Cover

Leseprobe

Unverhofft kommt oft

- Corey -

 

September

 

»Abby, Schätzchen, wann war noch mal der Termin für Cunningham angesetzt?«

Aus dem hinteren Vorbereitungsraum höre ich sie murren: »Da gibt es eine Erfindung, die nennt sich Kalender.« Daraufhin erscheint ihr Rotschopf im Durchgang zum Verkaufsraum, in dem ich nervös das letzte Mal an zwei Gestecken für den Empfangstresen der Anwaltskanzlei Cunningham & Cunningham Hand anlege. Auch wenn ich es mir nicht anmerken lassen will, bin ich ziemlich durch den Wind. Immerhin hängt einiges von dieser Lieferung ab.

Sollten sie zufrieden mit unserer Arbeit und dem Angebot sein, das wir ihnen unterbreiten, stehen die Aussichten gut für einen Zweijahresvertrag, den wir ebenfalls aufgesetzt haben und heute aushändigen. Wöchentliche Belieferung inklusive Pflanzenpflege in der Kanzlei.

Darauf arbeiten Abby und ich seit der Eröffnung des Buttercups von vor drei Jahren hin.

Werden wir von Cunningham engagiert, haben wir den Fuß in der Tür zu einer Klientel, die so zugeknöpft ist wie die Queen.

»Jaja, ich weiß«, gehe ich nun auf ihr Gemecker ein. »Sagst du’s mir nun oder muss ich echt nach hinten und selbst nachsehen?«

Abby wirft einen Blick auf die Wanduhr über dem Verkaufstresen. »Du hast noch gut zwei Stunden. Allerdings würde ich nicht auf den letzten Drücker losfahren.«

»Ich gäbe was drum, mit der Tube fahren zu können. Sieht nur etwas seltsam aus, wenn ich mich hinter riesigen Blumenarrangements verstecke. Wer hat eigentlich diesen dämlichen Termin gemacht? Heiliges Buschröschen! Ausgerechnet zum besten Feierabendverkehr.«

»Du weißt so gut wie ich, dass wir uns das nicht aussuchen können. Der Kunde ist König. Und tja, in diesem Fall ist es Spencer Cunningham. Also sei nett und versau’s nicht.«

»Du hast ihn doch schon kennengelernt. Was macht er denn für einen Eindruck?«

Abby zuckt mit den Schultern. »Was für einen Eindruck? Du kannst Fragen stellen. Schatz, er ist Anwalt. Stammt aus einer Anwaltsfamilie und geht, glaube ich, sogar mit einem dreiteiligen, maßgeschneiderten Anzug ins Bett. Wie also denkst du, dass er ist?«

»Ach du Scheiße! Sag mir nicht, dass er jedes Klischee eines spießigen Rechtsverdrehers bedient.«

»Er ist hübsch, das steht zumindest mal fest.«

»Super. Und was soll das jetzt wieder heißen?«

»Keine Ahnung. War nur ’ne Feststellung. Allerdings ist er ein sehr ernster Typ. Zum Lachen geht er garantiert in den Keller.«

»Abby«, stöhne ich. »Gib mir was, womit ich arbeiten kann.«

»Fahr hin, red mit ihm und passe dich der Situation an. Du bist so schon aufgeregt genug. Ich will dich nicht noch mehr verunsichern. Sei einfach du selbst. Dann kann nichts schiefgehen.«

Ich lache. »Dein Ernst? Ich soll ich selbst sein?«

»Jahaaa.«

Kopfschüttelnd frage ich: »Warum kümmert er sich eigentlich darum? Hat er keine Sekretärin, die ihm so lächerliche Dinge abnimmt?« Für uns ist diese Sache definitiv nicht lächerlich. Allerdings ging ich bisher davon aus, Anwälte hätten Wichtigeres zu tun.

»Gute Frage. Ich war selbst erstaunt, als er hier höchstpersönlich anrief. Zumindest kann ich dir versichern, an Sekretärinnen mangelt es ihnen nicht. Soweit ich gesehen habe, gibt es zwei, die aber vorrangig für die alten Herren arbeiten. Zuzüglich der netten Lady am Empfang, die wohl auch Anwaltsgehilfin ist und der jüngeren Generation zur Verfügung steht, laufen da also genug Leute herum, die sich um so etwas kümmern könnten.«

»Dann gibt es mehr als zwei Anwälte?«

Abby kommt auf mich zu und verdreht genervt die Augen. »Wenn du dir mal die Mühe gemacht hättest, die Kundenkartei anzusehen, die hinten im Büro im Schrank liegt, wüsstest du Bescheid.«

»Erzähl’s mir. Geht schneller«, maule ich. Dieser Part unseres Geschäfts ist absolut nicht mein Ding. Kunden akquirieren, Buchhaltung und der ganze Schmus, der da so dranhängt, ist Abbys Angelegenheit. Ich arbeite lieber mit Pflanzen und lasse meiner Kreativität freien Lauf. Nein, stimmt nicht, es gibt noch eine Sache, die mir unendlich viel Spaß bereitet. Die Auslieferung. Es ist wundervoll, zu sehen, wie glücklich die Menschen sind, wenn ich ihnen im Auftrag von wem auch immer Blumen überreiche. Wer kann schon von sich behaupten, in seinem Job andere glücklich machen zu können? Mir fällt gerade niemand ein.

Abby zupft eine Rose zurecht und seufzt. »Also gut. Hier die Kurzfassung. Cunningham & Cunningham besteht nicht nur aus Papi und Sohnemann. Sie haben sich wahrscheinlich nur darauf geeinigt, es bei zwei Cunninghams im Namen zu belassen. Die Kanzlei existiert seit fünf Generationen.« Sie atmet tief durch und zählt an den Fingern auf: »Da hätten wir Milton und Montigue Cunningham. Sie sind Zwillinge und schätzungsweise über siebzig. Ersterer ist der Vater von Spencer Cunningham, mit dem du heute den Termin hast. Dann gibt es noch Spencers Schwester Bethany und seinen Ehemann Paul. Sie ist übrigens eine wirklich liebe. Ich kann sie mir beim besten Willen nicht als taffe Prozessanwältin vorstellen. Aber gut, stille Wasser sind tief …«

»… und dreckig«, beende ich für Abby, die mir sofort einen Hieb gegen den Oberarm verpasst.

»Hey, sei vorsichtig, was du sagst.«

»Sorry. Also, weiter im Text!«

»Sie haben ihre Sekretärinnen Schrägstrich Anwaltsgehilfinnen. Jede von ihnen ist mit Sicherheit auch so etwas wie eine persönliche Assistentin, die sich um …«, Abby wedelt in der Luft herum, »… was weiß ich, Anzüge in die Reinigung bringen und so’n Kram eben kümmert.«

»Und ich frage dich ein weiteres Mal. Warum beschäftigt sich Spencer Cunningham mit der floristischen Gestaltung der Kanzlei?«

»Ich. Weiß. Es. Nicht. Frag ihn doch, wenn du nachher mit ihm sprichst.«

»Ja klar. Damit er mich sofort vor die Tür setzt wegen ungebührlichen Benehmens?«, feixe ich.

»Spinner! Jetzt sieh zu, dass du alles fertig machst und nichts vergisst. Du weißt, ich würde dich nicht schicken, wenn es anders ginge, aber ich muss unbedingt noch die Tischgestecke für den morgigen Hochzeitsempfang fertigstellen.«

»Lass mich das doch machen«, nörgle ich.

»Fang nicht schon wieder an. Ich habe Eve versprochen, dass ich mich darum kümmere. Und du weißt, sie ist da pingelig.«

»Stimmt. Mir ist immer noch ein Rätsel, wie du mit ihr befreundet sein kannst.«

Abby zuckt mit den Schultern. »Sie ist nicht so übel. Du müsstest ihr nur mal eine Chance geben.«

»Wofür? Damit sie mir die Ohren blutig quatscht? Nein danke, verzichte freiwillig.«

»Dann hör jetzt auf zu nölen und mach dich auf den Weg.«

»Wie immer Hoheit befehlen.«

»Wie ich schon sagte: Spinner!«

Normalerweise bin ich nicht so schräg drauf. Aber es nervt mich endlos, dass die Verantwortung heute bei mir liegt. Was ist, wenn ich versage? Was ist, wenn ich meine Klappe nicht halten kann? Tja, einfache Antwort: Tschüs Auftrag. Willkommen Taubstumm-Frühstück für die nächsten fünf Jahre. Denn so lange wird es mit Sicherheit dauern, bis mir Abby verziehen hätte. Wenn nicht länger.

Wie dem auch sei. Ich muss mich jetzt konzentrieren und versuchen, meine verbale Inkontinenz zu beherrschen, bis ich aus der Kanzlei wieder raus bin.

»Du schaffst das, Schatz. Ich vertraue dir.«

»Na danke, das setzt mich überhaupt nicht unter Druck«, necke ich Abby, während ich sie in eine freundschaftliche Umarmung ziehe. »Ich reiß mich zusammen. Versprochen.« Immerhin ist mir die ganze Sache auch wichtig, selbst wenn ich im Moment einen auf unverbesserlichen Nörgler mime.

Keine zehn Minuten später sind die Gestecke sicher verstaut und ich sitze in Tante Ju, wie wir unseren in die Jahre gekommenen Lieferwagen nennen, und quäle mich durch den Feierabendverkehr raus aus Notting Hill und in Richtung City.

Warum wir den Citroën H Tante Ju getauft haben? Ganz einfach. Die Wellblechoptik und spitz zulaufende Front ähnelt einer Junkers Ju 52 mit ihrer charakteristischen Wellblechbeplankung, die – richtig geraten – den Spitznamen Tante Ju trägt. Unser Mädchen mag sich zwar nicht wie das genannte Flugzeug in die Lüfte erheben, aber sie ist ebenso zuverlässig.

Mit ihren dreißig Jahren leistet sie uns immer noch treue Dienste. Und solange Tante Ju durchhält, solange wird sie auch nicht verschrottet. Obendrein sind Abby und ich uns einig, dass sie mit ihrem ländlich-nostalgischen Charme ein echter Hingucker ist.

Nun gut, hin und wieder würde ich mir ein wenig mehr Komfort in der Fahrerkabine wünschen, aber man kann nicht alles haben. Die Fenster funktionieren und wenn wir Musik hören wollen, nehmen wir eben mit dem Uraltradio vorlieb. Notfalls singe ich. Was ich allerdings nur bei geschlossenen Scheiben in Erwägung ziehe – meistens. Ich wurde bereits von Passanten darauf aufmerksam gemacht, dass sich ihnen die Fußnägel aufrollen würden. Was soll ich sagen, mein Katzengejammer ist halt nur was für Kenner.

Wie ich so durch Paddington und am Hyde Park vorbeifahre, geht mir wieder das bevorstehende Gespräch mit Cunningham durch den Kopf. Unwillkürlich werfe ich einen kurzen Blick an mir runter auf meine Klamotten und in den Rückspiegel. Ich sehe aus wie immer. Was für eine Überraschung. Nur irgendwie habe ich plötzlich das Gefühl, ich hätte mir etwas anderes als meine abgewetzte Latzhose und das saubere, aber alte Sweatshirt anziehen sollen. Von meinen Haaren, die in alle Himmelsrichtungen stehen, will ich gar nicht erst anfangen. »Shit«, murre ich an einer roten Ampel mein Spiegelbild an.

Warum hat Abby nichts gesagt? Ich meine, sonst ist sie doch auch nicht um Worte verlegen.

Ich erinnere mich an letztes Wochenende. Wir wollten Samstagabend auf einen Absacker in Soho einfallen. Ich stand bereits an der Wohnungstür und wartete dort auf Abby. Sie schnappte sich ihre Handtasche, drehte sich zu mir um und riss geschockt die Augen auf. Sie tat gerade so, als hätte ich nackt vor ihr gestanden. Was für andere Frauen kein Grund gewesen wäre, so entsetzt zu sein. So schlecht sehe ich nun auch wieder nicht aus. Nur liegt Abbys Fokus mehr auf der weiblichen Fraktion der Bevölkerung.

Jedenfalls deutete sie voller gespieltem Entsetzen auf mich und meinte: »Schatz, du gehst dich sofort umziehen! Mag ja sein, dass du keinen gesteigerten Wert auf Gesellschaft legst, aber ich hatte heute nicht vor, die Nacht allein in meinem kalten Bett zu verbringen. Und das wird definitiv der Fall sein, wenn du so mitkommst. Du vergraulst mir doch die ganzen hübschen Weiber, Menschenskind!«

Ich versuchte ihr zu erklären, dass ich absolut passend gekleidet war. Was ins Leere lief. Na ja, das Ende vom Lied war, dass ich mich umzog und im Nachhinein ruhigen Gewissens behaupten kann, ich hätte ihr kein One-Night-Stand vermasselt.

Okay, ich gebe zu, ich bin vom Aussehen her nicht der typische schwule Florist von nebenan. Keine Ahnung, was da bei der Erziehung falsch gelaufen ist. Ich brauche es bequem.

Zurück zum Thema. Jetzt stellt sich mir natürlich die Frage: Warum ist es mir plötzlich so wichtig, wie ich aussehe?

 

Nachdem ich das zweite Mal den Aufzug in die 25. Etage des Shards, einem markant nach obenhin spitz zulaufenden Wolkenkratzer nahe der London Bridge, mit meiner Fracht in Beschlag genommen habe, stehe ich nun schnaufend vor der Empfangsdame der Kanzlei und bin für den Moment total fasziniert.

Karottenrotes Haar, das ihr offen über die Schultern fließt, leuchtet wie ein Heiligenschein und jadegrüne Augen strahlen mich an, als wäre ich der Heiland. Ich schätze sie auf Mitte zwanzig. Und in ihrem moosgrünen, hautengen Businesskleid macht sie eine fantastische Figur. Allerdings glaube ich, es ist ihre Ausstrahlung, die mich so in ihren Bann zieht. Sie wirkt absolut offen und von Herzen freundlich. Nicht so aufgesetzt wie manch andere eingebildete Tante, die meinen, weil sie am Empfang sitzen, gehöre ihnen die Weltherrschaft.

Heilige Freesie, ich stehe ja nicht auf Frauen, aber sie hat was Besonderes an sich. Ich überspiele meine Überraschung, werfe einen kurzen Blick auf ihr Namensschild und melde mich atemlos an. »Hi, Paige. Corey Tyler vom Buttercup. Ich habe einen Termin mit Spencer Cunningham.« Um meine Worte zu unterstreichen, nicke ich in Richtung der Gestecke, die nicht zu übersehen und, wie ich nun feststelle, farblich auf die Einrichtung von C&C abgestimmt sind.

»Willkommen, Mr. Tyler. Warten Sie bitte einen Moment. Ich melde Sie sofort an.« Sie zeigt mit einem Kugelschreiber auf eine Sitzecke mit ledernen Sesseln zu meiner Rechten. »Wollen Sie sich nicht einen Augenblick hinsetzen und darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten?« Sie ist absolut hinreißend.

»Das ist wirklich nett, danke. Aber ich warte hier. Ich verspreche auch, vor Erschöpfung nicht in Ohnmacht zu fallen.«

Sie grient mich an und nickt. »Oh, gut. Ich wüsste sonst nicht, wie ich das meinen Chefs erklären sollte.«

»Vielleicht mit Ihrer Schönheit, die mit Sicherheit jeden von den Socken haut, der hier eintrifft.«

Paige kichert und schüttelt gutmütig den Kopf, während sie auf der Telefonanlage herumtippt, den Hörer ans Ohr hält und sagt: »Spencer, hier ist ein Mr. Tyler für Sie … In Ordnung, ich richte es ihm aus.« Sie legt auf. »Er ist gleich für Sie da.«

Ich stütze mich mit den Unterarmen auf den Empfangstresen und beuge mich zu ihr vor. »Im Ernst, Sie wirken wie ein Engel. Ich glaube, deswegen hat man Sie eingestellt. Egal wer hier ankommt und in welcher miesen Laune derjenige sein mag, sobald er Sie sieht, geht es dem Betreffenden viel besser.«

Paige läuft rot an und ich kann nicht glauben, was ich hier gerade mache. Ich flirte mit einer Frau!

»Da kann ich Ihnen nur recht geben, Mr. Tyler«, ertönt eine sonore Stimme hinter mir. Es rieselt heiß über meinen Rücken. Heiliger Kaktus! Ich wende mich der Quelle meines wohligen Schauders zu und mir bleibt das nächste Wort im Hals stecken, während ich im Geiste Abby zur Schnecke mache. Er ist hübsch? Da merkt man mal wieder, dass du keine Ahnung von Männern hast, mein Schatz. Er ist einfach nur atemberaubend. Und verdammt noch mal verheiratet, rufe ich mir nun ins Gedächtnis, bevor ich mich komplett zum Narren mache.

»Ähm, hi.« Oh wow, das war eloquent.

Innerhalb eines Wimpernschlags checke ich ihn ab. Yep, er trägt einen Dreiteiler, wie Abby sagte. Aber verdammt, der sitzt, als hätte ihn jemand auf Spencers Leib geschneidert. Blödmann! Das wird auch so sein.

»Spencer Cunningham«, stellt sich mir der Mann vor.

Ich ergreife seine Hand und stammle: »Tyler … ähm, Corey Tyler.«

»Vom Buttercup, ich weiß.« Seine Stimme ist samtig-weich wie ein achtzehnjähriger Single Malt. Im Gegensatz zu seiner Miene, die keinerlei Regung zeigt und das passende Eis zum Whisky wäre, würde man auf on the rocks stehen.

»Abby lässt sich entschuldigen. Ich hoffe, es geht in Ordnung, wenn wir miteinander reden.«

»Natürlich. Wie ich sehe, haben Sie die Muster mitgebracht. Lassen Sie sie uns doch gleich aufstellen, damit sie aus dem Weg sind. Paige, können Sie ein wenig Platz an jedem Ende des Tresens schaffen?«

»Selbstverständlich«, erwidert sie pflichteifrig und wirbelt sofort los.

Nachdem ich die Gestecke ordentlich aufstelle und einige Blüten zurück an ihre vorbestimmten Positionen drapiere, warte ich auf Cunninghams Urteil.

Der nickt aber nur. Schwer zu sagen, ob er zufrieden ist oder nicht.

Ich glotze ihn schweigend an.

»Der Vertrag«, ruft mir Cunningham in Erinnerung.

»Oh, ja klar.« Ich krame hektisch in meinem Rucksack, befördere die Mappe mit den Unterlagen zutage und halte sie ihm entgegen.

»Sehr schön. Kommen Sie!«, fordert Cunningham, dreht sich auf dem Absatz um, lässt mich stehen und bietet mir auf diese Weise einen wahnsinnig faszinierenden Ausblick auf seine Heckansicht. Die einfach zu sehenswert ist, um an etwas anderes zu denken.

»Gehen Sie!«, flüstert Paige und holt mich so aus meiner Starre.

»Ups«, kommentiere ich meine Unfähigkeit, mich wie ein normaler Mensch zu benehmen. Was Paige ein leises Kichern entlockt, bevor ich mich an Spencers Fersen hefte.

Wie ich ihm folge, lasse ich meinen Blick durch den Flur und die angrenzenden, durch Glas abgetrennten Büros gleiten. Also von Privatsphäre hat hier auch noch niemand was gehört.

Plötzlich stoppe ich abrupt und werde an den Oberarmen aufrecht gehalten. Scheiße, ich bin in Spencer reingelaufen. Erschrocken blicke ich nach vorn und auf seine Krawatte, dann hinauf in sein Gesicht, wo ich ein amüsiertes Grinsen sehe, ehe es wieder verschwunden ist. Habe ich mir das eingebildet?

»Vorsichtig! Wir wollen ja nicht, dass Sie uns auf Schmerzensgeld verklagen.«

Ach, er kann auch humorvoll? Interessant. Vielleicht geht er zum Lachen doch nicht in den Keller. »Können Sie mir einen guten Anwalt empfehlen?«

Cunningham öffnet eine weitere Glastür und bittet mich herein. »Da wäre mein Mann genau der richtige für Sie.«

Tja, vielen Dank auch. Das hat gesessen.

»Nehmen Sie Platz, Corey.«

»Danke.«

Mein Bauchgefühl lag nicht falsch, als es mir weismachte, ich hätte bessere Kleidung in Erwägung ziehen sollen. In Cunninghams Anwesenheit komme ich mir schäbig vor. Ich beäuge vorsichtshalber den angebotenen Besucherstuhl.

»Keine Bange. Unsere Reinigungskraft ist eine Zauberin. Sie entfernt jeden Fleck, egal, auf welchem Stoff er sich befindet.«

Na toll, jetzt fühle ich mich gleich noch beschissener. Was soll’s, stehen ist ebenso wenig eine Option. Also sinke ich mit dem Hintern auf die Sitzkante und hoffe, so das Risiko, Schmutz zu hinterlassen, auf ein Minimum zu reduzieren.

»Zeigen Sie mal her.«

Ich überreiche Cunningham die Mappe und warte, damit er sich alles in Ruhe ansehen kann. Zwischenzeitlich blicke ich mich in seinem Büro um und finde neben den üblichen Gesetzesbüchern und diversem anderen Kram Bilder mit Spencer und einem weiteren Mann an seiner Seite. Das muss dann wohl seine bessere Hälfte sein. Wie hieß er doch gleich? Paul, glaube ich. Ich muss zugeben, sie sehen gut zusammen aus.

Cunningham räuspert sich und ich fühle mich auf frischer Tat ertappt. Er nickt in Richtung der Bilderrahmen. »Mein Mann, Paul.«

»Entschuldigung. Ich wollte nicht neugierig erscheinen.«

Er zuckt mit den Schultern. »Wenn ich ihn verheimlichen wollte, würde ich keine Bilder von uns aufstellen, richtig?«

»Stimmt auch wieder.« Mein Blick fällt auf die vor ihm ausgebreiteten Unterlagen. »Und, was meinen Sie?«

»Sieht gut aus. Über die Laufzeit hätte ich gern noch gesprochen. Sind Sie entscheidungsbefugt?«

Was glaubt der gute Mann eigentlich? Dass ich ’ne billige Aushilfskraft bin oder was? Mir fällt mein Aufzug ein. Na ja, den Eindruck erwecke ich wohl. »Ich bin Miteigentümer des Buttercups, also ja.«

»Verzeihung, das hätte mir klar sein sollen. Immerhin steht Ihr Name im Vertrag.«

»Kein Problem, Sie sind nicht der Erste, der so denkt. Im Grunde bin ich ja selbst schuld, wenn ich rumrenne, als hätte ich noch vor zehn Minuten im Gewächshaus gearbeitet.«

»Nein, im Ernst, das zeigt mir nur, dass Sie Ihren Job lieben. Woran absolut nichts auszusetzen ist.« Es scheint ihm echt peinlich zu sein. Das macht ihn irgendwie sympathisch und mir tut es leid, dass er sich unwohl fühlt.

Weshalb ich nicht weiter darauf herumreite und ihm ein perfektes Lächeln schenke. Gelernt ist gelernt. »Alles gut, Mr. Cunningham.«

»Spencer«, verbessert er mich und überrascht mich abermals.

»In Ordnung, dann Spencer. Zurück zum Geschäftlichen. Sie wollten über die Laufzeit reden?«

»Ja, hier stehen zwei Jahre.«

»Zu lang?«, werfe ich ein.

»Ich hätte da einen anderen Vorschlag. Was halten Sie davon, wenn wir die ersten sechs Wochen als Probezeit vereinbaren, mit der Option auf unbefristete Verlängerung? Nicht, dass ich Ihnen schlechte Arbeit unterstelle. Bei Weitem nicht. Die Muster, die Sie mitgebracht haben, übertreffen all meine Erwartungen. Nur möchte ich sehen, ob wir auch gut zusammenarbeiten.«

Zusammenarbeiten? »Wie meinen Sie das?«

»Ich bin ein Verfechter des Zwischenmenschlichen«, stellt Spencer in den Raum.

Ach ne, und das aus dem Mund eines Mannes, der offenkundig eine emotionslose Fassade vor sich herträgt wie ein Schild. Nun gut, vielleicht hier und da mit ein paar kleinen Rissen. Aber dennoch scheint er mir kein geselliger Typ zu sein. »Und wie stellen Sie sich das bitte vor? Ich meine, wir werden uns sicher nicht allzu oft über den Weg laufen. Immerhin haben Sie Ihren Job und wir unseren.«

Spencer mustert mich einen Moment und lächelt plötzlich verstehend. »Ich glaube, ich bin nicht der Einzige hier, der nach dem Äußeren seines Gegenübers urteilt. Kann das sein?«

Scheiße! Er hat recht. Ich schlucke hart. »Scheint so.«

Bedächtig legt er seine Unterarme vor sich ab und spielt mit einem teuer aussehenden Füllfederhalter. »Hören Sie, Corey, ich wäre wirklich froh, wenn sich zwischen uns und dem Buttercup in Zukunft eine stabile Partnerschaft entwickeln würde. Hier geht es jedoch nicht in erster Linie um uns als Kanzlei. Wollen Sie nicht auch sicherstellen, dass wir gut miteinander auskommen? Was spricht dagegen, einen sechswöchigen Probelauf abzuwarten, bevor wir uns auf lange Zeit binden?«

»Macht Sinn.« Stimmt schon. Was wäre, wenn Abby und ich es hassen würden, für C&C zu arbeiten, oder mit ihnen? Das wäre ein Albtraum. Für mich und für Abby.

»Sie müssen nicht sofort darüber befinden. Sprechen Sie mit Ihrer Partnerin und rufen Sie mich an.«

Ich bin mir nicht im Klaren, ob es eine gute Idee ist. Dennoch finde ich, es ist wichtig für mich, hier und jetzt eine geschäftliche Entscheidung zu fällen. Das erste Mal überhaupt, ohne vorher Rücksprache mit Abby zu halten. Aber der Mann hat mir die Sachlage plausibel erklärt. Und bevor ich mit eingezogenem Schwanz den Rückzug antrete, der mich rückgratlos dastehen lässt, gehe ich lieber das Risiko ein, mir Abbys Unmut zuzuziehen. Der ist leichter aus der Welt geschafft, als womöglich einen Auftrag zu riskieren, der uns in der gehobenen Gesellschaft etablieren könnte. »Ich denke, das geht in Ordnung. Sollen wir den Vertrag neu aufsetzen?«

»Wenn Sie wollen, können wir die Punkte gleich hier überarbeiten. Wir streichen Paragraf 6 und ergänzen die besprochene Änderung unter ›sonstige Abreden‹. Ich unterschreibe und Sie nehmen beide Ausfertigungen noch einmal mit. So kann Mrs. Harper einen Blick drauf werfen und reißt Ihnen nicht den Kopf von den Schultern.«

»Sie denken, das würde sie tun?«, frage ich erstaunt nach.

»Sie vergessen, ich habe Ihre Partnerin bereits kennengelernt. Und ob Sie es glauben oder nicht, ich verfüge über eine passable Menschenkenntnis.«

»Was Sie in Ihrem Beruf wohl gut gebrauchen können.«

»Richtig. Also, was sagen Sie?«

Ich wedle über dem Schreibtisch herum und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. »Ändern Sie es ruhig ab. Und dann wäre ich doch sehr neugierig, was Sie über Abby denken.«

Spencer runzelt die Stirn, macht sich jedoch sofort ans Werk, während er murmelt: »Auf was lasse ich mich hier gerade ein?« Sarkastische Worte, die sicher nicht für meine Ohren bestimmt sind.

»Auf eine sechswöchige Probezeit, in der wir uns hoffentlich ein wenig besser kennenlernen.« Mist, das klang anzüglich.

Sein Kopf ruckt zu mir hoch, dann sieht er zu den Bildern mit seinem Mann darauf. Tja, ich und mein loses Mundwerk.

»So war das jetzt wirklich nicht gemeint«, rudere ich zurück, als Spencers Blick wieder bei mir ankommt.

Wenn ich mich nicht irre, zupft ein unterdrücktes Lachen an seinen Mundwinkeln. Was mir ein wenig die Anspannung nimmt.

»Keine Sorge. Ich glaube, wir werden uns gut verstehen. Und was Mrs. Harper betrifft, sie ist eine außerordentliche Frau, bei der man nie den Fehler begehen sollte, sie zu unterschätzen.«

»Oh, wie unfair. Das kann nun wirklich alles bedeuten.«

»Für mehr bin ich noch nicht bereit.«

»Höre ich da jetzt den Anwalt?«, necke ich ihn.

Spencer lacht und mir verschlägt es den Atem. Meine Fresse, mehr bitte, denke ich, als er erwidert: »Nein, Sie hören einen Mann mit Erfahrung. Sagen wir mal so, Mrs. Harper ähnelt sehr meiner Schwester. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Ich kenne zwar Ihre Schwester nicht, aber ich würde mal behaupten, wir gehören dem Club der Gleichgesinnten an.«

»Ja, und das nicht nur in einer Hinsicht.«

Schlagartig herrscht Stille und wir sehen uns abwartend an, bis wir in einhelliges Gekicher verfallen. Mal im Ernst, wer hätte das denn vor ein paar Minuten erwartet? Keiner. Ich bin erstaunt und freue mich plötzlich auf die nächsten Wochen, in denen ich mich freiwillig durch London quäle, um die Pflanzen von C&C zu versorgen. Ich muss das jetzt nur noch Abby plausibel verklickern.

Nachdem er beide Ausfertigungen des Vertrages abgeändert und unterschrieben hat, überreicht er sie mir, steht auf und hält mir seine Hand entgegen. Ich folge seinem Beispiel und schlage mit einem festen Händedruck ein, der mir vielsagender vorkommt, als er sollte. Mich beschleicht das unbestimmte Gefühl, ich besiegele etwas, das ich noch nicht überschauen kann und das mir früher oder später in den Hintern beißen wird.

 

Dickköpfig

- Spencer -

 

»Das ist interessant«, flüstert Beth. Sie steht in der Bürotür. Scheinbar beobachtet sie mich bereits eine ganze Weile. Komisch, dass ich sie nicht bemerkt habe.

»Was genau meinst du?«, will ich wissen und schiebe die eben gemachten Notizen zur Seite. Unwichtige Notizen, gebe ich zu. Anstatt mir Gedanken darüber zu machen, wie wir die Kanzleiatmosphäre von minimalistisch und klinisch rein in eine angenehme Wohlfühlstimmung ändern, sollte ich mich auf das Übernahmeangebot eines meiner Klienten konzentrieren. Aber nein, ich hänge dem Gespräch mit Corey nach. Ein netter Kerl, übrigens.

Meine Schwester deutet auf mich. »Du lächelst.«

Ich zucke unbeeindruckt mit den Schultern. »Und?«

Beth wirft einen kurzen Blick in den Flur, ehe sie hereinkommt, die Tür schließt und geschmeidig auf den Besuchersessel gleitet, auf dem zuvor noch Corey gesessen hat … und viele andere, rufe ich mir ins Gedächtnis.

Sie streicht ihren Bleistiftrock glatt – keinen Schimmer, wie man sich darin bewegen kann, ohne über die eigenen Füße zu stolpern – und zupft an ihrer Bluse. »Es ist lange her, dass ich dich so gesehen habe.«

»Gibt eben viel zu tun«, wiegle ich ab.

»Blödsinn!«

Mit absoluter Selbstbeherrschung, die mir offensichtlich vor einigen Minuten vorübergehend abhandengekommen war, lehne ich mich im Stuhl zurück und ziehe herausfordernd eine Augenbraue hoch.

»Lass das!«, kommentiert Beth meine Miene.

»Keine Ahnung, was du meinst.« Stimmt nicht, ich weiß es sehr wohl. Es wurmt Beth schon so lange sie auf der Welt ist, oder besser gesagt, seit ich sie damit ärgern kann, dass ich die Fähigkeit besitze, meine Gesichtszüge bewusst zu kontrollieren. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil in meinem Beruf.

Sie hat als Knirps ständig vor dem Spiegel gestanden und geübt. Sah ziemlich witzig aus, wenn sie à la Benny Hill Grimassen zog. Allerdings schaffte sie es nie, nur eine Braue hochzuziehen. Wenn, dann wanderten beide bis unter ihren Pony. Was sie beinahe in den Wahnsinn getrieben hat.

»Also? Erzählst du mir, warum du so entspannt und offensichtlich amüsiert bist?«

»Merkwürdige Frage.«

»Können wir die bis zur Perfektion einstudierten Ausweichmanöver einfach mal beiseitelassen? Ich habe vor ein paar Minuten einen Kerl in Latzhose aus deinem Büro kommen sehen, der den gleichen Blick draufhatte. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, hier ist gerade etwas sehr Unmoralisches abgelaufen.«

»Ich bitte dich. Wir haben nur über Pflanzen und Gestecke gesprochen.«

»Ah, jetzt weiß ich auch, woher die wunderschönen Blumen am Empfang kommen. Was hast du ausgeheckt, Brüderchen? Und was hat es mit dem Blumenjungen auf sich?«

»Corey ist kein Blumenjunge«, empöre ich mich ungewohnt emotional. »Und du weißt, dass ich diese sterile Atmosphäre hier langsam satthabe. Was aber außer mir keinen zu stören scheint. Also habe ich mich schlaugemacht und einen Fachmann engagiert, der das ändern wird. Und was soll das überhaupt heißen, unmoralisch? Erzähl das bloß nicht deinem Schwager, der macht mir für nichts und wieder nichts die Hölle heiß.«

»War nur Spaß. Ich bin eben überrascht. Denn es ist durchaus wahr, dass du in den letzten Wochen viel zu verbissen warst.« Sie neigt den Kopf und kneift die Augen zusammen. »Sag mal, habt ihr zwei Probleme? Also, du und Paul?«

»Nein, wie kommst du darauf?«

Beth zuckt mit den Schultern. »Kommt mir so vor, als würdet ihr euch aus dem Weg gehen.«

»Wie ich schon sagte, viel zu tun.«

»Hey, ich bin es. Ich sehe dir an, wenn was nicht stimmt. Wir können diese Unterhaltung so wie jetzt bis morgen weiterführen, oder du sagt mir gleich, was los ist.«

Ich seufze und schüttle missbilligend den Kopf, ehe ich klein beigebe. »Also gut. Ich mache mir Sorgen um Paul.« Sorgen, die ich für ein paar Minuten verdrängte, als mich ein witziger Kerl namens Corey davon ablenkte. Er fühlte sich zwar offensichtlich unwohl in seiner Haut, fand sich jedoch schnell zurecht und stand mit seiner ziemlich sympathischen Art seinen Mann. In diesen Räumen eher selten der Fall. Die meisten Mandanten haben Probleme zu bewältigen. Nicht unbedingt gute Voraussetzungen für einen entspannten Umgang und es trägt wenig zur Heiterkeit bei.

Beth beugt sich mit einem alarmierten Blick vor. »Paul? Er wird doch wohl nicht …«

»Nein!«, unterbreche ich sie forsch. »Sprich es nicht einmal aus. Paul ist absolut treu. Himmel, du kennst ihn, er wäre nicht imstande mich zu verletzen, selbst wenn ich ihm einen Grund dafür liefern würde.«

Beth hebt beschwichtigend die Hände. »Sorry. Weiß auch nicht, wie ich darauf komme. Was ist es dann?«

»Er arbeitet zu viel.«

»Hm, tun wir das nicht alle?«

»Ja schon, aber ich glaube, seine Gesundheit leidet darunter. Und der sture Bock weigert sich, zum Arzt zu gehen. Ich habe ihn innerhalb der letzten drei Wochen zweimal auf dem Klo erwischt, wie er mit Kreislaufproblemen kämpfte. Er meinte, es läge am Wetter. Ich bin mir sicher, dass es nicht nur diese zwei Mal vorkam. Er schläft auch schlecht. Na ja, und da ich ihn ständig damit nerve, etwas zu unternehmen, ist er sauer mit mir.«

»Soll ich mit ihm reden?«

Ich lache und erwidere spöttisch: »Ja klar. Als würde er auf dich hören.«

»Ich kann überzeugend sein.«

»Vor Gericht mit Sicherheit. Aber hier geht es nicht um Geschworene, denen du die Unschuld deines Mandanten glaubhaft erklären musst, sondern um meinen dickköpfigen Ehemann.« Und wenn es um Paul geht … Na ja, sagen wir es mal so, er liebt Beth wie seine Schwester und ja, er liebt mich – nicht umsonst sind wir seit zehn Jahren ein Paar und davon bereits fünf verheiratet –, dennoch gibt es Dinge, in die er sich einfach nicht reinreden lässt. In diesem Fall seine Gesundheit. Wobei ich das egoistisch finde, denn immerhin betrifft es mich genauso. Was ist, wenn ihm etwas zustößt? Ich wüsste nicht, wie ich damit zurechtkommen sollte. »Wie dem auch sei, es ist hoffnungslos, mit ihm zu diskutieren.«

»Scheiß Anwälte, hm?«, neckt mich Beth. Dennoch sehe ich, wie ihr nun die gleiche Sorge ins Gesicht geschrieben steht wie mir. »Mein Rat, Brüderchen: Schnapp ihn dir und schleif ihn zum Arzt. Notfalls zieh ihm eine mit dem Baseballschläger über.«

»Du rabiates Weib«, pruste ich.

Ihre Miene erhellt sich, als hätte sie eine Eingebung. »Oh, noch besser. Was hältst du davon, wenn ich Dad anstifte, einen jährlichen Gesundheitscheck für alle Partner einzuführen?«

Die Idee gefällt mir irgendwie. Warum bin ich nicht selbst darauf gekommen? »Nicht schlecht. Nur würde ich Dad da raushalten wollen. Was ist mit Monti?« Unser Onkel ist der kühlere Kopf von den beiden. Er denkt absolut rational. Wenn Beth es schafft, jemanden einen Floh zwecks Zukunftssicherung der Kanzlei ins Ohr zu setzen, dann dem Zwillingsbruder unseres Vaters Montigue Cunningham. Dad wäre in dem Fall keine große Hilfe, da er sofort wüsste, da ist etwas im Busch. Sollte er der Meinung sein, mit Paul stimmt was nicht … Himmel, ich will es mir nicht mal vorstellen. Zumal mir mein Mann das Fell gerben würde, stünde sein Schwiegervater mit einem Arzt vor unserer Haustür. Und das traue ich Dad durchaus zu. Man sieht, ein heikles Thema, das mich seit Wochen beschäftigt. Und wenn ich mich im Hintergrund halte, würde der Verdacht nicht auf mich fallen. Ich blicke Beth an und lächle. »Manchmal könnte ich dich küssen.« Vielleicht hätte ich sie längst einweihen sollen.

»Nur manchmal?«, entrüstet sie sich übertrieben, ehe sie mir zuzwinkert. »Hast du viel um die Ohren?«

Mein Blick fällt auf die Bankunterlagen, die ich für bereits erwähnte Firmenübernahme sichten muss. »Du kannst Fragen stellen.« Wann haben wir mal nichts zu tun?

Beth greift zielsicher über den Tisch und fischt den Notizblock unter den Statistiken hervor, den ich vorher habe verschwinden lassen, und studiert meine Stichpunkte. Dann grinst sie mich an. »Ich bin für alles offen, aber wenn du mir einen Ficus ins Büro stellen lässt, sind wir geschiedene Leute.«

»Verstanden.«

Der Block landet schwungvoll vor mir und Beth erhebt sich, nur um sich mit den Händen vor meinen Armen abzustützen und ihr Gesicht vor meinem zu parken. »Ich habe ein Thunfischsandwich über«, lockt sie mich. »Komm, iss mit mir. Anschließend gehen wir zu Monti. Paul ist vor acht nicht von seinem Meeting zurück. Jetzt oder nie. Danach kannst du immer noch über den zukünftigen Urwald im Gemeinschaftsraum grübeln.«

Ich stöhne verzagt. »Wie lange werde ich das ertragen müssen?«

Beth reibt sich nachdenklich das Kinn. »Hm, bis ich etwas Besseres finde, womit ich dich nerven kann?«

»Also gut. Dann los.«

 

»Ihr wollt was?!«, hakt Monti mit einem Blick nach, der aussagt, wir hätten nicht alle Tassen im Schrank.

»Denkst du nicht auch, wir sollten für die Zukunft von C&C vorsorgen?«, säuselt Beth provokant und zugleich zuckersüß. Sie konnte unseren Onkel schon immer um den kleinen Finger wickeln und weiß andererseits, welche Knöpfe sie bei ihm drücken muss. Wie eben diese Abkürzung C&C, die er hasst wie die Pest.

Und wie erwartet springt er prompt darauf an. »Mein liebes Kind, Cunningham & Cunningham ist seit vielen Generationen eine seriöse Kanzlei, die es nicht verdient, wie neumodisches Knabberzeugs benannt zu werden.«

Ich muss mir auf die Lippe beißen, um nicht zu grinsen.

Meine Schwester rutscht mit dem Hintern auf Montis Schreibtisch und lässt die Beine baumeln. »Monti, ich liebe M&Ms und ich liebe unsere Kanzlei. Wenn das kein gutes Zeichen ist, dann weiß ich auch nicht.«

Schroff schiebt er sie von der Tischplatte. »Benimm dich nicht wie eine Zehnjährige. Du bist Anwältin für Strafrecht und hörst dich an wie ein trotziges Kind.«

Beth strafft den Rücken, baut sich zu ihren stattlichen ein Meter achtzig auf und stemmt die Hände in die Hüften.

Monti reißt die Augen auf und rollt in seinem Schreibtischstuhl auf Abstand. »Guter Gott, Kind. Jetzt machst du mir Angst. Du siehst aus wie deine Mutter.«

Ich muss ihm beipflichten. Auch wenn Mom klein und zierlich ist und wir von der Größe her nach Dad kommen, kann unsere Mutter angsteinflößender sein als drei Staatsanwälte mit wasserdichten Anklagepunkten.

»Dann machst du es?«

»Dein Vater wird mich grillen, wenn ich die Statuten schon wieder erneuere.«

Beth zuckt die Schultern. »Okay, dann nicht. Ich red mal mit Mom darüber.«

»Was?! Nein, um Himmels willen. Davon abgesehen, dass Debora kein Stimmrecht hat, wenn es um C&C … ähm, Cunningham & Cunningham geht, mag ich mir nicht ihren Zorn zuziehen.«

»Okay, dann ist es abgemacht?«

»Herrje, ja! Und jetzt verschwindet, ich habe noch zu tun.«

»Genau, die Statuten umschreiben«, neckt ihn Beth.

Monti grummelt sich was in seinen nicht vorhandenen Bart, bis ihm scheinbar meine Anwesenheit auffällt. »Und warum bist du hier?«

Weil ich das Schauspiel nicht verpassen wollte? Nein, das werde ich mir verkneifen. »Ich wollte nur Bescheid geben, dass wir ab sofort einen Lieferanten für …« Tja, wie verpacke ich es am besten, ohne dass es sich seltsam anhört?

»Du meinst den Latzhosenträger, der vorhin mit Paige geschäkert hat?« Ihm entgeht auch nichts. »Ich weiß zwar nicht, wozu wir neuerdings jemanden brauchen, der uns mit Blumen versorgt, aber wenn es dich glücklich macht.«

Beth wirft mir einen Blick zu, der Bände spricht. Ja, ich bin ebenso geschockt, dass Monti in der Sache so leicht nachgibt. »Genau den meine ich.«

»Euer Vater wird seine eigene Meinung dazu haben. Zu welchem Thema hat er die nicht. Nun, mir soll’s recht sein.« Er wedelt mit der Hand in Richtung Tür. »Und jetzt verschwindet endlich.«

Als wir auf den Flur treten, murmelt Beth: »Im Ernst, wenn ich in seinem Büro war, fühle ich mich immer, als wurde ich zum Dekan gerufen, um einen Anschiss zu kassieren.«

»Ist das der Grund, warum du dich in seiner Gegenwart so mädchenhaft benimmst?«

Ein Kontrollblick in alle Richtungen, dann rammt sie mir spielerisch die Faust in die Rippen. »Das sagt der Richtige.«

»Verdammt, Beth! Hör auf mit dem Quatsch. Wenn uns ein Mandant sieht.«

»Dann weiß er gleich, dass mit mir nicht zu spaßen ist. Davon abgesehen, sind wir so gut wie allein. Nun gut, ab ins Büro! Ich muss noch ein Kreuzverhör für morgen vorbereiten.«

»Und ich sollte Paul anrufen. Er müsste längst zurück sein.«

»Du machst dir zu viele Sorgen, Spence.«

Ich verziehe das Gesicht. »Hatten wir uns nicht geeinigt, dass du mich hier nicht so nennst?«

»Ist doch keiner in Hörweite.«

Das stimmt schon. Unser improvisiertes Abendessen, oder wie man es auch nennen mag, und das Gespräch mit Monti nahmen mehr Zeit in Anspruch als geplant. Es ist beinahe halb neun durch. Weshalb die Büros so gut wie leer gefegt sind und ich mir Gedanken um Paul mache, der immer noch nicht zurück ist, obwohl sein Treffen im Aqua Shard, sechs Etagen über uns, anberaumt war. Mandaten empfangen wir nur in Ausnahmefällen zu so später Stunde.

»Doch, Paige.« Die Gute sitzt wie ein Fels in der Brandung an ihrem Platz.

»Paige, mein Engel«, ruft Beth durch den Flur. Die zwei kennen sich schon ewig. Als Beth zu uns kam, war ihre Bedingung, Paige mitbringen zu dürfen.

»Ja, Bethany?«

Beth wirft mir einen amüsierten Blick zu und flüstert: »Das macht sie nur, weil ich dich geärgert habe.«

Ja, wir sind eine große Familie und da gehören nun mal auch unsere Mädels dazu. Wobei Paige jemand ist, die zwar alles hört und sieht – wie sie soeben bewiesen hat –, aber niemals jemandem mit ihrem Wissen schaden würde.

»Machst du schon wieder Überstunden?«, höre ich Beth tadelnd fragen.

»Nur noch ein paar Kleinigkeiten, dann bin ich weg.«

»Na gut, dir sei verziehen. Wünsch dir eine gute Nacht.«

»Gute Nacht, Beth. Oh, und, Spencer?«

Vor meiner Bürotür halte ich inne und schaue zu ihr zurück. »Ja?«

Paige deutet auf die Gestecke. »Das war eine wundervolle Idee.«

»Danke. Wenn Mr. Tyler oder Mrs. Harper anrufen sollten, stellen Sie sie bitte sofort zu mir durch.«

»Wie Sie wünschen.«

»Bis morgen, Paige.«

»Bis morgen früh, Spencer.«

 

»Wo steckst du?«, ist das Erste, was ich frage, als Paul endlich an sein Handy geht. Ich war drauf und dran, mich auf die Suche nach ihm zu machen.

»Entschuldige, eigentlich wollte ich dich anrufen, sobald ich zu Hause bin.« Er hört sich verschlafen an.

»Du bist schon daheim? Was ist los?«

»War ein anstrengender Tag, Schatz. Und ich weiß, du hast genug zu tun. Weshalb ich dich nicht stören wollte.«

Ein ganz ungutes Gefühl steigt in mir hoch. Ich klappe die Akten zusammen, schnappe mir Jackett und Mantel und eile mit den Worten »Bin auf dem Weg« aus meinem Büro.

 

Eine halbe Stunde später hetze ich durch unsere Doppelgarage, die einen Direktzugang zum Haus hat. Es ist still. Viel zu still. Das Licht im Wohnzimmer ist gedimmt und ich finde Paul schlafend auf der Couch vor.

Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, schleiche auf ihn zu und beobachte, wie seine Hände unruhig zucken und sich seine Augenlider bewegen. Hat er einen schlechten Traum? So kann ich ihn hier nicht liegen lassen. Ich sinke auf die Knie und streiche sanft über seine Finger. »Hey, ich bin’s«, flüstere ich.

Paul zuckt zusammen, reißt die Augen auf und blickt mich erschrocken an. Sein Atem geht schnell. Als müsse er sich in Erinnerung rufen, wo er ist, sieht er um sich. »Oh, du bist schon da?«

»Ich hatte doch gesagt, ich komme.«

Konfus reibt er sich das Gesicht und setzt sich auf. »Stimmt.«

Ich rutsche neben ihn auf das Sofa, ziehe ihn in meine Arme. »Geht es dir wieder schlecht?«

Paul kuschelt sich an mich, gibt mir einen Kuss auf die Wange. »Nein.« Ein herzhaftes Gähnen, ehe er nuschelt: »Nur müde.« Sein Kopf ruckt hoch. »Hast du schon gegessen?« Dann macht er Anstalten aufzuspringen, wovon ich ihn sofort abhalte, indem ich ihn fester umarme.

»Beth hat mir ein Thunfischsandwich spendiert.«

»Ist ja nicht unbedingt berauschend. Soll ich dir schnell was kochen?«

»Nein. Bleib einfach hier sitzen und sag mir, was nicht stimmt. Bitte.«

»Ich liebe dich, aber du kannst eine extreme Nervensäge sein.«

Ich lege einen Finger unter sein Kinn und hebe sein Gesicht zu mir hoch, um ihm tief in die Augen zu schauen. »Du hast Augenringe, mindestens fünf Kilo an Gewicht verloren und bist blass. Du schläfst schlecht und wirkst oft abwesend. Ich mache mir Sorgen. Und ob es dir nun gefällt oder nicht, ich habe ein Recht darauf. Denn ich bin dein Mann. Ich verstehe, wenn du mit niemanden über was auch immer reden willst, aber mit mir musst zu reden.«

»Womöglich bin ich einfach nur überarbeitet.«

Ich glaube ihm kein Wort. Frustriert schnaube ich. »Okay. Was können wir dagegen unternehmen?«

»Nicht sehr viel. Ein, zwei Tage wegfahren? Ich weiß nicht, übers Wochenende nach Brighton vielleicht.«

Ein Zugeständnis, das er vor einem Monat niemals gemacht hätte. Und mir umso mehr bestätigt, dass hier etwas gewaltig im Argen liegt.

»Dann reden wir morgen mit Beth und bitten sie, in der Zeit die Stellung für uns zu halten. Was hältst du von nächster Woche?«

Paul steht auf und ich sehe ihm hinterher, wie er in die Küche taumelt. Mit Drängen komme ich bei ihm nicht weit, weshalb ich mich nicht vom Fleck bewege und warte, bis er mit einem Glas Wasser zurückkommt und sich wieder neben mich setzt. »In Ordnung. Es wird nicht nur mir guttun, rauszukommen.«

Seine Hand zittert leicht, während er das Glas an die Lippen führt und trinkt. Ich hoffe nur, Monti zieht die Sache mit dem Gesundheitscheck zügig durch.

Paul lebt wie wir alle für die Kanzlei und wird sich nicht weigern können. Ich bete, dass es kein Fehler war, Monti damit reinzuziehen. Mein Mann ist nicht dumm, er wird Lunte riechen. »Dann ist es abgemacht. Und jetzt lass uns ins Bett gehen. Du brauchst Schlaf.«

Er schenkt mir ein kraftloses Lächeln, als ich ihm aufhelfe und wir gemeinsam das Wohnzimmer verlassen.

Innerlich zieht sich mir alles zusammen. »Ich dusche nur eben. Wärm schon mal das Bett an.«

Mir ist klar, dass er nicht mehr wach sein wird, egal wie sehr ich mich beeile.

 

Freunde

- Corey -

 

November – zwei Monate später

 

»Ich glaube ja, du bist von Außerirdischen entführt worden. Und als sie dich zurückgebracht haben, hat ihre vorherige Gehirnwäsche nicht nur die Erinnerung an sie getilgt, sondern auch ein paar Windungen mehr als beabsichtigt verschmirgelt. Oder wie willst du mir erklären, dass du bereits seit zwei Monaten jede Woche freiwillig in die Kanzlei fährst?« Abby deutet auf ihre Armbanduhr. »Öfter als notwendig und obendrein ohne zu mosern im Feierabendverkehr.«

Ich packe meine Werkzeugtasche zusammen. »Das war eindeutig einmal zu viel Independence Day. Wobei ich überhaupt nicht verstehe, warum du den Film immer und immer wieder inhalierst, als ob du süchtig danach wärst. Da spielt nicht mal ’ne hübsche Lady mit.«

»Das ist wieder so typisch Mann. Vielleicht mag ich einfach nur die Story?«

»Was heißt hier ‚typisch Mann‘? Selbst wenn da ein Prachtweib mitspielen würde …«

»Bla bla. Du würdest ein Prachtweib nicht mal erkennen, wenn sie Eier hätte.«

Wir schauen uns an und brechen in Gelächter aus. Gott, ich liebe diese bescheuerten Diskussionen.

»Du lenkst übrigens ab. Hab’s gemerkt, wollte ich nur mal betonen.«

Mist. Genervt werfe ich die Hände in die Luft. »Du bist doch diejenige, die immer vorbetet, ich muss mich mehr um unsere Großkunden kümmern«, wiegle ich ab. Ich kann ihr wohl kaum sagen, dass ich mich jede Woche darauf freue, ins Shard zu fahren, um ein paar Worte mit Spencer zu wechseln.

»Oh, jetzt machen wir einen auf Dramaqueen. Ist ja mal ganz was Neues.«

Empört baue ich mich vor ihr auf, was mit meinen ein Meter siebzig nicht die gewünschte Wirkung erzielt, da Abby genauso groß ist wie ich. Shit! »Willst du etwa sagen, ich bin tuckig? Das ist ja die Höhe!«

»Schätzelchen, ich sagte Dramaqueen. Und du weißt genau, dass ich nicht auf deine Körpersprache anspiele, die, wo wir gerade davon reden, eben doch ein wenig affektiert daherkam.« Abby winkt ab. »Ist ja auch egal. Mir soll’s recht sein, wenn du dich weiterhin um C&C kümmerst. Mich hat’s nur gewundert. Es stehen für diese Woche zwei Beerdigungen, eine Verlobungsfeier und ein sechzigster Geburtstag auf dem Plan. Nebenher sollte jemand im Laden sein. Also um Herrgotts willen, fahr einfach. Eine Sorge weniger für mich. Zumal du ja alles im Griff zu haben scheinst.«

Ein Seitenhieb auf meine Eigenmächtigkeit, auf Spencers Vorschlag eingegangen zu sein. »Ich dachte, das hatten wir abgehakt.«

»Ich bin eine Frau, ich darf nachtragend sein.« Mit einem entschuldigenden Lächeln drückt sie mir einen Schmatzer auf die Wange. »Alles gut. Du hast es perfekt geregelt. Aaaber das heißt noch lange nicht, dass ich dich so einfach vom Haken lasse.«

»Wie froh ich bin.«

»Wolltest du nicht weg?«

Ich schnappe mir die nun gepackte Tasche, einen winzigen Strauß mit Freesien, den ich für Paige angefertigt habe, und flitze wie ein Irrer aus dem Laden. Ich versuche es zumindest, denn an der Eingangstür kommt mir ein Kunde entgegen und ich höre Abby mir hinterherrufen: »Gehirnwäsche, sag ich nur. Oh, Mr. Abernathy, schön, dass …«

Die Tür fällt hinter mir ins Schloss und ich trete in die kühle Novemberluft hinaus. Heut ist es aber auch wieder zugig.

 

»Hallo, meine Schöne«, begrüße ich Paige und überreiche ihr den Freesienstrauß.

»Oh, Corey, der ist ja wundervoll. Vielen Dank. Womit habe ich den denn verdient?«

»Einfach nur so. Ich dachte, du würdest sie mögen.«

»Woher weißt du das? Ich liebe Freesien. Sie duften so himmlisch.«

Ich nicke den Flur entlang. »Ist er da?«

Paiges Miene wird todernst. »Ja, schon. Ich weiß nur nicht, ob heute ein guter Tag ist.«

»Oh. Na dann mache ich meine Runde und bin auch gleich wieder verschwunden.« Bisher habe ich nach Erledigung meiner Aufgaben hier immer noch ein paar Minuten mit Spencer verbracht, woraus sich eine lockere Freundschaft entwickelte. Entweder saßen wir in seinem Büro oder tranken Kaffee in der Angestelltenküche. Letzte Woche war es irgendwie anders als sonst. Ich hatte das Gefühl, er bräuchte jemanden zum Reden, der kein Kollege war oder zur Familie gehört. Und ja, ich gebe zu, ich war nicht abgeneigt. Wir quatschten über Gott und die Welt, außer seinem Problem, da war ich mir sicher. Natürlich rückte er nicht mit der Sprache raus. Was ich nicht verlangen kann. So gut kennen wir uns nun auch wieder nicht. Es gefiel mir allerdings, ihn für ein paar Minuten auf andere Gedanken bringen zu können. Trotz der tiefen Sorgenfalten, die sich um seine Mundwinkel abzeichneten und mir in den letzten Wochen immer mehr auffielen, schaffte ich es, sobald unser Gespräch ins Stocken geriet, ihm ein oder zwei Mal ein Lächeln abzuringen.

Paige eilt um die Anmeldung und flüstert: »Ist im Moment alles etwas schwierig für ihn.«

»Die Arbeit, ich weiß.«

»Das ist es nicht allein.«

Ich beäuge sie einen Augenblick. Paige kaut auf ihrer Unterlippe herum, als würde sie mir noch etwas sagen wollen, traue sich jedoch nicht. »Ist schon in Ordnung«, versuche ich sie zu beruhigen.

»Nein, eben nicht. Und ich weiß, ich sollte den Mund halten. Aber ich glaube, du bist im Moment der Einzige, der überhaupt zu ihm durchdringen könnte.«

»Oh«, entkommt mir überrascht.

Sie beugt sich zu mir und wispert: »Vielleicht findest du ja einen Grund, in sein Büro zu gehen.«

»Na ja, das ist sicher kein Problem. Immerhin bin ich hier, um meinen Job zu machen.«

Paige lächelt mich an. »Gut. Und danke noch mal für die tolle Überraschung.«

Die nächsten zwanzig Minuten verbringe ich damit, sämtliche Pflanzen, die mittlerweile in der ganzen Kanzlei zu finden sind, zu gießen und vertrocknete Blätter zu entsorgen. Einzig Spencers Büro ist übrig. Ich klopfe vorsichtig an und warte. Zur Glasfront hindurch sehe ich ihn an seinem Schreibtisch sitzen, scheinbar so sehr in Gedanken vertieft, dass er nichts um sich herum wahrnimmt. Ich öffne die Tür einen kleinen Spalt und räuspere mich. Abermals keine Reaktion.

»Spencer?«

Sein Kopf ruckt zu mir herum und er blinzelt.

»Entschuldige die Störung. Ich hatte angeklopft. Und na ja …« Ich halte die Gießkanne hoch. »Es dauert auch nicht lange.«

»Oh, stimmt. Komm doch rein.«

Ich nicke und schließe die Tür hinter mir. Er konzentriert sich sofort wieder auf den Bildschirm vor sich und wirkt abermals abwesend.

Um das Raumklima zu verbessern, einigten wir uns auf diverse luftreinigende Zimmerpflanzen wie Efeu, Grünlilie, Birkenfeige und Drachenbaum. Es waren noch einige andere, aber dies sind die Pflanzen, für die sich Spencer erwärmen konnte und die nun auch seinem Büro einen eigenen Charme verleihen.

So leise wie möglich verrichte ich meine Arbeit, bis ich notgedrungen hinter seinen Schreibtisch trete. Ohne es wirklich zu wollen, fällt mein Blick auf den Bildschirm und ich frage unvermittelt: »Ich dachte, du bist für Wirtschaftsrecht zuständig.«

Spencer wirbelt herum. »Was?«

Als ich seinen empörten Blick sehe, wird mir klar, dass ich zu weit gegangen bin. »Scheiße! Entschuldige. War keine Absicht. Oh Mann …« Zutiefst verlegen verschwinde ich aus der Ecke.

Ich spüre, wie mir das Gesicht siedend heiß anläuft und mir der Schweiß ausbricht. Wieso muss ich eigentlich immer handeln, ohne vorher das Gehirn einzuschalten? Ich gehe erst gar nicht auf seine Frage ein. Hoffe, dass er meinen Fauxpas einfach vergisst. Einige Handgriffe später will ich mich verabschieden. »Also, dann bis …«

»Es geht um Paul«, unterbricht er mich kaum hörbar. Nicht nur, dass er mir überhaupt eine Antwort gibt, irritiert mich, sondern auch die Art, wie er es tut. Er wirkt verzweifelt.

Es geht um seinen Mann? Er betreibt Onlinerecherche über Schlaganfall wegen Paul? Heilige Scheiße, hier ist die Kacke echt am Dampfen. Ich stelle die Gießkanne ab und werfe das Messer in die Tasche, ehe ich mich ihm wieder zuwende. »Paul? Was ist mit ihm?«

Plötzlich scheint er zur Besinnung zu kommen und winkt ab. »Nein, vergiss es. Ich will dich nicht …«

»… einbeziehen? Ist schon in Ordnung.«

»Ernsthaft?«

In Gedanken an Paiges Worte stelle ich mich hinter einen der Besuchersessel und stütze mich auf dessen Rückenlehne ab. »Sicher. Hör mal, es geht mich nichts an. Aber wenn du jemanden zum Reden brauchst …« Ich zucke mit den Schultern und deute mit dem Daumen auf mich. »Ich bin hier.«

Spencer fährt sich frustriert mit den Händen durch sein Haar, das daraufhin in alle Himmelsrichtungen absteht. »Scheiße!« Hinweg ist die Aura des Unnahbaren.

Verdammt, das ist das erste Mal, dass ich ihn fluchen höre. Von seiner Verletzlichkeit, die er ausstrahlt, ganz zu schweigen. Ohne auf eine Einladung zu warten, gleite ich um besagten Besuchersessel und lasse mich hineinfallen. »Also, wie kann ich dir helfen?«

»Ich denke, das kann niemand. Außer du hast ein Allheilmittel, das einem Schlaganfallpatienten sofort wieder auf die Beine hilft.«

»Erzählst du mir gerade, dass Paul einen Schlafanfall hatte?« Verdammt noch mal, was macht er dann hier im Büro?

»Vor einer Woche.«

»Was für ein Mist! Sorry. Mann, das tut mir leid zu hören. Wie geht es ihm?«

Spencer schluckt und würgt ein hartes Lachen hervor. »Wie sagen seine Ärzte so schön? Den Umständen entsprechend. Was so gut wie alles bedeuten kann. Es hat ihn ziemlich schlimm erwischt. Dennoch hatte er Glück im Unglück. Er war gerade bei einem Mandanten im Krankenhaus, als er plötzlich umkippte.«

»Gut zu hören.« Das klingt so unpassend. Aber was soll man dazu noch sagen?

»Er wurde sofort behandelt. Eine Untersuchung im MRT zeigte jedoch auf, dass es nicht sein erster war.«

»Heilige …«

»Yep.«

Die Frage, die mir auf den Lippen liegt, erscheint mir zu persönlich und dennoch muss ich es wissen. »Wie geht es dir?«

Wieder dieses abfällige Lachen. »Mir?« Spencer zuckt mit den Schultern. »Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht so wirklich. Ich habe auch nicht die Zeit, mir darüber Gedanken zu machen.«

»Verständlich. Darf ich fragen, wie seine Rehabilitationsprognose aussieht?«

»Sie behalten ihn noch ein paar Tage zur Überwachung im Krankenhaus. Anschließend geht er sofort in Reha. Die Ärzte wollen, dass Paul so schnell wie möglich mit der Therapie beginnt. Er leidet unter leichten Lähmungserscheinungen der rechten Körperhälfte. Sein Sprachzentrum hat es ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen. Wegen der geringen Regenerationsfähigkeit von Nervengewebe wird er mit dauerhaften Schäden rechnen müssen. Allerdings sind sie guter Hoffnung, dass die noch intakten Bereiche in seinem Gehirn betreffende Funktionen übernehmen können. Mit viel Glück könnte er wieder ein normales Leben führen. Tja, wenn da nur nicht …«

»Wenn was nicht?«

»Paul ist ein Dickkopf. Auf der einen Seite ist es gut, da er motiviert ist und die Heilungschancen so erheblich erhöht werden. Andererseits ist er tatsächlich so verrückt, sich nicht nur auf seine Genesung konzentrieren zu wollen, sondern auch auf offene Fälle.«

»Das ist krass.«

»Wem sagst du das. Und ich weiß nicht, wie ich ihm verständlich machen kann, dass seine Gesundheit an erster Stelle steht.« Spencer schüttelt ungläubig den Kopf und sinniert leise: »Dabei hatten wir erst vor ein paar Wochen einen Gesundheitscheck.«

»Und da wurde nichts festgestellt?«

»Wohl nicht. Angeblich war alles in bester Ordnung. Paul wirkt jedoch schon seit geraumer Zeit erschöpft. Als ich ihn fragte, was der Arzt meinte, erzählte er mir, er hätte ihm ans Herz gelegt, etwas kürzer zu treten. Dummerweise ist genau das für meinen Mann gleichbedeutend mit aufgeben. Und das kommt für ihn nicht infrage.«

»Ein harter Brocken, hm? Was sagt denn deine Familie dazu? Ich meine, ihr arbeitet alle zusammen. Glaubst du nicht, dass sie ihm ins Gewissen reden könnten? Oh, und was ist mit seiner Familie? Es muss doch …« Als mir klar wird, wie persönlich ich werde, hebe ich beschwichtigend die Hände. »Sorry!«

»Scheiße, Corey, frag nur.«

Wieder eine Entgleisung, die ich so von ihm nicht erwartet hätte.

»Na ja, seine Eltern, was ist mit denen?«

»Das ist ein heikles Thema. Seine Schwester ist die Einzige, die sporadisch Kontakt hält. Alle anderen haben sich von ihm abgewandt, als er es wagte, sich zu outen. Das war kurz bevor wir uns kennengelernt haben. Also schon lange her.«

»Verdammt! Was willst du jetzt unternehmen?«

»Gar nichts, außer für ihn da zu sein und zu hoffen, dass er zur Vernunft kommt.«

»Ich weiß nicht, aber kann ich irgendwie helfen? Keine Ahnung wie. Es muss doch mehr geben, als danebenzustehen und zuzugucken, wie er mit offenen Augen in den nächsten Schlafanfall rennt.«

Spencer schnaubt. »Wenn du niemanden kennst, der ihm aus eigener Erfahrung berichtet, dass sein Weg der falsche ist, wüsste ich nicht, was du tun könntest.«

»Das wird wohl schwierig. Wobei …« Mir fällt Mr. Abernathy ein, den ich vorhin fast über den Haufen rannte. »Ich kenne da einen älteren Herrn. Ein Kunde von uns. Er hat vor zwei Jahren das Gleiche wie Paul durchgemacht. Soll ich ihn mal fragen?«

»Und was?«

»Wenn ich mich recht erinnere, geht er zu einem wöchentlichen Treffen. So eine Art Selbsthilfegruppe.« Manchmal ist es eben doch gut, wenn man seinen Kunden zuhört, obwohl ich mir zuweilen wie ein Friseur vorkomme, der sich alle möglichen Themen anhören muss, um seine Kundschaft bei Laune zu halten.

»Eine Selbsthilfegruppe? Darüber habe ich bereits gelesen. Nur glaube ich, dort sind einzig Patienten mit depressiven Schüben, die auf ihre Schlaganfälle zurückzuführen sind.«

Ich winke ab. »Egal. Fragen kostet nichts. Vielleicht hat er ja eine Idee, wie du auf Paul einwirken kannst, ohne ihn unter Druck zu setzen, um somit einen weiteren Stressfaktor zu vermeiden.«

»Danke«, höre ich Spencer leise sagen.

Am liebsten würde ich ihn für seine eigene Sturheit treten. Paul und er müssen sich ziemlich ähnlich sein. Auch wenn ich seit zwei Monaten in der Kanzlei ein und aus gehe, habe ich Spencers Mann nur von Weitem gesehen. Irgendwie sollte es wohl nicht sein, ihn näher kennenzulernen. Ach was soll’s, ich sage es einfach, wie es ist. Oder besser, wie ich darüber denke. »Kann sein, dass du sauer auf mich wirst, aber darf ich dich was fragen?«

»Immer raus damit. Ich sehe dir an, dass du sonst platzt.« Ein feines Lächeln umspielt seinen Mund und mir tut jetzt schon leid, dass es gleich wieder verschwunden sein wird.

»Liege ich richtig, wenn ich davon ausgehe, dass du bisher noch mit niemanden darüber gesprochen hast?«

»Darüber? Meinst du mit darüber mich? Es ändert doch nichts, selbst wenn ich jedem auf die Nase binden würde, wie ich mich gerade fühle.«

»Glaubst du? Ich sehe das anders.«

»Warum wundert mich das jetzt nicht?«

»Versteh mich nicht falsch. Dass es Paul so schlecht geht, tut mir wirklich leid. Aber du darfst dich dabei nicht vergessen. Ihr beide werdet eine harte Zeit durchleben, bis er wieder auf den Beinen ist. Dennoch brauchst du Rückendeckung, jemanden, der für dich da ist.«

»Du?«

»Hä? Was? Nein, nein, das hab ich damit nicht andeuten wollen«, gebe ich hastig zu verstehen. Um Gottes willen, ich wollte mich doch nicht aufdrängen. Das fehlte noch.

»Hey, bleib ruhig. Das war nicht abwertend gemeint, eher als eine ernst zu nehmende Frage.«

»Wie jetzt?«

»Darf ich auf dich zählen, wenn ich jemanden brauche, der sich freiwillig meinen Mist reinzieht?«

Ich bin mir nicht sicher, was ich davon halten soll. Einerseits fühle ich mich natürlich geehrt. Andererseits komme ich mir vor wie ein Lückenbüßer oder wandelnder Müllabladeplatz. Gerade noch gut genug, um sich zutexten zu lassen. Bei Gott, ja, ich weiß, das hört sich total ätzend an. Aber ich kann nun mal nichts für meine Gefühle. Ich habe es ihm ja auch noch angeboten – irgendwie. Abby würde das jetzt anders ausdrücken. Sie würde mir in den Hintern treten und sagen, dass ich gefälligst an meinem Selbstwertgefühl arbeiten sollte. Sie ist die Einzige, die mich so gut kennt. Alle anderen kämen niemals auf den Gedanken, ich wäre tief in mir drin ein Zweifler, wenn es um meine Person geht. Und in Spencers Gegenwart ist diese Stimme in mir von Woche zu Woche lauter geworden. Denn auch wenn ich mich darüber freue, dass sich so etwas wie Freundschaft zwischen uns entwickelt hat, begreife ich nicht wirklich, wie das passiert ist. Ich bin doch nur der Typ, der mit Pflanzen quatscht, sich in lottrigen Jeans am wohlsten fühlt und nicht selten die Klappe aufreißt, wenn es am unpassendsten ist. Was also sieht Spencer in mir? Eine Frage, deren Beantwortung ich vertagen muss. Denn im Augenblick ist mein Seelenheil zweitrangig. Und ich bin im Grunde selbst schuld, in diese Lage geraten zu sein. Was kann ich auch nicht einfach meinen Mund halten. Nun muss ich eben mit den Konsequenzen leben. »Okay.«

»Okay?«, fragt Spencer überrascht nach.

Ich atme tief durch. »Okay, ich gebe dir Rückendeckung. Du musst mir nur sagen, wie.«

Spencers Augen weiten sich ungläubig. »Das würdest du tun?«

»Ja, Mann. Sind wir Freunde oder nicht?«

Ein Augenblick der Ruhe tritt ein, als würde er über meine Frage tatsächlich nachdenken müssen. Sollte ich mich jetzt gekränkt fühlen? Dann nickt er mir fassungslos zu, als ginge ihm ein Licht auf. »Du hast recht.«

»Gut, dann ist das ja geklärt. Also, was brauchst du?«

»Du erwähntest einen Abernathy.«

»Genau. Sobald er im Laden auftaucht, werde ich ihn fragen, in Ordnung?«

»Danke, Corey.«

Ich winke ab. »Passt schon. Sonst noch was?«

»Wäre es zu viel verlangt, wenn du mir deine Handynummer gibst?«

»Oh.«

»Du musst nicht. Aber ich würde dich gern anrufen können, wenn du nicht im Laden bist. Und auf eurer Visitenkarte steht nur die Festnetznummer.«

Was einen Grund hat. Ich gebe meine Mobilnummer nur ungern weiter.

»Na, sag mal. Selbstverständlich bekommst du sie. Wäre ja noch schöner. Erst biete ich dir meine Hilfe an und dann verweigere ich dir den Kontakt?« Ich zwinkere ihm aufmunternd zu und suche in den Kontakten meine Nummer heraus. »Ich habe seit Jahren ein und dieselbe. Aber ich kann sie mir ums Verrecken nicht merken.«

Spencer fischt sein Smartphone aus der Innentasche seines Jacketts, das hinter ihm über der Stuhllehne hängt. »Sag an, ich speichere sie gleich ein. Dann rufe ich dich an, damit du meine hast.«

Ich starre Spencer erstaunt an.

»Was? Glaubst du, ich würde sie dir nicht geben wollen?«

Da hat er vollkommen recht. »Blöder Gedanke, oder?«

 

Die Einladung

- Spencer -

 

Dezember – ein Monat später

 

Nach gut vier Wochen stationärem Aufenthalt mit Sprach- und Bewegungstherapie wurde Paul entlassen, um sich in seiner gewohnten Umgebung auf die Genesung zu konzentrieren. Seine Mobilität ist beinahe wiederhergestellt. Da er Linkshänder ist, bemerkt man nur ab und zu leichte Einschränkungen. Natürlich bin ich froh, ihn bei mir zu haben und zu sehen, dass es ihm von Tag zu Tag besser geht. Andererseits ist die Versuchung groß für ihn, sich in die Arbeit zu stürzen, soweit es ihm von hier aus möglich ist.

Es ist Sonntag und wir hatten für heute geplant, ein paar Stunden nach Brighton zu fahren, um dort die frische Meeresluft zu genießen. Wie es scheint, sieht Pauls Plan nun doch anders aus.

Ich stehe gegen seine Bürotür gelehnt und beobachte ihn dabei, wie er sich durch einen Berg Akten arbeitet. »Schatz, es ist gleich zehn, wir sollten langsam aufbrechen.« Geduld ist eine meiner Stärken. Allerdings muss ich gestehen, dass Paul sie in letzter Zeit ein wenig überstrapaziert. Ich versuche mich stets daran zu erinnern, dass er es nicht böse meint, und Verständnis aufzubringen, wenn er so wie jetzt kühl wirkt.

»Gib mir eine halbe Stunde.«

Seit er aus dem Krankenhaus raus ist, ist er kurz angebunden, was mich zur Weißglut bringt. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ihn der Schlaganfall unwiderruflich verändert hat. Von dem Mann, den ich vor über zehn Jahren kennen und lieben gelernt habe, scheint nichts mehr übrig geblieben zu sein. Dennoch halte ich mich zurück, will ihn nicht zusätzlichem Stress aussetzen, indem ich ihm womöglich eine Szene mache. Nur fällt es mir von Mal zu Mal schwerer, keine Diskussion vom Zaun zu brechen.

Ich atme einmal tief durch und wage einen letzten Versuch. »Kann ich dir helfen?«

»Ich komm klar, danke.« Seine Stimme ist emotionslos, geradezu eiskalt und versetzt mir einen schmerzhaften Stich mitten ins Herz.

Es ist zwecklos, denke ich, zucke mit den Schultern und verschwinde ins Erdgeschoss, um mir noch einen Tee aufzugießen.

So langsam, aber sicher bin ich mit meinem Latein am Ende. Corey hielt sein Versprechen und erkundigte sich bei nächstbester Gelegenheit bei Mr. Abernathy nach dieser Selbsthilfegruppe. Die Mühe hätte er sich sparen können. Als ich Paul den Vorschlag unterbreitete, sich mit Leuten zu unterhalten, die ihn verstehen, rastete er regelrecht aus.

Mit meiner Tasse schlendere ich ins Wohnzimmer, wo ein riesiger Weihnachtsbaum vor der Terrassentür steht und darauf wartet, geschmückt zu werden. In drei Tagen ist Heiligabend.

Ich sinke auf unser Sofa und betrachte den einsam wirkenden Baum. »Schau nicht so miesepetrig drein, Kumpel. Morgen kümmere ich mich um dich, versprochen.« Wieder etwas, das sich verändert hat. In all den Jahren, die wir nun schon zusammen sind, gab es keine vorweihnachtliche Zeit, die wir nicht gemeinsam genossen. Wir planten regelmäßige Familientreffen bei uns zu Hause. Mit Eggnog, Früchtepunsch, Plätzchen und dem ganzen Schnickschnack, der eben dazugehört. Kein Weihnachtsmarkt war vor uns sicher. Die Arbeit als Anwalt war unser beider Traum und wir opferten viel dafür. Aber wir einigten uns von Anfang an, dass der Dezember und der Jahreswechsel einzig und allein uns vorbehalten waren. Immerhin gaben wir die restlichen Monate alles für unsere Mandanten und hatten dadurch wenig gemeinsame Zeit.

Diesmal konnte ich ihn nicht einmal dazu bewegen, einen Einkaufsbummel mit mir zu unternehmen oder auch nur einen Abstecher für einen Glühwein zum Southbank Center zu machen. Ich bin mir durchaus im Klaren darüber, dass es eine Weile dauern wird, bis Paul zu seiner gewohnten Stärke zurückfindet. Ich hätte mir nur gewünscht … Nein, ich sollte zufrieden sein. Immerhin lebt er und ist bei mir – mehr oder weniger. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass wir zu unserer früheren Beziehung zurückfinden. Zeit, das ist alles, was er braucht. Ich wüsste nur gern, was in seinem Kopf vorgeht.

Unsere Familie gibt ihr Bestes, wenn es darum geht, uns zu entlasten, indem sie Fälle von uns übernimmt. Paige schaufelt mir Zeit frei, die ich zu Hause verbringen kann, um für meinen Mann da zu sein. Und obwohl ich mir so wie jetzt gelegentlich überflüssig vorkomme, bin ich dankbar für ihre Unterstützung. Offenbar ist das der einzige Weg, wie sie uns helfen können. Warum? Ganz einfach. Weil Paul ihnen unmissverständlich zu verstehen gab, sie sollen ihn gefälligst in Ruhe lassen.

Als die Sache mit Paul geschah und er im Krankenhaus lag, besuchten sie ihn. Es war eine extrem kurze Stippvisite, denn er warf sie glattweg nach zehn Minuten wieder raus. Seitdem unternahmen sie zwei weitere Anläufe, die damit endeten, dass Paul dichtmachte und kein Wort mit ihnen sprach. Sie zeigten Verständnis für seine Lage, dennoch tut es weh, zu sehen, wie sehr er sie vor den Kopf stößt und er sich von allen – auch von mir – zurückzieht, außer es geht um seine Arbeit.

Um ehrlich zu sein, stehe ich der ganzen Angelegenheit ratlos gegenüber. Und das macht mich fuchsteufelswild.

Ich stelle die halb leere Tasse auf den Tisch und zucke vor Schreck zusammen, als mein Handy in meiner Hosentasche surrt. Umständlich befördere ich es aus der Jeans zutage und nehme den Anruf, ohne auf das Display zu sehen, entgegen. »Cunningham.«

»Hey, ich bin’s. Störe ich?«

»Corey?«, will ich überrascht wissen.

»Ja, mein Freund, Corey, der Mann mit den magischen Händen.« Ein Glucksen folgt. »Schande, das klang jetzt unsittlich. Du schaust wohl nie nach, wer anruft, hm?«

»War in Gedanken. Was gibt’s?«

»Ich hab dich die Woche noch nicht gehört oder gesehen und dachte, ich ruf einfach mal durch.«

Der Mann hat nicht nur magische Hände – zumindest wenn es um Pflanzen geht –, er scheint obendrein immer genau zu wissen, wann ich wieder kurz davor bin, durchzudrehen. Im Geiste ziehen die vielen Treffen mit ihm an mir vorbei. Jedes einzelne in der Kanzlei. Er ist derjenige, bei dem ich das Gefühl habe, er würde mich nicht bedauern oder dem Drang nachgehen wollen, mir permanent gute Ratschläge zu geben wie meine Familie. Selbstverständlich meinen sie es nur gut. Aber es nervt auf Dauer.

»Spence? Alles gut bei euch?«

Spence? Seit wann das denn? So sprechen mich nur Beth und Paul an. Wie mir gerade auffällt, Letzterer schon seit einiger Zeit nicht mehr. Unser Verhältnis ist merklich abgekühlt. Ein Umstand, der mir langsam Sorgen bereitet, obwohl ich es auf den Schlaganfall zurückführe und hoffe, es wird irgendwann besser. Ich wünsche es mir so sehr. Himmel, ich liebe meinen Mann und will ihn nicht verlieren.

Wie dem auch sei, merkwürdigerweise stört es mich nicht, wenn Corey mich so nennt. »Sorry, ich bin wohl wieder abgedriftet. Uns geht’s gut so weit. Danke der Nachfrage.«

»Du hörst dich aber nicht so an. Wie sieht’s aus, braucht ihr einen Tapetenwechsel? Vielleicht habt ihr Lust auf einen Abstecher nach Notting Hill? Heute ist hier ziemlich was los.«

»Wann ist es das nicht?« Ich muss lächeln, trotz allem, was gerade in unserem Leben schiefzulaufen scheint.

»Ja, stimmt schon. Nur ist es zu Weihnachten immer etwas ganz Besonderes, über den Portobello Market zu schlendern. Und wenn ihr noch nichts vorhabt … Na ja, Paul könnte sich jederzeit ins Buttercup zurückziehen, falls es ihm zu anstrengend wird.«

»Das ist wirklich nett, aber …«

»Wer ist das?«, höre ich Paul überraschend fragen, während er neben mir Platz nimmt. Er sieht schon wieder viel zu erschöpft aus.

Ich halte das Mikro zu. »Es ist Corey. Er fragt, ob wir Lust hätten vorbeizukommen.« Ich gebe das Mikro frei und wende mich an Corey. »Warte mal einen Moment, Paul ist hier. Ich frag ihn gerade.«

»Alles klar.«

»Wolltest du nicht nach Brighton?«, will Paul wissen.

»Ja, schon.« Ich deute auf die Uhr. »Allerdings glaube ich, dass es fast zu spät ist, um jetzt noch aufzubrechen. Was meinst du?« Ich streiche ihm sanft über die Wange. Er lehnt sich zurück und blinzelt, ehe er herzhaft gähnt. Dann fallen ihm die Augen zu und er murmelt: »Entschuldige. Ich wollte die Unterlagen nur auf den neusten Stand bringen.«

»Ich schon in Ordnung.« Ich mustere ihn eine Sekunde. »Schatz, du siehst müde aus. Lass uns einfach zu Hause bleiben. Ich sage Corey ab.«

Pauls Hand landet auf meinem Knie. »Nein, du musst auch mal rauskommen. Was hältst du davon, wenn ich mich eine Runde aufs Ohr haue und du allein nach Notting Hill fährst? Du kannst mir ja von dem Früchtebrot mitbringen, das ich so mag.«

»Nein, das kommt nicht infrage.« Ins Telefon sage ich: »Corey, ist wirklich nett. Aber …« Zu mehr komme ich nicht.

Paul entreißt mir das Handy und hält es sich ans Ohr. »Corey?«

Ich hätte den Lautsprecher einschalten sollen. Jetzt höre ich nur Pauls Seite des Gesprächs.

»Ja, Paul hier. – Hör mal, wäre es okay für dich, wenn Spence allein kommt? – Oh nein, das geht wirklich in Ordnung. – Ja klar, mir geht’s im Grunde viel besser. Danke der Nachfrage. Ich bin nur ein wenig müde.« Paul schnaubt amüsiert. »Hör auf. Es reicht, wenn mein Mann so einen Wind um mich macht. – Gut, wunderbar. Ich schicke ihn dir gleich. Du musst nur versprechen, dass du ihn an mein Früchtebrot erinnerst. – Ja, das von Scents of Happyness. – Ach, sag bloß. Die zwei sind Freunde von euch? Das ist ja toll. – Ja, ihre Bäckerei ist fantastisch. Dann ist es abgemacht. Und Corey? – Wenn ihr im Scents of Happyness seid, sagt Hailey und Shane liebe Grüße. – Ja, werde ich.« Paul drückt kurz mein Knie, als wolle er den folgenden Worten die Schärfe nehmen. »Und danke noch mal, dass du mir für ein paar Stunden meinen mürrischen Mann abnimmst. Ja, bis dann, bye.«

Wie vom Blitz getroffen starre ich Paul an, der weiterhin mit geschlossenen Augen auf der Couch sitzt und mir kommentarlos mein Handy entgegenhält.

»Guck nicht so.«

»Woher willst du wissen, wie ich gucke? Du hast die Augen geschlossen.«

»Ich muss es nicht sehen, um es zu wissen. Und jetzt tu mir den Gefallen und amüsier dich ein bisschen.«

»Sag mal, seit wann bist du mit Corey so eng? Mir war nicht klar, dass ihr euch so gut kennt.«

»Tun wir nicht. Hat sich bisher nicht wirklich ergeben. Aber ich habe nur Gutes gehört. Und ich vertraue ihm – dir natürlich auch. Er scheint dir ein guter Freund geworden zu sein. Das finde ich völlig in Ordnung. Und vielleicht ergibt sich in den nächsten Wochen ja mal ein Treffen zu dritt oder zu viert. Soweit mir Paige erzählt hat, soll Coreys Partnerin sehr nett sein.«

Ich kann nicht glauben, was hier gerade passiert. So zugänglich war mein Mann lange nicht. Dass er mich so bereitwillig wegschickt, erscheint mir seltsam. Nicht dass er mir das bisher untersagt hätte. So weit käme es noch. Schließlich sind wir gleichberechtigte Partner, die auch über ein Leben außerhalb der Ehe verfügen. Dennoch klingeln auf eine ziemlich schräge Art die Alarmglocken in meinem Kopf.

»Ich möchte wirklich ungern ohne dich fahren. Wir könnten Coreys Angebot ein andermal annehmen und den Nachmittag mit Keksen und Eggnog – den ich übrigens gestern frisch angesetzt habe – faul auf der Couch verbringen. Du könntest dich ausruhen, während ich den Weihnachtsbaum schmücke. Was sagst du?«

»Ich sage: fahr und mach dir mal ein paar Stunden keine Sorgen um mich. Tu mir den Gefallen.« Paul öffnet die Augen und schaut mich an. Es liegt plötzlich so viel Gefühl in diesem Blick, dass es mir die Kehle zuschnürt.

Ich beuge mich zu ihm vor und lasse meine Lippen über seine gleiten, ehe ich flüstere: »Du hast mir gefehlt.«

Seine Hand wandert in meinen Nacken und er wispert: »Ich liebe dich. Alles wird gut. Versprochen.« Dann verführt er mich zu einem unendlich leidenschaftlichen Kuss. Als würde er all die Wochen, die er so kühl zu mir war, aus meinen Gedanken löschen wollen. Und je länger wir so dasitzen, umso weniger mag ich ihn allein lassen.

Als wüsste Paul genau, was in mir vorgeht, unterbricht er den Kuss und schiebt mich sanft von sich. »Geh. Ich bleibe gleich hier liegen und werde mir eine Mütze voll Schlaf gönnen. Wenn du zurück bist, schmücken wir den Baum.«

»Wirklich?«

»Ja. Jetzt geh und richte Corey einen Gruß von mir aus.«

 

 

Ende der Leseprobe

Das E-Book ist auf Amazon erhältlich.

Impressum

Texte: Nele Betra
Bildmaterialien: depositphotos
Cover: Nele Betra
Lektorat: Brigitte Melchers / Bernd Frielingsdorf
Tag der Veröffentlichung: 08.07.2018

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /