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Leseprobe Kapitel 1 - 3

 

Kapitel 1

 

- Carlo -

 

Schweißgebadet und mit wummerndem Herzen schrecke ich wie jeden verdammten Morgen aus dem Schlaf hoch. Ich schlage die klitschnasse Daunendecke zurück, schwinge meine Beine über den Bettrand und setze mich auf, um tief durchatmend die grauenvollen Erinnerungen zu vertreiben. Jahrelange Erfahrung zeigt mir, dass der Erfolg rein temporärer Natur ist. Spätestens heute Nacht werden mich meine Albträume erneut heimsuchen.

Es dauert einen Moment, bis die Eindrücke verblassen und ich einen klaren Gedanken fassen kann. Bebte ich bis eben vor unkontrollierbaren Emotionen am ganzen Leib, zittere ich jetzt wegen des feuchten Schlafshirts, das an mir klebt und meine erhitzte Haut kühlt. Seufzend zerre ich es mir über den Kopf und werfe es blindlings in Richtung Wäschekorb.

Es ist dunkel draußen und ich kann die Schlafzimmereinrichtung gerade so erahnen. Mit einem Blick auf den Radiowecker stemme ich mich vom Bett hoch und schalte die Nachttischlampe ein. Klasse, heute habe ich es tatsächlich bis halb sechs geschafft. Immerhin fast vier Stunden Schlaf am Stück. Rekordverdächtig.

»Glückwunsch, Carlo. Nur noch weitere dreißig Jahre und du hast den Scheiß endlich verarbeitet«, murmle ich frustriert, während ich ins Bad schlappe, um mich zu erleichtern und eine schnelle Dusche zu nehmen.

Ein erschöpfender Morgenlauf, eine erneute Dusche und ein ausgiebiges Frühstück mit Unmengen Kaffee sollten die Überreste der Nacht vertreiben, damit ich mich anschließend auf den Tag konzentrieren kann.

Ich mag Rituale. Das allmorgendliche Theater, bis ich mich halbwegs menschlich fühle, ist jedoch eins, worauf ich gern verzichten würde.

Obwohl es etliche Monate her ist, als wir uns das letzte Mal gesehen haben, erinnere ich mich haargenau an jedes mahnende Abschiedswort meiner Therapeutin aus San Francisco. »Carlo, Sie müssen sich mit Ihrer Vergangenheit auseinandersetzen, um all die Geschehnisse verarbeiten zu können. Ihre Erinnerungen werden Sie Ihr ganzes Leben begleiten, aber nur Sie allein bestimmen, auf welche Weise das geschieht.« Sie war nicht meine erste, doch sicher meine letzte.

Nachdem ich mich halbwegs in Boston eingelebt hatte, dachte ich tatsächlich darüber nach, mir hier ebenfalls jemanden zu suchen. Ich verwarf die Idee fix wieder. Denn all die Jahre, in denen ich in Behandlung war, haben mir nicht geholfen. Es ist demnach sinnlos, Zeit und Geld in ein Unterfangen zu investieren, das vollkommen aussichtslos scheint.

Das musste ich schmerzhaft begreifen. Trotz regelmäßiger Sitzungen – von denen nicht einmal meine besten Freunde etwas wussten – konnte mir keiner dieser Seelenklempner auch nur ansatzweise helfen. Sie schoben es darauf, dass ich mich gegenüber einer Therapie verschließen würde, einzig um mich selbst zu bestrafen. Na ja, das übliche Blabla eben. Ich könne tief sitzende, selbstverletzende Verhaltensweisen nicht abstreifen, wenn ich mir nicht vergebe.

Ich soll mir vergeben?

Scheiß drauf! Was heißt das überhaupt? Ich war es nicht, der mir all die Schmerzen zugefügt hat. Es war mein Scheißkerl von Vater, der mindestens zweimal in der Woche der Meinung war, mir was auch immer einbläuen zu müssen. Er hat mich wegen Nichtigkeiten krankenhausreif geschlagen. Alles natürlich zu meinem Besten und im Namen des Herrn.

Gott soll tatsächlich damit einverstanden gewesen sein, dass sich ein ausgewachsener Mann an seinem Sohn vergreift? Einem dreijährigen Kind, dass sich nicht zur Wehr setzen kann, seinen Eltern bedingungslos vertraut und ihnen vollkommen ausgeliefert ist? Es kann keinen Gott geben. Andernfalls hätte er meinen Vater längst in die Hölle geschickt.

Und meine Mutter? Die ebenfalls. Denn sie stand seelenruhig daneben, murmelte inbrünstig das Ave Maria und ließ es geschehen. Es hat meine gesamte Kindheit gedauert, bis ich begriff, dass an ihrem Verhalten nichts, aber auch rein gar nichts normal ist. Tja, und es hat meinen ganzen Mut gebraucht, um mich von ihnen abzuwenden. Obwohl schwer zu glauben, auf eine verquere Weise habe ich sie geliebt.

Nachdem mein Erzeuger einmal mehr den Gürtel zückte, um sich auf meinem Rücken auszutoben, verheilte Narben aufzureißen und neue hinzuzufügen, ergriff ich die Flucht. Ich war kaum alt genug, um auf eigenen Beinen zu stehen.

Und dann … traf ich William. Er war wie ein Licht am Ende eines unendlich langen Tunnels. Wir gründeten eine WG und später stieß Peter zu uns. In meinem Leben gab es bisher nur diese zwei Menschen, denen ich so sehr vertraue, dass ich mich in ihrer Nähe wohlfühle. Mittlerweile hat sich Peters Schwester Meddy hinzugesellt.

Sie lernte ich bei einer Stippvisite in San Francisco kennen, als sie zufällig aus Europa auf Besuch war. Anfangs kam sie mir recht reserviert vor. Das legte sich nach unserem ersten Gespräch. Ich habe festgestellt, dass wir auf der gleichen Wellenlänge sind und oft dieselben Ansichten vertreten. Laut Chase und Peter war sie vorher ein Aas. Was im Nachhinein wohl mit den Lebensumständen zu tun hatte. Aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls sehen wir uns zwar selten, telefonieren jedoch häufig miteinander. Ich vermisse sie und treffe sie hoffentlich bald wieder. Auf jeden Fall Peter und William.

Zuvor gilt es, mich in den Griff zu kriegen und meinen Job zu machen.

Wie gesagt, alles beim Alten.

 

*

 

»Du willst, dass ich was …?«, entgegnet Brennan ungläubig, während er das Geschirrtuch zur Seite legt und die Arme vor der Brust verschränkt. Sein Blick ruht auf mir, so intensiv wie Röntgenstrahlen.

Ich zucke gleichgültig mit den Schultern. »Thanksgiving mit mir verbringst.«

Seine Skepsis ist derart offensichtlich, ich möchte mir am liebsten in den Hintern treten, weil ich ihn überhaupt gefragt habe.

»Oh, wie komme ich denn zu dieser Ehre?«

»Vergiss es. War eine dumme Idee.«

Brennan macht einen Schritt auf mich zu und versperrt mir den Weg hinaus in den Gastraum, wohin ich unterwegs war, um die Tische für den Abend einzudecken. »Erzähl keinen Scheiß.« Er wirft einen prüfenden Blick in die Runde. Unwillkürlich mache ich es ihm nach.

Die Vorbereitungen sind im vollen Gange und man könnte eine Bombe hochgehen lassen, die Jungs und Mädels würden nicht mal mit der Wimper zucken. Die Küchencrew ist dermaßen auf ihre Arbeit konzentriert, dass wir unbemerkt unsere kleine Diskussion fortführen könnten, wäre mir die selbst herbeigeführte Situation nicht extrem unangenehm. Was Brennan absolut klar ist. Dummerweise kann ich niemandem außer mir die Schuld geben, da ich wieder einmal unüberlegt gehandelt habe. Nicht wirklich eine Charakterschwäche von mir, aber seit ich Brennan kenne, scheint mein Verstand nicht selten auf Sparflamme zu schalten.

Er beugt sich näher zu mir und brummt leise: »Seit wann bin ich zu mehr geeignet, als dein Bett warm zu halten?«

Auch wenn er eher amüsiert als abfällig klingt, lässt mich seine Frage zusammenzucken. »Wie gesagt, war ’ne blöde Idee.« Ich werfe einen bedeutsamen Blick über meine Schulter. »Vor allem der falsche Ort.« Daraufhin schiebe ich mich an Brennan vorbei und zur Schwingtür hinaus.

Ich bin sauer. Nicht auf ihn. Ich bin es, auf den ich stinkig bin. Hätte ich doch mit seiner Reaktion rechnen müssen, denn immerhin bin ich nicht ganz unschuldig am Status quo unserer … Keine Ahnung, was da zwischen uns läuft. Beziehung kann man es jedenfalls nicht nennen. Schließlich trafen wir vor Monaten eine Vereinbarung. Wie sagt man so schön? Wir sind Freunde mit gewissen Vorzügen.

Warum bin ich also so idiotisch und frage ausgerechnet Brennan, ob er mit mir die Feiertage verbringt?

»Hey! Warte mal«, höre ich Brennan leise hinter mir rufen. Er ist von Natur aus beharrlich. Weshalb es mich nicht wundern sollte, dass er mir folgt. Seite an Seite stehen wir vor dem Bartresen, auf dem stapelweise strahlend weiße, gestärkte Tischwäsche liegt. Die Beleuchtung im Gastraum ist bis zur Eröffnung voll eingeschaltet, um jeden noch so kleinen Makel zu erkennen und gegebenenfalls zu beseitigen. Wir sind unter uns, da ich es mir zur Aufgabe gemacht habe, die Tische einzudecken, bevor die Service-Crew ihre Schicht beginnt. Eine unnötige, aber lieb gewonnene Angewohnheit aus meiner Zeit in San Francisco. Im Zunis fing ich als Hilfskellner an und arbeitete mich bis zum Restaurantleiter hoch, wollte mir dieses tägliche Ritual jedoch nicht nehmen lassen. Mir ist schon vor Langem klar geworden, wie beruhigend Routine auf mich wirkt. Und auch wenn ich meinen Job liebe, hole ich mir vor jeder Schicht einen Schuss Gelassenheit.

Ich greife zu einer Tischdecke und spüre Brennans Hand auf meinem Unterarm. »Lass das!«

Verwirrt blicke ich ihn an.

»Du weißt, dass ich nicht von der Arbeit spreche.« Er grinst dieses typische sexy Sonnyboy-Lächeln, das mich an meinem allerersten Tag hier im Le Projet fast aus den Latschen gehauen hat.

Ich mustere seine Hand, die beharrlich auf meinem Arm ruht. »Was meinst du dann?« Ich bin versucht, mich zurückzuziehen. Hier handelt es sich jedoch um Brennan, einen von drei Männern, die Sonderprivilegien bei Berührungen haben. Tja, Idiot, das ist wohl mehr als offensichtlich. Sonst würdest du ihn nicht mindestens zweimal die Woche auf einen Quickie mit zu dir nehmen.

»Du gehst schon wieder auf Abstand. Du weißt, dass ich dich nur ein wenig aufziehen wollte.« Das Lächeln, welches er mir jetzt schenkt, wirkt aufgesetzt.

»Ich gehe nicht auf Abstand, sondern mache meinen Job.« Ich nicke in Richtung seiner Hand. »Sobald du mich lässt.«

Sein Griff verstärkt sich allerdings. »Erst wenn du mir eine Antwort gegeben hast.«

»Ich habe dich nichts fragen hören.«

Brennan schnaubt und schüttelt gutmütig den Kopf, sodass sein dunkelblondes Haar bei der vorherrschenden Beleuchtung diesen faszinierenden Rotschimmer bekommt. »Also gut. Hier kommt eine Frage. Was wirst du zu Thanksgiving kochen?«

Brennan ist ein Freigeist und nimmt nie ein Blatt vor den Mund, weshalb ich mich doch sehr wundere, dass er nur fragt, was es zu essen gibt.

»Ich koche nicht«, setze ich ihn in Kenntnis und gehe innerlich in Deckung.

Seine Augen weiten sich schockiert. »Du willst bestellen?! Das kommt gar nicht infrage.«

»Nein. Es ist mein erster längerer Urlaub, seitdem ich in Boston lebe, und ich werde ihn wohl oder übel in Kalifornien verbringen.« Ein Umstand, der mich ehrlich gesagt zwiespältig zurücklässt. Einerseits freue ich mich auf meine Freunde, die ich in den letzten Monaten nur selten zu Gesicht bekam oder mit ihnen telefonierte. Ich vermisse sie. Vor allem vermisse ich William, der seit gut einem Jahr in einer festen Beziehung steckt. Was die andere Seite der Medaille ist. Sobald ich mir in einem schwachen Moment erlaube, daran zu denken, bricht es mir das Herz – immer und immer wieder. Nicht weil ich William sein Glück neide oder Jeremy, seinen Partner, nicht mögen würde. Er ist ein toller Kerl und die zwei passen wunderbar zusammen. Aber es schmerzt, nach über zwanzig Jahren begreifen zu müssen, dass William nie – und ich meine wirklich niemals – eine Option für mich gewesen ist. Es ist jedes Mal so, als würde jemand eine große Portion Salz in eine offene Wunde reiben.

William und Jeremy miteinander zu erleben führte mir vor Augen, was ich mir über Ewigkeiten hinweg angetan habe. Bis zu ihrem Aufeinandertreffen im Zunis malte ich mir bei William Chancen aus – oder machte mir etwas vor, wie auch immer. Ein Blick auf sie genügte und meine Hoffnung zerbröselte wie Asche im Wind. Mir wurde klar, sollte ich jemals über William hinwegkommen wollen, musste ich eine Entscheidung treffen. Genau das war für mich der ausschlaggebende Punkt, die Reißleine zu ziehen und das Angebot in Boston anzunehmen, das zu keinem besseren Zeitpunkt hätte kommen können.

Ich brauchte Abstand. Und wenn ich emotionalen Abstand wollte, musste ich mit dem räumlichen beginnen. Was also lag näher, als meine sieben Sachen zusammenzupacken und einmal quer durchs Land zu reisen, um einen Neuanfang zu wagen?

»Bei deinen Freunden?« Brennans Frage kommt leise und zurückhaltend.

Ich nicke. »William und Peter liegen mir seit Wochen in den Ohren. Peters Mutter hat nun alle nach Pine Valley eingeladen. Gestern Abend rief sie mich an und bat mich zu kommen. Quasi als Überraschungsgast.«

»Und warum sollte ich da mit?«

Ich atme tief durch. Die Wahrheit wird Brennan nicht gefallen. Sie gefällt nicht einmal mir. »Ich bin es leid, mich permanent rechtfertigen zu müssen, weshalb ich in meinem Alter noch Single bin. Mir ist klar, dass sie es nicht böse meinen, dennoch …«

Brennan zieht abrupt die Hand weg. »Ich soll allen Ernstes als Alibifreund herhalten?«

»Tut mir leid, Bren. Ich habe nicht nachgedacht.« Das ist mein Ernst. Die Idee kam mir spontan, als ich ihn in der Küche stehen sah und mir einfiel, dass er ebenfalls Urlaub hat.

Sein intensiver Blick macht mich nervös, sodass ich mich von ihm abwende und mir ein Tischtuch schnappe. Ich bin ein gefühlloses Arschloch. War ich schon immer so?

Trotz der bequemen Schuhe mit weicher Sohle, die Brennan für gewöhnlich trägt, höre ich ihn in Richtung Küche gehen. Gesprächsfetzen und geschäftiges Treiben wabern zu uns heraus, während er die Tür öffnet. Ich rechne bereits damit, dass Brennan ohne ein weiteres Wort verschwindet, als er in seinem typisch selbstsicheren Tonfall verkündet: »Schick mir die Daten.«

Eine Reaktion bleibe ich ihm schuldig, da im nächsten Augenblick die Tür hinter ihm zufällt. Erleichterung erfasst mich, als ich ihm hinterherschaue und spüre, wie ein Lächeln meine Mundwinkel anhebt. Über den tatsächlichen Grund meiner Freude mag ich jetzt nicht nachdenken.

Ehe ich mich endgültig meiner Arbeit widme, hole ich das Handy hervor und wähle Maggies Nummer. Bevor ich es im alltäglichen Stress vergesse, will ich ihr gleich Bescheid geben. Ich hoffe, ich störe sie nicht bei irgendetwas. Bei uns ist es fünf Uhr nachmittags. In Pine Valley hingegen erst zwei.

»Carlo, mein Lieber, schön dass du anrufst.«

»Hallo Maggie. Ich hatte ja zugesagt, mich wegen Thanksgiving zurückzumelden.«

»Oh, bitte sag, du kommst.« Ihr Tonfall ist flehentlich. Was mich zum Schmunzeln bringt.

Ich sollte auf jeden Fall Bren erwähnen. »Ja. Aber …«

»Das ist wundervoll«, unterbricht sie mich aufgeregt. »Endlich habe ich euch alle zusammen in meinem Haus. Die Jungs werden sich freuen. Und Audrey erst. Du verrätst nichts, ja? Es soll doch eine Überraschung sein.« Die Frau hat ein dermaßen feuriges Temperament. Wenn ich nicht aus zuverlässiger Quelle – Peter – wüsste, dass sie Ende sechzig ist, würde ich es nicht glauben.

»Ich schweige wie ein Grab, versprochen. Aber …«

»Bringst du jemanden mit?«

Da ist sie, die Frage aller Fragen. Und ließe sie mich einmal ausreden, hätte Maggie sie sich sparen können. »Ja, ich komme mit einem Freund.«

Stille.

»Maggie? Ich hoffe, das geht in Ordnung.«

»Logisch. Einem Freund oder deinem Freund?«, hakt sie neugierig nach.

»Macht das einen Unterschied?«, necke ich sie, da ich ganz genau weiß, worauf sie hinauswill.

Abermals herrscht für einen kurzen Moment Ruhe. Dann räuspert sie sich und erklärt so leise, als hätte sie Angst, jemand könnte mithören: »Na ja, wenn du so fragst, schon. Denn im Gegensatz zu deinem Freund wirst du dir mit einem Freund sicher nicht das Zimmer teilen wollen.«

Fuck! Das hatte ich nicht bedacht. Aber da ich den Schein wahren will … Und es ist ja nicht so, als hätten Brennan und ich keine einzige Nacht zusammen verbracht, zumindest Bruchstücke davon. Problematisch wird es, wenn wir das Bett tatsächlich zur Nachtruhe nutzen. Darüber mache ich mir Gedanken, wenn es so weit ist. Vielleicht kann ich Schlaflosigkeit vortäuschen und die Couch im Wohnzimmer für mich beanspruchen, sodass es keiner bemerkt. »Es genügt ein Zimmer«, gehe ich auf ihre detaillierte Ausführung ein.

»Oh!«, ruft sie erstaunt aus, ehe sie säuselt: »Das freut mich für dich. Wissen die Jungs Bescheid?«

Zum Glück bin ich weiterhin allein im Gastraum, weshalb niemand sieht, wie ich die Augen verdrehe. »Nein. Das mit Brennan ist ziemlich neu.« Lügner.

»Da wird die Überraschung noch viel besser. Also gut, wann glaubst du, dass ihr in San Francisco ankommt? Wir holen euch vom Flughafen ab. Natürlich könntet ihr mit William und dem Rest seiner Bande fahren. Nur sind sie ja schon zu viert und das Auto ist dementsprechend voll. Und na ja, die Überraschung wäre dann keine mehr.«

»Alles gut, Maggie. Wir nehmen einen Leihwagen.« Sofort verdränge ich aufsteigende Panik. Ich mache mich ungern abhängig von irgendjemandem. Wer weiß, wie es läuft. Womöglich müssen oder wollen wir früher abreisen als geplant. Aus welchen Gründen auch immer. »Ich schicke dir die Flugdaten, sobald ich gebucht habe.«

»In Ordnung, mein Junge. Ich übe mich in Geduld.«

Ich lache unwillkürlich. »Ja klar, als würdest du da je erfolgreich drin sein.«

Maggie kichert. »Mann oder Frau sollte alles mal probiert haben.«

»Sag bloß«, feixe ich süffisant.

»Junger Mann! Also wirklich«, ereifert sich Maggie gespielt entsetzt.

»Grüß Meddy, wenn du sie hörst.« Peters Schwester ist in Europa und wird zu Thanksgiving wohl nicht zu Hause sein. Ich habe sie ins Herz geschlossen und hoffe, dass sie alsbald zurückkommt. Sie ist die Einzige, die mich nicht ständig löchert, wie es mir geht und ob sich was an der Beziehungsfront tut. Wobei das vielleicht daran liegt, dass sie selbst Single ist. Sie kann meine Situation schlicht und ergreifend nachvollziehen.

»Das werde ich. Und arbeite nicht so viel. Ich finde ja diese Gastronomie-Sache nett, solange man Gast ist. Aber damit seinen Lebensunterhalt zu verdienen stelle ich mir extrem anstrengend vor.«

»Bis dann, Maggie«, verabschiede ich mich in einem Singsang, da ich mit ihr nicht erneut die leidige Diskussion über meinen Job führen will, der ihrer Meinung nach nichts für mich ist. Manchmal glaube ich, sie denkt, sie hätte mich adoptiert.

Mit einem wohligen Nachklang ihrer besorgten Worte, die mir mehr familiäre Wärme geben, als ich je von meinen Eltern erfahren habe, kümmere ich mich nun endlich um die Tische.

 

*

 

Ich kenne Maggie noch nicht allzu lang, obwohl Peter, William und ich seit unseren WG-Zeiten, die eine Ewigkeit zurückliegen, eng befreundet sind. Wir waren kaum achtzehn, als wir, jeder aus einem anderen Grund, unsere Familien verließen und die ersten Gehversuche in eine unabhängige Zukunft wagten. Im Großen und Ganzen erfolgreicher, als unsere Eltern angenommen hatten. Zumindest ist das bei mir der Fall. Was hingegen Spekulation ist, da ich sie vor siebenundzwanzig Jahren das letzte Mal gesehen habe. Ich lege keinen gesteigerten Wert darauf, jemals wieder Kontakt mit ihnen aufzunehmen.

William pflegte im Gegensatz zu mir über all die Jahre hinweg ein sehr gutes Verhältnis zu seiner Familie. Er wollte einfach seine Ruhe haben, was ich ihm bei seinen verrückten Eltern und den Zwillings-Nachzüglern nicht verdenken kann.

Peter wiederum hatte nur einen Wunsch: Er wollte Arzt werden. Sein Vater sah in ihm dagegen die nächste Generation, die die Leitung des familieneigenen Weinguts namens Golden Dreams übernimmt. Daran hatte Peter keinerlei Interesse. Er türmte in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus Pine Valley und landete bei William und mir. Der Kontakt zu seinem Vater riss ab. Soweit ich weiß, sprachen sie danach nie wieder ein Wort miteinander. Allerdings unterstützte ihn seine Mom. Maggie finanzierte Peter das Studium und forderte als Gegenleistung regelmäßige Treffen in San Francisco. Dieser Forderung kam er gern nach. Denn so stand er wenigstens mit seiner Mom und Meddy, seiner Schwester, in Verbindung, die beide kaum bis gar nichts über William und mich wussten. Wir akzeptierten Peters Entschluss, uns aus allem rauszuhalten. Vor etwa zwei Jahren änderte sich das schlagartig, als Peters Vater starb. Es dauerte nicht lange und William und ich gehörten innerhalb kürzester Zeit zur Sullivan-Familie.

 

*

 

»Meine Güte, ich möchte einmal erleben, dass ich eher hier bin als du«, flötet Amber, die in eine dicke Jacke gemummelt zur Tür hereinschneit. Gegenüber San Francisco kann der November in Boston empfindlich kalt werden. Das Klima war eins der Dinge, an die ich mich erst gewöhnen musste.

Ich werfe demonstrativ einen Blick auf die Uhr über der Bar. »Würdest du nicht bis zehn Minuten vor Schichtbeginn schlafen, könnte dir das durchaus gelingen.«

»Mom hat mir immer gesagt: Kind, wenn du nicht ordentlich betest, wird nix aus dir.«

Ich muss lachen. »Was hat das damit zu tun, dass du nicht aus den Federn kommst?«

Sie zuckt die Schultern. »Mein Abendgebet uferte wieder ein wenig aus.«

»Ach, so nennt man das also, wenn man nach Feierabend auf einen Absacker im Cheers landet?«

Amber zwinkert mir zu und flüstert verschwörerisch: »Ich bete meinen Margarita an. Aber verrat es niemandem.«

Grinsend streiche ich das Tischtuch glatt, während Amber sich auf den Weg zur Umkleide begibt.

Religion. Noch so eine Sache in Boston. Ursprünglich stamme ich aus Bakersfield. Nichts Besonderes. Eine Kleinstadt unweit von San Francisco. Meine Eltern sind gebürtige Italiener. Sie sogen ihren Glauben mit der Muttermilch ein. Dass es mich nun ausgerechnet in eine ebenfalls erzkatholische Gemeinde wie Boston getrieben hat, ist beinahe zum Totlachen, würde mich diese Tatsache nicht an meinen Vater erinnern, der das Wort Gottes mehr als einmal zu seinen Gunsten auslegte, um seine Taten zu rechtfertigen. Ich schlucke und verdränge sofort aufkeimende schmerzhafte Erinnerungen, die mich andernfalls paralysieren. Es genügt, dass sie mich nachts in ihren Klauen halten. Unwillkürlich reibe ich mir die Schulter.

Mit einem Räuspern reißt mich Amber aus meinen trüben Gedanken und ich blicke erschrocken auf, da ich annahm, sie wäre bereits gegangen.

Nachdenklich mustert sie mich einen Moment, strahlt mich dann aber wieder an. »Also, was hast du mir an Arbeit übrig gelassen?«

»Du kannst die Gläser holen. Soweit ich weiß, ist Brennan fertig mit Polieren.«

»Gut. Ich ziehe mich nur eben um.« Sie ist beinahe im hinteren Flur, als sie sich abrupt umdreht und fragt: »Dass wir heute Abend nur zu zweit sind, weißt du noch, oder?«

Ich runzle die Stirn und stöbere in meinem Hirn, bis mir einfällt, dass Austin sich bereits vor Wochen für eine Freischicht eingetragen hatte. Wie konnte ich das nur vergessen? Innerlich seufze ich. Amber nicke ich jedoch wissend zu. »Ja klar. Ich denke zwar nicht, dass wir voll ausgelastet sein werden, aber ich sage Brennan, er soll sich bereithalten.«

»Mach dir keinen Stress, das übernehme ich für dich.«

 

Kapitel 2

 

- Brennan -

 

Dieser Mann raubt mir den letzten Nerv. Das stelle ich in den vergangenen Monaten nicht das erste Mal fest. Ich greife mir das Geschirrtuch, falte es zusammen und gebe es in die Wäsche. Um mich zu vergewissern, dass ich in der Küche nicht gebraucht werde, werfe ich einen Blick in die Runde. Ich muss für einen Moment an die frische Luft.

»Du findest mich hinten, falls du mich suchst«, rufe ich Colton zu.

Der Inhaber und Küchenchef vom Le Projet in einer Person winkt beiläufig ab und murrt: »Gewöhn dir endlich diesen ungesunden Scheiß ab.«

Grinsend erwidere ich: »Ja, Dad.«

Auf dem Weg zur Hintertür entsorge ich besagtes Tuch in einem Sack für Schmutzwäsche, der täglich von einem Mitarbeiter der benachbarten Reinigung abgeholt wird. Daraufhin schnappe ich mir Zigaretten und Feuerzeug vom Regal.

Seit Wochen nehme ich mir vor aufzuhören. Aber mal ehrlich, Carlo schaffte es jeden Tag aufs Neue, dass ich zur Beruhigung meines überstrapazierten Nervenkostüms nach draußen renne, um mir einen Glimmstängel zu gönnen.

Ich klemme ein Stück Holz zwischen Zarge und Türblatt, damit sich die Nottür nicht selbstständig schließt. Dann setze ich mich auf die Bank links an der Wand. Dort wurde ein Aschenbecher für die Belegschaft angebracht. Es ist zwar der Hinterhof und in der gegenüberliegenden Ecke stehen Müllcontainer, dennoch wurde die Raucherzone mit riesigen bepflanzten Trögen recht angenehm eingerichtet. Allerdings schauen die Sträucher um diese Jahreszeit etwas bedauernswert drein.

Ich habe schon andere Raucherinseln für das Personal gesehen. Allein die Vorstellung, mich da hinzustellen, beschert mir Herpesbläschen. Ja, Rauchen ist verpönt und ich kann das sogar verstehen. Jedoch ist das noch lange kein Grund, mich wie Abfall neben stinkende Mülleimer verbannen zu lassen.

Kalte Luft klärt meinen Verstand und ich ziehe mein T-Shirt enger um meinen Leib, als ich mir eine Kippe angezündet habe und genüsslich inhaliere. Wärmer wird mir dennoch nicht. Ich bin aber auch ein Idiot. Eine Jacke wäre bei der Witterung wirklich sinnvoll gewesen. Der Spruch Raucher sterben nicht an Lungenkrebs, sondern erfrieren ergibt plötzlich durchaus Sinn.

Während ich mir Frostbeulen hole und der Wind meine Zigarette raucht, schweifen meine Gedanken ab.

 

*

 

Wie aus weiter Ferne erklingt die vorwurfsvolle Stimme meines Vaters in meinem Kopf. Immer und immer wieder die gleiche Litanei. Mit dreißig Jahren sollte man sich über sein Lebensziel im Klaren sein.

Das mag für andere gelten, bei mir ist das nicht der Fall.

Man – also ich – sollte wissen, wo seine Prioritäten liegen, sollte froh darüber sein, einer Familie anzugehören, die Geld wie Heu scheffelt und ihre Freizeit im Keller verbringt, um dort das Vermögen von einer Seite auf die andere zu schaufeln, damit es keinen Schimmel ansetzt. Okay, das ist so nicht richtig. Die Colliers horten ihren Zaster nicht im dunklen, geheimnisvollen Gewölbekeller – den es, um bei der Wahrheit zu bleiben, tatsächlich gibt. Undenkbar. Immerhin stellt der Name Collier eine feste Größe in der Finanzwelt dar. Womit wir dann auch schon wieder bei Louis Collier angelangt sind, meinem Vater. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte ich einen Harvard-Abschluss in Wirtschaftswissenschaften in der Tasche – selbstredend summa cum laude –, würde mein Dasein in einem Eckbüro seiner Firma fristen und mich fünfzehn bis zwanzig Stunden am Tag mit Zahlen herumschlagen.

Zugegeben, den Weg ging ich eine Weile mit. Allerdings wurde ich älter und es machte bei mir klick. Zum Entsetzen meiner Eltern brach ich von heute auf morgen das Studium ab. Mein Vater stellte mich vor die Wahl: Entweder ich nehme ein Sabbatjahr und gehe anschließend zurück nach Cambridge oder kann meine Sachen packen und sehen, wie ich ohne finanzielle Unterstützung klarkomme. Ich dachte darüber nach – ungefähr zehn Sekunden – und entschied mich für Letzteres.

Das ist vier Jahre her. Anfangs nahm ich an, Dad wolle nichts mehr mit mir zu tun haben, denn er vermied jeglichen Kontakt. Überraschenderweise knickte er einige Wochen später ein und akzeptierte zähneknirschend, dass sein Sohn aus der Reihe tanzt und sein eigenes Ding durchzieht. Wenngleich ich bis heute nicht weiß, wie das aussehen soll.

Mom wird ihm die Leviten gelesen haben, davon gehe ich aus. Wie dem auch sei, wir haben einen Punkt erreicht, der uns erlaubt, miteinander wie zivilisierte Menschen umzugehen. Was nicht bedeutet, ich würde brav an jedem Familienevent teilnehmen oder sonntags zum Kaffeekränzchen bei ihnen auftauchen. Ich denke, man könnte es einen Waffenstillstand nennen. Wobei Mom in regelmäßigen Abständen vorsichtig anklopft, um zu erfahren, ob ich es mir nicht vielleicht doch anders überlegt hätte. Habe ich nicht und werde ich nicht. Ihre Beharrlichkeit ist jedoch bewundernswert.

Klar, die erste Zeit war eine gewaltige Umstellung für mich. Schließlich bin ich mit dem sprichwörtlichen goldenen Löffel im Mund zur Welt gekommen.

Im Gegensatz zu dem, was sich mein Vater ausmalte, war ich nicht vollends auf mich allein gestellt. Ich hatte und habe Freunde, auf die ich mich verlassen kann, wenn sich mal wieder Schwierigkeiten anbahnen. Wie vor drei Jahren, als ich den zweiten Job hinschmiss und mich spontan für die Gastronomie entschied.

Das Le Projet öffnete damals seine Pforten und Amber, mit der ich seit dem College befreundet bin, rauschte wie Fortuna mit ein paar Red Bull zu viel intus in mein Mini-Apartment, um mir mitzuteilen, dass sie jemanden als Mädchen für alles suchen würden. Es war nicht das, was mir vorschwebte, jedoch war es ein Anfang, da ich keinerlei Erfahrung in irgendwas mitbrachte.

Der Job ist nicht Fisch, nicht Fleisch. Im Grunde springe ich dort ein, wo Not am Mann ist. Egal ob in der Küche oder im Service. Wie sich herausstellte, ist es eben genau das, was mir daran gefällt. Von Eintönigkeit kann jedenfalls keine Rede sein. Und zu meiner großen Überraschung macht mir das Kochen unter Coltons Anleitung sogar Spaß. Wer hätte das gedacht. Ob ich das für den Rest meines Lebens tun will? Ich habe keine Ahnung und lasse es gern auf mich zukommen.

Und dann tauchte Carlo auf. Ich bin ihm im selben Augenblick verfallen, als er das erste Mal seinen Fuß auf die Schwelle des Le Projet setzte. Ich hätte beinahe meine Zunge verschluckt, denn Carlo verkörpert hundertprozentig den Typ Mann, der mir feuchte Träume beschert. Adrett gekleidet, durch und durch graues Haar und ein Lächeln, das mir, auch wenn es Seltenheitswert hat, den Puls in ungeahnte Höhen treibt. Mit dunkelbraunen Augen musterte er mich und sagte kein einziges Wort. Mir verschlug es die Sprache und ich stand einfach nur da und starrte ihn an, als wäre er das achte Weltwunder.

Das ist jetzt ein gutes Jahr her. Ein Jahr, in dem ich alles Erdenkliche unternahm, um an ihn ranzukommen. Tja, bis in sein Bett habe ich es geschafft. Sein Herz ist eine andere Geschichte. Das wurde mir nach unserem ersten oder zweiten Date bewusst. Wobei, als Dates kann man diese Treffen gar nicht bezeichnen.

Wir liefen uns zufällig vor dem Cheers über die Füße. Amber hatte mich wieder einmal dazu genötigt, ihr Gesellschaft zu leisten, und Carlo war auf dem Weg in sein Apartment, das nur drei Blocks entfernt vom Le Projet liegt.

Amber rief ihm nach, er solle warten. Das tat der arme ahnungslose Mann und bekam wie ich ebenso wenig eine Gelegenheit, Nein zu sagen, als sie sich bei ihm einhakte und ihn mitzog. Sei’s drum.

Er vermittelte von Anfang an den Eindruck, zu wissen, was er will, war absolut zielorientiert und so professionell, wie man sich einen Chef nur wünschen kann – außer bei Amber. Allerdings hat die Gute selbst bei Colton eine Sonderstellung. Was vielleicht daran liegt, dass Amber einfach Amber ist. Sie würde es schaffen, dass sich Hannibal Lecter ab sofort vegetarisch ernährt, gäbe man ihr zehn Minuten mit ihm.

Aber zurück zu Carlo. Auch wenn er der Meinung ist, er wäre nicht mein Vorgesetzter, unterstehe ich ihm in allen Belangen. Das brachte Colton eindeutig zum Ausdruck, als er Carlo einstellte.

Ich begriff schnell, dass für Carlo eine Sache absolut lebensnotwendig ist: Abstand. Distanz, ein Zustand, der Carlos Leben zu definieren scheint. Woher das kommt, ist mir ein Rätsel, da er nie über seine Vergangenheit redet. Zumindest die vor seiner Zeit in San Francisco, sprich vor seinem achtzehnten Lebensjahr. Nicht dass ich mir keine Gedanken gemacht hätte. Spätestens nach dem ersten Mal mit ihm.

Ich werde nie vergessen, wie meine Finger auf seinem Rücken über unglaublich dichtes Narbengewebe glitten. Instinktiv wusste ich, das war nicht das Ergebnis eines wie auch immer gearteten Unfalls. Weder wurde ich von Abneigung noch Ekel ergriffen. Im Gegenteil, es war pure Bestürzung und Wut auf denjenigen, der Carlo das angetan hatte. Weshalb ich für den Moment innehielt, was Carlo selbstverständlich fehlinterpretierte. Bis heute haben wir nie darüber geredet. Und ich werde ihn sicher nicht darauf ansprechen, da ich weiß, es macht ihm zu schaffen. Was auch immer Carlo in seiner Vergangenheit zugestoßen ist, er hat es bisher nicht verarbeiten können. Insgeheim hoffe ich, er würde mir irgendwann so sehr vertrauen, dass er es mir von allein erzählt. Bis dahin kann ich nur eins tun, ihm jedes Mal aufs Neue beweisen, dass mich seine Narben nicht abstoßen. Eine Hemmschwelle, die wir immer und immer wieder gemeinsam überwinden müssen, bevor es zur Sache geht. Und da Carlo sich trotz allem weiterhin mit mir trifft, werde ich nicht müde zu glauben, zwischen uns gibt es mehr als körperliche Anziehung.

Durch seinen Schutzwall zu dringen und ihm eine Reaktion zu entlocken, die mir meine Hoffnung erfüllte, er möge auf Männer stehen, dauerte sage und schreibe fünf Wochen. Weitere zwei Wochen musste ich all meinen Charme einsetzen, um ihn zu einem Date zu überreden – das katastrophal verlief, um es mal vorsichtig auszudrücken. Zumindest verstand ich recht zügig – schließlich bin ich nicht total naiv –, dass ich von ihm außer Sex vorerst nichts erwarten durfte. Natürlich hatte ich gehofft, wir würden diese Phase irgendwann überwinden. Dem ist leider nicht so. Nach diversen befriedigenden Treffen stand fest, ich hatte zwei Möglichkeiten, damit umzugehen. Entweder ich ziehe mich zurück und gebe jede sich mir bietende Chance auf, Carlo näherzukommen. Oder ich akzeptiere, dass er keine Beziehung eingehen will. Womit ich riskiere, an gebrochenem Herzen zu sterben.

Okay, Letzteres ist ein wenig dramatisch formuliert und konnte ich zum damaligen Zeitpunkt noch gar nicht wissen. Das hat sich in den vergangenen Monaten geändert. Denn obwohl ich versuchte, unsere Vereinbarung einzuhalten, schlich sich Carlo immer weiter in mein Herz, wenngleich er der unromantischste Typ ist, der mir je begegnet ist. Romantik ist etwas, das Carlo wahrscheinlich nicht einmal buchstabieren kann.

Man könnte mich als Mann mit masochistischer Veranlagung bezeichnen, da ich mich auf dieses Arrangement überhaupt eingelassen habe. Dennoch bin ich mir bei Carlo so sicher wie bei keinem anderen. Ich muss lediglich ein wenig Geduld aufbringen, bis er begreift, dass ich mehr für ihn bin als Stressbewältigung und Druckabbau – oder ein Alibifreund.

 

*

 

Ich glotze gedankenverloren auf die Glut meiner Zigarette und höre von drinnen Amber nach mir rufen. Schnaubend rapple ich mich auf und drücke die Kippe im Ascher aus, um in Erfahrung zu bringen, was sie von mir will.

Kaum durch die Hintertür steht sie auch schon vor mir und grinst über das ganze Gesicht.

Ich sende ihr wortlos einen skeptischen Blick.

»Zieh dich um. Du bist heute Abend bei uns.«

»Okay. Und was ist daran so toll? Oder sollte ich besser fragen, was du wieder ausgeheckt hast?«

»Als würde ich jemals etwas aushecken.«

»Herr, verschone mich mit hinterlistigen Weibsbildern«, brumme ich, als ich in die Umkleide verschwinde.

Amber schiebt ihren Kopf durch den Türspalt und murrt: »Das habe ich gehört.«

»Solltest du auch. Und jetzt hau ab. Ich mag keine Spanner.«

»Pfft, von wegen. Mein Pech ist bloß, das Falsche in der Hose zu haben.«

Ich schüttle amüsiert den Kopf und entledige mich meines T-Shirts, bevor ich meine Waschutensilien und ein Handtuch aus meinem Fach nehme und zur Dusche schlappe.

 

*

 

Da es mitten in der Woche ist, verläuft der Abend ruhig. Carlo wechselt nur dann ein Wort mit mir, wenn er es für unumgänglich befindet. Das sollte mich nicht wurmen, denn schließlich halten wir das immer so. Niemand weiß, was zwischen Carlo und mir wirklich läuft. Wobei ich davon ausgehe, dass Amber zumindest einen Verdacht hegt. Sie hat mich zwar bisher nicht direkt darauf angesprochen, aber hin und wieder kleine Spitzen fallen lassen. Das ist auch der Grund, warum ich jederzeit damit rechne, sie würde irgendetwas im Schilde führen. Abgesehen von Ambers unerschütterlichem Naturell scheint sie beinahe besessen von dem Wunsch, mich unter die Haube zu bringen. Und das, obwohl sie selbst seit Jahren keine Beziehung mehr hatte.

Ihre letzte ging mit Pauken und Trompeten den Bach runter. Ganz großes Kino sage ich nur.

Sie hat den Kerl mit einer anderen in flagranti im Bett erwischt. Der Idiot wusste gar nicht, wie ihm geschah, als sie seine kreischende Tussi an den Haaren bis zur Wohnungstür zerrte und sie nackt auf dem Flur aussetzte. Er war so geschockt, dass er gerade noch seine Shorts überziehen konnte, bevor er fassungslos dabei zusah, wie Amber sämtliche Klamotten zusammenraffte und aus dem Fenster warf. Als sie mir davon berichtete, lächelte sie versonnen und meinte: »Du glaubst gar nicht, wie lange Jeans und Sweatshirts aus der achten Etage brauchen. Tusneldas Airbaghalter machte einen auf sterbenden Schwan und tänzelte hinterher wie in einem Ballett.«

Es war mitten im Winter, die Straßen voller Schneematsch. Hätte Amber ihren Kerl nicht verbal kastriert, hätte er sich womöglich die Eier abgefroren. Wenn ich daran zurückdenke, wie sie mir das erzählte, zaubert es mir ein Lächeln ins Gesicht. So ist sie nun mal. Ja, sie war tief verletzt, dennoch hat sie Nägel mit Köpfen gemacht. Insgeheim denke ich immer: Hoffentlich ist sie nicht irgendwann sauer auf mich. Wer weiß, was mir dann blühen würde.

»Gehst du mit mir nachher auf einen Absacker?«, flötet sie kurz vor Feierabend. Bis auf ein Pärchen sind alle Gäste gegangen. Carlo ist gerade bei ihnen, um abzukassieren, da er sie bedient hat. Was er nicht hätte tun müssen. Nur lässt er sich das genauso wenig nehmen, wie die Tische einzudecken. Was mich anfangs irritiert hat.

Ich werfe einen Blick zu Carlo und grüble über Ambers Frage nach.

»Warum machst du deine Entscheidungen immer von Carlo abhängig?«, flüstert sie neben mir.

Verwirrt schaue ich sie an. »Was redest du da?«

Sie zuckt mit den Schultern. »Ich sag ja nur.«

Da Carlo noch im Gespräch ist, wende ich mich Amber zu. »Raus mit der Sprache.«

»Na hör mal, wir kennen uns jetzt eine Ewigkeit. Glaubst du ernsthaft, ich bin so blind wie der Rest hier? Ich weiß zwar nicht genau, was es ist, doch zwischen dir und Carlo geht irgendwas vor sich. Du bist derart fixiert auf ihn, ich mach mir allmählich Sorgen.« Sie winkt andeutungsweise ab. »Das ist übrigens schon so, seitdem er hier angefangen hat.«

»Ich bin auf niemanden fixiert«, protestiere ich. Allerdings klingt das selbst für mich nicht überzeugend.

Sie beugt sich zu mir und wispert: »Nur dass du es weißt, mir ist es egal. Aber ich habe Angst, du machst sämtliche deiner Entscheidungen von ihm abhängig.«

Ambers Worte lassen mich zusammenzucken. Ein Jahr. Ein gottverdammtes Jahr und ich komme mir plötzlich vor, als wäre ich nur eine billige Affäre. Warum auf einmal? Nur weil Amber mich darauf anspricht? Bisher hat es mich doch auch nicht gestört, dass wir unsere Bettgeschichte nicht an die große Glocke hängen. Erneut wandert mein Blick zu Carlo und ich werde unvorbereitet von Verärgerung heimgesucht. »Ich bin von niemandem abhängig oder irgendjemandem Rechenschaft schuldig. Ob und mit wem ich ausgehe, entscheide immer noch ich.«

»Oha, ganz ruhig, Brauner. Ich wollte dich nicht in Rage bringen.«

Ich atme tief durch und lächle sie entschuldigend an, während es in mir weiter brodelt. »Hast du nicht. Mir ist nur gerade etwas klar geworden. Also, wohin willst du mich verschleppen?«

Amber neigt den Kopf zur Seite und mustert mich eindringlich. »Ich wollte eigentlich ins Bijou. Bloß wie es scheint, hat mein Freund Redebedarf. Was hältst du davon, wenn wir uns ein paar Reste einpacken lassen und zu mir gehen? Mom hat mir letztens einen fantastischen Bordeaux mitgebracht. Den wollte ich zwar für eine besondere Gelegenheit aufheben, aber …« Sie deutet zwischen uns hin und her. »Ich denke, wir zwei auf meiner Couch sind besonders genug.«

Ich grinse. »Bist du sicher?«

Ihre Augen weiten sich überrascht. »Dann sagst du Ja?«

»Warum wundert dich das?«

»Das ging jetzt beinahe zu leicht.«

Schnaubend schüttle ich den Kopf. »Dir kann man auch nichts rechtmachen.«

»Wir reden später weiter«, wispert Amber konspirativ, während sie mit dem Kinn über meine Schulter deutet.

Ich folge ihrem Blick und sehe, wie Carlo das Pärchen unter fröhlichem Gelächter zur Tür begleitet, bevor er auf uns zukommt.

»Okay, dann lass uns aufräumen.«

»Fang schon mal an. Ich frage schnell in der Küche nach, ob sie uns was einpacken.«

»In Ordnung.«

Mit einem Tablett bewaffnet schlendere ich zum bis eben noch besetzten Tisch, um die benutzten Gläser abzuräumen.

»Danke, dass du heute eingesprungen bist«, höre ich Carlo leise sagen, als ich an ihm vorbeigehe.

Perplex halte ich inne und wende mich ihm zu. »Nichts zu danken. Ist schließlich mein Job.« Als ich auf dem Absatz kehrtmache, ergreift er sanft meinen Arm.

»Was ist?«

Carlos Blick schnellt zur Küchentür, ehe er flüstert: »Kommst du noch mit zu mir?«

Die Wut, die kurz zuvor in mir hochkochte und die Amber mit ihrer neckischen Art zum Abflauen brachte, kehrt ungezügelt zurück. Ich ziehe meinen Arm aus seinem Griff. »Nein, ich habe schon was vor.«

Carlo runzelt die Stirn. »Ach ja?« Er klingt ungewohnt bissig.

»Ja, stell dir vor, ich habe ein Leben außerhalb des Le Projet und deinem Bett.«

Ein entsetztes Keuchen. »Was ist los mit dir? So habe ich das nicht gemeint. Das solltest du wissen.«

»Sollte ich?« Ich trete nah an Carlo heran. »Wenn du nicht auf einen Fick aus bist, frage ich mich, was ich bei dir soll.«

»Verdammt, Brennan, red nicht so.«

»Wie gesagt, ich bin bereits verabredet. Du wirst heute Nacht wohl ohne mich auskommen müssen.«

In einer defensiven Geste hebt Carlo beide Hände. »In Ordnung. Ich dachte nur, wir könnten wegen Thanksgiving reden.«

»Was soll es da zu reden geben? Wir waren uns einig, dass du mir die Daten schickst.«

»Richtig.« Seltsamerweise wirkt Carlo bedrückt.

Auch wenn ich ihm im Moment gern die kalte Schulter zeigen will, beschleicht mich ein schlechtes Gewissen. Allerdings komme ich nicht dazu, auf Carlo einzugehen, denn Amber rauscht zur Tür herein und schaltet die Deckenbeleuchtung an. Als sie uns zusammenstehen sieht, wandern ihre Augenbrauen hinauf.

Carlo und ich gehen instinktiv auf Abstand und wenden uns den abschließenden Arbeiten für den Abend zu.

 

*

 

»Erzählst du mir, was los war?«, ruft mir Amber aus der Küche zu.

Ich sitze im Wohnzimmer auf der Couch, während sie den angepriesenen Bordeaux dekantiert. Weingläser, Fressboxen und Besteck befinden sich bereits auf dem Tisch und warten darauf, dass wir über sie herfallen.

Es ist weit nach Mitternacht und normalerweise versuche ich zu vermeiden, so spät – oder früh – noch etwas zu essen, da es mir sonst wie ein Stein im Magen liegt und ich keinen Schlaf finde. Carlo ist da anders. Er kann zu jeder Tages- und Nachtzeit tonnenweise Zeug in sich reinschaufeln. Bei ihm setzt nichts an und er scheint offensichtlich kein Problem damit zu haben, mit vollem Bauch ins Bett zu fallen. Er ist schon ein ungewöhnlicher Mann, denn ich weiß, dass er, egal wie lange seine Schicht ging, um sechs Uhr morgens aus den Federn fällt, um joggen zu gehen. Letzteres ist womöglich eine Erklärung dafür, dass er sich beim Essen nicht zurückhalten muss. Natürlich habe ich dieses absolut unerträgliche Frühaufstehen noch nicht am eigenen Leib erfahren, da ich nach einem Nümmerchen bei Carlo in meine vier Wände verschwinden muss. Für den seltenen Fall, dass Carlo mit zu mir kommt … Na ja, das muss ich wohl nicht ausführen, oder? Eine weitere Sache, die mich endlos nervt. Ist ja nicht so, als würde irgendwer bei ihm oder mir vor der Haustür stehen und warten, ob und wer am nächsten Tag die Wohnung verlässt.

»Hey!«, höre ich Amber sanft sagen, als sie die Weinkaraffe auf den Tisch stellt und sich neben mich setzt. »Wo bist du mit deinen Gedanken?«

Seit vorhin geht mir eine äußerst wichtige Frage durch den Kopf. Ist es klug, mit ihr über Carlo und mich zu reden? Ich will es. Oh, und wie gern ich mich bei jemandem auskotzen würde. Aber ist Amber dafür die richtige Person?

»Komm schon. Es wird Zeit, dass du mir sagst, was los ist. Ich halte jetzt seit Monaten den Mund. Und du weißt, wie schwer mir das fällt.«

»Glaub mir, ich würde, wenn ich könnte.«

Sie befüllt einen Teller mit kalten Spaghetti und hausgemachtem Sugo und drückt ihn mir in die Hand. »Ich kann es kurz in die Mikrowelle geben, wenn du willst.«

Ich winke ab und lehne mich zurück. »Blödsinn.«

Sie macht es mir gleich und schaut mich von der Seite an, als sie mit vollem Mund erklärt: »Du weißt, dass ich dichthalten kann, oder?«

»Natürlich. Es ist nur …«

»Du liebst ihn.« Das sagt sie so selbstverständlich, als würde sie über einen Reißnagel reden.

Ich verschlucke mich beinahe an den Nudeln.

Amber klopft mir auf den Rücken und lacht. »Na, na, so überraschend ist das ja nun auch wieder nicht.« Sie schenkt uns Wein ein und reicht mir das Glas. »Cheers! Auf die Liebe, die einem graue Haare beschert. Ups, das war jetzt keine Anspielung auf Carlo. Du weißt schon – Haare und so.«

Ein umständliches Räuspern später stoße ich mit ihr an und nehme ohne Erwiderung einen tiefen Schluck. Den Teller stelle ich zurück auf den Tisch und blicke sie lange an, weiterhin mit mir hadernd, ob ich es tatsächlich wagen soll, mir alles von der Seele zu reden.

»Spuck’s aus.«

»Hast recht wie immer. Zwischen Carlo und mir gibt es was. Allerdings nicht so, wie du vielleicht denkst.«

»Ach, dann liege ich also falsch, wenn ich glaube, dass ihr zwei eine Bettgeschichte am Laufen habt und dir das inzwischen nicht genug ist, weil du gern mehr für ihn wärst als eine schnelle Nummer für zwischendurch?«

»Wie kommst du nur …?«

»Ich hab Augen im Kopf, mein Freund.«

Ich seufze und sinke in mich zusammen. »Scheiße.«

»Wie gesagt, bin ich die Einzige im Le Projet, der das aufgefallen ist – denke ich. Ich muss zugeben, wenn ich dich nicht kennen würde, hätte ich keinen Schimmer. Immerhin seid ihr sehr vorsichtig.«

»Das beruhigt mich.«

»Wie lange geht das schon mit euch?«

Ich zucke die Schultern. »’ne Weile.«

»Vielleicht ein bisschen genauer?«

»Ungefähr zehn Monate.«

»Ach du Schande! Ernsthaft?«

»Ich kann dich also immer noch überraschen. Das freut mich.«

Sie knufft mir in den Arm. »Sei kein Idiot. Ich will Einzelheiten hören.«

»Im Grunde gibt es da nicht viel zu erzählen. Wir treffen uns hin und wieder und haben Spaß. Das war’s.«

»Tja, das sah vorhin nicht spaßig aus. Carlo zog ein Gesicht, als hätte er verdorbenes Fleisch im Mund.«

Ich grinse selbstzufrieden. »Das ist auch gut so.«

»Was hast du gesagt, dass er derart eifersüchtig reagiert hat?«

Hellhörig richte ich mich auf. »Wie meinst du das? Carlo ist nie eifersüchtig.«

»Für mich sah es ganz danach aus. Worum ging es denn?«

»Ich war sauer, da ich dachte, er will mich nur wieder auf einen Quickie einladen. Was an sich nicht unnormal ist. Aber irgendwie hast du mir die Augen geöffnet.«

»Wie das?«

»Als du meintest, ich würde mich nur nach Carlo richten. Inzwischen fühle ich mich billig. Er denkt sicher, ich stehe auf Abruf bereit. Also habe ich ihm gesagt, ich hätte was vor.«

»Und du hast ganz zufällig nicht erwähnt, dass du mit mir verabredet bist.«

»Es geht ihn nichts an, mit wem ich meine Freizeit verbringe. Wir haben schließlich keinerlei Exklusivrechte vereinbart. Falls du verstehst, was ich meine.«

Amber schnaubt. »Bin ja nicht völlig verblödet. Aber dir ist schon klar, dass du diesen kleinen Hinweis mit voller Absicht unterschlagen hast, oder?«

»Möglich.« Sie hat recht, unbewusst wollte ich, dass er eifersüchtig ist.

»Gut.«

»Hä?«

»Wenn du willst, dass er dich bemerkt, lass ihn zappeln.«

»Blöde Idee. Vor allem, da wir Thanksgiving zusammen verbringen.«

»Wie das denn jetzt?«

»Er hat mich gebeten, mit ihm nach Kalifornien zu fliegen.«

»Das ist nett.«

»Quatsch, das ist idiotisch. Ich weiß, dass er mich nur dabeihaben will, um seinen Freunden zu beweisen, dass er nicht einsam ist. Er zeigt mich vor und umgeht jede Diskussion über seinen Beziehungsstatus.«

»Du willst den Alibifreund mimen? Ja, das ist idiotisch.«

»Gut, dass wir uns zumindest darin einig sind. Von wollen kann übrigens keine Rede sein. Dennoch habe ich zugesagt.« Und du weißt auch ganz genau warum.

»Dir ist schon klar, welche Chance sich dir damit bietet?«

»Hattest du eben nicht von zappeln lassen gesprochen?«

»Ja richtig, du solltest dich rarmachen. Wenn ihr hier seid. Im Alltag, verstehst du? Thanksgiving zusammen zu verreisen ist eine andere Nummer. Sobald ihr dort seid, wo auch immer das ist, muss er den Schein wahren und kann dich nicht auf Abstand halten.«

»Wir sind in Pine Valley bei der Mutter seines Freundes eingeladen. Und ja, das ist mir bereits durch den Kopf gegangen. Nur wie erbärmlich bin ich, wenn ich derart miese Tricks anwende?«

»Keinesfalls erbärmlicher als ich, die so dämlich war und nicht gemerkt hat, dass ihr Kerl regelmäßig ’ne andere vögelt, und das im gemeinsamen Bett. Und was heißt hier eigentlich miese Tricks? Ist ja nicht so, als würdest du auf Magie zurückgreifen und ihm einen Liebestrank unterjubeln.«

»Du schaust eindeutig zu viele Märchen.«

»Lenk nicht ab. Ich mein’s ernst.«

»Das klingt alles so einfach bei dir. Aber wenn es um Carlo geht, ist nichts einfach.«

»Hast du eine Ahnung, warum das so ist?«

»Nur einen Verdacht.«

»Darf ich fragen, wie der aussieht?«

Ich hole Luft, klappe, statt mit meiner Vermutung herauszurücken, sofort den Mund wieder zu, ehe ich den Kopf schüttle. »Sorry, das ist zu persönlich.«

»Okay.«

Erstaunt drehe ich mich zu ihr. »Okay? Das war’s? Du versuchst nicht, mich auszuhorchen?«

»Wie ich bereits erwähnte, bin ich nicht verblödet. Zu persönlich ist nie was Gutes. Und im Zusammenhang mit Carlo, der zeitweise wirkt, als wäre er Fort Knox, muss es was wirklich Schlimmes gewesen sein. Niemand ist grundlos so verschlossen. Und ich denke, du wirst dir deine Gedanken darüber gemacht haben.«

»Richtig. Ich bin mir nur nicht sicher, ob es eine gute Idee ist, die Situation auszunutzen und obendrein zu versuchen, mehr über Carlos Vergangenheit erfahren zu wollen. Ich könnte mir vorstellen, dass solcherlei Aktionen eher nach hinten losgehen.«

»Du musst eben vorsichtig sein.«

»Das sagt sich so leicht.«

Ich spüre Ambers Hand auf meinem Knie und schaue zu ihr auf.

»Ich denke, für Carlo bist du bereits mehr als eine Bettgeschichte. Ihm ist es nur nicht bewusst.«

»Du glaubst gar nicht, wie sehr ich mir das wünsche.« Das habe ich noch nie laut ausgesprochen. Und überraschenderweise fühlt es sich überhaupt nicht falsch an.

»In Ordnung. Dir ist schon klar, dass ich auf deiner Seite stehe, oder?«

Ich grinse schief. »Das sollte mir eine Heidenangst einjagen. Ich bin dennoch froh, dass du das sagst. Nur versprich mir, keine Dummheiten zu machen.«

»Das ist zwar wider meine Natur, aber gut, ich versuch’s zumindest.«

 

Kapitel 3

 

- Carlo -

 

Es ist später Nachmittag, beinahe Abend, als wir in Pine Valley ankommen, durch angrenzende Weinfelder eine Anhöhe hinauffahren und auf dem gekiesten Vorplatz einer viktorianischen Villa zum Stehen kommen. »Wir sind da«, verkünde ich erleichtert, ehe ich den Motor abstelle und mich seufzend zurücklehne. Über sechs Stunden Flug und anderthalb Stunden Fahrt von San Francisco hierher können ziemlich schlauchen. Zumal ich die letzten Nächte kaum geschlafen habe – ergo noch schlechter als sonst.

»Ach du liebes bisschen, wir sind auf Falcon Crest gelandet«, platzt es Brennan amüsiert heraus.

»Du kennst die Serie? Lief die nicht lange vor deiner Zeit?«

Empört sieht Brennan mich an. »Was soll das denn heißen? Ich bin zwar um ein paar Jährchen jünger als du, aber sicher kein Kleinkind mehr.«

Ich grinse. »Warum regst du dich darüber bloß immer so auf? Du solltest die Feststellung als Kompliment werten.«

»Ja, klar doch. Wobei, du musst selbst noch in den Windeln gelegen haben, als es ausgestrahlt wurde.«

»Was heißt selbst noch?« Obwohl ich weiß, was ich damit anrichte, kann ich es einfach nicht lassen, ihn weiter aufzuziehen. »In den Achtzigern war an dich gar nicht zu denken, mein Lieber.«

»Und schon wieder machst du dich über mein Alter lustig.«

»Blödsinn.« Ich seufze. Es ist jedes Mal das Gleiche. Sobald irgendeins unserer Gespräche zufällig dieses Thema streift, fühlt er sich angegriffen. Das würde ich von einem Mittvierziger wie mir erwarten, aber doch nicht von einem Mann, der gerade mal dreißig ist.

»Ist ja auch egal«, wiegelt Brennan halbherzig ab.

»Jedenfalls liegst du mit deinem Vergleich absolut richtig. Eagle Rock sieht tatsächlich aus wie Falcon Crest. Allerdings ist Maggie Sullivan lange nicht so versnobt wie Angela Channing.« Mein Blick gleitet über die fein säuberlich aufgereihten Autos. »Wie es aussieht, sind schon alle da. Gehen wir rein.«

Nach dem kleinen Zwischenfall im Restaurant dachte ich, die Reise wird angespannt. Überraschenderweise war dem nicht so. Brennan gab sich wie immer locker und leicht. Im Flieger und auf der Fahrt von San Francisco hierher erzählte ich ihm von Peter und William. Bisher habe ich sie und den Rest der Bande hin und wieder erwähnt, jedoch nie wirklich thematisiert. Vor allem meine Gefühle für William. Das wäre zu viel des Guten. Ich bin ja froh, dass Brennan sich bereit erklärt hat mitzukommen. Wüsste er über William Bescheid … Er würde wahrscheinlich sofort auf dem Absatz kehrtmachen. Bekannten, mit denen man maximal zwei Tage am Stück verbringt, eine Beziehung vorzugaukeln, um unliebsame Diskussionen zu vermeiden, ist eine heikle Sache, aber mit jemandem wie William konkurrieren zu müssen, ist etwas ganz anderes. Und ich denke, so würde Brennan es auffassen. Der Gedanke bereitet mir ein wenig Bauchschmerzen. Denn im Grunde will ich Brennan nicht wehtun oder die Schuld dafür tragen müssen, dass er sich unwohl fühlt. Schließlich mag ich ihn. Insgeheim plagt mich eh schon das schlechte Gewissen, dass ich ihn zu diesem Schmierentheater überredet habe.

Kaum dass wir unsere Reisetaschen aus dem Kofferraum holen, sehe ich Maggie mit einem strahlenden Lächeln auf uns zueilen. »Wie wundervoll, ihr seid endlich da.« Sie schließt mich in die Arme, als wäre ich der verlorene Sohn.

»Hallo, meine Schöne.« Ich halte sie auf Abstand. »Du siehst wie immer fantastisch aus.«

Sie läuft rot an. »Ach, hör auf! Das zieht nicht bei mir. Stell mich lieber deiner besseren Hälfte vor.«

Ich wende mich Brennan zu, der mit seiner Tasche in der Hand innehält und nervös von einem Fuß auf den anderen wechselt. Offensichtlich weiß er nicht recht, wie er sich verhalten soll, obwohl wir ausgemacht hatten, dass er offiziell mein Partner ist. Ich ziehe ihn an meine Seite. »Brennan, das ist die entzückende Mrs. Maggie Sullivan, Peters Mom.« Ich deute auf Brennan, der in meiner Umarmung starr wirkt. »Maggie, das ist Brennan Collier.«

Brennan reicht ihr die Hand, die sie sanft zur Seite schiebt, um ihn genau wie mich zu umschlingen und zu herzen. »Was für ein schöner Name. Willkommen auf Eagle Rock. Und der Freund von Carlo gehört natürlich automatisch zur Familie.«

Maggie wedelt in Richtung Haus. »Mit euch sind wir nun vollzählig. Lasst uns reingehen.«

Wir folgen ihr. Kaum dass wir im herrschaftlichen Entree stehen, begrüßen uns Peter und Chase, ehe sie von einer aufgeregten Audrey abgelöst werden, die mir augenblicklich um den Hals fällt.

»Hallo, Carlo! Cool, du bist da. Ich dachte, du kommst nicht.« Sie blickt zu Brennan und stellt trocken fest: »Du bist nicht allein.«

Maggie lächelt. »Ich überlasse euch mal eben der jungen Dame und schau, was das Essen macht. Pam hatte vorhin schon angedeutet, dass der Truthahn dröge wird, solltet ihr nicht bald auftauchen.« Sie verschwindet durch eine Schwingtür, die zur Küche führt.

Chase zwinkert uns zu, während Peter mit einer mir altbekannten Geste zu verstehen gibt, dass wir uns später in aller Ruhe unterhalten. Daraufhin verkrümeln sie sich ins Esszimmer, wo einige Leute bereits angeregte Gespräche führen.

Peter erzählte mir in unserem gestrigen Telefonat – ich hatte zu tun, mich nicht zu verplappern –, dass Meredith ebenfalls zu Thanksgiving da ist. Sie hatte wohl vor ein paar Wochen ihre Europareise unterbrochen, um ihre Familie zu besuchen. In dieser Zeit muss irgendwas geschehen sein, denn sie entschloss sich kurzerhand, für immer zurückzukehren. Allerdings hieß es, sie würde nicht wieder auf Eagle Rock leben wollen. Genaueres wusste er nicht. Klang alles irgendwie geheimnisvoll. Und ich werde ihr bei nächster Gelegenheit die Ohren lang ziehen, weil sie mir das alles verschwiegen hat.

»William und Jeremy sind oben«, setzt uns Audrey in Kenntnis. »Sie werden sich freuen, euch zu sehen. Wollen wir raufgehen?«

Hinter Audrey taucht ihr Vater Brody auf. »Herrje, Schatz, lass sie doch erst einmal ankommen.«

Erleichtert, endlich zu Wort zu kommen, lächle ich Brody dankbar an, ehe ich mich an Audrey wende, die ihre Arme um meine Hüfte geschlungen hat. »Hallo, Süße.« Auf Abstand haltend mustere ich sie bewundernd. »Du liebe Güte, du siehst so erwachsen aus.«

Ein verzagtes Seufzen erregt meine Aufmerksamkeit. Brody verzieht das Gesicht und murmelt: »Wem sagst du das.«

Audrey wendet sich ihm zu. »Dad, lass das!«

In einer unschuldigen Geste heben sich Brodys Schultern. »Was hab ich jetzt wieder getan?«

Ein belehrender Blick unter gewölbten und gezupften Brauen, ehe Audrey verkündet: »Ich bin immerhin fünfzehn.«

Ich muss mir ein Lachen verkneifen. Brennan ebenfalls, denn er räuspert sich hinter vorgehaltener Hand. Ehe es in Gezänk zwischen Tochter und Vater ausartet, sage ich: »Das ist übrigens Brennan.«

Audrey schreitet selbstsicher auf ihn zu. »Hi. Ich bin Audrey Wolders.«

»Schön, dich kennenzulernen.«

In Richtung Brody deutend erklärt sie: »Mein Dad, Brody Stark.«

Dieser grüßt Brennan mit einem kurzen Nicken. »Herzlich willkommen.«

»Wie lange seid ihr schon zusammen?«, fragt Audrey ungeniert.

Erneut ein Seufzen von Brody.

»Noch nicht lange«, erwidere ich, während Brennan zeitgleich sagt: »Eine ganze Weile.«

Verwirrte Blicke. Betretenes Schweigen. Bevor es richtig peinlich wird, zuckt Audrey beiläufig die Schultern, macht auf ihren viel zu hohen Absätzen kehrt und rennt trotz knielangem, engem Rock elegant die Treppe hoch.

Ich bin dermaßen perplex, dass ich wie angewurzelt dastehe und ihr nachschaue.

Brody stöhnt und eilt ihr hinterher. »Schatz, warte!«

»Sie ist nett«, flüstert Brennan.

Ich wende mich ihm zu. »Das war jetzt echt dämlich. Wir hätten uns vorher auf eine Version einigen sollen.« Wir haben alles Mögliche besprochen, aber daran, dass uns jemand diese unschuldige Frage stellen könnte, hatte ich mit keiner Silbe gedacht.

»Tja, wer konnte ahnen, dass wir bei Ankunft sofort einer kleineren Ausgabe der Inquisition gegenüberstehen.« Brennan grinst und reibt mir beruhigend den Rücken.

Die Reisetaschen zu unseren Füßen stehen wir einsam und verlassen im Eingangsbereich, als Brennan sich bei mir anlehnt und mir einen sanften Kuss auf die Wange gibt. »Atme und mach dir keine Sorgen.«

Eine seltsam liebevolle Geste, denke ich. »Das sollte ich wohl eher dir sagen. Du wirktest bis eben angespannter als ich.« Wie bei unserer Auseinandersetzung vor einigen Tagen im Restaurant. Ich weiß bis heute nicht, warum er so abweisend und sauer reagierte. Vor allem verstehe ich mich selbst nicht. Ich kann mir nicht erklären, warum mich der Gedanke, Brennan würde sich mit einem anderen Mann treffen, so massiv störte – immer noch stört, wenn ich ehrlich bin. Ich habe kein Anrecht auf derartige Gefühlsregungen. Dennoch fällt es mir von Tag zu Tag schwerer, unsere Vereinbarung in Erinnerung zu behalten, auf die immerhin ich bestanden habe.

»Stimmt. Das lag daran, dass ich nicht wusste, auf was für ein Abenteuer ich mich einlasse.«

»Und jetzt weißt du es?«, frage ich skeptisch.

Aus dem Esszimmer sind Gesprächsfetzen zu hören und doch überkommt mich das Gefühl, wir wären im Moment die Einzigen auf der Welt. Brennans ernster Blick fixiert mich, als er langsam nickt und flüstert: »Ja. Im Gegensatz zu dir.« Er führt seinen Mund an mein Ohr und sein heißer Atem streicht sanft darüber, als er wispert: »Du hast ja keine Ahnung, auf welches Abenteuer du dich mit mir eingelassen hast.«

Ein sinnlicher Schauer rieselt durch meinen Körper, dennoch setze ich einen Schritt zurück. »Wie meinst du …?«

»Ich werde unsere gemeinsame Zeit hier zu nutzen wissen. Wirst schon sehen«, unterbricht mich Brennan und grinst mich frech an.

Ich will gerade nachhaken, als Audrey und Brody auf dem oberen Treppenabsatz auftauchen und sich erneut zu uns gesellen.

Ein letzter fragender Blick zu Brennan bringt mir sein siegessicheres Lächeln ein, das mich umso neugieriger macht. Was hat er vor?

»Oje, ihr steht ja immer noch hier. Wie unhöflich«, stellt Brody bedauernd fest, sobald sie bei uns sind.

»Ich kann gern schauen, welches Zimmer Maggie für euch hergerichtet hat, wenn ihr wollt«, bietet Audrey an.

Im selben Augenblick tauchen William und Jeremy auf der Treppe auf.

Instinktiv schlinge ich meinen Arm um Brennans Taille und führe ihn mit einem hoffentlich echt wirkenden Lächeln zu ihnen. Nur für den Bruchteil einer Sekunde spüre ich erneut Brennans Zögern, das jedoch sofort zu verfliegen scheint.

»Happy Thanksgiving, ihr zwei«, begrüße ich sie viel zu enthusiastisch. »Ihr seht gut aus. Darf ich euch meine Begleitung vorstellen?«

»Willkommen und Happy Thanksgiving«, entgegnet William mit einem skeptischen Blick, ehe er betont: »Und du siehst auch gut aus.«

»Mir geht es fantastisch«, gebe ich überschwänglich von mir. »Brennan, das sind die beiden, die noch fehlten. Jeremy und William.«

Eine Runde Händeschütteln und Brennan erklärt: »Es freut mich, euch endlich alle kennenzulernen. Carlo hat mir viel von euch erzählt.«

William taxiert mich erstaunt und fragt: »Hat er das?«

Ich halte seinem Blick stand und nicke dann ernst, ehe ich bedeutungsschwer sage: »Ja, hat er.« Nur eben nicht alles.

»Meine Lieben!«, dröhnt Maggies Stimme zu uns hinaus. »Das Essen ist fertig. Würdet ihr euch bitte zu uns gesellen?«

Untergehakt bei Brody schreitet Audrey voran und trällert hoheitsvoll: »Bitte folgen Sie mir.«

Jeremy lacht und schiebt William hinter ihr her. »Du hast sie gehört.«

Auch wenn ich zuvor gern unser Zimmer bezogen und eine Dusche genommen hätte, lassen wir unser Gepäck an Ort und Stelle stehen. Ich schnappe mir Brennan, um allen in den festlich geschmückten Raum zu folgen.

Direkt an der Tür erwartet uns Maggie. »Ich habe Pam gebeten, den anderen vorab einen Aperitif zu servieren, derweil ich euch auf euer Zimmer bringe. Ihr wollt euch doch sicher erst frisch machen. Wir warten natürlich, bis ihr zu uns stoßt.«

Ich atme erleichtert auf. »Das wäre toll.«

 

*

 

»Du siehst klasse aus«, schnurrt Brennan.

Ich werfe einen Blick in den Spiegel und sehe und spüre, wie seine Hände sanft über meine Schultern fahren, um imaginäre Falten aus meinem Hemd zu streichen.

»Das Kompliment kann ich nur zurückgeben. Das Grün bringt deine Augen wundervoll zur Geltung und …« Ich halte sofort inne und schüttle jeden weiteren Gedanken ab. Was sage ich da nur?

»Red weiter. Ich höre das gern.«

Ich schlucke und drehe mich zu ihm um. Seine Handgelenke halte ich umfasst, damit seine Handflächen nicht auf meiner Brust landen. Seitdem er vorhin aus der Dusche gekommen ist, mit nichts als einem lächerlich kleinen Handtuch um seine Hüften gewickelt, durchströmt mich das Bedürfnis, ihn berühren zu wollen. Es fällt mir schwer, mich zurückzuhalten, wenn er es tut. Auch wenn seine Hände nur auf Stoff liegen würden, sickerte verführerische Wärme unter meine Haut, die mich auf gänzlich andere Dinge brächten, als jetzt nach unten zu gehen und Thanksgiving zu feiern.

»Bereit?«, frage ich stattdessen.

Brennans Blick sagt etwas anderes aus, aber er nickt und wir machen uns auf den Weg.

 

Zehn Minuten später haben wir die restlichen Anwesenden begrüßt, darunter Meddy, die sofort aufspringt und mich in die Arme schließt. »Menschenskind, du bist tatsächlich hier.« Sie blickt über meine Schulter und flüstert: »Und das in Begleitung. Na, so was.«

»Wie geht’s dir?«

»Gut so weit«, murmelt sie und schaut reflexartig zu Brody, der ihr ein warmes Lächeln schenkt.

Schlagartig kommt mir die Idee, er könnte der Grund für ihre Rückkehr sein. Ich schaue sie überrascht an. »Du treulose Tomate hast mir was verheimlicht.«

»Du verrennst dich da gerade in was. Aber lass uns das später klären. Denn jetzt will ich deinen Mann kennenlernen.«

 

*

 

Der Abend in Gesellschaft dermaßen unterschiedlicher Persönlichkeiten verläuft überraschend harmonisch. Keiner lässt ein böses Wort fallen, Spaß steht an erster Stelle. Ich halte mich bedeckt und beobachte.

In meiner Jugend erlebte ich das eine oder andere Familienessen zu Thanksgiving. Ich kann allerdings nicht behaupten, mich dabei je so wohlgefühlt zu haben.

Was bei meinem Vater nicht weiter verwunderlich ist. Er war und ist es sicher immer noch: ein Despot, der sich gern gewaltsam Verhör verschafft.

Nun gut, das war Peters Vater ebenfalls. Nur eben auf seine Weise. Ich denke nicht, dass Joel Sullivan jemals jemandem körperlichen Schaden zugefügt hätte. Würde er jedoch am Leben sein, säßen wir sicher nicht hier, das steht zumindest fest.

Brennan sitzt neben mir und verhält sich so still wie ich, obwohl alle Anwesenden permanent versuchen, uns im Small Talk einzubeziehen. Aus dem Augenwinkel sehe ich William hin und wieder einen kritischen Blick auf uns werfen, den ich geflissentlich ignoriere. Mir entgeht nicht, wie ihn Jeremy ablenkt, sobald er bemerkt, dass Williams Aufmerksamkeit uns gilt. Die Stimmung ist fantastisch und doch wäre ich jetzt gern woanders.

Ich wende mich Brennan zu und begegne einer eisigen Miene. Er hat Williams Reaktion also ebenfalls registriert. Mist! Zu mir gelehnt flüstert er kaum hörbar: »Du hättest mich zumindest vorwarnen können.« In seiner Stimme liegt eine Härte, die mir erst einmal begegnet ist, und zwar während des bereits erwähnten Gesprächs vor einigen Tagen, als er derart unerwartet abweisend reagierte.

Als ich etwas erwidern will, dreht er sich um und unterhält sich mit Chase, der ihm begeistert alles Mögliche über das Weingut erzählt.

 

Nach dem festlichen Mahl ziehen wir ins Wohnzimmer um, wo es mit dermaßen vielen Leuten ein wenig eng wird. Audrey sichert sich sofort den freien Platz neben mir und grinst mich breit an.

Na klasse, das wird jetzt was geben, denke ich verzweifelt, als sie einen vorsichtigen Blick in die Runde wirft und mich anschließend leise fragt: »Erzähl schon, woher kennst du Brennan? Für sein Alter ist er ziemlich heiß!«

»Was?«, piepse ich erschrocken. Meine Güte, erwähnte ich, dass sie fünfzehn ist?!

»Was denn? Ist doch so.«

»Kleines, kannst du mir einen Gefallen tun?«, mischt sich William ein.

Audrey presst die Lippen aufeinander und kann sich gerade noch beherrschen die Augen zu verdrehen. Dass ihr die Unterbrechung nicht gefällt, kann sie allerdings nicht verbergen. Innerlich atme ich tief durch, obwohl William sicher nicht die bessere Wahl ist, um ein unbefangenes Gespräch zu führen.

»Klar«, brummt Audrey und schaut zu ihm auf, rührt sich jedoch nicht vom Fleck.

»Würdest du Pam in der Küche helfen? Maggie wollte zu ihr. Aber ich denke, sie ist die Gastgeberin und will bei uns sein.«

Audrey seufzt kellertief, erhebt sich dann doch mit wehleidiger Miene. »Na gut. Dafür überredest du Dad und Jeremy, dass ich nachher ein Glas Sekt trinken darf.«

»Das ist Erpressung, junge Dame«, empört sich William, während seine Mundwinkel verdächtig zucken.

Schulterzuckend erwidert Audrey: »Ich sehe darin eine Win-win-Situation. Du kannst unbehelligt Carlo ausfragen und ich …«

»Oh, verschwinde schon. Ich schau, was ich für dich tun kann.«

Audrey stöckelt davon und William sinkt neben mir auf die Couch. Der Rest der Anwesenden ist in diverse Gespräche vertieft, scherzt und hat einfach nur Spaß. Brennan plaudert mit Maggie und Meredith, dennoch beobachtet er mich. Ich sehe ihm an, dass er nicht ganz bei der Unterhaltung ist und mit einem Ohr hier auf dem Sofa verweilt.

»Ich freue mich wirklich, dass du da bist, Carlo«, spricht mich William leise an.

Aus unerfindlichen Gründen tue ich mich schwer damit, meinen Blick von Brennan ab- und mich William zuzuwenden. Nicht weil ich mich ungern mit William unterhalte, sondern da Brennan unerwarteterweise eine Anziehungskraft auf mich ausübt, die mich verwirrt. So zu reagieren, obwohl William neben mir sitzt und ich seine volle Aufmerksamkeit habe, ist neu für mich. Nur werde ich jetzt keine Erklärung dafür finden. Also konzentriere ich mich auf den Mann an meiner Seite. »Ja, Maggie hat nicht lockergelassen. Und ich hatte frei, somit passte es gut rein.«

»Brennan scheint ein netter Kerl zu sein.«

»Ist er.«

»Seid ihr glücklich?«

Die Frage erstaunt mich und ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. William hat mir zwar nie die gleichen Gefühle entgegengebracht, aber er kennt mich seit Ewigkeiten und würde mir anmerken, sollte ich Schwachsinn reden. Genau in dieser Sekunde verfluche ich meine irrwitzige Idee, Brennan als Alibifreund vorzuführen. Die ganze Sache wird auffliegen und so was von peinlich werden. Nicht nur für mich. Um ehrlich zu sein, ist mir das mittlerweile egal. Bloß was ist mit Brennan? Scheiße, daran hätte ich eher denken sollen.

»Wir sind …«

Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Gerade so gerettet. Für den Moment durchflutet mich Erleichterung. Jedoch nur so lange, bis ich dem Blick eines verkrampft lächelnden Brennan begegne.

»Entschuldigt, ich wollte euch nicht unterbrechen. Aber mir ist eingefallen, dass ich mein Handy im Auto vergessen habe. Kannst du mir den Schlüssel geben?«

»Oh, der ist oben. Warte, ich komme mit. Ich habe ihn irgendwo verbuddelt, du wirst ihn nicht finden.« Ich schaue zu William. »Sorry. Bin gleich wieder da.«

Er lehnt sich zurück. »Kein Problem. Geht nur, ich habe genug Gesprächspartner.« William blickt an mir vorbei und ruft scherzhaft: »Meddy, Schätzchen, komm her, ich will dich aushorchen.«

 

** Ende der Leseprobe **

Impressum

Texte: Nele Betra
Bildmaterialien: depositphotos
Cover: Nele Betra
Lektorat: Brigitte Melchers / Bernd Frielingsdorf
Satz: Nele Betra
Tag der Veröffentlichung: 08.07.2019

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