den Zeiger, ich soll ihm einen Job geben.

Das wäre das Letzte. Erst einmal muss er seinen Abschluss schaffen, der mit seinen Leistungen auf der Kippe steht. Er glaubt wahrscheinlich, hier könnte er sein Geld im Schlaf verdienen.

Es gibt noch einen wichtigen Punkt, der mich davon abhält, überhaupt jemanden einzustellen. Das Just Ink ist mein Baby und das bleibt auch zukünftig so.

Für den Nachmittag sind zwei Sitzungen geplant. Eine wird länger ausfallen – zumindest hoffe ich das. Es handelt sich um ein ausladendes, sehr detailliertes Rückentattoo. Daran arbeite ich seit Ende letzten Jahres und würde mir wünschen, es heute fertigstellen zu können. Das hängt allerdings von der Tagesform meiner Kundin ab. Wäre möglich, dass sie nach einer Stunde die Segel streicht und wir erneut einen Termin vereinbaren müssen.

Nun ja, meine Leinwände bestehen nun mal nicht aus Keilrahmen und Segeltuch oder was auch immer dafür genutzt wird. Es sind lebende Objekte – jedes so einzigartig wie meine Tattoos. Was der eine hart im Nehmen ist und nicht genug bekommen kann, ist der andere zu zart besaitet und verfügt über eine geringe Schmerzgrenze. Wie gesagt, ist das obendrein tagesformabhängig. Ich muss mich nach den Befindlichkeiten meiner Kundschaft richten. So läuft das nun mal in meinem Metier.

 

Ich bin gerade bei der monatlichen Kostenaufstellung, als die Ladentür mit Schwung auffliegt und ein stämmiger Kerl mit mörderischer Miene hereinrauscht.

Er ist kaum bei mir am Schreibtisch, da beugt er sich angriffslustig vor, wedelt mit dem Zeigefinger vor meinem Gesicht herum und brüllt mich ohne Vorwarnung an. »Ihnen sollte man den Laden dichtmachen. Was denken Sie sich nur dabei, Kindern Tattoos zu stechen und das dann auch noch so stümperhaft, dass sie anschließend ärztliche Betreuung benötigen? Ist Ihnen gar nichts heilig? Dass es kostenlos war, macht es nicht besser. Schon mal was von Körperverletzung gehört? Man sollte Sie einsperren und den Schlüssel im Gully versenken.«

Dermaßen überfahren bleibt mir glatt die Spucke weg. Es fehlt nicht viel und er zerrt mich am Schlafittchen über den Tisch. Jedenfalls wirkt er so auf mich.

»Haben Sie nichts dazu zu sagen?«

Ich für meinen Teil bin weiterhin sprachlos.

Er baut sich breitbeinig vor mir auf, funkelt mich aus grün-braunen Augen an – interessante Farbkombi – und verschränkt die Arme vor der Brust, was mich erneut ablenkt. Meine Aufmerksamkeit wechselt von seinen Augen auf seine breiten Schultern. Hat mein Hirn einen Kurzschluss erlitten? Ich kann an nichts anderes denken als daran, wie es sich wohl anfühlt, mich an ihn zu schmiegen und seine kräftigen Oberarme zu streicheln.

Keine Ahnung, wie lange wir uns anstarren. Plötzlich kommt Bewegung in ihn. Er macht auf dem Absatz kehrt, stapft zur Tür, vor der er kurz innehält, sich erneut zu mir umdreht, mich mit gerunzelter Stirn eindringlich mustert, um anschließend kopfschüttelnd und grummelnd davonzurauschen.

Immer noch sprachlos … und ja, auch ein wenig atemlos, als hätte hier eben ein Orkan gewütet und jeglichen Sauerstoff verzehrt, lehne ich mich zurück und schaue dem Kerl fassungslos dabei zu, wie er in einen Kastenwagen steigt, auf dem in geschwungener Schrift geschrieben steht:

 

MacLeish & Son

Stonemasonry

Wir erfüllen jeden Wunsch.

 

»Ein Steinmetz, hm? Das erklärt so einiges. Viele Muskeln, wenig Grips«, murmle ich, als der Motor aufheult und der Racheengel Gas gibt.

 

Es dauert eine Ewigkeit, bis ich mich auf meine Arbeit konzentrieren kann. Permanent geistert mir dieser aufgebrachte, von Kopf bis Fuß in Jeans gekleidete, hinreißende Kerl in meinen Gedanken herum. Obwohl er mich anschrie, dachte ich die ganze Zeit: Verdammt heiß!

Dann war er weg und mich traf die nüchterne Erkenntnis, wessen er mich überhaupt bezichtigte.

Inzwischen bin ich mir sicher, dass er sich in der Adresse geirrt haben muss und sein Zorn unbegründet war. Zumindest mir gegenüber. Ich will nicht behaupten, es gäbe keine sogenannten Hinterhofstecher. Nur kann er mich und im Speziellen das Just Ink nicht gemeint haben. Ich würde niemals einem Jugendlichen ein Tattoo stechen. Meine Klientel ist mindestens zwanzig. Und selbst da verzichte ich auf lukrative Aufträge, sobald ich bemerke, der- oder diejenige ist geistig nicht reif genug zu realisieren, was es bedeutet, ein Tattoo zu bekommen. Es handelt sich nicht um ein T-Shirt, das man nach Lust und Laune wechseln kann. Und dann noch der Vorwurf, ich hätte unsauber gearbeitet. NIEMALS!

Also ja, er kann nicht das Just Ink gemeint haben.

 

Erneut wird die Studiotür schwungvoll geöffnet. Diesmal ist es Jordan. Mit zwei Kaffeebechern schlendert er herein.

So viel dazu, es wäre vormittags ruhig.

»Was zum Henker machst du hier?«

»Dir ebenfalls einen guten Morgen, Brüderchen.« Er stellt mir einen Becher vor die Nase. »Mit Milch und Zucker. Wie du ihn magst.«

»Bekomme ich eine Antwort? Du solltest in der Schule sein.«

Er lässt sich auf den Besuchersessel vor meinem Schreibtisch fallen und seufzt theatralisch. »Mach nicht so einen Aufstand. Die nächste Prüfung ist erst in zwei Tagen. Den Stoff hole ich bis dahin nach.«

»Tja, das hast du die letzten Male auch gesagt. Und wir haben alle gesehen, wie gut das Nachholen geklappt hat, als du mit einem dicken, roten F auf der Matheklausur nach Hause gekommen bist. Wenn ich mich recht erinnere, spiegelt diese Note deinen aktuellen Durchschnitt wider.«

»Krieg dich ein. Du klingst schon wie Dad.«

Ich greife zum Telefon. »Den ich übrigens sofort anrufe.«

»Scheiße, Harley! Seit wann bist du so ein beschissener Spießer?«

»Nenn mich nicht so.« Ein Spitzname, den ich nicht mehr hören will, denn Harley gibt es seit vielen Jahren nicht mehr. »Und was heißt hier Spießer, du Idiot?«

Stöhnend rappelt Jordan sich hoch und stiefelt Richtung Tür. »Ich komme wieder, wenn du bessere Laune hast.«

»Meine Laune ist fantastisch. Und du wirst nicht einfach abhauen. Vorher will ich wissen, warum du der Schule fernbleibst, und das ausgerechnet jetzt?«

»Darauf brauch ich dir nicht antworten.«

Ich zucke beiläufig die Schultern. »Dann lass es. Mom und Dad gegenüber wirst du Rechenschaft ablegen müssen. Dafür sorge ich höchstpersönlich. Diesmal kommst du nicht so leicht davon, damit das klar ist.«

Jordan winkt gelangweilt ab. »Tu, was du nicht lassen kannst. Man sieht sich … oder auch nicht.«

Die Tür fällt ins Schloss und erneut sitze ich da und kann nicht fassen, was passiert ist. Jordan ist zwar achtzehn, benimmt sich allerdings so unreif wie ein verwöhnter Teenager. Wobei nicht einmal ich mit zwölf derart sorglos durchs Leben ging. Jedenfalls nicht, bis ich auf Abwege geriet. Aber das ist ein anderes Thema.

»Was für ein Tag«, brabble ich, während ich darauf warte, dass Mom oder Dad ans Telefon gehen.

»Morgen, Schätzchen.«

»Morgen, Mom. Jordan war grad hier«, komme ich sofort auf den Punkt.

»Verdammt, sag nicht, er macht wieder blau.«

»Leider doch. Er schneite unbekümmert rein, als wäre alles in bester Ordnung. Ihr müsst endlich was unternehmen. Ich kann ja verstehen, dass er euer Nesthäkchen ist, aber er ist mittlerweile achtzehn und sein Abschluss steht auf dem Spiel. Ihr lasst ihm zu viel durchgehen. Das ist nicht gut.«

»Na ja, er war immer etwas schwierig.«

»Das ist mir nicht entgangen. Wenn ihr nicht bald die Notbremse zieht, entgleitet er euch vollends. Willst du, dass er das College schmeißt? Denn darauf läuft es hinaus.«

»Nein, natürlich nicht. Allerdings erzählt er uns seit Monaten, er packt das locker und wüsste auch schon, was er im Anschluss machen wird. Von daher dachten Dad und ich, er kommt klar.«

Ich liebe meine Eltern, aber sobald es um Jordan geht, sehen sie alles durch eine rosarote Brille.

»Wisst ihr denn überhaupt, was das sein soll?«

»Nicht wirklich. Er macht ein großes Geheimnis draus und meint, wir würden stolz auf ihn sein. Sicher, wir könnten nachfragen, aber wir wollen ihm nicht die Überraschung verderben.«

Ich kann einen tiefen Seufzer nicht verhindern. »Mom, ich bitte dich. Warum um Herrgotts willen nehmt ihr das so hin?«

»Druck funktioniert bei ihm nicht. Du weißt, wie er sein kann.«

»Hör mal, Jordan hat sich da in etwas verrannt. Er glaubt allen Ernstes, ich würde ihn bei mir einstellen. Er meinte sogar, er wolle als Partner einsteigen. Das wird nicht passieren, Mom.«

»Wie kommt er auf die Idee?«

»Das kann ich dir verraten. Er ist immer schon den Weg des geringsten Widerstands gegangen und will sich nach seinem Abschluss – sollte er ihn je schaffen – ins gemachte Nest setzen. Ich hätte ja vielleicht kein Problem damit, wenn ich wüsste, dass ihm das Just Ink ebenso am Herzen läge wie mir. Aber das ist definitiv nicht der Fall.«

»Ach Schatz, sag doch so was nicht.«

»Mom, auch wenn er ein fauler Sack ist, ist er noch lange nicht dumm. Er weiß, dass er von euch einen Freibrief hat. Und da ihr ihm alles verzeiht, glaubt er, ich würde ebenfalls so reagieren. Da hat er sich gewaltig geschnitten.«

»Was soll das denn heißen?«

Ich hasse diese Gespräche. Sie enden immer auf die gleiche Weise. Mom ist sauer. Ich bin sauer. Dad versucht einzulenken. Und Jordan macht weiterhin, was er will.

»Du weißt, ich liebe euch und ich will mich auch gar nicht beschweren. Also versteh mich jetzt bitte nicht falsch. Ihr habt ihn, seitdem er mit drei Jahren aus dem Krankenhaus kam, mit allem davonkommen lassen und von hinten bis vorne verhätschelt. Mom, er ist nicht mehr das kleine verletzliche Baby, das mit einer schweren Lungenentzündung auf der Intensivstation lag.«

»Er hatte es nie leicht. Du schon.«

Ich schnaube abfällig. Dieser Ansicht war sie zeit meines Lebens. Okay, vielleicht nicht, bevor Jordan auf die Welt kam. Nachdem er dann auch noch so heftig erkrankte, galt ihre Aufmerksamkeit einzig und allein ihrem Zweitgeborenen. Wie gesagt, ich liebe meine Eltern und nahm es irgendwann hin, dass ich wohl immer an zweiter Stelle stehen werde. »Du glaubst das wirklich, oder? Nur weil ich nicht ständig am Jammern bin wie Jordan, heißt das nicht, dass mir alles in den Schoß fällt. Aber egal. Ich will mich nicht mit dir streiten. Es geht schließlich nicht um mich, sondern um meinen Bruder. Euren Sohn. Der hier und jetzt seine Eltern braucht, und zwar als die Autoritätspersonen, die ihr längst hättet sein sollen.«

»Und du denkst nicht, dass er sich bei dir gut einleben würde?«

War klar, dass ihr der Gedanke gefällt, Jordan unter meiner Obhut zu wissen.

»Ich habe hart für das Just Ink gearbeitet. Bevor er dauerhaft einen Fuß hier reinsetzt, muss er sich anderweitig beweisen.«

Plötzliche Stille.

Es folgt ein Schniefen.

Scheiße, jetzt bringe ich sie auch noch zum Heulen. Ganz große Klasse, Barnes.

»Ach, Mom, nicht weinen«, bitte ich sie sanft.

»Tu ich nicht. Muss an den Pollen liegen«, wiegelt sie ab, ehe sie leise einlenkt, »Scheint, als müssten dein Vater und ich tatsächlich ein ernsthaftes Gespräch mit Jordan führen. Allerdings befürchte ich, dass er sich von uns abwendet. Immerhin ist er volljährig. Er kann tun und lassen, was er will. Wir könnten nichts dagegen unternehmen.«

Und das weiß Jordan. Ich gehe sogar davon aus, dass er unsere Eltern damit zu erpressen versucht. Vielleicht nicht offensichtlich. Aber eine Anmerkung hier und da langt völlig, um sie in Panik zu versetzen. Er hat sie schon immer manipuliert.

»Okay, ich verstehe, dass du Angst hast. Dennoch müsst ihr das Risiko eingehen. Wenn nicht jetzt, wann dann?«

Mir ist klar, dass der Erziehungszug beinahe ums Eck ist und wir nur noch die Rücklichter in der Ferne sehen. Ich habe als sein großer Bruder all die Jahre mein Bestes gegeben. Was wirklich nicht meine Aufgabe war. Allerdings bin ich mit meinem Latein am Ende. Sollten unsere Eltern nicht eingreifen, werden sie ihren Sohn sowieso auf die eine oder andere Art verlieren. Schlimmstenfalls endet er im Knast. Die Vermutung liegt nahe, da er sich mit meinen alten Kumpels rumtreibt, von denen ich mich rechtzeitig distanzieren konnte. Das will ich ihr aber nicht so krass um die Ohren hauen. Ein Thema, das mir seit Monaten Magenschmerzen bereitet und worüber ich mit Jordan mehr als einmal gesprochen habe. Doch da stellen seine Ohren sofort auf Durchzug, sobald ich es auch nur erwähne.

»In Ordnung. Glaubst du, er ist auf dem Heimweg?«, holt mich Mom aus meinen Überlegungen.

Ich werfe einen Blick auf die Uhr. »Damit würde ich nicht rechnen. Ich denke, er wird zur regulären Zeit eintrudeln.«

Wie gesagt, Jordan ist kein Dummkopf. Was er sich allerdings dabei gedacht hat, frech wie Oskar bei mir aufzutauchen, ist mir schleierhaft. Zuweilen stinkt seine Selbstgefälligkeit zum Himmel. Womöglich nahm er an, ich würde dichthalten. Na ja, habe ich größtenteils, weil ich weiß, dass meine Eltern eh nicht eingeschritten wären. Also übernahm ich es, ihm hin und wieder Verstand einzutrichtern – mit mäßigem Erfolg, wie man sieht. Nur eben nicht heute.

»Dann sage ich mal deinem Dad Bescheid.«

»Mach das, Mom. Und wenn was ist, meldet euch. Oder nein, meldet euch auf jeden Fall. Ich würde gern wissen, was bei eurem Gespräch rausgekommen ist.«

»Gut, Schatz.«

»Mom?«

»Hm?«

»Ich hab euch lieb. Und ihr tut das Richtige.«

»Na ja, das wird sich zeigen.«

Ich verdrehe die Augen. Sie ist sich natürlich unsicher. Ich hoffe nur, sie ziehen es diesmal durch. »Bis dann.«

»Bis dann, Schatz.«

Nervlich aufgewühlt lehne ich mich zurück und starre auf die vor mir liegenden Rechnungen. Mit einem Seufzer schiebe ich sie auf einen Haufen zusammen und lege sie in die Schublade. »Das hat heute keinen Wert mehr. Morgen ist auch noch ein Tag.«

Erneut werfe ich einen Blick auf den Bildschirm. Der erste Termin ist in drei Stunden. So weit ist alles vorbereitet. Sicher, ich könnte mir irgendetwas suchen, womit ich mich bis dahin beschäftige. Meine Vorlagenmappe bräuchte eine Auffrischung und die Homepage sollte ebenfalls aktualisiert werden. Ich habe einige fertige Motive fotografiert, die ich hochladen wollte. Nach beidem steht mir nicht der Sinn. Denn da gibt es diese eine Sache, die mir keine Ruhe lässt: der Jeanskerl.

Kaum dass ich darüber nachdenke, gebe ich den Namen der Werkstatt in die Suchmaschine ein. Ich hätte mir die Telefonnummer vom Lieferwagen aufschreiben können. Aber erstens will ich das, was ich zu sagen habe, nicht telefonisch loswerden und zweitens war ich zu verblüfft, um einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn mir eine Nummer zu notieren oder zu merken.

»Sieh einer an. Da haben wir dich.«

Ich schalte den Drucker ein und lasse mir die Anschrift ausgeben. Der Rechner ist schnell runtergefahren und der Anrufbeantworter eingeschaltet. Ich schnappe mir Zettel, Jacke und Schlüssel und verlasse mit einer Mission mein Studio.

»Nun gut, Mister Wir-erfüllen-jeden-Wunsch. Woll’n mal sehen, ob das stimmt.«

 

Ende der Leseprobe

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Impressum

Texte: Nele Betra
Bildmaterialien: dipositphotos
Cover: Nele Betra
Lektorat: Brigitte Melchers / Bernd Frielingsdorf
Satz: Nele Betra
Tag der Veröffentlichung: 24.08.2019

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