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Kapitel 1-3

Prolog

 

- Liam -

 

Glaubt ihr an Magie? Nein? Ich bis vor einigen Tagen auch nicht. Na gut, ich wusste so vieles nicht – die Geschichte meines bisherigen Lebens.

Hätte mein Dasein zu diesem Zeitpunkt ein abruptes Ende gefunden, stünde auf meinem Grabstein Folgendes: Er hatte keine Ahnung!

Ob das wirklich darauf eingemeißelt wäre? Ja genau, ich hätte keine Ahnung. Denn selbst wenn sich mir, aus welchen Gründen auch immer, eine Möglichkeit geboten hätte, meiner letzten Ruhestätte einen Besuch abzustatten, ich würde es schlicht und ergreifend nicht sehen können, da ich blind bin. Nun gut, ertasten wäre noch eine Option. Aber ich schweife ab.

Zurück zu meiner Frage. Glaubt ihr an die Existenz von Magie? Und ich rede tatsächlich von Einhörnern, Feen, Hobbits und all diesen Fabelwesen.

Richtig. Wer würde das wohl freiwillig zugeben? Niemand!

Im Leben eines jeden Menschen geschehen unerklärliche Dinge. Einige tun sie als Zufall ab. Andere glauben an ein göttliches Wesen. Aber kein Einziger würde mir meine Geschichte abkaufen, vermutlich eher den Notdienst rufen und mich einweisen lassen. Eigentlich verständlich, wenn man bedenkt, dass wir nicht nur die Menschenwelt gerettet haben, sondern ebenso das Anderland, oder wie es von seinen Bewohnern genannt wird, Tír na nÓg.

Ich möchte ungern vorgreifen. Was haltet ihr also davon, wenn ich euch die Wahrheit erzähle, und zwar von Anfang an?

 

 

Kapitel 1

 

- Liam -

 

Es gibt Geschichten, die mit einem Es war einmal beginnen. Meine gehört dazu.

 

Es war einmal ein durchschnittlicher Typ Ende zwanzig, dem ständig gesagt wurde, er verfüge über eine ansehnliche Statur und würde sämtliche Frauen mit seinem Aussehen in Scharen um den Verstand bringen können, wenn er nur wollte.

Dieser Typ bin ich. Ich befinde mich in der glücklichen Lage, meinen Lebensunterhalt mit meinem Hobby zu bestreiten. Musik ist mein Leben. Sie bedeutet mir alles. Durch sie erfahre ich die Welt.

Nach heftigen Machtkämpfen mit meiner Stiefmutter wohne ich endlich in meiner eigenen Wohnung in einem Mehrfamilienhaus am Rande von Vancouver. Sie hatte ihre Beziehungen spielen lassen und schon war ich stolzer Mieter eines Drei-Zimmer-Apartments.

Es ist alles sehr neu und anders für mich. Bis zu meinem Umzug ließ man mich nie länger als ein paar Stunden allein. Dass meine Mutter mich plötzlich hat ziehen lassen, verwundert mich im Nachhinein immer noch.

Durch meine Arbeit, die ich in einem extra dafür eingerichteten, schallisolierten Zimmer nachgehe, habe ich nicht viele Gründe, vor die Tür zu gehen. Folglich halten sich meine Kontakte zu Fremden in Grenzen. Es ist mir egal. In meiner Wohnung mein eigener Herr zu sein, reicht mir vollkommen.

Ich erwähnte ja bereits, dass meine Mutter sehr fürsorglich ist. Manchmal überfürsorglich, was extrem anstrengend sein kann. So auch an diesem Tag. Sie sitzt in meiner Küche und trinkt mit mir Kaffee. Für sie ist jeder Grund ein guter Grund, mir auf die Nerven zu gehen. Wie immer, wenn sie sich in meiner Nähe aufhält, darf ich nicht eigenständig tätig werden. Ich bin schon dankbar, mein Gehirn benutzen zu dürfen.

Sie drückt mich entschieden auf die Bank. »Liam, setz dich! Deine Arbeit fordert dich wieder zu sehr. Du siehst erschöpft aus, blass und ausgemergelt.« Für jeden anderen wäre es ein Zeichen von Liebe, dass sich die eigene Mutter um einen sorgt. Bei meiner hat es irgendwie immer einen faden Beigeschmack.

»Du wiederholst dich. Du weißt genau, dass es mich glücklich macht, mit Musik zu arbeiten. Es vervollständigt mich.«

Ich höre sie auf mich zukommen und abrupt innehalten. »Ich weiß. Und wir haben bereits so oft darüber gesprochen. Warum kannst du dir dein Geld nicht mit einem anderen Job verdienen? Ich verstehe es nicht.«

Ich atme tief ein und wiederhole geduldig, was sie in diesem Fall immer von mir zur Antwort bekommt. »Ich liebe meine Arbeit. Warum begreifst du das nicht? Was ist so schlecht daran, zu komponieren? Es geht nicht allein um Geld. Ich kann dadurch andere Menschen erreichen. Auch wenn ich es nicht persönlich erlebe, aber wer meine Musik hört … na ja, der hört mich. Versuch es doch bitte zu akzeptieren, wenn du es schon nicht verstehst. Musik ist für mich wie die Luft zum Atmen.«

Das Sitzpolster gibt unter mir nach. Der Beweis, dass sie sich entscheidet aufzugeben und sich zu mir setzt. Mir steigt der aromatische Kaffeeduft in die Nase. Ich lege beide Hände auf den Tisch und schiebe sie langsam über die raue Tischdecke, bis ich eine warme, glatte, gerundete Oberfläche spüre. Da ist sie.

Meine Mutter sorgte bereits beim Einzug dafür, dass sich in meinem Haushalt nur doppelwandige Gefäße befinden. So kann ich sie berühren, ohne Gefahr zu laufen, mir die Finger zu verbrennen. Ihr Beschützerinstinkt ist schon immer extrem ausgeprägt gewesen.

Ich ergreife die Tasse und nehme sie mit einer fließenden Bewegung, aber vorsichtig in meine Hände. Ein Schluck und für mich ist die Welt für einen kleinen Augenblick auch ohne Musik im Einklang. Es gibt wenig, was mich so gefangen nimmt wie eine frisch gebrühte Tasse Kaffee. Das Aroma kriecht mir in die Nase, umschmeichelt meinen Geruchssinn und verbreitet eine wunderbare Behaglichkeit. Der Geschmack explodiert regelrecht auf der Zunge und ich kann mir ein wohliges Seufzen nicht verkneifen. Ein Reflex, denn für mich fühlt es sich an wie eine perfekte Sinfonie.

Meine Mutter bringt genau das jedes Mal zum Lachen. Wobei mir ihr Lachen oft herablassend vorkommt. Sie legt ihre schlanke Hand auf meine Schulter und drückt kräftig zu. »Womit habe ich dich eigentlich verdient? Du bist durch Kleinigkeiten wie Kaffee glücklich zu machen. Bewundernswert. Ich hoffe, du weißt, wie stolz ich auf dich bin?« In ihren Worten schwingt ein Lächeln mit. Und doch höre ich einen gewissen Sarkasmus darin und es beschleicht mich das Gefühl: Es sind nicht ihre wahren Empfindungen, wenn sie in meiner Nähe ist.

Sicher, sie ist immer eine gute Mutter gewesen, jedoch keinesfalls übermäßig liebevoll. Insgeheim zweifele ich schon lange daran, ob sie mich damals überhaupt aus freien Stücken adoptierte. Ein verrückter Gedanke. Schließlich kann niemand dazu gezwungen werden.

Um des lieben Friedens willen wechsele ich das Thema und wir unterhalten uns ungezwungen über das allgemeine Tagesgeschehen. Ich weiß, spätestens nach zwei Stunden findet sie einen Grund zu gehen. Sie besucht mich zwar häufig, bleibt allerdings nie sehr lang. Wie ein getriebener Geist kommt sie nie wirklich zur Ruhe und ist ständig auf dem Sprung. Nach wenigen Minuten wird sie rastlos und glaubt, ich würde es nicht bemerken. Aber hey, ich bin blind, nicht blöd! Ich beschwere mich nicht darüber. Denn ich bin froh, wenn sie wieder verschwindet. Sie gibt mir permanent das Gefühl, ein unfähiges Kleinkind zu sein. Sicher, ich habe mein Handicap. Andererseits habe ich mittlerweile gelernt, allein zurechtzukommen.

Natürlich räumt sie die Küche auf, bevor sie geht. Gott bewahre, ich würde auch nur einen Finger krümmen.

»Ach bitte, bleib doch sitzen! Du brauchst mich wirklich nicht bis zur Tür begleiten.«

Ich rutsche aus der Sitzecke und motze ungehalten: »Mutter, es reicht! Ich wohne hier seit drei Monaten. Glaub’s mir einfach, wenn ich dir sage, dass ich mich inzwischen auskenne und nicht mehr über den Teppich, Sessel oder Tisch falle. Es wird langsam wirklich peinlich. Also lass mich dich wie jeden anderen an der Wohnungstür verabschieden.«

Ein an meinem Gesicht vorbeiziehender Luftstrom verrät mir, sie tut es schon wieder. In gewissen Abständen wedelt sie aus heiterem Himmel vor meinen Augen herum. Testet, ob ich nicht doch eine winzige Kleinigkeit sehe. Das macht mich stinksauer. Vor allem, weil sie ernsthaft glaubt, ich würde es nicht bemerken. Kann bitte mal jemand meiner Mutter erklären, dass Blindheit die anderen Sinne schärft? »Wieso machst du das ständig?«

Ertappt räuspert sie sich. »Was meinst du?«

»Du weißt ganz genau, wovon ich rede. Deine Wedelei vor meinen Augen. Ich habe keinen Schimmer, warum du das permanent tust. Glaubst du wirklich, ich würde aus heiterem Himmel mein Augenlicht zurückbekommen? Ich möchte gern wissen, wer dir diesen Schwachsinn in den Kopf gesetzt hat.«

»Ach was, das bildest du dir nur ein. Ich wedle nicht mit meinen Händen vor deinem Gesicht«, wiegelt sie ab. »Bring mich zur Tür. Ich muss los. Hab noch einen Termin.«

Schon aus Prinzip gehe ich vor, um ihr zu beweisen, dass ich mich in meinen eigenen vier Wänden zurechtfinde. Vom derzeitigen Ausgangspunkt in der Küche kenne ich die Schrittfolge, die mich bis zur Haustür bringt, im Schlaf. Es ist mir bereits in Fleisch und Blut übergegangen, sodass ich nicht einmal bewusst darüber nachdenken muss. Ich öffne souverän die Tür und trete zur Seite. Innerlich atme ich erleichtert auf. Tatsächlich ist es so, dass sie mich extrem verunsichert. Es ist anstrengend, denn in ihrer Gegenwart verspüre ich ständig den Drang, mich beweisen zu müssen.

Ich strecke meine Hand aus und suche ihre Schulter, drücke sie kurz und gebe ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Wann kommst du wieder? Ach so, denk bitte daran, dass ich in nächster Zeit extrem beschäftigt sein werde. Es stehen zwei Abgabetermine an. Ich bin bis zur letzten Minute im Stress. Weißt du was? Ich melde mich einfach bei dir, sobald ich …«

»Ja, ja, mir ist klar, was du vorhast.« Sie tätschelt meinen Arm. »So leicht wirst du mich aber nicht los.« Sie gibt mir ebenfalls einen Kuss, wendet sich ab und durchquert den Flur Richtung Treppenhaus. Ich bin dabei, die Tür zu schließen, als ich sie plötzlich freudig erregt ausrufen höre: »Oh hallo, mein Lieber! Wie geht es dir? Hast du dich gut eingelebt?«

Mit wem redet sie? Und was mich noch mehr interessiert: Woher kennt sie meine Nachbarschaft?

Ein kleiner Spalt reicht mir aus, um jedes Wort mithören zu können.

Beruhigend, abgeklärt, distanziert und zugleich faszinierend. Das sind die Eigenschaften, die mir sofort in den Sinn kommen, als ich das Timbre des Mannes höre, den meine Mutter zu kennen scheint. Anhand seiner Stimme würde ich ihn auf Anfang dreißig schätzen. »Hallo Fiona, schön dich zu sehen. Warst du bei Liam? Wie geht’s ihm?«

Ein erschöpftes Seufzen. »Ach Connor, mein Schatz, du weißt, wie er ist. Irgendwann wird er sich überarbeiten. Aber er hört ja nicht auf mich.«

Wie bitte? Das ist ja abgefahren! Seit wann nennt meine Mutter auch nur irgendjemanden Schatz? So spricht sie nicht einmal mich oder ihren Mann an. Und dann dieses Gesäusel. Mir wird gleich schlecht. Der Kerl glaubt doch hoffentlich nicht, sie wäre an ihm interessiert?

Mir läuft es eiskalt über den Rücken, bevor sich die kleinen Härchen auf meinen Armen aufstellen. Das passiert mir nur, wenn mich eine dieser Visionen überkommt. Aber warum jetzt? Ich reiße mich zusammen, um den Rest des Gespräches mitzubekommen. Die zwei begeben sich auf dem Weg zum Aufzug und es fällt mir etwas schwerer, sie zu hören. Ich konzentriere mich auf die Umgebungsgeräusche und blende eines nach dem anderen aus. Diese Fähigkeit eignete ich mir vor einiger Zeit mit viel Meditation und Training an. Nun ergibt sich endlich einmal die Möglichkeit, sie zu testen.

Ihre Stimmen, das rhythmische Klackern ihrer Absätze auf dem Parkettboden, das Surren des nahenden Fahrstuhls, Musik und Gespräche aus den Nachbarwohnungen sammeln sich in meinem Kopf. Für jeden anderen eine Kakofonie, welche das Unterbewusstsein automatisch ausblendet. Für mich nicht. Ich habe gelernt, damit umzugehen. Erstaunlich, wie viel Lärm und Umgebungsgeräusche gefiltert und unterdrückt werden. Meistens fällt es erst auf, wenn eben diese Geräusche abrupt verschwinden und beängstigende Stille zurückbleibt. Dann wird einem klar, in was für einer lärmüberfluteten Welt wir leben. Ich eliminiere die überflüssigen Klänge und konzentriere mich auf die volltönende Stimme des Unbekannten, der tröstend auf meine Mutter einredet.

»Mach dir keine Sorgen. Ich habe dir versprochen, auf ihn achtzugeben. Lass ihn ein paar Tage in Ruhe! Ich weiß, du meinst es gut, aber …« Er verstummt und es tritt Grabesstille ein. In der Annahme, sie haben sich doch für die Treppe entschieden, erschrecke ich plötzlich, als er leise fortfährt. »… es wird ihm nichts passieren. Sie können ihn hier nicht finden. Dafür haben wir gesorgt.«

»Ich weiß, ich weiß. Es ist nur in letzter Zeit so viel passiert. Sollte das Schlimmste eintreten, müssen wir gewappnet sein. Er ist nicht fähig sich zur Wehr zu setzen. Oh, der Aufzug ist da. Connor, bitte gib mir Bescheid, solltest du etwas Ungewöhnliches bemerken … Na ja, ich denke, das muss ich wohl nicht extra betonen. Wir hören uns. Bis dann.« Die Fahrstuhltüren schließen sich und bleierne Stille senkt sich über der Flur.

Wieso sind schlagartig jegliche Geräusche verschwunden? Das ist merkwürdig, denn es geht nicht von mir aus. Eine Gänsehaut überzieht meinen Nacken und lässt mir die Haare zu Berge stehen.

 

Eine Vision!

 

Ich trete unvermittelt von der Tür zurück, will sie schließen. Unmöglich! Sie bewegt sich keinen Millimeter. Ich horche abermals in den Flur.

»Ich wünsche einen guten Tag«, ertönt direkt vor mir eine ruhige Stimme.

Ich pralle vor Schreck mit dem Rücken gegen die Flurwand und mein Herz setzt einen Schlag aus, um dann in rasendem Tempo weiterzuschlagen. Es springt mir um ein Haar aus der Brust.

Die Stimme … seine Stimme ist so nah, dass ich seinen Atem auf meiner Wange spüre, während meiner stoßweise meine Lunge verlässt. Mir tritt Angstschweiß auf die Stirn. Mein Kreislauf macht ebenfalls einen Satz, allerdings in den Keller, dem meine Knie folgen. Unfähig mich aufrecht zu halten, sinke ich an der Wand zu Boden.

»Oh verdammt! Das wollte ich nicht. Mist!«, flucht der Mann leise. Seine Stimme kommt mir abermals immer näher und meine Angst ist übermächtig. »Hey, beruhig dich bitte. Ich hatte leider noch nicht die Zeit, mich vorzustellen. Ich bin Connor. Wir wohnen Tür an Tür. Ich hatte deine offen stehen sehen und wollte nachschauen, ob alles in Ordnung ist. Herrje, das tut mir leid. Ich wollte dich wirklich nicht verängstigen.«

Ich spüre ihn vor mir knien. Mir fehlt die Kraft zu antworten. Was ist nur mit mir los? So extrem wie gerade reagiere ich doch sonst nie, wenn mich eine Vision überfällt.

Warme Hände umschließen sanft meine. Dieser Kontakt lässt augenblicklich einige meiner Sicherungen durchbrennen. Ich sauge gewaltsam dringend benötigten Sauerstoff ein, um einer nahenden Ohnmacht entgegenzuwirken.

 

Es funktioniert nicht.

 

Dunkelheit umfängt mich.

 

Einen Wimpernschlag später finde ich mich mitten in einem schwach beleuchteten Raum wieder. Nach der Inneneinrichtung zu urteilen, ein Schlafzimmer. Ich kann jeden Gegenstand und alle Personen, die sich dort befinden, detailgetreu beschreiben. Ich dürfte dies nie tun können, da ich blind bin. Ein Umstand, der mir bereits bei der ersten Vision merkwürdig vorkam und den ich dann aus Mangel an Erklärungen akzeptierte. Was hätte ich auch dagegen unternehmen sollen? Und warum hätte ich etwas dagegen unternehmen wollen?

Ich blinzele einige Male und schaue mich um. Im Bett liegt eine schweißüberströmte junge Frau, die sich die Seele aus dem Leib brüllt. Ein Mann im weißen Kittel und mit Mundschutz sowie eine Krankenschwester sprechen ihr Mut zu und geben Anweisungen, wann sie atmen oder pressen soll.

Oh mein Gott! Bitte lass mich nicht Zeuge einer Geburt werden.

»Wunderbar, Belana! Du machst das sehr gut! Nur nicht aufhören zu pressen. Du hast es gleich geschafft. Doktor Remer wird ihm sofort auf die Welt helfen und dann kannst du ihn in den Arm nehmen. Glaub mir, nach fünf Minuten hast du die Schmerzen vergessen.« Sie redet und redet, währenddessen der Doktor sich ans Werk macht.

Mir wird schlecht, meine Ohren schmerzen und ich verstehe nicht, was gerade mit mir geschieht. Mein nächster Gedanke: Nur weg von hier! Aber es geht nicht. Ich kann mich nicht bewegen und schaue weiterhin wie paralysiert auf das Geschehen vor mir. Es gibt kein Entrinnen. All das Blut dreht mir den Magen um. Es ist überall. Auf dem Hemd der Frau, der Kleidung der Schwester und des Arztes. Das Laken unter ihr, in das sie sich schreiend festkrallt, ist ebenfalls besudelt und so sehr getränkt, das Blut erscheint beinahe schwarz.

Ich muss mich beruhigen und logisch vorgehen. Ich weiß, ich saß vor einigen Sekunden in meiner Wohnung auf dem Flurboden, da mein Nachbar Connor mich zu Tode erschreckt hatte. Im nächsten Augenblick befand ich mich hier. Nur, wo ist hier? Durch ruhiges Ein- und Ausatmen bringe ich meine Gedanken unter Kontrolle. Mit geschlossenen Augen konzentrierte ich mich auf mein Innerstes. Es hilft nichts, in Panik zu geraten. Meine Situation hat einen tieferen Sinn. Mein Gefühl sagt mir, ich kann hier nicht eher verschwinden, bevor dieser sich mir nicht offenbart hat. Ich lockere meine Schultern und drehe meinen Kopf von einer Seite zur anderen, um meinen Nacken zu entspannen. Sammele mich abermals, hebe den Kopf und schaue direkt in ein vom Mundschutz verhülltes Gesicht.

»Was willst du hier?«, flüstert der Mann. »Reicht es nicht, dass es dich gibt? Musst du auch noch hier erscheinen und alles zunichtemachen? Verschwinde!«, zischt er mich an.

Verwirrt über sein Verhalten räuspere ich mich und hebe zu einer Erwiderung an, als er mich angrinst und leise, aber bösartig wispert: »Versuch es nur! Es wird dir nichts nützen. Du hast im Augenblick nur die Fähigkeit, zu hören und zu sehen. Wie, erstaunt? Ich sag dir was. Keine Ahnung, wer dafür gesorgt hat, dass du hier bist. Es wird nichts ändern. Es ist geschehen. Alles wird bleiben, wie von uns vorherbestimmt. Für dich gibt es kein Entkommen.« Lauthals lachend dreht er sich um, begibt sich zurück ans Bett und hilft liebevoll und kompetent der Frau, ihren Sohn auf die Welt zu bringen.

Ich versuche abermals, mich vom Fleck zu bewegen. Irgendetwas hält mich an Ort und Stelle gefangen. Ein heiseres Schreien durchdringt die Nacht und ich höre die Mutter nach ihrem Baby rufen. »Gebt ihn mir! Sofort! Was habt ihr vor? Das könnt ihr nicht machen!«

Von der Krankenschwester fixiert und geschwächt durch die Geburt, hat die Frau keine Chance, an ihr Kind zu gelangen. Die Hebamme spritzt ihr ein Mittel in die Armbeuge und sie wird augenblicklich ohnmächtig.

Was geschieht hier? Diese Frage beantwortet sich in den nächsten Sekunden von selbst.

Remer kommt mit dem Jungen im Arm auf mich zu. Einen Schritt vor mir hält er ihn mir entgegen. »Schau dich an! Das wird das erste und letzte Mal sein, dass du dich siehst!« Er vollführt eine Handbewegung über dem Gesicht des Kleinen.

 

Schlagartig befinde ich mich wieder keuchend auf dem Fußboden meines Flurs und eine eindringliche Männerstimme redet unablässig auf mich ein.

Alles wie zuvor. Ich bin blind!

»Liam, komm zu dir! Was ist denn? Meine Güte, du siehst aus, als hättest du den Teufel gesehen.«

»Nicht ganz abwegig. Ich weiß nicht, wer du bist und woher du mich kennst, aber im Augenblick ist mir deine Anwesenheit lieber als die des Monsters, das mich hat erblinden lassen«, entgegne ich zitternd. Ich bin hundertprozentig überzeugt, soeben Zeuge meiner eigenen Geburt geworden zu sein und zugleich miterlebt zu haben, wie man mir mein Augenlicht nahm.

 

 

Kapitel 2

 

- Liam -

 

Connor greift mir unter die Arme und hilft mir auf die Füße. »Was heißt: … dein Augenlicht nahm? Wie meinst du das?« Seine Frage erscheint mir merkwürdig. Nicht, weil er sie stellt, sondern wie er sie stellt. Ich habe das Gefühl, er würde etwas darüber wissen.

Meine Übelkeit ebbt ab und ich halte mich eigenständig auf den Beinen. Mit meinen Händen auf seiner Brust drücke ich ihn langsam, aber energisch von mir. »Danke für die Hilfe. Ich komme ab jetzt allein zurecht.« Ich will nicht so abweisend wirken, doch Connor macht mich nervös. Einen weiteren direkten Hautkontakt muss ich um alles in der Welt vermeiden. Ich habe keinerlei Erklärung dafür, bin allerdings überzeugt, er löste meine Vision aus. Wenn man es so nennen kann, da es sich zu real anfühlte.

Connor lässt mich nicht auf Abstand gehen. Weiter als bis auf Armeslänge erlaubt mir sein Griff nicht. Seine Hände wandern zu meinen Schultern hoch und halten mich viel zu nah bei ihm gefangen. »Das glaube ich. Dennoch würde ich gern einen Moment bleiben, um zu sehen, dass es dir wirklich wieder gut geht.«

»Du musst dich nicht verantwortlich fühlen. Mir passiert öfter, als du dir vorstellen kannst, dass mich Menschen unwissentlich zu Tode erschrecken. Niemand tut das mit Absicht. Also, lass es gut sein!« Ich will ihn nicht in meiner Wohnung. Sie ist meine Zuflucht, in der ich mich sicher und geborgen fühle. Würde ein Fremder hier eindringen, ich wüsste nicht, ob ich mich jemals wieder frei bewegen könnte, ohne das Gefühl zu haben, es stände im nächsten Moment jemand im Raum, der hier nicht hergehört.

»Gut, wenn das dein Wunsch ist. Mein Name ist Connor Arverner. Solltest du Hilfe benötigen oder einfach nur quatschen wollen, weil dir langweilig ist, dann klopfe an die Wand, an der dein Sofa steht. Sie grenzt direkt an mein Wohnzimmer. Ich kann sofort bei dir sein.«

Zu nah! Er dringt in meine Komfortzone ein. Ich spüre bereits die nächste Panikattacke heranrollen. Ich muss es verhindern. Mit mehr Vehemenz drücke ich ihn erneut von mir. Ihm entkommt ein Seufzen. Er lässt mich jedoch gewähren. »Ich habe es verstanden. Keine Nähe. Keinen irgendwie gearteten Kontakt«, flüstert er resigniert.

»Ich will dich nicht beleidigen, aber ich kenne dich nicht. Wieso sollte ich also den Kontakt zu dir suchen wollen?«

»Weil es einfach besser für dich wäre«, nuschelt er in der üblichen Überzeugung eines Sehenden, ich würde seine Worte nicht hören. Lauter fährt er fort: »Ich würde mich wohler fühlen, wenn ich wüsste, dass du dich bei mir meldest, sollte etwas nicht in Ordnung sein.«

Er hört sich wirklich besorgt an. Mein schlechtes Gewissen gewinnt die Oberhand. »Also gut, komm kurz rein. Ich glaube, es müsste noch Kaffee da sein. Wenn du magst, können wir uns in der Küche unterhalten. So lernen wir uns kennen. Und vielleicht, nur vielleicht, würde ich dann auf dich zurückkommen, sollte ich Hilfe benötigen.«

Ich drehe mich um und höre ihn freudig erwidern: »Na, das ist doch mal ein Vorschlag, mit dem ich leben kann.«

In der Küche gehe ich zum Kaffeeautomaten und taste nach der Glaskanne, ziehe sie heraus und prüfe das Gewicht. Sehr schön, es ist noch genug drin, um zwei Tassen zu befüllen. Ich stelle die Kanne zurück und hole zwei Kaffeetassen aus dem Hängeschrank über der Spüle. »Wie magst du deinen Kaffee? Oh, oder kann ich dir etwas anderes anbieten? Es soll ja Leute geben, die dem braunen Suchtstoff nichts abgewinnen können.«

»Nein, ist völlig in Ordnung. Ich mag ihn zwar nicht andauernd trinken, aber im Augenblick ist er genau das, was ich brauche. Es war ein echt heftiger Tag heute.«

»Darf ich fragen, was du machst?« Es überrascht mich, dass er nicht versucht, mir die Arbeit abzunehmen, sich einfach in die Sitzecke pflanzt und sich bedienen lässt. Ein seltsames Gefühl. Er strahlt so viel Vertrautheit aus, als würden wir uns schon ewig kennen und er würde genau wissen, dass ich zu mehr als nur zum Rumsitzen befähigt bin.

Merkwürdig, aber erfrischend.

»Ich arbeite seit ein paar Wochen als Haustechniker. Soll heißen: Hausmeister und Mädchen für alles.«

»Okay. Ist es nicht eine Voraussetzung, dort zu wohnen, wo man Hausmeister ist? Oder bist du bei einer Facility-Management-Firma angestellt?« Die Tassen jongliere ich vor mir her und konzentriere mich gleichzeitig auf den Weg zum Esstisch. Jetzt mit etwas zusammenzustoßen, wäre mehr als peinlich. Wie erwartet erreiche ich nach vier Schritten die Sitzecke und berühre mit der Vorderseite meiner Oberschenkel die Tischplatte. Tassen abstellen, Stuhl hervorziehen und Hinsetzen gelingen mir auf Anhieb. Erleichtert atme ich auf und greife nach meinem Pott. »Du bist so still. Habe ich was Falsches gesagt?«

»Nein. Ich wollte dich nur nicht irritieren. Du hast gerade so konzentriert ausgesehen.«

»Na ja, das ist schon richtig. Es ist alles recht neu für mich. Ich bin noch am Lernen«, nuschle ich verlegen in meinen Kaffee, den ich wie zuvor mit Hingabe genieße. Mir entkommt abermals ein kleiner Seufzer. Was ich allerdings erst bemerke, als ich Connor leise lachen höre.

»Ich habe bisher nie jemanden gesehen, der mit solch einer Leidenschaft genießt.« Er hört sich bewundernd an.

»Also? Wie ist das nun mit deinem Job?«, will ich wissen und ihn somit von mir ablenken.

-949177510 »Facility-Management? Um Gottes willen! Das sind Halsabschneider. Nein, ich bin mein eigener Herr.« Er räuspert sich und fährt fort: »Ach, was soll’s. Deine Mutter hat mir den Job besorgt. Ich war auch auf der Suche nach einer Wohnung und hier bot sich beides. Dach über dem Kopf und Job. Zwei Fliegen mit einer Klappe.«

»Ich frage mich, woher du meine Mutter kennst«, sinniere ich.

»Och, das ist schnell erklärt. Unsere Familien kennen sich seit Jahrzehnten und helfen sich einander, wenn es notwendig ist.«

»Merkwürdig. Wie war dein Name noch mal?«

»Connor Arverner, vom Clan der Arverner«, dröhnt es in stolzem Tonfall durch die Küche.

Ich pruste los und verteile dabei den Kaffee quer über den Tisch. »Meine Güte, du hörst dich an, als kämst du geradewegs aus den Highlands marschiert. Dein Vorname passt ja schon mal.« Ich kann es mir nicht verkneifen. Dafür ist die Steilvorlage, die er mir mit seiner Äußerung bietet, zu verlockend.

Schlagartig tritt Stille ein und mir entgleisen meine Gesichtszüge. So unhöflich bin ich doch sonst nicht. Ich hebe zu einer Entschuldigung an, als sein sonores Lachen ertönt.

»Ja, du hast vollkommen recht. Und ich würde was drum geben, wenn du dein Gesicht gerade hättest sehen können«, neckt er mich. Ich höre ihn aufstehen. Seine Hand legt sich von vorn auf meine Schulter und drückt sie tröstend. »Mach dir keine Gedanken. Alles gut.«

Er muss um den Tisch gegangen sein, denn ich spüre ihn direkt neben mir stehen.

»Darf ich?« Seine Stimme ist viel zu nah.

Da wir keinen Hautkontakt haben, überkommt mich diesmal keine Panik. Perplex nicke ich. Keine Ahnung, was er vorhat.

Ein weiches Tuch tupft mir das Kinn. »Dir klebt noch der Kaffee im Gesicht.« Seine Hand streicht leicht über meine Wange, um meinen Kopf zu sich zu drehen.

Da ist es wieder, das beängstigende Gefühl sich aufzulösen, in den Abgrund einer Vision gezogen zu werden. Ich zucke heftig zurück. »Nicht!«

»Oh, stimmt. Keinen Körperkontakt. Hab’s vergessen«, murmelt er enttäuscht.

»Connor, du begreifst nicht …«

Er behält seine Hand weiterhin auf meiner Schulter, weshalb ich genau spüre, wie er sich direkt neben mich setzt. »Doch, doch. Du kennst mich nicht. Da ist es völlig normal, dass du so reagierst.«

»Nein … ja, schon … aber das ist es nicht. Herrgott! Wenn ich dir das erzähle, erklärst du mich für verrückt.«

»Lass es auf einen Versuch ankommen!«, fordert er mich geduldig heraus.

Wie kann ich jemandem – in diesem Fall Connor – erklären, was mit mir passiert? Er wird mich einliefern lassen. In dieser pragmatischen Welt kann ich für meine Situation kein Verständnis erwarten. Und doch wächst bei Connor der drängende Wunsch, mich ihm anzuvertrauen, obwohl wir uns erst ein paar Minuten kennen. Reiner Irrsinn. Aber ein Risiko, das ich eingehen will. Meine natürliche Zurückhaltung zu überwinden fällt mir schwer, weshalb ich flüstere und gleichzeitig reflexartig den Kopf einziehe. »Du löst bei mir Visionen aus. Also ich glaube, dass es welche sind. So ganz sicher bin ich mir nicht. Es könnten auch sehr reale Halluzinationen sein.«

»Hm … du denkst, ich wirke wie ein Katalysator?«

Erstaunt über seine Abgeklärtheit, was dieses Thema angeht, wende ich mich ihm nun doch zu. »Ähm … ja, genau so würde ich es beschreiben. Sagen wir es mal so: Mein siebter Sinn funktionierte bisher besser als meine Sehkraft. Aber in deiner Gegenwart vergrößert sich diese Fähigkeit exponentiell. Sobald du mich berührst, befinde ich mich an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit. So war es zumindest vorhin im Flur. Ich lege keinen gesteigerten Wert darauf, diese Erfahrung noch einmal zu wiederholen. Nicht heute«, beende ich meine Ansprache.

Connor drückt meine Schulter und erhebt sich. »Das kann ich nachvollziehen. Dann werde ich mich jetzt verabschieden. Wie gesagt, wenn du etwas brauchst, du weißt, wo du mich findest.«

Er will gehen? Einfach so? Ich hätte da schon noch ein paar Fragen, die ich von ihm beantwortet haben möchte. Kann ich es wagen? Soll ich unsere kurze Bekanntschaft und dieses überraschend gute Gefühl, welches er mir gibt, aufs Spiel setzen? Nein, ich denke, da meine Mutter von ihm informiert werden will, wenn ich Probleme bekäme, würde er so schnell nicht aus meiner Nähe verschwinden. Es wäre sicher eine gute Idee, den Kontakt zu ihm erst zu vertiefen. Dann kann ich ihn immer noch mit meinen Fragen vergraulen.

Also nicke ich, wenn auch enttäuscht. »Ich weiß, du bist mein Flaschengeist aus der Nachbarwohnung. Nur dass ich nicht an einer Flasche reiben, sondern an die Wand hämmern muss.«

Lachend entfernt er sich und ich höre, wie er fröhlich »Verrückter Kerl« ruft.

Da sitze ich nun mit vor Verlegenheit glühenden Wangen, aber mit einem fetten Grinsen und wundere mich über mich selbst. Was ist nur in mich gefahren? Habe ich wirklich mit meinem Nachbarn geflirtet?

Meine Gedanken werden von meinen Befindlichkeiten unterbrochen. Ein lautes Knurren aus der Bauchgegend erinnert mich daran, dass ich Hunger habe. Ich vergesse regelmäßig, ein Mensch zu sein, der Nahrung benötigt.

 

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Impressum

Texte: Nele Betra
Bildmaterialien: Depositphotos
Cover: Nele Betra
Lektorat: Bernd Frielingsdorf
Satz: Nele Betra
Tag der Veröffentlichung: 05.01.2019

Alle Rechte vorbehalten

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