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Leseprobe

Prolog

 

- Trenton -

 

siebzehn Jahre zuvor - Trentons 13. Geburtstag

 

»Soll ich mit reinkommen?«, flüstert Jeff, als wir bei mir ankommen. Sein Blick ist wieder so ernst. So guckt er nur, wenn Mom in der Nähe ist.

»Nö, ich beeil mich. Warte einfach hier.«

Jeff nickt entschlossen und zieht den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Hals hoch, bevor er sich auf die oberste Stufe setzt und seinen coolen Rucksack vor sich abstellt. Heute ist wieder ein absolutes Sauwetter und eigentlich will ich ihn nicht hier im Regen sitzen lassen. Aber ich will auch nicht, dass er Mom in die Quere kommt. Ich blicke kurz nach oben. Okay, nass wird er nicht, da er unter dem Vordach sitzt.

»Jetzt guck nich’ wie ’ne Glucke. Ich werd schon keinen Schnupfen kriegen. Also geh und hol deine Klamotten, damit wir hier wegkommen.«

»In Ordnung.«

 

Ich weiß, dass es eine blöde Idee ist, nach Schulschluss zu Hause vorbeizugehen. Und ich würde es mir nicht antun, wenn Jeff mich nicht überraschenderweise übers Wochenende eingeladen hätte. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, den Nachmittag mit Granny zu verbringen und dort zu übernachten. Denn heute ist mein dreizehnter Geburtstag und den wollte ich mir nicht von Mom versauen lassen, indem sie mir immer und immer wieder vorbetet, wie schlecht es ihr geht, seit sie mich zur Welt gebracht hat. Schon am Morgen war sie mies gelaunt und ich konnte ihrem Gemecker nur entgehen, weil ich spät dran war und losmusste. Und warum habe ich verpennt? Weil sie schon wieder irgendwann in der Nacht meinen Wecker ausgestellt hat, ohne dass ich es bemerkt habe. Das macht sie immer, wenn sie Besuch hat. Und gestern war so ein Tag. Na ja, und wenn sie nicht allein ist, will sie am nächsten Morgen ausschlafen. Aber dann, wenn ich wie heute zu spät aufstehe, motzt sie, als wäre alles meine Schuld.

Der Kerl – ich habe keinen Schimmer, wer er war –, der im Wohnzimmer saß, machte mir Angst. Eigentlich machen mir alle Männer Angst, die meine Mutter anschleppt. Sie schauen mich so seltsam an. Natürlich habe ich das bisher niemandem erzählt, außer Jeff, versteht sich. Na gut, ich hab’s bei Mom mal anklingen lassen. Himmel, da durfte ich mir vielleicht was anhören.

Jedenfalls haben die beiden viel gelacht. Ich konnte es hören, trotzdem ich mich gleich in mein Zimmer verzogen hatte. Die Wohnung ist eben nicht so toll wie die von Jeff und seiner Mutter. Unsere hat bloß zwei Zimmer, weshalb Mom im Wohnzimmer schläft. Was echt blöd ist, wenn ich morgens in die Küche muss und sie mit einem fremden Mann auf der Couch schlafen sehe. Ich weiß nicht, was sie an diesen ekelhaften Typen findet.

Manchmal würde ich am liebsten abhauen. Aber das geht nicht. Ich muss doch für Mom da sein. Wer weiß, ob sie sonst was essen würde. Es gibt Tage, da bin ich mir ganz sicher, dass sie nur dieses stinkende Zeug aus diesen großen Flaschen trinkt, von denen in der Küche Dutzende rumstehen – die meisten leer. Auf dem Etikett steht Wodka-Irgendwas. Wie kann man das überhaupt mögen? Es schmeckt nicht mal. Woher ich das weiß? Ich hab mal einen Schluck getrunken. Ernsthaft, ich dachte, es brennt mir die Zunge weg. Ich hab’s sofort wieder ausgespuckt. Und dann kommt noch hinzu, dass Mom im betrunkenen Zustand einfach nur ätzend ist.

Also ja, abhauen hört sich verlockend an. Aber wo soll ich hin? Zu Grandma kann ich nicht. Sie ist schon zu alt, dennoch ist sie die Beste. Erst letzte Woche war ich bei ihr. Wir sind zusammen nach London reingefahren und haben uns einen schönen Tag gemacht. Bei ihr fühle ich mich so wohl. Sie mag mich, wie ich bin. Sie und Jeff sind auch die Einzigen, die wissen, dass ich auf Jungs stehe.

Es war ziemlich verrückt, wie sie es herausfand und vor allem, wie sie drauf reagiert hat.

Wir saßen abends vor dem Fernseher und haben uns X-Men angesehen. Ich fand’s klasse, dass sie ihn überhaupt mit mir geguckt hat. Es war total lustig. Sie schwärmte für Wolverine und ich posaunte entsetzt heraus, dass ich Cyclops tausendmal besser finde. Dann fragte Granny mich, ob ich seine Laseraugen mag und dass er ein Held ist. Ohne darüber nachzudenken, meinte ich: »Nee, ich mag sein Gesicht.« Als mir klar wurde, wie sich das anhörte, bekam ich es mit der Angst zu tun. Granny nickte nur und erklärte: »Stimmt, sein Mund ist aber auch hübsch. Vielleicht sieht ja dein Freund später auch so aus.«

Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Also glotzte ich auf den Fernseher und tat so, als hätte ich nichts gehört. Dann stand Granny auf, nahm mein Glas und ging in Richtung Küche, als sie plötzlich stehen blieb und leise sagte: »Trenton, mein Schatz, wenn man jemanden sehr gern hat, ist es völlig egal, ob er eine Frau oder ein Mann ist.«

Ich traute mich nicht, sie anzusehen, und nickte nur verlegen.

Bei Jeff war es auch seltsam, als ich es ihm erzählte. Im Sommer waren wir zelten und lagen in der Nacht in unseren Schlafsäcken, mit den Köpfen zum Eingang hinaus, um die Sterne beobachten zu können. Ich hatte Bammel, dass er mich auslacht und windelweich prügelt. Nicht Jeff. Jeder andere, ja. Er kicherte nur und meinte: »Na, ein Glück. Dann bin ich ja nicht allein damit.« Zuerst dachte ich, er will mich verarschen. Als er mir aber sagte, dass ich Blödsinn labere, mussten wir beide so heftig lachen, dass wir uns fast in die Hosen gemacht haben. Das war eine echt tolle Nacht. Und ich bin echt froh, dass er Jungs mag. Ich kann mit ihm über alles reden und ähm … ich glaube, ich könnte mir vorstellen, ihn als Freund zu haben. Also, als richtigen Freund, ihr wisst schon. So mit Knutschen und Anfassen und all dem Zeug. Aber ich trau mich nicht, zu fragen. Irgendwann vielleicht. Jetzt ist er ja für mich da. Immer. Auch Loraine, Jeffs Mom. Es fühlt sich noch komisch an, sie Loraine zu nennen. Vor ein paar Wochen, als ich bei Jeff übernachtet habe, hat sie gemeint: »Trent, mein Süßer, lass uns Bruderschaft trinken.« Sie hielt mir ein Glas Cola hin und ich starrte sie nur dusselig an. Dann hakte sie sich unter meinen Arm und trank aus ihrem Glas. »Du auch«, forderte sie mich auf. Ich kam mir blöd vor. Aber Jeff hat mir aufmunternd zugenickt. Also habe ich es getan. Danach nahm mich Loraine in die Arme und murmelte auf meinem Kopf: »Du bist hier immer willkommen. Nur damit du es weißt.«

Obwohl ich cool sein wollte, bekam ich kein Wort raus und mir brannten peinlicherweise die Augen, weswegen ich nur nickte und mich umdrehte. Das ist also der Grund, warum ich die Mom von meinem besten Freund mit Vornamen anspreche. Und ich glaube ihr, dass sie immer für mich da sein wird. Das ist ein tolles Gefühl.

Nicht dass ich meine Mom deswegen weniger lieb habe, so ist das nicht. Ich mag sie nur nicht, wenn jemand anderes bei uns ist und sie Wodka trinkt. Dann ist sie immer so gemein zu mir. Aber das macht sie wieder gut, wenn wir allein sind. Das passiert zwar nicht allzu oft, aber wenn, kuscheln wir abends auf der Couch und sehen uns irgendeinen Film im Fernsehen an. Manchmal stinkt sie dann auch nicht so. Mir ist immer egal, was wir gucken. Ich mag einfach nur bei ihr sitzen und finde es schön, wenn sie mich in den Arm nimmt. Natürlich ist das blöd. Immerhin bin ich schon ein Teenager. Da macht man das nicht mehr. Aber ich erzähle es ja niemandem.

Zu Jeff habe ich schon mal gesagt, dass ich glaube, zwei Menschen würden in ihr leben. Hört sich doof an, ich weiß.

 

»Du bist schon da?«, ruft Mom aus der Küche, während auf dem Sofa der Kerl von letzter Nacht sitzt. Schon wieder.

Ich muss mich überwinden, ihn freundlich zu grüßen und nicht stattdessen die Nase zu rümpfen. Was für ein Ekelpaket. Danach eile ich zu meiner Mutter und gebe ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Hi, Mom. Ich hole mir nur schnell ein paar Sachen.«

»Wo willst du denn hin, Junge?« Ihr Blick wirkt wieder leer. So leer wie die Flasche, die sie in der Hand hält.

»Hab ich dir doch gesagt«, lüge ich. »Ich übernachte bei Jeff.«

»Aha, okay«, murmelt sie, ehe sie den Kühlschrank öffnet und eine neue Flasche herausholt.

Es kneift mir in der Brust und mir wird plötzlich wieder so übel. Das passiert mir immer, wenn sie so tut, als wäre ihr alles egal. Ich sehe ihr zu, wie sie zurück zu dem Kerl geht und sich neben ihm auf die Couch fallen lässt. Der Fernseher läuft ohne Ton und beide starren darauf, als würde ein Blockbuster laufen.

Heute ist mein Geburtstag, sage ich mir immer und immer wieder, während ich durch das Wohnzimmer in mein Zimmer gehe, mir ein paar Klamotten in den Rucksack stopfe und ohne Tschüss zu sagen die Wohnung verlasse.

 

»Hi, alles in Ordnung?«, reißt mich Jeff plötzlich aus meinen Gedanken. Erst jetzt bemerke ich, dass ich wie ein Idiot gegen die Haustür lehne und alles um mich herum vergessen habe.

Ich packe meinen Rucksack fester, werfe ihn mir über die Schulter und nicke Jeff zu. »Sicher. Los, verschwinden wir hier.«

Wie aus dem Nichts umarmt mich Jeff, tätschelt mir den Rücken und schiebt mich wieder von sich. »Auf geht’s. Mom wartet sicher schon mit deinem Geburtstagskuchen.«

In diesem Moment wird mir klar, dass ich Jeff mein Leben lang lieben werde. Das sage ich ihm natürlich nicht. Er würde mich für bescheuert erklären.

 

Auf nach Valley

 

- Trenton -

 

August - Gegenwart

 

Ignoranz hilft leider nicht immer. Mein Handy hört dennoch nicht auf, wie wild zu brummen. Da es neben mir auf dem Kissen liegt, fühlt es sich obendrein an, als würde ein Presslufthammer durch meinen Kopf poltern. Nach der vergangenen Nacht wundert es mich nicht. Immerhin bin ich erst gegen sechs Uhr morgens von Inspector Harris entlassen worden. Der Nachhauseweg von Scotland Yard zog sich und es war bereits sieben durch, als ich endlich im Bett lag. Doch ich war zu aufgewühlt, um gleich schlafen zu können.

Also blinzle ich das nervig brummende Teil neben mir wütend an. Wie ich so an Harris denke, wird mir urplötzlich klar, dass es wichtig sein könnte, und gehe ran. »Was’n?« Mein Sprachzentrum scheint im Aufwachmodus festzuhängen.

»Sorry, hab ich dich geweckt?«

»Jeff?«, frage ich idiotischerweise.

»Ja, hast du einen anderen Anruf erwartet?«

»Ähm, ja, nein.« Mist! »Ich meine, nein.«

»Bist du in Ordnung? Sollen wir rumkommen?«

»Du bist bei Niles, nehme ich an?« Nach dem, was die zwei in den letzten Monaten für einen Affentanz aufgeführt haben, hoffe ich es um ihretwillen.

»Ja.«

»Gut. Das ist wirklich gut.« Super, dann brauche ich mich darum nicht auch noch zu kümmern. »Weißt du, er ist ein guter Kerl. Ich bin froh, dass ihr es endlich auf die Reihe gebracht habt. Und nein, ihr braucht nicht herkommen. Alles gut.« Zumindest fürs Erste. Jeff schwebt nicht mehr in Gefahr und ist da, wo er hingehört. Was mein restliches Leben angeht … Dem stehe ich im Moment ein wenig ratlos gegenüber und kann mich nur darauf verlassen, dass ein mir heute Nacht gegebenes Versprechen eingelöst wird.

»Tja, ja«, druckst Jeff rum, »da wäre etwas, um das ich dich bitten möchte.«

»Spuck’s aus.«

»Könntest du das mit mir und Niles eine Weile für dich behalten?«

»Klar. Aber warum?«

»Wir wollen es langsam angehen. Und wie du weißt, ist meine Familie ständig um mich herum. Sollte es mit uns nicht klappen, wollen wir nicht, dass es in der Kanzlei seltsam wird.«

»Dir ist klar, das ist Bullshit, oder? Niles passt zu dir wie Arsch auf Eimer. Stellt euch nicht so an! Aber gut, wenn ihr es so wollt, geht das klar.« Ist ja nicht so, als würde man nicht sehen, dass zwischen den beiden mehr läuft. Ob sie wollen oder nicht, ihre Beziehung geheim zu halten, wird ihnen auf Dauer nicht gelingen.

»Danke. Sag, hat dir Harris was wegen Cooper sagen können?«

»Ja«, erwidere ich kurz angebunden. Frag jetzt nicht weiter, bitte!, flehe ich innerlich.

»Und? Gut oder schlecht?«

War ja klar. »Ich weiß es noch nicht. Wie du dir vielleicht denken kannst, ist Harris keine Plaudertasche.«

»Ja, schon. Aber was hat er gesagt?«

»Jeff, sei nicht sauer. Ich kann wirklich nicht drüber reden.«

»Hm, hätte ich mir denken können. Okay, sag mir nur eins: Geht es dir gut?«

»Auch das weiß ich noch nicht so genau.« Die reine Wahrheit. Ich muss mich erst einmal aus dem Bett trollen, um eine Bestandsaufnahme durchführen zu können, aber dafür ist es eindeutig zu früh. Wie spät ist es eigentlich? Ich nehme den Hörer vom Ohr und schaue kurz aufs Display. Scheiße! Es ist Nachmittag. Ich habe das Gefühl, erst vor einer Stunde ins Bett gegangen zu sein.

»Wenn du die Antwort weißt, ruf mich an. Versprich es mir«, bettelt Jeff. Automatisch gehen mir Harris’ Worte von heute Nacht durch den Kopf. Ich hoffe für ihn, dass er sein Versprechen hält und auftaucht, um mich an den Arsch der Welt mitzunehmen. Wo der sein soll? Keine Ahnung. Am Arsch der Welt eben, so hatte es zumindest Harris ausgedrückt.

»Mach ich. Hör mal, ich hätte da auch eine Bitte an euch.«

»Raus damit!«

»Ich werde mich für einige Tage nicht um die Werkstatt kümmern können. Den Jungs gebe ich morgen Anweisungen. Sie haben für die nächsten zwei Wochen genug zu tun. Mir wäre es jedoch ganz lieb, wenn ihr zwei mal nach dem Rechten sehen könntet.«

»Na sag mal! Natürlich. Immerhin bin ich dein verdammter Geschäftspartner. Aber zwei Wochen? Nicht dass mir das zu lang ist. Nur, wohin fährst du?«

Ich seufze und hoffe, er begreift.

»Ah, okay. Hab schon verstanden. Keine Fragen.«

»Danke, Jeff. Das bedeutet mir sehr viel.«

»Hey, du gehörst zur Familie.«

»Ich weiß. Und jetzt kümmer dich um deinen Mann. Ich muss mir noch eine Mütze voll Schlaf gönnen, bevor Harris in ein paar Stunden vor meiner Tür steht. Oh, Scheiße, das hätte ich nicht sagen sollen.«

»Alles gut. Ich hab nichts gehört. Melde dich, sobald du kannst.«

»Mach ich. Bestell Niles einen Gruß und sag ihm von mir vielen Dank. Ohne ihn würde ich immer noch in meiner Wohnung dümpeln.«

»Wird sofort erledigt. Bis dann, Trent.«

»Bis bald.«

 

*

 

Es ist gegen neun Uhr abends, als es endlich klingelt und ich Detective Chief Inspector George Harris vom Scotland Yard die Tür öffne. »Sie sind spät dran«, murre ich.

»Haben Sie etwa noch dringende Termine?«, brummt er knochentrocken. »Ich hatte angedeutet, noch einiges erledigen zu müssen.« Wie die letzten Male ist Harris im Trenchcoat unterwegs. Columbo lässt grüßen. Es fehlen nur das Glasauge und der allgegenwärtige Zigarrenstummel.

»Wollen Sie kurz reinkommen?«

»Warum, haben wir ein Date, von dem ich nichts weiß?«

Charmant bis in die Haarspitzen, denke ich, während ich den Kopf schüttle. »Dann warten Sie eben vor der Tür.«

»Wo auch immer. Hauptsache, wir können irgendwann los.«

Zähneknirschend lasse ich ihn vor der Tür stehen und eile ins Schlafzimmer, um meine Reisetasche zu holen. Zurück im Flur werfe ich mir eine dünne Jacke über und stopfe mein Handy in die Hosentasche.

Nach einem letzten Blick in die Wohnung schalte ich das Licht aus, ziehe die Tür zu und schließe sorgsam ab. Gemeinsam gehen wir hinunter. Während Harris bereits in sein Auto steigt, wiederhole ich die vorherige Prozedur. Ein letzter Blick in die Werkstatt. Licht aus. Tür abschließen. Ein seltsames Gefühl von Veränderung liegt in der Luft.

Ich werfe meine Tasche in den Kofferraum und steige zu Harris ins Auto. »Erzählen Sie mir jetzt, wohin es geht?«, erkundige ich mich bei Harris, der den Wagen rückwärts vom Hof fährt.

»Nach Wales.«

»Geht’s ein klein wenig genauer?«

»Anglesey.«

Himmel, gib mir Kraft. »Okay. Das grenzt die Sache ja schon mal auf die Insel ein. Noch ein Tipp?«

»Wir besuchen einen Freund von mir.«

Der Mann macht mich wahnsinnig. »Hören Sie, ich sitze in Ihrem Wagen, mein Handy schlummert in meiner Hosentasche. Ich gehe davon aus, dass sich hier keine Wanzen an Bord befinden. Also niemand, wirklich niemand wird hören, was Sie mir sagen. Geben Sie sich einen Ruck und erleuchten Sie mich.«

Harris wirft mir einen amüsierten Blick zu. »Wanzen? Ernsthaft?«

»Verdammt, jetzt spucken Sie’s schon aus!«

»Ein alter Freund erwartet uns in Valley.«

»Air Force?«, tippe ich.

»Richtig geraten.«

»Und dieser Freund ist?«

»Sagte ich doch gerade. Ein alter Bekannter. Er bot mir seine Hilfe an.«

Ich bin es leid nachzufragen und starre ihn nur genervt von der Seite an.

»Alister Doherty ist Neurologe und leitender Chefarzt. Er hat mir den Gefallen getan, Mr. Pearson aus der Schusslinie zu holen.«

»Mir ist immer noch ein Rätsel, wie sie Cooper über Nacht verlegen konnten. Er war frisch operiert und lag im künstlichen Koma.«

»Die Air Force hat Mittel und Wege, ihre Leute aus ganz anderen Situationen nach Hause zu holen.«

Ich schnaube. »Sicher, das will ich gar nicht abstreiten. Aber Cooper ist kein Angehöriger der Air Force. Jedenfalls nicht, dass ich wüsste.«

»Wie schon gesagt, Alister bot mir seine Hilfe an.«

»Muss dann wohl ein sehr guter Bekannter sein.«

»Das geht Sie nichts an.«

»Fein.«

Harris seufzt. »Hören Sie, Trenton. Wir haben etliche Stunden Fahrt vor uns. Warum nutzen Sie nicht die Zeit und schlafen ein bisschen? Ich weiß, Sie wollen wissen, wie es Ihrem Freund geht. Lassen Sie uns doch darüber reden, wenn wir dort sind. Dann ist Alister dabei und kann alle medizinischen Fragen beantworten.«

Seine abweisende Haltung bröselt wie alter Putz von ihm ab und er wirkt erschöpft. Harris tut mir beinahe leid. »Also gut. Sagen Sie Bescheid, wenn Sie eine Pause brauchen. Ich kann gern fahren.«

»Danke.«

Ich lehne mich zurück und sehe in der Dunkelheit Häuserfronten an mir vorbeiziehen. Es dauert nicht lange und wir rasen über die Schnellstraße in Richtung Birmingham.

Trotz Harris’ harscher Art breitet sich eine einvernehmliche Atmosphäre im Wageninneren aus und ich hänge meinen Gedanken nach. Er schaltet das Radio ein und summt leise einen Uraltsong von John Denver mit. Womit er mir einen seltsam privaten Blick auf seine Persönlichkeit ermöglicht. Hinter seiner schroffen Fassade scheint ein netter Kerl zu stecken, dem sein Job schon so einiges abverlangt haben muss.

 

Nach Jeffs Anruf konnte ich kein Auge mehr schließen, saß wie auf glühenden Kohlen und kümmerte mich dann doch noch um die Vorbereitungen. Ich rief Tom an und gab ihm Anweisung, welche Aufträge sie in nächster Zeit abzuarbeiten hätten. Natürlich war er mehr als nur ein wenig verwundert, dass ich ihm die Verantwortung für die Werkstatt übertrug. Ich bin mir sicher, er wird seine Sache absolut zufriedenstellend erledigen. Wie immer eigentlich. Seitdem er bei uns arbeitet, hat er jede Herausforderung angenommen und sie trotz vorheriger Bedenken gemeistert, ist sogar daran gewachsen. Was seinem Selbstvertrauen zugutekam. Das freut mich, denn er ist … Tja, dumm kann man mit Sicherheit nicht sagen. Er wirkt zuweilen ein wenig unbedarft. Oder besser gesagt, einfach gestrickt. Eine Eigenschaft, die jedem, der ihn nicht kennt, einen falschen Eindruck vermittelt. Seine anfängliche Aufregung legte sich jedoch, als ich ihm versicherte, Jeff würde sich hin und wieder blicken lassen und er könne ihn jederzeit anrufen, sollte es Schwierigkeiten geben.

Somit ist dieser Fakt zumindest fürs Erste in trockenen Tüchern, auch wenn ich mein Geschäft ungern aus der Hand gebe. Nur bleibt mir im Moment nichts anderes übrig, als mich auf meine Freunde zu verlassen. Wobei, mein Geschäft ist es nicht allein. Jeff ist Miteigentümer. Allerdings hat er sich zurückgezogen, um Jura zu studieren. Eine gute Entscheidung, wie ich denke. Es war zwar immer sein Hobby, an Motorrädern herumzuschrauben, aber es hat ihn nicht mehr zufriedengestellt. Als dann noch sein leiblicher Vater in sein Leben trat, kam eins zum anderen und Jeff startete neu durch.

In den letzten Wochen habe ich das Gefühl, auch bei mir würde sich einiges neu ordnen. Jahrelang hatte ich nur Augen für Jeff, hoffte, er würde irgendwann mehr in mir sehen als einen Freund. Das tat … Nein, das tut er. Leider nicht so, wie ich erhoffte. Wir sind mehr als Freunde. Man könnte sagen, meine ätzende Vergangenheit hat dazu beigetragen, dass wir uns so nahestehen wie Brüder. Und Loraine, seine Mom, war in all der Zeit mehr eine Mutter für mich als meine eigene. Mein Elternhaus fragwürdig zu nennen, trifft es nicht einmal annähernd. Genau wie Jeff wuchs ich ohne Vater auf. Ich habe nie erfahren, wer er ist. Allerdings hat Jeffs Mom alles für ihren Sohn und später auch für mich getan. Sie gab uns beiden ein stabiles, liebevolles Umfeld und das, obwohl sie alleinerziehend war. Was meine Mutter nie geschafft hat. Aus vielerlei Gründen. Alkohol. Miese Kerle. Arbeitslosigkeit. Um nur drei zu nennen. Die komplette Liste ihrer Fehltritte und Ausreden aufzuzählen, nicht für mich da sein zu können, würde den Rahmen sprengen. Unterm Strich war sie unfähig, ihr Leben zu meistern. Hätte ich Jeff und Loraine nicht gehabt, wer weiß, wo ich gelandet wäre. Mit Sicherheit nicht in meiner eigenen Werkstatt. Womöglich hätte ich mich bereits dermaßen mit Drogen vollgepumpt, dass mir mittlerweile egal wäre, ob ich bei minus fünf Grad nackt über den Piccadilly Circus taumle. Die Einzige, die je aus meiner Familie für mich da gewesen ist, war Granny. Eine wirklich starke Frau, die viel zu früh von uns gegangen ist – lange bevor meine Mutter sich den goldenen Schuss setzte. War eine echt beschissene Zeit. Ich schnaube abfällig. Beschissen umschreibt es keineswegs. Aber hey, ich habe es überlebt, nicht wahr?

 

»Was ist?«, fragt Harris aus heiterem Himmel.

»Nichts.«

»Kommen Sie schon, Trenton. Wir sind unter uns. Keiner hört zu. An was haben Sie gerade gedacht?«

Überrascht werfe ich ihm einen Blick zu. Dieser Schweinehund verwendet meine Argumente gegen mich. »Sie wollen plötzlich reden? Warum?«

Seine Konzentration liegt auf der Straße vor uns. »Warum nicht?«

»Weil Sie mir nicht unbedingt den redseligsten Eindruck machen, um ehrlich zu sein.«

Er zuckt mit den Schultern. »Höre ich nicht zum ersten Mal.«

Plötzlich erinnere ich mich an unser Gespräch im Krankenhaus, als ich im Warteraum saß und panisch auf Informationen über Cooper wartete. Harris kam wie ein Racheengel hereingeplatzt, polterte ohne Punkt und Komma drauflos und setzte mich darüber in Kenntnis, was er ab sofort von mir erwarten würde. Ich stand total neben mir, war völlig von der Rolle und dieser Mistkerl verlangte von mir, mich zurückzuziehen, Cooper Cooper sein zu lassen und mich gefälligst um meinen Kram zu kümmern. Gott, ich war so wütend.

Zwischendrin, also während er mir die weitere Vorgehensweise klarmachte und mir … Ich sage es mal frei von der Leber weg: Der Arsch besaß doch tatsächlich die Dreistigkeit, mir unterschwellig zu drohen. Auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt nicht ganz Herr meiner selbst war, habe ich es begriffen. Jedenfalls gab es einen kleinen Moment, in dem er wirkte, als würde er am liebsten alles hinschmeißen. Und genau diesen Eindruck vermittelt er mir nun erneut. Vielleicht braucht der Mann einfach nur mal jemanden zum Reden. Und was soll’s, wir haben noch mindestens sechs Stunden Fahrt vor uns.

»Ich habe gerade an meine Mutter denken müssen«, gebe ich freimütig zu und gehe zugleich in Deckung. Ich kann Harris nicht wirklich einschätzen und rechne beinahe mit einer abfälligen Bemerkung. Aber die bleibt aus.

Zu meiner Überraschung nickt er und meint: »Ist mit ihr sicher nicht einfach gewesen.«

Warum wundert mich nicht, dass er das sagt? »Sie kennen ihre Akte, nehme ich mal an.«

»Natürlich. Hintergrundcheck.«

»Natürlich«, wiederhole ich resigniert.

»Trenton, wissen Sie, man kann nichts für seine Herkunft. Aber man kann was dafür, nichts aus seinem Leben gemacht zu haben. Und das ist das Letzte, was man Ihnen vorwerfen könnte.«

»Oha, danke.«

Harris lacht. »Warum so erstaunt?«

»Das aus Ihrem Munde zu hören, gleicht einem Ritterschlag.«

»Bilden Sie sich nicht zu viel darauf ein.« Er wirft mir einen kurzen Blick zu und lächelt. Scheiße, der Mann kann lächeln! »Nein, im Ernst, glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass Sie stolz sein können auf das, was Sie bisher erreicht haben. Ich habe oft genug gesehen, dass das nicht selbstverständlich ist. Es gehört einiges dazu, den Mut aufzubringen, mehr zu wollen und es dann umzusetzen. Ich weiß, es ist nicht einfach, aus Strukturen auszubrechen, die einem seit der Geburt von seinen Eltern vorgelebt werden. So sehr wir uns das auch alle wünschen mögen, Familie ist nicht grundsätzlich gleichbedeutend mit Liebe und Geborgenheit.«

»Ausbrechen geht nicht ohne Unterstützung.«

»Sicher, Rückhalt zu finden ist immer gut. Aber ich bin mir sicher, Sie hätten es ebenso gut ohne die Gallaghers geschafft.«

»Da verfügen Sie über mehr Zuversicht als ich.« Ich muss zugeben, seine Worte schaffen auf eine seltsame Weise ein Vertrauensverhältnis zwischen uns, das ich nicht erwartet hätte. Nicht nach dem, wie er sich bisher verhalten hat. Allerdings, wüsste er, wie ich zu einem zitternden Wrack mutieren kann, würde er womöglich anders über mich denken.

Sofort fällt mir Jeff ein. Es gab schon immer Zeiten, in denen ich nachts kein Auge zu bekam. Ohne Unterlass gaukelte mir mein Verstand vor, in den Schatten würden sich Geister der Vergangenheit verstecken und nur auf einen Fehler von mir warten, um sich auf mich zu stürzen. Die Panikattacken hielten mich anfangs viele Jahre in ihren Klauen gefangen. Jede verdammte Nacht. Es graute mir bereits vor der Dämmerung.

Ich wurde erwachsen und die Häufigkeit der … ich will es mal Schübe nennen, nahm ab. Dann und wann kommen sie wieder, die Geister, und quälen mich heute noch, als wäre ich vierzehn Jahre alt und nicht dreißig. In diesen Nächten finde ich nur Ruhe, wenn irgendwo eine kleine Lampe brennt. Meist reicht ein Nachtlicht in der Steckdose, das die Dämonen im Zaum hält.

Natürlich ist das etwas, das man niemand freiwillig erzählt. Allerdings konnte ich es vor Jeff und später Loraine nicht geheim halten, denn schließlich wohnte ich quasi bei ihnen, wenn es zu Hause wieder einmal unerträglich wurde. Loraine hat nie ein einziges Wort darüber fallen lassen. Tja, und Jeff … Er gab mir damals das Gefühl, er fände es cool, dass ich auf diese glorreiche Idee mit dem Licht gekommen bin.

Wie gesagt, es gibt Situationen, in denen ich in mein altes Muster verfalle. So auch vor einigen Wochen, als wir Cooper zusammengeschlagen in der Werkstatt vorfanden. Jeff und Niles blieben über Nacht und dennoch brauchte ich meinen Anker in Form einer Nachtlampe. Am nächsten Morgen erzählte mir Jeff, er wäre in meinem Zimmer gewesen. Ich war schockiert, schämte mich, aber er meinte nur, er würde niemals weniger von mir halten, nur weil ich diese Art für mich gefunden habe, mit meinen Ängsten umzugehen.

Ja, so ist Jeff. Nun wisst ihr auch, warum er mir so sehr am Herzen liegt. Er ist ein verflucht liebenswerter Kerl. Klar hat es wehgetan, als er mir einen Korb gab, nachdem ich mich endlich traute, ihm meine Gefühle zu gestehen. Aus heutiger Sicht bin ich überzeugt, fehlgeleitet gewesen zu sein. Denn nachdem wir dieses peinliche Gespräch hinter uns gelassen hatten, richtete sich mein Augenmerk recht schnell auf einen anderen Mann. Das wäre nicht passiert, hätte ich Jeff tatsächlich so sehr geliebt, wie ich immer annahm. Ich muss ihm zustimmen. Das mit uns hätte nie im Leben funktioniert. Jetzt hat er Niles. Und ich hoffe für beide, dass sie glücklich miteinander werden. Sie sind einfach perfekt zusammen.

»Nun ja, ich kann Menschen recht gut einschätzen«, erklärt Harris leutselig und zerrt mich so aus meinen Gedanken. »Konnte ich schon immer. Durch meinen Job habe ich die Fähigkeit nur noch geschult, wenn man so will.«

»Darf ich Sie was fragen?«

»Nur zu.«

»Was ist mit Ihnen?«

»Was meinen Sie?«

»Wenn Sie über Familie reden, klingen Sie irgendwie … Ich weiß auch nicht. Als hätten Sie Ihre eigenen Erfahrungen gemacht.«

»Das ist keine Frage.«

»Also gut. Sind Sie verheiratet?«

Harris wirft mir einen ungläubigen Blick zu.

»Was denn? Wollen Sie nicht antworten?« Ich zucke mit den Schultern. »Ist okay. Aber Sie wollten reden.«

»Nein.«

»Nein, Sie wollen nicht antworten? Oder nein, Sie sind nicht verheiratet?«

»Ich hätte einfach die Klappe halten sollen«, murmelt Harris. Seine Miene ist göttlich gequält.

Was mich herzhaft lachen lässt.

»Ich bin nicht verheiratet. Hat sich nie ergeben. Liegt sicher an meinem Job. Zufrieden?«

»Das tut mir leid. Aber Sie wollen mir jetzt nicht weismachen, Sie hätten niemanden, den Sie als Familie sehen, oder? Ich meine, wo wir doch gerade über Familien reden, ist meine Frage naheliegend, nicht wahr?«

»Hätte ich gewusst, dass Sie so neugierig sind …«

Ich winke lächelnd ab. »Ist schon okay.«

Harris seufzt kellertief. »Nein, Sie haben recht. Bin ja selbst schuld. Ich muss zugeben, nicht der Geselligste zu sein.«

»Ob Sie es glauben oder nicht, das habe ich mir fast gedacht.«

»Klugscheißer!«, mosert Harris. Er kann ein Grinsen jedoch nicht gänzlich vermeiden.

»Wie alt sind Sie?« Ich reiße theatralisch die Augen auf, als er pikiert herübersieht. »Was? Ist das ein Geheimnis? Immerhin wissen Sie alles über mich.«

»Siebenundfünfzig. Zu alt, um noch eine Familie zu gründen.«

»Das ist doch Blödsinn. Schlechte Erfahrungen gemacht?«

Die Frage lässt ihn plötzlich schlucken und seine gelassene Haltung ist schlagartig verflogen.

»Entschuldigung«, flüstere ich. Okay, in seinem Alter ist es höchst unwahrscheinlich, noch Vater zu werden. Ich unsensibler Arsch sollte vor dem Reden das Gehirn einschalten. Abgesehen davon habe ich das Gefühl, einen wunden Punkt getroffen zu haben, der nicht zwingend etwas mit Kindern zu tun hat.

Schweigen umfängt uns. Diesmal jedoch nicht so zwanglos wie zu Anfang. Ich könnte mir in den Hintern treten, Harris gefragt zu haben. Aber ich habe mir wirklich nichts dabei gedacht. Er hat doch mit diesem Thema angefangen.

»Schlechte Erfahrungen würde ich es nicht nennen«, wispert Harris unverhofft.

»Nicht? Was ist passiert?« Ich hebe beschwichtigend die Hand. »Sie müssen mir nicht antworten.«

Harris wirft mir abermals einen Blick zu. Dieser ist jedoch nicht freundlich, eher prüfend. Als würde er herausfinden wollen, ob ich es tatsächlich darauf beruhen lasse, sollte er nichts sagen. Sekunden vergehen. Mir fällt abrupt ein, wo wir uns befinden, und ich deute kommentarlos auf die Frontscheibe. Unmittelbar wendet Harris sich von mir ab und richtet seinen Blick wieder auf die Straße.

»Dass es nicht funktioniert hat, lag nicht daran, dass sie mich nicht wollte – denke ich.« Die Antwort kommt so leise, dass ich mich anstrengen muss, Harris über die Musik aus dem Autoradio hinweg zu verstehen. Der Tonfall, die Sehnsucht und Traurigkeit, die darin mitschwingt, beschert mir ein ungutes Gefühl.

Scheiße, was ist passiert? Sollte ich fragen? Oh Mann, besser nicht. Ich gehe bereits davon aus, unser Gespräch wäre beendet, als Harris doch noch mal das Wort ergreift und mich damit ziemlich überrascht. »Hier gibt es keine Wanzen.«

»Wie bitte?«

»Wie wir vorhin festgestellt haben, hört uns niemand zu und so verrückt es klingen mag, irgendwie vertraue ich Ihnen.«

»Noch ein Ritterschlag«, gebe ich amüsiert, aber leise zurück.

Ein versöhnliches Lächeln. »Wenn Sie so wollen.«

»Ich muss gestehen, Sie verwirren mich und doch weiß ich, was Sie meinen. Trotz der Umstände, wie wir uns kennengelernt haben, und der Tatsache, dass Sie es für nötig hielten, mir zu drohen, vertraue ich Ihnen ebenso. Verrückt, oder?«

»Das ist es wohl.«

»Was ist mit Ihrer Frau passiert?«

»War sie nicht. Also na ja, früher irgendwie schon. Ist kompliziert. Als wir uns wiedergesehen haben, war sie mit einem anderen Mann verheiratet. Sagen wir mal so, sie hat vor sieben Jahren eine Entscheidung getroffen, die sie nicht überlebt hat.«

»Scheiße! Meinen Sie etwa …?«

Er nickt.

»Die Lions?« Wieso ich ausgerechnet auf die komme, ist mir schleierhaft.

»Ja, wenn auch nur indirekt.«

»Mein Gott, das tut mir leid. Ist das der Grund, warum …? Moment, was heißt indirekt?«

»Sie wollte aussteigen. Nein, das ist nicht korrekt. Die Lions haben keine weiblichen Mitglieder und doch gehören sie als Angehörige irgendwie dazu.« Harris wedelt unbestimmt mit der Hand. »Lange Geschichte. Auf den Punkt gebracht: Ihr Mann wollte sie natürlich nicht gehen lassen, drohte ihr und setzte sie dermaßen unter Druck, dass sie daran zerbrach. Eines Nachts bekam ich von meinem damaligen Partner einen Anruf, Jenna wäre mit einer Überdosis Schlaftabletten aufgefunden worden. Zu spät, um sie noch retten zu können.«

Ich bin so geschockt, dass ich kein einziges Wort herausbringe. Was sagt man in so einem Fall überhaupt?

Harris lächelt mich traurig an. »Sie müssen nichts sagen. Und ja, das ist einer der Gründe, warum ich so verbissen hinter den Lions und im speziellen Raylee Pearson her bin.«

»Ich begreife nicht, dass sie ihm in all den Jahren nichts nachweisen konnten.«

»Einige Male waren wir sehr nahe dran. Aber entweder verschwanden Beweismittel oder Zeugen setzten sich von heute auf morgen ab und wurden nie wieder gesehen.« Er räuspert sich und fügt leise hinzu: »Es gibt Fehler, die man nur einmal im Leben macht.« Er schnaubt abfällig. »Oder zweimal.«

Seltsame Aussage. »Inspector?«

»George reicht aus. Nachdem wir uns schon gegenseitig das Herz ausschütten, wird es wohl Zeit. Oder was meinst du?«

»Von mir aus.«

»Was willst du wissen?«

»Du hast Cooper nicht nur verschwinden lassen, weil du hoffst, er würde gegen seinen Vater aussagen, richtig? Und du hast uns allen aus gutem Grund gedroht, die Finger von ihm zu lassen. Also von Coopers Vater, meine ich.«

»Ihr habt überhaupt keine Ahnung, mit wem ihr euch da anlegt. Raylee Pearson ist ein extrem gefährlicher Mann. Um seinen Willen zu bekommen, geht er notfalls über Leichen und weiß es zu vertuschen. Es sind genug Menschen wegen ihm ums Leben gekommen und ich werde alles tun, um diesem Monster endlich Einhalt zu gebieten. Du musst dir vor Augen führen, dass dieser Mann ein Soziopath ist. Er ist unerbittlich und schreckt nun auch nicht mehr davor zurück, sich selbst auszuliefern, nur um seinem Ziel einen Schritt näher zu kommen.«

»Welches Ziel wäre das?«

Schweigen.

Darauf also keine Antwort. Nun gut. »Glaubst du, Cooper hat den Wunsch auszusteigen?« Wir kennen uns seit einigen Monaten. Nachdem ich erfahren habe, dass er zu den Lions gehört, haben wir jedes Gespräch dahin gehend vermieden. Er versprach in die Hand, er wäre nur als Cooper in meiner Werkstatt und würde alles tun, um seinen Vater von mir fernzuhalten. Tja, hat nicht wirklich funktioniert, wie man sieht. Was ich im Eigentlichen sagen will, ist, ich bin mir nicht sicher, ob Cooper überhaupt aussteigen wollte. Wenn ja, warum hat er mir nichts gesagt? Vielleicht hätte ich ihm irgendwie helfen können.

»Den hatte er schon vor Jahren. Dummerweise habe ich erst zu spät davon Wind bekommen. Dieser dumme Junge hatte es auf eigene Faust versucht. Er nahm damals Kontakt zu Paul Cunningham auf. Irgendwas muss schiefgelaufen sein, sonst hätte er keinen Rückzieher gemacht. Er schaffte es zurückzugehen, ohne dass sein Vater etwas mitbekam. Wie es scheint, lernt Cooper nicht aus seinen Fehlern. Denn ja, ich bin mir absolut sicher, dass er es abermals versucht hat, nachdem sein Vater in deiner Werkstatt auftauchte. All die Jahre hielt Cooper sich bedeckt. Offensichtlich warst du jetzt für ihn Grund genug, erneut einen Versuch zu starten. Der, wie man sieht, gründlich in die Hose gegangen ist. Der arme Junge kann sich glücklich schätzen, noch am Leben zu sein.«

»Scheiße, er ist wegen mir zusammengeschlagen worden?«

»Ganz ruhig. So krass würde ich das nicht ausdrücken. Und an deiner Stelle würde ich mir keine Vorwürfe machen. Cooper ist erwachsen. Er trifft seine eigenen Entscheidungen, genau wie …« Harris schüttelt den Kopf und sagt keinen Ton mehr, während dieses Genau wie im Wageninneren gleich einem Pingpongball hin und her fliegt – ausgesprochen und doch nicht greifbar. Seiner verschlossenen Miene nach zu urteilen, hat es auch keinen Sinn, es zu hinterfragen.

»Ich weiß, du hast gesagt, ich soll warten, bis wir in Valley sind. Sag mir wenigstens eins. Ist Cooper wach?« Andernfalls wüsste ich nicht, warum ich überhaupt auf dem Weg dorthin bin.

»Ist er.«

Eigentlich sollte mich diese Antwort beruhigen. Tut sie nicht. Irgendetwas stimmt nicht. Und abermals wird mir nach einem Blick auf Georges Gesicht klar, dass es keinen Wert hat, ihn weiter zu löchern. Dann ist unser Gespräch wohl beendet. Wie zuvor lehne ich mich zurück und schaue der Welt dabei zu, wie sie in einem Affenzahn an uns vorbeirast.

 

Wer bin ich?

 

- Cooper -

 

 

Träume. Alles, was mir geblieben ist, sind Träume. Jeden einzelnen heiße ich willkommen und doch bin ich froh, wenn mich irgendetwas zwingt, zu erwachen. Ein Geruch. Ein Geräusch. Ein Gefühl. Egal was, es geschieht früher oder später und ich schlage schweißgebadet und mit rasendem Herzen die Augen auf, um dann nachts in die Dunkelheit und tags an die Decke zu starren und mir das Gehirn zu zermartern, wo und wer ich bin.

Träume sind die Antworten auf meine Fragen. Bloß was nützen sie mir, wenn ich die Fragen darauf nicht kenne? Ebenso wie jede Person, die in meinen Träumen eine Rolle spielt. Ein wirklich beklemmendes Gefühl.

 

Ich erzähle besser von Anfang an.

Ich erwachte aus einem echt fiesen Traum und mein Körper umfing eine ungewöhnliche Taubheit, die mit jedem Atemzug an Intensität verlor, nur um allumfassenden Schmerz zu hinterlassen. Als ich mühsam die Augen aufschlug, die sich wie zugeklebt anfühlten, lächelte mich eine nette Lady in einem hellblauen Kasack an. Um ihren Hals hing ein Stethoskop. Sie hat frappierende Ähnlichkeit mit Hetty aus der Fernsehserie Navy CIS: L.A. Genau wie sie ist sie keine eins fünfzig groß, trägt eine Nickelbrille und das dunkle Haar ist in einem geraden Bob auf Kinnlänge geschnitten. Verwirrt wollte ich fragen, wo ich bin, wer sie ist und was zum Henker sich da für ein nerviges Geräusch wie Nadelstiche durch meinen Schädel arbeitete. Bevor ich jedoch auch nur ein Wort herausbekam, zupfte sie an meiner Decke herum, steckte sie an den Seiten fest, als wäre ich sechs Jahre alt, und säuselte: »Da sind Sie ja endlich, Josh. Wir haben uns schon Sorgen gemacht. Aber jetzt wird alles wieder gut. Sie werden sehen. Ich bin Darcy. Wenn Sie was brauchen, drücken Sie einfach diesen Knopf.« Ich spürte eher, als dass ich es sah, wie sie mir etwas in die Hand legte und meinen Zeigefinger auf eine Erhebung führte.

Josh? Das hörte sich falsch an. Andererseits musste das die Wahrheit sein, denn mir fiel kein passenderer Name ein. Abermals setzte ich zu sprechen an, irgendwie verweigerte sich mir meine Stimme.

»Sagen Sie nichts. Es wird noch ein wenig dauern, bis sich Ihre Stimmbänder erholt haben. Wissen Sie, Sie mussten intubiert werden und haben einige Tage tief und fest geschlafen.«

Trotz der bleiernen Müdigkeit, die mich schlagartig überfiel, schaffte ich es, ihr einen fragenden Blick zuzuwerfen. Erneut lächelte sie und meinte: »So lange waren Sie nicht weg. Es ist immer noch August.«

Als hätte mich das beruhigt. Natürlich war mir mittlerweile aufgegangen, dass dieses enervierende Piepsen meinen eigenen Herzschlag wiedergab, ich also an einem Monitor angeschlossen war, der zu irgendeinem Krankenhaus gehören musste. Obendrein hing ich an diversen Schläuchen, die in meinen Körper rein oder raus führten. Ich bekam eine Infusion und mein bestes Stück war mit einer Pipeline verbunden. So fühlte es sich anfangs zumindest an. Was gut war. Ich hätte niemals geschafft, eine Ente zu benutzen oder auch nur die Beine über die Bettkante zu hieven, um selbst aufs Klo zu gehen. Aber warum lag ich hier? Jede Bewegung, jeder Gedanke tat schrecklich weh. Also schob ich meine Überlegungen fürs Erste auf die Seite und versuchte, mich nicht zu rühren.

»Doktor Doherty weiß bereits Bescheid und kommt so schnell wie möglich zu Ihnen, um Ihnen alles zu erklären. In der Zwischenzeit schließen Sie einfach wieder die Augen und ruhen sich aus.«

»Hmpf«, grunzte ich mürrisch, ergab mich dennoch dem dringenden Bedürfnis nach Schlaf. Es fühlte sich in diesem Moment richtig an. Und zu etwas anderem war ich eh nicht fähig.

 

Das ist jetzt keine zwei Tage her – eine Ewigkeit. In der Zwischenzeit geht es mir so weit gut, dass ich über einen längeren Zeitraum die Augen offen halten kann. Zumindest eins davon. Das andere scheint irgendwie leicht zugeschwollen zu sein. Sobald die Schmerzen überhandnehmen, bekomme ich Medikamente verabreicht, die mich alsbald in Morpheus’ Arme schicken. Obendrein kenne ich nun auch den Grund, warum mein Körper so lädiert ist. Kurz und gut: Ich wurde übelst zusammengeschlagen. Wann, wieso und vor allem von wem? Ich habe keinen blassen Schimmer und das macht mich wahnsinnig. Von meiner immerwährenden Angst will ich erst gar nicht reden.

Doktor Doherty versicherte mir, dass eine retrograde Amnesie zu erwarten gewesen ist, nachdem sie mich ins künstliche Koma versetzen mussten, da meine Kopfverletzungen zu schwerwiegend waren. Was mir jedoch ernsthaft Sorgen bereitet, ist die Tatsache, mich an absolut gar nichts erinnern zu können. Das ist so nicht richtig, denn ich kann lesen und weiß, was in der Welt geschehen ist. Mich muss niemand füttern und ich bin nicht verwundert, wenn ich pinkeln muss. Letzteres ist im Augenblick eh kein Thema. Ich brauche mir gar keine Gedanken drüber machen, da es von ganz allein in einen Beutel fließt, der am Bettgestell hängt. Soll heißen, ich weiß, wie alles funktioniert. Ich kann mich ums Verrecken eben nur nicht an mich selbst erinnern. Und dazu gehören meine Familie, Freunde und Bekannte. Und hey, ich bin zweiunddreißig Jahre alt – laut Doktor Doherty –, da sollte es Leute geben, die mich kennen … und die ich kenne, oder nicht?

So viel zu retrograder Amnesie. Wenn ich mich richtig entsinne – und ja, in dieser Hinsicht und in vielen anderen Dingen weiß ich noch alles –, beinhaltet diese doch nur den Zeitraum vor einem traumatischen Ereignis, wozu immerhin die Tatsache gehört, krankenhausreif geprügelt worden zu sein.

Heute wurde ich einigen Untersuchungen unterzogen und bekam gesagt, dass ich mich auf dem Weg der Besserung befinde. Mir ist zwar meine Milz abhandengekommen, aber damit kann man leben. Die Operation ist gut verlaufen und die Wunde heilt wie gewünscht. Um mein Immunsystem zu stärken, da durch die Entfernung der Milz ein wichtiges Organ der Immunabwehr fehlen würde, bekam ich eine Impfung. Der Doc verfiel in Fachchinesisch, erzählte mir was von irgendeinem Syndrom, das bei Menschen ohne Milz auftritt. Die Rippenbrüche brauchen Zeit, um zu verheilen. Meine Hand, die nach Meinung von Doktor Doherty seine Kollegen in London perfekt gerichtet hätten, ebenso. Trotz Medikamente quält mich ein permanenter Schmerz. Ich kann gar nicht genau sagen, woher er kommt. Nase und Jochbein haben ebenfalls was abbekommen, was mein geschwollenes Auge erklärt. Wenn ich hier so liege, könnte ich vor Wut schreien. Warum hat man mir das angetan?

Das Einzige, das ich aus dem Weißkittel herausbekomme, ist, dass ich überfallen wurde und nicht mehr in London bin. Was für eine Auskunft. Sie macht mich nur noch wütender. Egal wen ich frage, ob Darcy oder den Doc, sie schweigen, als hätten sie Anweisung, mich dumm sterben zu lassen. Sie wimmeln mich stets mit der Antwort ab, es wäre jemand auf dem Weg, um mich über alles in Kenntnis zu setzen. Wirklich toll!

Noch etwas finde ich seltsam. Hier scheinen nur zwei Leute zu arbeiten. Darcy und Doktor Doherty. Hinzu kommt, dass ich in einem beschissenen Einzelzimmer liege und somit nicht einmal jemanden zum Quatschen habe, um mich wenigstens für ein paar Minuten von meinen Grübeleien ablenken zu können. Ja, ich gebe zu, ein wenig unleidlich zu sein. Immerhin bin ich kaum achtundvierzig Stunden bei Bewusstsein. Allerdings kommen die mir wie eine Ewigkeit vor. Aber das erwähnte ich ja bereits.

 

Ein Klopfen lässt mich zusammenzucken. Kommt jetzt endlich die Erklärung auf zwei Beinen? Muss so sein. Der Doc und die Schwester klopfen nie an. Sie platzen einfach ins Zimmer, texten mich zu, zupfen, drücken und stöpseln an mir herum und verschwinden wieder.

»Herein!«, rufe ich. Wenigstens funktioniert meine Stimme halbwegs, auch wenn sie sich noch ein wenig rau anhört. Im selben Moment schwingt die Tür auf und zwei Männer treten ein. Einer davon älter – schätzungsweise Mitte, Ende fünfzig – und in einen zerknitterten Mantel gehüllt. Der andere kommt mir seltsam bekannt vor. Ich kann nur nicht sagen, woher. Verdammt und zugenäht! Der dunkelblonde Mann ist ein Stück größer als der ältere. Sein Haar steht ihm in alle Himmelsrichtungen vom Kopf ab, als würde er sich ständig mit den Fingern hindurchfahren.

Der Manteltyp schlendert auf mich zu, während der zweite in seinem Kielwasser segelt und mir mit seinen grauen Augen einen schockierten und zugleich traurigen Blick zuwirft. Seine Kiefermuskeln zucken. Offensichtlich zwingt er sich zur Zurückhaltung. Er sieht mich an, als würde er mich am liebsten aus dem Bett zerren und in Sicherheit bringen. Verrückter Gedanke.

»Hallo Cooper!«, begrüßt mich der Manteltyp.

Wie jetzt, ich dachte, Josh? »Guten Tag, die Herren.« Schwerfällig versuche ich mich ein wenig aufzurappeln und hebe meine Hand, die von ihm überraschend sanft umschlossen wird.

»Schön, Sie wieder unter den Lebenden zu wissen. Wie ich gehört habe, ist Ihnen Ihr Erinnerungsvermögen und eine Milz abhandengekommen. Doktor Doherty erwähnte etwas in dieser Richtung.« Der Mann hat Humor.

Ich muss spontan lachen und bekomme sofort einen quälenden Hustenanfall, als mich ein stechender Schmerz daran erinnert, dass es mit gebrochenen Rippen eine äußerst dämliche Aktion ist, zu lachen. Die frische Narbe über dem linken Rippenbogen – ein bleibendes Andenken an die Milz-OP – ziept und zwickt.

Plötzlich steht der andere Mann an meinem Bett und ergreift meine Hand. »Himmel, Cooper, mach langsam!«

Ich schnaufe vorsichtig durch, schaue zu ihm auf und krächze: »Kein Grund zur Sorge.« Seltsamerweise stört es mich überhaupt nicht, dass er immer noch meine Hand hält. Es wirkt irgendwie tröstlich und auch vertraut, wenn ich ehrlich bin. Als meine Lungen wieder halbwegs in der Lage sind, Sauerstoff aufzunehmen, und der Hustenreiz abklingt, frage ich: »Und mit wem habe ich nun das Vergnügen?«

Der Mann im Mantel zeigt mit dem Daumen auf sich. »Detective Chief Inspector George Harris. Scotland Yard.« Dann deutet er auf den Mann an meiner Seite, dessen Blick immer noch panisch wirkt, nur dass jetzt ein Anflug von Traurigkeit und Besorgnis darin liegt. »Trenton Clarke.«

»Und wir kennen uns?«

Harris nickt. »Ja.«

Ich schaue zu Clarke. Er räuspert sich und nickt ebenfalls. »Seit ein paar Monaten.«

Erleichtert sinke ich in die Kissen zurück. »Gott sei Dank. Ich dachte schon, ich bin allein auf der Welt.«

»Niemals!«, höre ich Clarke ausrufen. Offenbar ist ihm der Ausbruch peinlich, denn er entzieht mir sofort seine Hand und senkt verlegen den Blick. Im Hintergrund scharren Stuhlbeine über den Boden und ziehen meine Aufmerksamkeit auf sich.

Harris platziert einen Stuhl vor dem Rollschrank mit hochklappbarem Tisch neben meinem Bett. Anschließend setzt er sich, schlägt die Beine übereinander und mustert mich einen Moment, ehe er fragt: »Und Sie können sich wirklich an nichts erinnern?«

»Richtig. Sie nannten mich Cooper? Ich bin ehrlich gesagt verwirrt. Denn Doktor Doherty und die Schwester nennen mich Josh.«

»Du heißt Cooper Pearson«, flüstert Clarke.

»Cooper Pearson«, wiederhole ich leise, als würde ich ausprobieren, wie es sich anfühlt, den Namen laut auszusprechen, ihn über meine Zunge rollen zu lassen. Irgendwas klingelt da bei mir. Aber je mehr ich versuche, den Gedanken zu fassen zu bekommen, der in meinem Kopf herumwirbelt, umso unerreichbarer scheint er zu sein. Es verursacht mir sogar höllische Kopfschmerzen. Beinahe so, als existiere eine Sicherheitsbarriere, die unter Strom steht, um jeden Eindringling abzuwehren. Gute Güte, es sind meine Gedanken! Also verflucht noch mal, ich will endlich wissen, wer ich bin!

»Ganz ruhig«, murmelt Harris neben mir und ich bemerke erst jetzt, dass ich schwer atme und das Piepsen des Monitors in ein wahnwitziges Tempo verfallen ist. Die Zimmertür fliegt auf und Darcy stürmt wie ein wütender Kobold auf Speed herein. Der Blick, mit dem sie Clarke und Harris bedenkt, ist mörderisch. Und hätte ich nicht plötzlich das Gefühl, jemand schnüre mir den Brustkorb ein, würde ich womöglich lachen.

»Was ist hier los, meine Herren?!«, fährt sie die beiden an, die erschrocken zurückweichen. Darcy erwartet offenbar keine Antwort, denn sie richtet ihre Aufmerksamkeit voll und ganz auf mich. »Josh, langsam ein- und ausatmen. Nicht aufregen. Wir sind froh, dass es Ihnen schon wieder so gut geht. Wir wollen doch nichts riskieren, nicht wahr?«

Ich nicke gehorsam und komme ihrer Aufforderung nach. Aus dem Augenwinkel sehe ich Clarke neben Darcy stehen. Sein Gesicht ist so weiß wie die Wand hinter ihm. Und dennoch ist es eben seine Anwesenheit, die mir eine gewisse Ruhe vermittelt. Vielleicht sogar Sicherheit. Ich fokussiere mich auf ihn, unsere Blicke treffen sich und verschmelzen regelrecht miteinander. Sollte ich mich fragen, warum das so ist? Und ja, eventuell sollte ich mir ebenso Gedanken darüber machen, ob es überhaupt angemessen ist, so zu empfinden. Ich weiß tief in mir drin, ich kenne diesen Trenton Clarke. Und ich bin mir sicher, dass er nicht nur ein Bekannter ist. Wer also ist er?

»So ist’s gut«, lobt mich Darcy und drängt sich zwischen uns. Nicht nur verbal, sondern auch körperlich, sodass ich den Blickkontakt zu Trenton verliere. Daraufhin fährt sie zu den beiden Männern herum. »Letzte Chance. Sollte ich noch einmal reinkommen müssen, setze ich Sie vor die Tür. Ich hoffe, wir verstehen uns, meine Herren.«

Gehorsames Nicken folgt, ehe Darcy mir einmal mehr ihre Aufmerksamkeit schenkt, über den Arm streicht und mich anlächelt. »Sollten Sie die Herren zu sehr belästigen, drücken Sie den Knopf.«

Sie wirft Harris und Trenton einen letzten, bitterbösen Blick zu und stiefelt von dannen.

»Ich wusste, dass sie den Job verfehlt hat«, grummelt Harris, als würde er Darcy schon ewig kennen, bevor er sich den Stuhl wieder heranzieht und sich zu mir setzt. »Cooper, Sie sollten sich wirklich nicht zu sehr aufregen, ich habe keine Lust, dass mir der Irrwisch da draußen den Kopf von den Schultern reißt«, flachst er nun und bedeutet Trenton, näher zu treten.

Wie selbstverständlich nehme ich Trentons Hand in meine, was Harris mit einem wissenden Lächeln quittiert und sinniert: »Wo fangen wir am besten an?«

»Bei meinem Namen.«

»Guter Einstieg. Josh Walker ist nur ein Deckname. Trenton hat schon recht, wenn er sagt, sie heißen Cooper Pearson. Klingelt da was bei Ihnen?«

»Ich dachte es erst.«

Trenton drückt mir sanft die Hand. »Wir bekommen das alles wieder hin.« Mir ist nicht klar, ob er damit mich oder sich selbst zu überzeugen versucht. Welche Rolle spielt er in meinem Leben? Er könnte mein Bruder sein. Nein, der Name stimmt nicht. Außer … Ist er womöglich ein Cousin? Würde ich einem Verwandten derartig tiefe Gefühle entgegenbringen? Das passt für meinen Geschmack nicht zusammen. Und apropos Verwandte … Was ist mit meinen Eltern? Etwas tief in mir drin rebelliert bei diesem Gedanken. Wut steigt in mir hoch. Diese ist jedoch anders als die Wut, die ich in den letzten Stunden verspürte. Sie ist nicht verzweifelt, eher erbarmungslos und richtet sich nicht auf beide. Nein, nur auf meinen Vater. Wie kann das sein, wenn ich mich im Moment nicht einmal an ihn erinnere? Was stimmt hier nicht?

Erst jetzt geht mir ein Licht auf. »Ein Deckname?«

»Der war notwendig. Ebenso notwendig, wie Sie aus London rauszuschaffen. Sie wissen doch, wo Sie hier sind, oder?«

Ich schnaube abfällig. »Schön wär’s. Die Leute hier mögen ja vielleicht eine Menge von ihrem Job verstehen, aber andererseits tun sie, als gehörten sie dem Geheimdienst an und würden zu Verrätern an der Krone, sollten sie mir auch nur den Hauch einer Andeutung geben. Also nein, niemand fühlte sich bemüßigt, mich in Kenntnis zu setzen.«

Harris blickt anerkennend zur Tür und murmelt: »Wer hätte das gedacht.«

»Also könnten Sie mir jetzt bitte sagen, wo ich bin?«

»Du bist in Valley«, klinkt sich Trenton abermals ein.

»Valley?«

»Auf Anglesey.«

»Ich weiß, wo das liegt. Aber was zum Henker mache ich hier?«

»Wie schon gesagt«, ergreift Harris das Wort, »wir mussten Sie in Sicherheit bringen, nachdem Trenton und zwei seiner Freunde Sie zusammengeschlagen aufgefunden haben.«

Erstaunt blicke ich auf. »Du hast mich gefunden? Wo?«

»In meiner Werkstatt.« Trenton ringt um Selbstbeherrschung und schluckt hart, ehe er mit bebender Stimme sagt: »Es tut mir so leid, dass ich nicht da war, als du mich gebraucht hast.«

Die Art, wie er das sagt, lockert plötzlich einen Knoten in meinem Kopf. Schlagartig wird ein Teil meiner Erinnerungen freigesetzt. Vor meinem inneren Auge … Nein, keine Bilder, es sind Stimmen, die ich höre.

»Wartet!«, bitte ich leise, ehe ich Trents Hand umklammere und versuche mich zu konzentrieren.

Anfangs nur Wortfetzen, dann kämpfen sich ganze Sätze an die Oberfläche.

Ich höre Trenton fluchen, bevor er nach einem Krankenwagen brüllt.

Jemand antwortet, er wäre bereits auf dem Weg. Diese Stimme kann ich nicht zuordnen.

Trenton klingt angsterfüllt, als er etwas fragt.

Plötzlich spüre ich, wie warme Hände mein Gesicht unsagbar sanft umschließen und ich kann mich an jedes einzelne Wort von Trenton erinnern. »Du verdammter Mistkerl wirst nicht einfach so aus meinem Leben verschwinden. Ich schwöre dir, ich …« Trent versagt die Stimme.

Wieder beruhigende Worte einer fremden Person. Trenton murmelt etwas, ehe sich jemand einen Weg durch umstehende Leute zu bahnen scheint. Das ist das Letzte, was ich höre. Alles, was danach kommt, sind unerträgliche Schmerzen, die meine Sinne vernebeln.

 

»Hey, Cooper«, holt mich Trenton sanft zurück. Mein Atem geht wieder schnell. Aber es ist keine Panik, die mir die Brust zuschnürt. Diesmal bin ich über die Wucht meiner Gefühle für eben jenen Mann neben mir erstaunt.

Ich blicke zu ihm auf und flüstere: »Wer bist du?«

Trenton kommt nicht dazu, mir zu antworten, da Harris abermals das Wort an sich reißt. »An was haben Sie sich erinnert?«

»Ich war da und doch nicht da. Weshalb ich nur Stimmen gehört habe. Das muss zu dem Zeitpunkt gewesen sein, als ihr mich gefunden habt«, erkläre ich Trenton. Dem die Erinnerung daran zu schaffen machen muss. Auf seinem Gesicht spiegelt sich Entsetzen und Reue wider.

»Das klingt vielversprechend. Sagen Sie, Cooper, haben Sie irgendeine Idee, wer Ihr Vater ist?«

Schlagartig ist wieder diese Wut da. »Nein, ich weiß nur, dass ich ihn hasse.«

»Ein wirklich starkes Gefühl. Haben Sie eine Ahnung, was der Grund dafür sein könnte?«

»Inspector, so blöd sich das jetzt anhören mag, ich bin froh, überhaupt etwas zu empfinden. Denn so wie Doktor Doherty sagte, bedeutet das, meine Erinnerungen sind nicht vollends verschüttgegangen. Soweit ich weiß, wird heute auch noch ein Psychiater auftauchen. Bin gespannt, was er zu sagen hat. Allerdings gehe ich mal stark davon aus, dass Sie einen triftigen Grund haben, mich nach meinem Vater zu fragen. Und wenn ich eins und eins zusammenzähle, hat er etwas mit meinem aktuellen Zustand zu tun. Also seien Sie so gut und klären mich doch bitte auf.«

»Ich denk, das ist keine gute Idee, Coop«, beschwört mich Trenton. »Das wird zu viel für dich.«

»Glaub mir, ich weiß deine Sorge zu schätzen, auch wenn mir im Moment nicht klar ist, welche Rolle du in meinem Leben spielst. Ich muss es wissen, sonst werde ich noch verrückt.«

Harris beugt sich vor und stützt seine Ellenbogen auf die Knie. »Hören Sie, mir ist durchaus bewusst, dass das, was ich Ihnen nun sage, nicht leicht zu verkraften ist. Das ist schon schwierig genug, wenn man nicht in so schlechter Verfassung ist wie Sie. Nur denke ich, Sie haben ein Recht drauf, zu erfahren, wer Ihr Vater ist. Vielleicht hilft es Ihnen sogar, sich zu erinnern.« Er schweigt eine Sekunde, ehe er endlich mit der Wahrheit rausrückt. »Ihr Vater ist Raylee Pearson, der Präsident der Lions, einem Motorradclub in London. Ich will nicht ins Detail gehen, aber uns ist bekannt, dass die Lions in schwere Straftaten verwickelt sind. Wir ermitteln seit Jahren gegen sie. Und wir können nicht beweisen, dass er etwas mit dem Überfall auf Sie zu tun hat, dennoch glauben wir, dass dem so ist.«

Ich zucke zusammen, als mir eine Unterhaltung einfällt. »Du bist mein Sohn und hast zu tun, was ich dir sage. Es wird Zeit, dass du Pflichten übernimmst. Solltest du das nicht freiwillig tun, werde ich einen Weg finden, dich daran zu erinnern, wer du bist und wohin du gehörst.« Ich fühle mich ausgeliefert, ohnmächtig, eigene Entscheidungen zu treffen. Wut ist allgegenwärtig und doch spüre ich etwas in mir, das mich davon abhält, ihm – meinem Vater – die Stirn zu bieten. Nicht weil ich feige bin, sondern weil ich jemanden schützen will. Unvermittelt wird mir klar, wer dieser Jemand ist: Trenton.

 

Ende der Leseprobe. Das Buch ist als Ebook und Taschenbuch auf Amazon erhältlich.

Impressum

Texte: Nele Betra
Bildmaterialien: depositphotos
Cover: Nele Betra
Lektorat: Brigitte Melchers / Bernd Frielingsdorf
Satz: Nele Betra
Tag der Veröffentlichung: 30.10.2018

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