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LESEPROBE

Kapitel 1

- Peter -

 

»Doktor Sullivan, Ihr letzter Patient sitzt in Behandlungszimmer drei«, informiert mich Melissa, meine rechte Hand.

»Danke, Lizzy.« Kurz bevor sie die Tür hinter sich schließt, schaue ich vom Bildschirm auf und frage: »Wer ist es?«

»Der kleine Henry. Er sieht eigentlich ganz quirlig aus. Keine Anzeichen von irgendwas. Zumindest, was ich auf den ersten Blick feststellen konnte.«

Ich seufze entnervt.

»Ja, genau«, kommentiert Lizzy meine Reaktion, ehe sie mit einem resignierten Schulterzucken und einem gutmütigen Lächeln die Tür hinter sich zuzieht.

Henry ist fünf und seit drei Jahren ein Dauergast in meiner Praxis. Allerdings liegt das einzig und allein an seiner Mutter. Die Frau treibt mich noch in den Wahnsinn und Henry wahrscheinlich auch. Der arme Junge tut mir jetzt schon leid. Er wird es in Zukunft sicher nicht leicht mit ihr haben.

Ich vervollständige die Krankenakte meines vorherigen Patienten, speichere sie ab und beende das Programm. Danach atme ich einmal tief durch und begebe mich in die Höhle des Löwen, oder besser gesagt, in die Höhle der Löwin.

Mit einem Lächeln und einem vergnügten »Hallo, Familie Riggs!« trete ich ein und finde Henry auf der Liege sitzend vor. Seine Mutter steht neben ihm, zupft an seinem T-Shirt und maßregelt ihn leise, er möge doch bitte nicht so rumzappeln.

Herrje, Frau, der Kleine ist fünf! Ich ziehe mir einen Stuhl heran, setze mich und sehe zu ihm auf. »Na, Henry, hast du wieder Godzilla gespielt und einen Minilaster verschluckt?«

Er kichert, bevor er zusammenzuckt und seiner Mutter einen vorsichtigen Blick zuwirft. Ehe sie ihm erneut etwas von Anstand und weiß ich nicht was erzählt, frage ich sie: »Was gibt es für ein Problem?«

 

Zwanzig Minuten später schaue ich mit surrendem Kopf Henry und seiner Mutter hinterher, wie sie die Praxisräume verlassen. Klein Henry wirft mir noch einen beinahe verzweifelten Blick zu. Und bei Gott, ich kann ihn so gut verstehen. Der Krümel ist vollkommen gesund, aber weil seine Mutter sich Sorgen wegen angeblicher Unterernährung machte – für seine Größe ist er absolut perfekt –, schleppte sie ihn das hundertste Mal in diesem Jahr hierher. Unterernährung? Ernsthaft? Woher nimmt sie nur immer ihre Weisheiten? Wahrscheinlich ist sie in einem Mami-Forum, wo sich überfürsorgliche Hausmuttchen vierundzwanzig Stunden am Tag gegenseitig Flöhe ins Ohr setzen.

Wie dem auch sei, Henry geht es hervorragend und seine Mutter ist fürs Erste beruhigt. Was schätzungsweise ganze drei Tage andauert, ehe sie der nächste geistreiche Einfall anspringt und sie den armen Kerl panisch zu mir schleift. Vielleicht sollte ich demnächst einige Wörtchen mit Henrys anderer Mama wechseln. Sie scheint in dieser Familie den entspannteren Part zu übernehmen.

Lizzy schwebt einmal mehr ins Zimmer. Diesmal mit Handtasche und Jacke bewaffnet. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gern gehen. Meine Eltern haben sich für heute Abend angemeldet.«

»Klar, kein Thema. Ich schließe ab.«

»Oh, super.«

»Dann viel Spaß mit den Eltern.«

»Schau’n wir mal. Mein Vater ist im Moment etwas wehleidig, da gestern seine Schildkröte in die ewigen Jagdgründe eingegangen ist.«

»Das tut mir leid. Haustiere sind oftmals wie Familienangehörige.«

»Ja, schon klar, aber Fridolin war älter als ich.«

»Wirklich? Und einen ausgefallenen Namen hatte er.« Lizzy ist, glaube ich, Anfang dreißig? Ich müsste nachgucken, um es genau zu wissen.

»Yep, stolze fünfunddreißig. Dad hat ihn aus Deutschland reingeschmuggelt, daher auch der seltsame Name.«

»Dann hoffe ich, er kommt bald drüber weg.«

Melissa schnaubt. »Wird schon werden.« Sie winkt mir zu und verschwindet mit den Worten: »Bis Montag. Und denken Sie dran, es gibt noch ein Leben außerhalb der Praxis.«

»Jetzt aber raus hier!«, rufe ich ihr lachend hinterher.

 

Eine halbe Stunde später schwinge ich mich auf mein Fahrrad und düse durch den Castro Distrikt – meine Heimat, seit ich vor über zwanzig Jahren Eagle Rock den Rücken kehrte.

San Francisco reizte mich schon als Kind. Und mir war bereits damals klar, dass ich niemals das Weingut meiner Familie übernehmen würde. So stolz ich darauf bin, ein Sullivan zu sein und einer Wein-Dynastie zu entstammen, die mein Ururgroßvater im Jahre 1887 mit der Golden Dreams Estate Winery gründete, so sonnenklar war mir von Anfang an, diesen Weg unter keinen Umständen einschlagen zu wollen. Für mich stand fest, meiner Schwester Meredith den Platz zu überlassen, damit sie in die Fußstapfen unseres Dads tritt. Was der alte Herr nur zähneknirschend akzeptierte. Er ist einer vom alten Schlag. Männer sind die Ernährer und Frauen gehören an den Herd, bestenfalls barfuß und schwanger.

Die Beziehung zu meinem Vater angespannt zu bezeichnen, wäre lächerlich. Es kann nichts angespannt sein, das nicht existiert. Und mit dem Tag meines Weggangs aus Pine Valley hatte sich eben diese Beziehung zwischen Vater und Sohn für alle Zeiten in Luft aufgelöst.

Die ersten Jahre waren schwierig und hätte Mom nicht zu mir gehalten, wüsste ich nicht, wo ich heute wäre. Mein Medizinstudium an der UCSF – University of California, San Francisco – wäre mir noch schwerer gefallen und hätte länger gedauert, wäre ich gezwungen gewesen, mehr als einen Nebenjob annehmen zu müssen, um die Studiengebühren und meinen Lebensunterhalt aufzubringen. Also biss ich in den sauren Apfel und wurde meinen aufgestellten Prinzipien untreu, keinerlei finanzielle Hilfe meines Vaters anzunehmen. Mom ließ mir kaum eine Wahl, richtete mir ein Konto mit monatlichen Unterhaltszahlungen ein und übernahm zusätzlich die kompletten Studiengebühren. Letzteres nahm ich dankbar an. Sie und meine Schwester Meredith waren schließlich alles, was mir an Familie geblieben ist. Und ich hatte nie vor, ihr das schreckliche Gefühl zu vermitteln, sie wäre machtlos und könne mich daher nicht so unterstützen, wie sie gerne wollte. Das lag mir fern.

Bis heute hat sie mir nicht verraten, ob mein Vater darüber Bescheid weiß oder nicht. Ich denke nicht und gehe sogar davon aus, dass sie einen Großteil ihres in die Ehe mitgebrachten Vermögens dafür einsetzte. Womit sie ein immenses Risiko eingegangen ist. Ich flehte sie an, sie solle es nicht übertreiben. Mir war schon mit dem Studiengeld geholfen. Keine Chance. Das Konto wuchs monatlich um den Betrag, den sie mir überwies. Um den Rest meiner Würde zu behalten, gestaltete sich mein Protest derart, dass ich mir einen Job suchte und dieses Konto nicht ein einziges Mal anrührte.

Ob ich will oder nicht, muss ich gestehen, mir ein weiteres Mal untreu geworden zu sein, als ich eben jenes Geld dafür nutzte, mir den lang gehegten Wunsch einer Kinderarztpraxis zu erfüllen. Andererseits wäre mir nur eine Gemeinschaftspraxis geblieben oder das Saint Francis Memorial Hospital. Punkt eins wäre eine Option gewesen. Punkt zwei hätte einer Knechtschaft geglichen, zumindest für mich, da ich mir Zeit für meine kleinen Patienten nehmen wollte. Allerdings bescherte mir die Kombination schwul und Kinderarzt nicht selten den Vorwurf, pädophil zu sein. Was totaler Schwachsinn ist.

Also entschloss ich mich, einen wenn auch bescheidenen Beitrag zur LGBT-Community zu leisten und eröffnete eine Praxis im Castro-District.

Man könnte jetzt natürlich behaupten, sich hinter Regenbogenflaggen zu verstecken hörte sich nicht wirklich mutig an. Weit gefehlt. Leider ist auch die LGBT-Community nicht berühmt für die von ihr geforderte Toleranz. Es dauerte seine Zeit, bis sich die ersten Patienten zu mir verirrten und ich mir einen seriösen Ruf aufbaute. Mittlerweile darf ich mit Stolz verkünden, so etwas wie eine Institution in der schwulen Gemeinschaft zu sein.

Lange Rede, kurzer Sinn. Auch wenn ich in jungen, rebellischen Jahren, versuchte, mich gegen das Geld meiner Familie zu entscheiden, kam es mir dennoch zugute. Von meinem Vater hörte ich nie ein einziges Wort. Ich habe keine Ahnung, ob er über meinen Werdegang Bescheid weiß oder nicht. Was Mom anbelangt, sie forderte nur eine Gegenleistung. Na gut, im Grunde waren es zwei. Erstens sollte ich mein Bestes geben und mein Leben nach meinen Wünschen gestalten und zweitens verlangte sie mindestens einmal im Monat ein Treffen mit mir. Diese Vereinbarung behielten wir all die Jahre bei. Sie kommt nach San Francisco und wir verbringen einen Tag miteinander. Anfangs kam Meddy mit. Aber mit der Zeit wurden ihre Besuche weniger.

So sehr Mom Pine Valley und im Besonderen Eagle Rock liebt, so sehr liebt sie es, einfach mal rauszukommen und sie selbst sein zu können. Was wohl daran liegt, dass Napa und Sonoma County nicht unbedingt bekannt für … Wie sagt Mom immer so schön? Ja, genau. Napa Valleys ländliche Idylle ist Segen und Fluch zugleich. Letzteres bezieht sich nicht nur auf die dort auch heute noch verbreitete Schwulenfeindlichkeit.

Erst vor Kurzem berichtete sie mir wieder einmal von einem Projekt, das sie aktiv unterstützt und sich LGBTQ-Connection nennt. Es wurde bereits im Frühling 2011 ins Leben gerufen, um Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgendern und vielen anderen mehr Sicherheit, Sichtbarkeit und Wohlbefinden in der Region zu bieten. Im Gegenzug lockt eben diese Initiative queere Menschen nach Napa und Sonoma. Es ist nicht zu leugnen, dass die Countys dadurch auf Arbeitskräfte zurückgreifen könnten, die bisher immer rarer gesät sind, da es junge Leute wie mich in die Großstädte wie San Francisco oder Sacramento zieht.

Meiner Meinung nach eine wundervolle Kampagne. Allerdings bin ich mir nicht sicher, wie viel Erfolg sie haben wird, wenn es Arbeitgeber wie meinen Vater gibt, der sich eher ein Bein abhackt, als einen homosexuellen Mann einzustellen, der am Weinberg wie ein Ackergaul schaffen könnte. Ich will gar nicht wissen, wie er mit mir umgegangen wäre, hätte ich nicht das Weite gesucht. So weit ich weiß, hat mein Vater nie erfahren, dass ich schwul bin.

Ich fragte Mom jedenfalls nie danach. Wir trafen vor Jahren eine Übereinkunft: Das Thema Joel Sullivan ist tabu.

 

Mit einem Schlenker wechsle ich von der Straße auf den Fußweg vor meinem Haus und schwinge mein Bein rückwärts über den Sattel, um abzusteigen und mein Gefährt neben der Treppe abzustellen. Aus meinem Rucksack fische ich das Fahrradschloss und kette es am Geländer an. Normalerweise bringe ich es im Flur zur Wohnung unter, wo es einen Platz an der Wand hat. Aber da ich einkaufen muss, belasse ich es so lange hier, bis ich geduscht und umgezogen bin. Vielleicht lege ich noch einen Zwischenstopp bei Zunis ein, eines meiner Lieblingsrestaurants in der Nachbarschaft und bekannt für seine hervorragende italienische und französische Küche. Wenn ich mich nicht irre, müsste Carlo heute im Lokal sein. Er ist dort Restaurantleiter und einer meiner engsten Freunde. Wovon ich wahrlich nicht viele habe.

Wir lernten uns vor Ewigkeiten kennen, als ich in die WG zog, die er sich mit einem anderen Kerl teilte. Obendrein besaß ich die Frechheit, in einem Coffeeshop auf der Market Street einen Job zu bekommen, auf den er damals scharf war. Grinsend in Gedanken an unsere Anfänge versunken, ziehe ich die Haustür hinter mir zu und zucke zusammen, als mein Handy klingelt.

Ich hole es aus dem Rucksack und werfe einen Blick auf das Display. Mom? Stirnrunzelnd nehme ich den Anruf an. »Was ist los? Willst du etwa unser Date nächste Woche absagen?«, necke ich sie, obwohl mich eine weniger gute Vorahnung beschleicht. Meine Mutter ruft nie einfach nur so an. Zumal unser Treffen bereits seit einem Monat steht.

»Schatz, es tut mir leid. Aber …« Sie weint.

Alarmglocken schrillen in meinem Kopf. »Mom, um Gottes willen, was ist mit dir? Bist du krank?«

Ein geräuschvolles Schnäuzen. »Nein«, wispert sie, ehe sie erneut schnieft.

»Stimmt was nicht mit Meddy?« Meine Schwester ist seit einiger Zeit nicht nur für die Verwaltung von Golden Dreams zuständig, sie bringt sich zum Ärgernis unseres Vaters immer mehr in die anderen Bereiche wie Weinanbau, Lese und Kelterei ein. So wie ich von Meddy erfahren habe, war er zwar einverstanden, sie zur Nachfolgerin auszubilden, aber nur so lange, bis sie den richtigen Mann gefunden hat, der ihm in den Kram passt und sie wieder zu hausfraulichen Pflichten verbannt.

Ich höre abermals ein trauriges Seufzen, das mich daran erinnert, zu telefonieren. »Mom, sag was! Ist Meddy okay?«

»Ihr geht’s gut, denke ich. Es ist …« Ihre Stimme bricht weg und sie räuspert sich, ehe sie im festen Tonfall fortfährt: »Du musst herkommen.«

Ich muss mich verhört haben. »Ich … was?«

»Peter, ich habe dich nie um etwas gebeten, wenn es um Golden Dreams ging. Aber ich brauche dich hier.«

Ich hätte niemals gedacht, dass mich diese Worte irgendwann einmal so sehr in die Knie zwingen würden – wortwörtlich. Kraftlos sinke ich von innen an der Haustür hinunter und lande mit dem Hintern auf blankem Hartholzboden. Meine Hände zittern und ich bekomme keine Silbe heraus.

»Peter?«, flüstert Mom mir ins Ohr.

»Ich bin hier.« Ich schlucke hart, atme tief durch. Es gibt außer Meddy nur einen einzigen anderen Grund, der Mom veranlassen würde, mich zu bitten, nach Eagle Rock – dem Familiensitz – zurückzukehren. Also stelle ich die wohl wichtigste aller Fragen. »Wann ist es passiert?«

»Irgendwann heute Nacht. Ich bin wie jeden Morgen in sein Schlafzimmer gegangen, um ihn zu wecken.«

Wieder etwas, das ich bis eben nicht wusste. Sie schliefen getrennt? Und warum wundere ich mich darüber, es nicht zu wissen, wo wir doch nie über die Beziehung meiner Eltern geredet haben?

»Wie?«, frage ich vorsichtig nach.

»Er hat seit Jahren Herzprobleme und nahm regelmäßig Medikamente. Das hielt ihn jedoch nicht von Wein und Zigarren ab. Du weißt, wie stur er war. Er ließ sich nichts sagen.«

Ein Herzinfarkt? Auch wenn ich mit ihm nie klargekommen bin und wir zwei Jahrzehnte kein einziges Wort wechselten, hätte ich ihm niemals dieses Ende gewünscht. Ich hoffe, es ging schnell. Jetzt hier zu sitzen und mir der Endgültigkeit klar zu werden, dass ich jede Chance auf Versöhnung vergeudet habe, lässt mich nicht das erste Mal so vieles bereuen.

»Schatz, fang nicht wieder damit an«, holt mich Mom abermals aus meinen Grübeleien.

»Keine Ahnung, was du meinst. Hör zu …«

»Ich meine, dass es zwecklos ist, sich Vorwürfe zu machen. Selbst wenn du auf ihn zugegangen wärst, es hätte rein gar nichts an der Situation geändert. Das musst du dir endlich eingestehen.« Erneut ein Schnäuzen, diesmal gedämpfter.

»Gib mir ein wenig Zeit. Ich muss hier erst ein paar Sachen klären, dann komme ich. In Ordnung?«

»Oh, Gott sei Dank! Ich hatte schon befürchtet, du …«

»Mom, ich würde dich niemals im Stich lassen.«

»Ich liebe dich, Schatz. Fahr vorsichtig. Wenn du ankommst, habe ich was Vernünftiges zu essen für dich, versprochen.«

»Danke.« Trotz der Situation muss ich schmunzeln, will jedoch nicht die ewig gleiche Diskussion vom Zaun brechen, dass ich mit zweiundvierzig Jahren durchaus imstande bin, mich gesund zu ernähren. Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Halb sieben. »Spätestens gegen zehn sollte ich da sein. Brauchst du was? Kann ich dir was mitbringen?«

»Nein, ich brauche nur meinen Sohn an meiner Seite.«

»In Ordnung, Mom.« Ich will gerade auflegen, als mir meine Schwester einfällt. »Ist Meddy in der Nähe?«

Stille.

»Mom? Wo ist sie?«

Ein kaum hörbares »Ich weiß es nicht« folgt und mir stehen schlagartig die Nackenhaare zu Berge.

Scheiße! »Okay, keine Panik. Ich bin auf dem Weg.

 

«Kapitel 2

- Chase -

 

Ein Rettungswagen, dessen Rundumleuchten mit flackerndem Rotlicht der Dämmerung eine gespenstische Atmosphäre verleihen. Aufgeregte Angestellte, die mit fassungslosen Gesichtern wie aufgescheuchte Hühner umherirren. All das ist absolut ungewöhnlich. Letzteres spielt sich nicht nur vor dem Haupthaus ab, sondern auf dem gesamten Anwesen, so auch bei den abgelegenen Gebäuden wie Kelterei und Lagerhaus.

Eagle Rock steht kopf, als ich am frühen Morgen dort ankomme und wie jeden Tag meinen routinemäßigen Rundgang absolvieren will, während Dad sich um die Einteilung der Arbeiter kümmert. Immerhin befinden wir uns mitten in der Weinlese und es gibt mehr als genug zu tun. Um unser Tagespensum zu schaffen, müssen Ablenkungen jeglicher Art vermieden werden. Unser Boss, Mr. Sullivan, ist kein Freund von Ausflüchten. Eine Tatsache, die nicht selten für den einen oder anderen in einer fristlosen Kündigung gipfelte, sobald seinen Erwartungen nicht entsprochen wurde. Für meinen Vater und mich kein Problem. Und das sicher nicht, weil wir einen Sonderstatus genießen. So etwas gibt es hier nicht. Wer Leistung bringt, bekommt seinen Wochenlohn, der Anreiz genug sein muss. Denn auf verbales Lob zu hoffen wäre aussichtslos. Der alte Sullivan ist niemand, der Anerkennung zeigt. Unter den Angestellten ist allgemein bekannt: Ein schweigsamer Sulli ist gleichbedeutend einem Ritterschlag.

Dad arbeitet bereits seit Jahrzehnten für die Sullivans und ich fing auf dem Weingut nach meinem Schulabschluss an. Wir Romeros gehören sozusagen zum Inventar von Golden Dreams.

Um in Erfahrung zu bringen, was genau geschehen ist, begebe ich mich auf den Weg zum Haupthaus, als mir Mrs. Sullivan aufgelöst entgegeneilt. Ihr Anblick lässt mir spontan das Herz in die Hose rutschen. Mit ihren sechsundsechzig Jahren macht sie sonst einen sehr jugendlichen und adretten Eindruck. Ich habe sie noch nie anders gesehen, als stets wie aus dem Ei gepellt. Egal zu welcher Tageszeit, sie trägt normalerweise ein elegantes Kostüm. Make-up und Frisur sind immer perfekt. Kein Haar wagt es auch nur, aus der Reihe zu tanzen. So jedoch nicht heute früh. Es scheint, als hätte sie es gerade so geschafft, einen legeren Hausanzug überzustreifen. Ihr Haar wirkt, als wäre sie vor zwei Sekunden aus dem Bett gefallen. All das hätte mich vielleicht nur gewundert, stände nicht der Rettungswagen neben Doc Browns Auto vor der Tür und wären ihre Augen nicht rot unterlaufen und verquollen.

»Guten Morgen, Mrs. S«, begrüße ich sie, meinen Blick wachsam auf den Krankenwagen gerichtet. Diese vertraute Anrede benutze ich nur, wenn wir unter uns sind und ich wie jetzt das Gefühl habe, sie würde emotionale Unterstützung brauchen. In meinem Kopf war sie allerdings schon immer Mrs. S. Im Begriff sie zu fragen, was passiert ist, halte ich inne, als sie mir zuvorkommt.

»Chase, mein Junge, gut, dass du da bist.« Sie blickt sich um. Dann schüttelt sie traurig den Kopf und umfasst sanft meinen Oberarm. »Komm mit rein, wir müssen reden.« An die Rettungskräfte gerichtet, die in diesem Moment die hinteren Türen schließen, ruft sie schroff: »Stellt die verdammten Signalleuchten ab!«

Verwirrt über ihren Stimmungswandel blicke ich sie von der Seite an.

Sie zuckt nur entschuldigend die Schultern. »Ist doch wahr. Das macht die gesamte Belegschaft verrückt.«

Kaum dass wir an der Eingangstür sind, kommt Doc Brown aus dem Haus und stoppt auf unserer Höhe. Er nickt mir rasch zu und wendet sich an Mrs. S. »Maggie, ich möchte dir noch mal mein aufrichtiges Beileid aussprechen.« Er umfasst in einer tröstlichen Geste ihre rechte Hand. Ihre Linke liegt nun Halt suchend auf meinem Unterarm.

Beileid? Scheiße, wer ist gestorben? Ich schlucke einen Kloß der Beklemmung runter und rufe mich zur Ordnung. Das wird sie dir sicher gleich erzählen, sonst hätte sie dich nicht reingebeten. Aber warum mich und nicht Dad? Immerhin steht er in der Hierarchie viel weiter oben als ich.

Mrs. S schnieft kurz, bevor sie sich räuspert und mit brüchiger Stimme erwidert: »Danke, Lance.«

Doc Brown ist schätzungsweise Mitte, Ende sechzig und schiebt ein ordentliches Feinkostgewölbe vor sich her. Allerdings glaube ich, sein Leibesumfang ist eher dem Genuss von zu viel goldener Flüssigkeit aus unserem Weinkeller geschuldet als gutem Südstaatenfutter. Er ist so groß wie Mrs. S und somit eine Handbreit kleiner als ich. Sie blicken sich beide tief in die Augen, ehe dem Doc scheinbar klar wird, dass er sich unangemessen verhält, und zurücktritt. »Ich werde alles Nötige in die Wege leiten. Mach dir keine Sorgen, Liebes.«

»In Ordnung.«

Abermals nickt er mir zu, wendet sich ab und geht zu einer schwarzen, für Bestatter umgebauten Cadillac-Limousine, die mir erst jetzt auffällt, da sie hinter dem Rettungswagen und Docs Auto verborgen steht. An der Fahrertür bleibt er stehen und redet kurz mit einem grauhaarigen Mann. Daraufhin schlendert er zu seinem uralten Chevy und zwängt sich auf den Fahrersitz.

Die ganze Zeit schauen Mrs. S und ich ihm hinterher. Ein ungutes Gefühl beschleicht mich. Nicht ich sollte hier stehen, sondern Meddy oder Peter. Mrs. S sollte eins ihrer Kinder an ihrer Seite haben, denn ich bin mir absolut sicher, dass die Person, die jetzt im Leichenwagen fortgeschafft wird, ihr Mann, mein Boss Joel Sullivan ist.

Wo Peter sich aufhält, weiß ich. In San Francisco. Dort lebt er seit über zwanzig Jahren und ich habe ihn seit seinem Weggang nicht wiedergesehen. Aber wo zum Geier ist Meredith? Verdammt!

Mrs. S tätschelt meinen Arm. »Komm, wir müssen reden.«

Sie schließt die Tür hinter uns und dirigiert mich schweigend durch das imposante Entree und zwischen den beiden Treppen hindurch, die an der jeweiligen Wand rechts und links in das Obergeschoss führen. So gelangen wir zu einer unscheinbaren Schwingtür, die in das Herz des Hauses führt: die Küche.

Mrs. S kenne ich bereits mein ganzes Leben und sie war zwar bisher auch immer diejenige der Sullivans, die meine Familie und mich wie Menschen behandelte, aber so habe ich sie noch nie erlebt.

Wir kommen in die riesige Küche, in der Pamela, die Hauswirtschafterin, ebenfalls mit verquollenen Augen, damit beschäftigt ist, das Frühstück zu richten.

»Pamela, meine Liebe, kannst du uns Kaffee einschenken und dann für einen Moment allein lassen?«

Erstaunt blicken Pam und ich uns an, bevor sie Mrs. S einen Stuhl anbietet. »Natürlich. Es ist schon alles vorbereitet. Ich wusste nur nicht …« Pam schluchzt.

»Pamela, Herzchen, beruhige dich. Warum gehst du nicht rüber zu Diego und bringst ihm ein paar Sandwiches?« Diego ist Pams Sohn und arbeitet hier als Böttcher. Die Garcías sind ebenfalls in zweiter Generation bei Golden Dreams angestellt.

»Oh, natürlich. Sehr gern. Vielen Dank.«

»Setz dich, Chase.«

Ich komme ihrer Bitte nach und gleite ihr gegenüber auf der anderen Seite des Tisches auf einen Stuhl. Es dauert einen Moment, bis Pam uns je eine Tasse Kaffee serviert und mit einem Päckchen die Küche verlässt.

Mir fehlen die Worte und ich nippe an meinem Getränk, während ich Mrs. S über den Tassenrand hinweg beobachte. Sie schenkt mir ein schiefes Lächeln, das gequält wirkt. Unter diesen Umständen verständlich.

»Du warst schon immer ein schweigsamer Junge, Chase«, murmelt sie, bevor sie einen tiefen Schluck nimmt und sich zurücklehnt.

Ich stelle die Tasse vor mir ab und lege beide Hände darum, um nicht zappelig zu wirken und weil ich nicht weiß, wohin mit ihnen. Dann blicke ich zu Mrs. S auf. »Ist es Mr. Sullivan?« Auf ihren Kommentar gehe ich gar nicht ein. Man wirft mir nicht zum ersten Mal vor, wortkarg zu sein.

»Richtig. Er hatte einen Herzinfarkt. Als ich heute früh zu ihm ging, war er leider schon von uns gegangen.«

Ich strecke reflexartig meine Hand über den Tisch und lege sie auf ihre. »Das tut mir leid. Was kann ich tun?«

»Danke, Chase. Ich weiß, von dir kommt das von Herzen. Auch wenn Joel kein einfacher Mann war.«

Ich ziehe die Schultern hoch. »Wir haben alle unsere Eigenheiten. Er war hart, aber fair.« Manchmal jedenfalls.

Mrs. S schüttelt andeutungsweise den Kopf. »Joel hat niemandem etwas geschenkt.« Sie winkt ab und schnaubt. »Wenn meine Mutter hören würde, wie ich über meinen Mann rede, und das kurz nachdem er … Ich war wohl noch nie ein typisches Südstaatenmädchen, nicht wahr?« Sie schluckt, strafft die Schultern und drückt den Rücken durch. »Wie dem auch sei. Ich brauche deine Hilfe.«

Ich sinke gegen die Stuhllehne, meine Hände abermals um die Tasse gelegt. »Natürlich. Aber …«

Sie hebt die Hand. »Ich weiß, was du sagen willst. Es gibt allerdings einen Grund, warum ich deinen Vater nicht damit belasten möchte.«

»Okay«, entkommt mir skeptisch.

Mit einem Lächeln steht Mrs. S auf und holt die Kaffeekanne an den Tisch. »Darf ich nachschenken?«

Meine Tasse ist noch so gut wie voll. Sie braucht wohl einen Moment, um sich zu sammeln. Auch wenn es ein total seltsames Gefühl ist, von ihr bedient zu werden, nicke ich zustimmend.

Sie gießt nach und setzt sich mir wieder gegenüber. »Dein Vater ist gut in seinem Job. Nein, falsch. Er ist fantastisch in seinem Job und weiß, wie er die Leute auf Trab hält. Ich brauche aber jemanden, der sich mit allem anderen auskennt. Und nein, bitte sag jetzt nicht, du wärst nicht der Richtige. Meredith ist im Moment nicht greifbar und …«

»Meddy ist nicht da?«

»Nein. Ich habe sie gestern Abend zuletzt gesehen. Um ehrlich zu sein, habe ich keinen Schimmer, wo sie steckt. Telefonisch ist sie nicht erreichbar und von ihren Freunden kann mir niemand weiterhelfen. Sie haben sie selbst seit Wochen nicht zu Gesicht bekommen.« Mrs. S seufzt. »Ich hätte ihr gerade in letzter Zeit mehr Aufmerksamkeit widmen sollen. Ich hatte bereits seit einigen Tagen das Gefühl, es stimmt was nicht. Allerdings schob ich es auf Joel. Die zwei waren schon immer wie Hund und Katze.«

»Dann hat sie keine Ahnung?«

Mrs. S schüttelt bekümmert den Kopf. »Nein. Und ich werde ihr diese Information sicher nicht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Ich hoffe, sie meldet sich heute noch.«

»Ich halte die Ohren offen. Vielleicht weiß jemand von uns Bescheid. Und natürlich gebe ich mein Bestes, um Ihnen zu helfen. Sie haben im Moment andere Sorgen.« Trotzdem ich so bereitwillig zusage, bin ich mir nicht sicher, wie ich mich um Weinlese, Kelterbetrieb, Verkauf und den restlichen Verwaltungskram gleichzeitig kümmern soll. Meddy weihte mich zwar hin und wieder in den Papierkram ein, sobald ihr Vater nicht im Haus war, aber mein Wissen diesbezüglich reicht bei Weitem nicht aus, um Golden Dreams am Leben zu halten, egal für wie lang.

»Keine Sorge, Junge. Ich verlange nicht, dass du völlig ohne Rückendeckung ins kalte Wasser springst.«

»Dann reden sie mit Dad?« Er könnte mir zumindest für eine gewisse Zeit ein paar Aufgaben abnehmen, damit ich mich in die Verwaltung einarbeiten kann. Kunden und Lieferanten müssen kontaktiert werden. Und das ist nur der Anfang.

»Nein, ich bitte Peter, herzukommen.«

»Ihren Sohn?!« Idiot, wer denn sonst?

Sie lächelt. »Ja, wenn ich ihn frage, wird er es sicher einrichten können. Erinnerst du dich überhaupt noch an ihn?«

Ob ich …? Scheiße, klar. Er war früher mein großes Vorbild. Als er mit achtzehn von zu Hause wegging, war ich zwar erst sieben, aber Himmel, ich habe ihn damals bewundert. Er war nett, immer für mich da … Tja, er war einfach mein Held. Und in all den Jahren habe ich ihn nicht vergessen können. Ich schlucke meine innere Aufregung herunter. »Ein wenig. Er muss jetzt wie alt sein?« Ich weiß es ganz genau und dennoch frage ich so dumm.

»Zweiundvierzig. Er lebt in San Francisco und arbeitet dort als Kinderarzt.«

Alles keine Neuigkeiten für mich. Auch wenn sie denkt, ich hätte ihr womöglich nie zugehört, wenn sie von ihrem Sohn erzählte, hielt sie mich so all die Jahre über ihn auf dem Laufenden. »Wird er sich dann überhaupt die Zeit nehmen können? Ich meine, sicher wird er kommen, aber Golden Dreams braucht Meddy, jemanden, der weiß, wie der Hase läuft.«

»Meddy ist wie gesagt nicht da und wie ich Peter kenne, wird er das für mich tun. Ich weiß nicht, für wie lange, dennoch bitte ich dich, mit ihm zusammenzuarbeiten. Zeig ihm alles. Ich denke, ihr werdet euch gut ergänzen. Du weißt schon. Er als Vertreter der Familie kann dir Rückendeckung geben, sollte es notwendig sein. Du kennst unsere Geschäftspartner. Einige sind in ihren Ansichten nicht auf dem neusten Stand. Und ich will nicht, dass dir der Respekt verwehrt bleibt, der dir zusteht und nötig ist, um den Betrieb am Laufen zu halten.«

»Und Sie meinen, ihn werden sie akzeptieren?« Ich verkehre nicht in deren Kreisen, daher weiß ich nicht, wie sie über den verlorenen Sohn der Sullivans denken. Sie wissen natürlich, dass es ihn gibt, andererseits wird Sullivan senior seine Existenz totgeschwiegen haben. Somit ist klar, dass Peter nicht die passende Wahl wäre, Golden Dreams zu repräsentieren. Zumal er von einem Weingut absolut keine Ahnung hat. Es hat ihn nie wirklich interessiert. Das war mir als Siebenjähriger bereits klar. Und als er mitten in der Nacht ging, war das mehr als Beweis genug, dass er mit dem Ganzen nichts zu tun haben wollte. Wenn ich daran zurückdenke, schwelt erneut die kindliche Kränkung von damals in mir. Was totaler Irrsinn ist.

»Ihnen wird nichts anderes übrig bleiben, wenn ich es offiziell mache. Ich habe mich zwar all die Jahre aus dem Geschäft rausgehalten, dennoch findet mein Wort Gehör.«

»Natürlich«, rudere ich sofort zurück. »Ich wollte Ihnen nicht unterstellen …«

»So habe ich es auch nicht aufgefasst. Du sorgst dich um Golden Dreams. Deine Bedenken sind absolut berechtigt. Also, Chase, kann ich auf dich zählen?«

»In Ordnung. Ich rede mit Dad, dass er mir den Rücken frei hält.« Ich bin zwiegespalten und doch verstehe ich sie. Es muss ein Mann her, der zur Familie gehört, selbst wenn er null Ahnung vom Geschäft hat. Immerhin bin ich nur ein kleiner Angestellter, der obendrein auch noch mexikanischer Abstammung ist. Das weckt bei vielen den Wunsch, uns sofort abschieben zu wollen. Und da spielt es keine Rolle, dass mein Dad seit Ewigkeiten die amerikanische Staatsbürgerschaft besitzt und mit einer Amerikanerin verheiratet ist. Dass Mrs. S bei allen vorhersehbaren Widrigkeiten ausgerechnet mich und nicht Dad zurate zieht, empfinde ich trotz meiner Zweifel als unglaubliche Anerkennung, die ich so von ihrem Mann nie im Leben erfahren hätte.

Mrs. S tätschelt meine Hand. »Danke, Chase. Das weiß ich wirklich zu schätzen. Und ich werde jetzt einen Rundgang machen und all unseren Leuten die traurige Nachricht überbringen.«

Ich halte inne, da mir Dinge durch den Kopf schießen, die ich gern ansprechen würde, wofür es jedoch nicht der passende Zeitpunkt ist.

Als hätte sie meine Gedanken gelesen, blickt mich Mrs. S mit einem gutmütigen Lächeln an und erklärt mit fester Stimme: »Dieses Weingut wird so lange existieren, bis es keinen Sullivan mehr gibt. Und das, mein lieber Chase, wird nicht so schnell geschehen.«

Ich atme tief durch. »Ich wollte nicht …«

»Du wirst nicht der Letzte sein, dem ich diese durchaus berechtigte Frage genau so beantworte. Niemand wird Golden Dreams verlassen müssen.«

Ihre Zuversicht in allen Ehren, dennoch glaube ich das erst, wenn ich es schwarz auf weiß sehe. Mrs. S mag eine starke und energische Frau sein und ja, sie wird von der Gesellschaft mehr als nur respektiert. Wie sie schon sagte, ihr Wort hat Gewicht. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob sie auch nur ahnt, was hinter verschlossenen Türen besprochen wurde – oder besser gesagt, hinter den ältesten Weinfässern im dunkelsten Gewölbegang. Und hierbei ist keineswegs die Rede von Mr. Sullivan oder dem allgemeinen Tratsch, der wie überall zum guten Ton gehört.

Als mir dieser Aspekt durch den Kopf geht, erfasst mich plötzlich eine leise Vorahnung, was der Grund für Meddys Abwesenheit sein könnte.

 

Kapitel 3

- Peter -

 

Es ist beinahe Mitternacht, als ich mit meinem Wagen den sich durch angrenzende Weinfelder schlängelnden Weg zum Eagle Rock hinauffahre, dem unser Familiensitz seinen Namen zu verdanken hat.

Lang ist es her. Trotz der Dunkelheit wirkt es so vertraut wie vor vierundzwanzig Jahren. Ist schon irgendwie bezeichnend. Damals schlich ich mich mitten in der Nacht davon und heute komme ich ebenfalls mitten in der Nacht zurück. Ob das was zu bedeuten hat? Red dir nichts ein. Mom braucht dich. Und wenn alles vorbei ist, kannst du wieder zurück in dein Leben, zurück nach San Francisco. Warum glaube ich mir selbst nicht? Immerhin ist niemand mehr da, der versucht mir vorzuschreiben, was ich zu tun habe.

Kaum dass ich den Motor abstelle, sehe ich aus dem Augenwinkel einen Lichtstrahl durch die Eingangstür auf die eindrucksvolle Treppe fallen. Die Silhouette, die sich davor abzeichnet, erkenne ich sofort. Ich springe aus dem Auto und eile mit weit geöffneten Armen auf Mom zu, die sich augenblicklich auf mich stürzt und schluchzend zusammenbricht. Verdammt, es muss sie alles gekostet haben, bis jetzt durchzuhalten.

So stehen wir eine gefühlte Ewigkeit vor dem Haus, geben keinen Ton von uns, sondern halten uns aneinander fest. Es fühlt sich gut an, hier zu sein; zu wissen, all die Jahre willkommen gewesen zu sein, wenn auch nur von Mom und Meddy.

Ich spüre, wie meine Mutter ihre Kraft zurückgewinnt, bevor sie sich von mir löst, mit dem Handrücken über ihre feuchten Augen wischt und mich anlächelt. »Willkommen zu Hause, Schatz.« Ihr Blick ist so hoffnungsvoll. Ich muss mich zusammenreißen, nicht sofort zu erklären, dass ich nicht vorhabe zu bleiben.

Zu ihr runtergebeugt drücke ich ihr einen Kuss auf die Wange. »Hi, Mom. Warte einen Moment. Ich hole noch eben die Tasche.«

»Mach langsam. Ich renne dir nicht weg.«

 

*

 

»Hast du Meddy zwischenzeitig erreicht?«, erkundige ich mich bei meiner Mutter, als wir jeder mit einer heißen Schokolade im Wohnzimmer vor dem flackernden Kamin sitzen. Ich zerfließe beinahe vor Hitze. In dieser Region liegen die Tagestemperaturen im Schnitt zwischen achtzehn und fünfundzwanzig Grad, je nach Jahreszeit natürlich. Klar, durch die Nähe zum Pazifik kühlen die Nächte zum Teil bis auf empfindliche zehn Grad ab, ebenfalls je nach Jahreszeit, versteht sich. Dennoch habe ich nie verstanden, wozu ein Kamin gut sein soll. Jetzt begreife ich es. Es ist nicht die physische Wärme, die er verbreitet. Es ist die emotionale Geborgenheit, die einen umfängt, sobald man davorsitzt. Und Mom hatte sie dringend nötig. Ihr war innerlich sicher eiskalt.

»Nein. Ich habe ihr dreimal eine Nachricht hinterlassen. Die letzte vor einer Stunde. Aber kein Sterbenswörtchen.«

»Geht mir auch so«, gebe ich besorgt zu. Ich hatte auf der Herfahrt versucht, sie anzurufen. Allerdings sprang ständig der verflixte AB an.

»Weißt du«, beginnt Mom leise, »es ist nicht das erste Mal, dass sie für ein paar Tage spurlos verschwindet. Bisher machte ich mir nie Gedanken darüber. Ich dachte, sie braucht es einfach, um zu sich zu finden. So wie ich es genieße, nach San Francisco zu kommen und dort nicht Mrs. Maggie Sullivan sein zu müssen. Verstehst du, was ich meine?«

»Sicher.« Ich wusste es immer.

»Nur hat sie dieses Mal den Zeitpunkt denkbar ungünstig gewählt. Ich habe mir den ganzen Tag den Kopf darüber zerbrochen, ob sie eventuell etwas mit Joels Tod …«

»Mom!« Es behagt mir nicht, aber ich kann ihren Gedankengang nachvollziehen. Eben jener schoss mir durch den Kopf, als ich Meddy nicht erreichte.

»Um Himmels willen«, lenkt meine Mutter offensichtlich erschüttert über ihre eigenen Worte ein. »Ich gebe wirklich niemandem die Schuld am Tod deines Vaters. Ich weiß auch nicht, warum ich auf solche Ideen komme.« Sie winkt ab. »Entschuldige bitte.«

»Da gibt es nichts zu entschuldigen.« Ich greife über die Sessellehne hinweg und lege meine Hand auf ihre, um sie tröstend zu drücken. »Was hast du den ganzen Tag gemacht? Ich hoffe, du warst nicht allein.« Diese Vorstellung brachte mich bereits um den Verstand, als ich in meinem Flur am Boden saß und unser Telefonat beendete. Es war immerhin schon sieben Uhr abends, als sie mich anrief. Mein Vater verstarb bereits in der Nacht zuvor. Und ich konnte nicht eher losfahren, bevor ich nicht alles geregelt und Ersatz für mich organisiert hatte. Eine Ewigkeit, wenn man auf sich gestellt ist und mit allem allein fertigwerden muss.

»Ich hatte einiges zu tun, nachdem ich mit Chase gesprochen habe.«

»Chase? Der kleine Chase Romero?«

Mom lächelt mich an. »Ja, der kleine Pimpf ist kein Pimpf mehr, Peter. Er hat vor Jahren die Schule mit Bravour abgeschlossen und ist dann sozusagen in unsere Dienste getreten.«

Meine Güte, der Bengel war damals sieben oder so, als ich fortging. Sobald ich irgendwo auftauchte, hing er mir am Hosenbein und wollte überall mit hingenommen werden. Ich hatte als Jugendlicher sicher andere Interessen, als mich mit einem Kleinkind abzugeben. Gott, das ist so lange her.

»Er war immer ein neugieriges Kerlchen. Ich dachte, es wird mehr aus ihm.«

Holla, der Blick, den ich nun von Mom ernte, lässt mich zusammenzucken.

»Was?«

»Peter Joel William Sullivan, ausgerechnet von dir hätte ich das nicht erwartet.«

Oha, sie benutzt meinen vollen Namen. Ich stecke in der Klemme. »Sorry, was auch immer ich gesagt habe, ich hab’s nicht so gemeint, wie du es aufgefasst hast.«

Sie stellt die Tasse auf den Beistelltisch und wendet sich mir wieder zu. »Du hörtest dich eben an wie dein Vater.«

»Heilige …! Das liegt mir wirklich fern. Das weißt du genau. Aber vielleicht klärst du mich auf, was ich Verkehrtes gesagt haben soll.«

»Chase hat sehr wohl etwas aus sich gemacht.«

»Oh Himmel, Mom, das hast du jetzt in den falschen Hals bekommen. Ich dachte nur, er würde weggehen.«

Mom nickt verständnisvoll. »Das wollte er. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er Önologie studiert. Nur war das für die Romeros finanziell nicht drin.«

»Hat er dir das erzählt?« Also wenn ja, dann stehen sich Mom und Chase wohl sehr nahe. Nun ja, das sollte mich eigentlich nicht wundern. Sie hatte schon immer den besseren Draht zu ihren Leuten. Anders als mein Vater. Für ihn waren seine Angestellten nur kleine Rädchen einer großen Maschinerie. Er hat nie begriffen, dass selbst das winzigste Bauteil, sobald es defekt ist, eben jene zum Erliegen bringen kann.

»Nein, Julia, seine Mutter, hat mir das vor ein paar Monaten insgeheim anvertraut. Chase wollte nie, dass jemand davon erfährt. Und ich möchte dich bitten, ihm gegenüber diesbezüglich nichts zu erwähnen. Ich will nicht, dass er sich unwohl fühlt. Er ist ein guter Kerl, der auch ohne Studium sehr viel von Wein und allem, was dazugehört, versteht. Ich bin mir sicher, dass ihm das nicht nur Enzo beibrachte. Ich glaube, er hat sich anderweitig fortgebildet. Wie du sagst, er ist ein wissbegieriger Junge, nein, mittlerweile Mann. Er ist verlässlich und absolut vertrauenswürdig.«

Ich schüttle verwundert den Kopf. »Mom, du klingst, als würdest du ihn mir schmackhaft machen wollen.«

»Na ja, in gewisser Weise will ich das. Aber nicht so, wie du jetzt womöglich glaubst.«

»Ach nein?«

Sie lehnt sich zurück und streckt ihre Beine aus. Ihre Füße stecken in dicken Stricksocken und die Zehen wackeln in Richtung Feuer, als würde sie sich aufwärmen wollen. Allein der Anblick bringt mich zum Schwitzen. Und ja, sie wirkte mitgenommen, als ich ankam. Allerdings habe ich inzwischen das untrügliche Gefühl, als würde sie recht schnell zu ihrer Tagesform zurückkehren und sich trotz der traurigen Umstände auf seltsame Weise befreit fühlen.

Es dauert einen Moment, bis Mom leise fragt: »Wie lange kannst du bleiben?«

»Ich habe Lizzy angerufen und ihr erzählt, was passiert ist. Sie fährt morgen früh in die Praxis und sagt sämtliche Termine ab oder verschiebt sie. Die dringlichen Fälle verweist sie an einen Kollegen von mir, den ich vorhin darum gebeten habe, die nächsten zwei Wochen einzuspringen.«

»Geht das denn so einfach?«

»Mach dir mal keine Sorgen. Das funktioniert fantastisch. Letztes Jahr bin ich für ihn eingesprungen.«

»Zwei Wochen? Wirklich?«

»Sicher, Mom. Also was ist nun mit Chase?«

»Ich habe ihn gebeten, mit dir zusammenzuarbeiten, solange Meddy nicht auftaucht.«

»Ich soll was …?! Mom, ich habe keinen Schimmer vom Geschäft.«

»Darum ja die Zusammenarbeit mit Chase. Ich traue ihm das zu, auch wenn er selbst es wahrscheinlich nicht tut. Nur möchte ich ihn nicht den Aasgeiern zum Fraß vorwerfen, verstehst du?«

»Ich soll nach außen hin die Geschäfte führen, während diese in Wirklichkeit Chase übernimmt?«

»Na ja, das klingt jetzt schon seltsam, wenn du das so sagst. Aber ja, so habe ich mir das gedacht.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob das eine so gute Idee ist. Jeder weiß, dass ich nicht zu Golden Dreams gehöre. Sie werden denken: Aha, nachdem sein Vater verstorben ist, wittert er das Erbe.«

»Das ist totaler Quatsch. Du bist ein Sullivan. Es geht niemanden etwas an, wie wir Golden Dreams führen. Sie werden vielleicht dumme Gesichter ziehen, aber sie werden es nicht wagen, auch nur einen Ton zu sagen, solange du mitspielst.«

»Ich werde mich nicht gut anstellen, Mom. Das weißt du.«

Sie lächelt mich durchtrieben an und tätschelt mir die Wange. »Sei einfach nur du selbst, schau hübsch aus und lass Chase den Rest erledigen. Du wirst sehen, das klappt.«

Ich stöhne verzagt, kann ihr den Wunsch jedoch nicht abschlagen. »Ich hoffe, du hast recht. Denn wenn nicht, werden sich die … Wie hast du sie so treffend genannt? Richtig, die Aasgeier, werden ihre Beute wittern und versuchen, sie sich unter den Nagel zu reißen, auf die eine oder andere Weise.«

»Genau das ist der Grund, warum ich dich hier brauche. Sie sollen sehen, dass alles in bester Ordnung ist.«

Ich grinse. »Und ich dachte, weil du mich liebst.«

»Das auch, aber nicht, wenn du so abfällig über Chase oder irgendeinen anderen unserer Leute sprichst.«

»Du weißt, dass ich das nicht so gemeint habe. Was steht morgen an?«

»Ich denke, Lance wird sich im Laufe des Vormittags melden und uns Bescheid geben, wann die Beisetzung deines Vaters ist.«

»Lance? Warum kümmert er sich darum? Ist das nicht die Aufgabe der Familie?«

»Ist es. Aber er hat mir seine Hilfe angeboten und ich war so frei und habe sie angenommen.« Sie wirft mir einen wachsamen Blick zu. »Hast du ein Problem damit?«

»Ganz sicher nicht. Ich bin nur verwirrt. Vor allem wundert mich, dass er immer noch euer Hausarzt ist.«

»Weshalb sollte er das nicht sein?« Sie kann so scheinheilig sein, wenn sie will.

»Du weißt, warum.«

»Das sind uralte Kamellen.«

»Wenn du es sagst.«

Mom räuspert sich und steht schwungvoll auf. »Lass uns ins Bett gehen. Ist spät. Wir müssen früh raus. Chase wird nach seinem Rundgang hier sein.«

»Rundgang?«

»Ja, er macht jeden Morgen einen, um nach dem Rechten zu sehen.«

»Sollte ich nicht dabei sein? Immerhin könnte er mir so schon einiges erklären.« Es widerstrebt mir, mich mit allem, was mit Wein zu tun hat, auseinanderzusetzen, außer wie ich eine Flasche aufbekomme. Aber ich werde wohl oder übel ein paar Dinge in Erfahrung bringen müssen, um nicht vollends wie der letzte Idiot dazustehen, sollte es zu geschäftlichen Gesprächen kommen, was ich wirklich nicht hoffe. Ich bete zu Gott, dass Meddy alsbald wiederauftaucht und die Sache übernimmt.

»Ich glaube, es ist besser, wenn ihr euch erst ein wenig kennenlernt und in Ruhe zusammensetzt, um alles zu besprechen. Ich will ihm nicht in seinen Arbeitsablauf reinreden.«

»Ah, na dann.«

»Aber du kannst ihn ja fragen.«

»Das werde ich.« Ich erhebe mich ebenfalls. Gemeinsam verlassen wir das Wohnzimmer und begeben uns in die erste Etage, wo sich die Schlafzimmer befinden.

»Ich hoffe, es geht für dich in Ordnung, für die Zeit dein altes Zimmer zu beziehen?«, erkundigt sich Mom, als wir direkt davorstehen.

Ich umarme sie kurz und küsse sie auf ihr wirres Haar. »Sicher, Mom. Und es sind ja zum Glück die alten Poster weg.«

»Tja, wenn es nach mir gegangen wäre, hätte sich nichts daran geändert. Nur dein Vater … Na, du weißt schon.«

»Ja.«

»Gute Nacht, Schatz. Und vergiss nicht, den Wecker zu stellen. Um halb sieben gibt es Frühstück.«

»Mom«, jammere ich, »ich bin erwachsen. Und glaub mir, mein Arbeitstag fängt in der Regel nicht erst mit der Öffnungszeit meiner Praxis an.«

»Ich sag’s ja nur.«

»Gute Nacht.« Ich öffne die Zimmertür und schlüpfe hinein.

 

Nachdem ich im Bad war, liege ich im Bett und lausche in die nächtliche Stille. Es hat mich bereits als Kind irritiert, wie ruhig es in so einem großen Haus sein kann, obwohl es damals voller Bewohner war.

Mir geht die Unterhaltung mit meiner Mutter durch den Kopf. Auch wenn es nur für begrenzte Zeit ist, soll ich also die Rolle spielen, vor der ich weggelaufen bin? Tja, das Schicksal lacht sich jetzt sicher ins Fäustchen.

Ich muss zugeben, ich bin gespannt auf Chase. Wie er heute wohl ist? Ich kann ihn mir gar nicht als Erwachsenen vorstellen. Sobald ich die Augen schließe, sehe ich den kleinen, dürren Jungen vor mir, dessen lockige, beinahe schwarze Haarpracht kaum zu bändigen war. Er hat mich immer mit diesen dunkelbraunen, seelenvollen Augen angesehen. Und in seinem von der Sonne geküssten Gesicht hing permanent dieses von Herzen kommende Lächeln. Trotzdem er der Sohn vom Kellermeister war, schien er hier glücklich zu sein – anders als ich.

Und dann ist da noch Doktor Lance Brown. Mein Vater hatte ihm vor so vielen Jahren vorgeworfen, er würde meiner Mutter schöne Augen machen. Das stritt Brown vehement ab. Später erfuhr ich, dass es nicht das erste Mal war, dass mein Vater ihn und meine Mutter einer Affäre bezichtigt hätte. Ich erinnere mich noch gut an das Drama, welches sich damals abspielte. Doc Brown war kurz davor, das Handtuch zu schmeißen und fortzugehen. Ich weiß nicht, was geschehen ist, aber irgendwann sprach niemand mehr davon und alles blieb beim Alten.

Nun ja, mal sehen, was der morgige Tag so bringt.

Sollte ich mich nicht anders fühlen als neugierig, beinahe voller Vorfreude und Tatendrang? Sollte ich nicht ein schlechtes Gewissen haben oder zumindest trauern, wie in dem Moment, als Mom mir die Nachricht über Dads Tod überbrachte? Nur tue ich das nicht. Ja, ich hatte mir all die Jahre Vorwürfe gemacht, weil ich die Verbindung zu meinem Vater komplett abgebrochen hatte. Aber Mom hat recht, es hätte nichts an seiner Einstellung geändert, wäre ich zu Kreuze gekrochen.

Ein herzhaftes Gähnen erinnert mich daran, dass ich früh rausmuss. Ich kuschle mich in mein Kissen und spüre, wie die Müdigkeit mich übermannt.

 

Ende der Leseprobe

Impressum

Texte: Nele Betra
Bildmaterialien: depositphotos
Cover: Nele Betra
Lektorat: Brigitte Melchers / Bernd Frielingsdorf
Satz: Nele Betra
Tag der Veröffentlichung: 26.02.2019

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