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Leseprobe CURSED

Das Findelkind

 

- Keagan -

 

»Wäre schön, wenn wir das Wohnzimmer diese Woche fertig kriegen könnten«, werfe ich unbestimmt in den Raum, während ich die restlichen Holzspäne zusammenfege und in einen Müllsack gebe.

»Klar Chef, sollte kein Problem sein«, erwidert David. »Fensterbretter, Leibungen und Parkettleisten dürften nicht länger als zwei Tage in Anspruch nehmen. Wenn du mir James überlässt, sogar nur einen.«

»Klasse. Hört sich super an. Dann kann ich am Montag Aileen anrufen.«

»Ach, Aileen?«, stichelt David anzüglich. »Wie kommt’s? Bisher hast du dich doch standhaft geweigert, sie beim Vornamen zu nennen.«

»Herrgott, ja, ich bin ein rückgratloses Arschloch«, gebe ich zwinkernd zu. Merke jedoch selbst, dass es eher erzwungen wirkt.

David legt den Hobel zur Seite und kommt mit gerunzelter Stirn auf mich zu. »Also das ist jetzt doch ziemlich extrem ausgedrückt. Findest du nicht?«

»Komm schon, du weißt, was ich davon halte, wenn Kunden auf Tuchfühlung gehen. Und dennoch breche ich meine eigenen Vorsätze.«

»Vorsätze sind dazu da, um gebrochen zu werden. Wo bliebe der Spaß, wenn wir uns immer an sie halten würden? Nicht umsonst habe ich es vor Jahren aufgegeben, mir Silvester diesen Quatsch anzutun, nur damit ich drei Tage lang ein schlechtes Gewissen habe, bevor ich sie dann doch über Bord werfe.« David gestikuliert wild herum. »Zurück zu dir. Ich verstehe, warum du so vorsichtig bist. Vor allem bei Frauen. Aber hey, ich glaube, Aileen tickt da komplett anders.«

»Und diese Erkenntnis nimmst du woher?«

»Ich bin nicht blind. Die anderen reichen Tussis machen dir schöne Augen. Und ihnen ist wurscht piep egal, wer in ihrer Nähe ist, ob nun wir oder womöglich der ehrenwerte Göttergatte, der sämtliche Kosten für diverse Renovierungen zahlt. Diesmal ist das anders. Mrs. Freeman scheint dich einfach zu mögen. Also entspann dich. Ich wollte dir auch keinen Vorwurf machen, sondern dich nur ein wenig aufziehen. Du wirkst heute den ganzen Tag schon so unentspannt.«

Unwillkürlich neige ich den Kopf von links nach rechts und rolle mit den Schultern, bis es heftig knackt. Was David zum Lachen bring, ehe er sagt: »Okay, ich meinte allerdings eine andere Angespanntheit.« Er lässt seine Brauen auf und ab hüpfen und säuselt: »Wenn du verstehst, was ich meine.«

»Oh, ich verstehe dich voll und ganz.«

»Dann tu was dagegen, ehe es chronisch wird«, feixt David, bevor er verrucht seine Hüften schwingt.

»Du bist und bleibst ein unverbesserlicher Kerl. Aber ja, ich habe vor, heute Abend etwas gegen meine Verspannungen zu unternehmen.«

»Na wunderbar. Dann dürfen wir uns morgen auf ein seliges Lächeln von dir freuen?«

»Schau’n wir mal.«

David ist sechsundfünfzig Jahre alt, drei Kopf größer als ein Farbeimer, trägt unter seinem Basecap eine Glatze, die er erfolglos mit einer hässlichen Haarsträhne überdeckt, und bringt mit Sicherheit mehr Kilo auf die Waage, als gut für ihn und seine Gesundheit ist. Aber all das hindert ihn keineswegs daran, den Charmebolzen zu spielen und den Hobel zu schwingen wie ein junger Gott, sobald eine Frau in Sichtweite ist. Und ihm ist völlig egal, ob am Boden oder auf einem Gerüst in schwindelerregender Höhe. Er trotzt einfach den physikalischen Gesetzmäßigkeiten und scheint Casanovas Reinkarnation zu sein. Die Sache mit dem Hobel ist übrigens bewusst zweideutig gemeint. Er selbst sagt immer: »Ich sehe zwar aus wie Danny DeVito für Arme. Aber das macht nichts. Es ist alles reine Kopfsache. Wenn ich mich scheiße fühle, dann empfinden andere auch so. Du weißt schon. Es wirkt einfach ansteckend. Also warum sollte ich wollen, dass es ihnen schlecht geht?« Er ist einer meiner liebsten Angestellten, sozusagen ein Überbleibsel meines Großvaters und von Anfang an dabei. Mittlerweile ist er einer meiner besten Freunde.

»Du, sag mal, hast du was wegen Dachaigh Castle gehört?«, reißt mich David aus meinen Betrachtungen über ihn.

Zwei Schraubzwingen vom Fensterbrett landen im Werkzeugkasten. »Ich erwarte sekündlich einen Rückruf. Warum fragst du?«

»Ich hab mir nur überlegt, wie du dir das vorstellst. Wir haben noch kleinere Projekte, die seit Monaten auf uns warten. Nicht dass du denkst, ich würde deine Organisation anzweifeln.«

»Keine Bange, ich nehm dir den Einwand nicht krumm. Ich wollte James und Henry die Aufträge überlassen. Sie sind längst so weit, dass sie allein klarkommen. Oder was meinst du?«

»Absolut richtig.«

»Schön, dann bin ich beruhigt. Was Dachaigh betrifft, habe ich eigentlich gehofft, du würdest dich freiwillig melden und die Sache mit mir zusammen durchziehen.«

David schüttelt grinsend den Kopf. »Als hätte ich es mir nicht gedacht.«

»Dann geht das für dich in Ordnung? Ich meine, dass wir dort übernachten, wäre nur unter der Woche der Fall, sollte Mrs. MacTavish sich damit einverstanden erklären.« Wobei ich mir erhoffe, sie hätte auch nichts dagegen einzuwenden, wenn ich über die Wochenenden bleibe und die Arbeiten etwas vorantreibe. Nur kann ich das kaum von David verlangen. Er ist zwar Single, dennoch hat er ein Privatleben. Ein sehr intensives und offenbar befriedigendes Privatleben, was man von mir nicht unbedingt behaupten kann.

»Passt schon, Chef. Wie gesagt, ich hatte bereits damit gerechnet. Und wenn ich freitagabends wieder zurück nach Inverness fahre …«

»Ja, sicher. Die Restaurationsarbeiten nehmen garantiert sechs bis acht Monate in Anspruch. Du kennst das Angebot.«

»Notfalls tauschst du mich eben mit James oder Henry ein.«

»Wir werden sehen.« Die Überlegung stellte ich bereits an. Verwarf sie jedoch wieder.

»Stimmt. Noch ist ja nichts entschieden.«

»Ganz genau.« David wirft einen Blick auf seine Armbanduhr. »Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gern gegen sechs verschwinden.«

»Warum sollte ich etwas dagegen haben? Lass uns den Rest zusammenpacken und abdampfen. War wie immer ein langer Tag.« Wir sind bereits seit fünf Uhr früh auf den Beinen.

 

*

 

Es ist nach sieben, als ich in die Croft Lane einbiege. Am Ende der Sackgasse und somit ruhig gelegen, befindet sich mein bescheidenes Anwesen. Ein kleines Haus mit angeschlossener Schreinerei, die ich mit vierundzwanzig von meinem Großvater vererbt bekommen habe. Er war es auch, der mich in die Geheimnisse der Holzbearbeitung einweihte. Alles, was ich kann, verdanke ich ihm. Mit weit über achtzig, ging er für meine Begriffe dennoch viel zu früh von uns. Ich vermisse ihn.

Das Wetter ist wie so oft im Juli grau in grau. Es regnet wie aus Eimern und ich sprinte mit eingezogenem Kopf zur Haustür, die glücklicherweise überdacht ist. Natürlich verfüge ich auch über eine Garage mit Direktzugang zum Haus. Aber na ja, wie das so ist, die ist bis unters Dach vollgestopft mit Material.

Ich wühle gerade in meiner Tasche nach dem Schlüssel, als neben der Treppe eine Bewegung meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Vorsichtig beuge ich mich vor und höre zwischen den Oleanderbüschen ein jämmerliches Maunzen, bevor mir ein nasses, strubbeliges Etwas entgegentaumelt.

»Oh, wer bist du denn?«

Zwei riesige Knopfaugen blicken mich aus einem runden Gesicht mit überdimensionalen Ohren an, ehe abermals ein klägliches Wimmern ertönt. Langsam strecke ich meine Hand aus und halte dem pudelnassen Kätzchen meine Finger hin, um zu testen, ob es sich von mir berühren lässt. Zitternd rückt es näher und schiebt sein Köpfchen unter meine Handfläche.

»Ach du liebes Bisschen, du bist ja total durchgefroren.«

»Mrrau« Klingt schon fast anklagend.

»Okay, okay. Dann bringen wir dich erst mal rein und legen dich trocken. Dann sehen wir weiter. In Ordnung?«

»Miauuu« Das hört sich wiederum hoffnungsvoll an.

»Ich wusste gar nicht, dass ich über kätzische Empathie verfüge«, kommentiere ich kichernd, ehe ich behutsam eine Hand unter das bebende Bäuchlein schiebe, um das Kätzchen hoch und an meine Brust zu heben, wo es sich sofort nach Wärme suchend unter den Kragen meiner Jacke kuschelt. Es dauert einen Augenblick, bis ich meine Schuhe von den Füßen gekickt, die Tür von innen geschlossen, mich aus der Jacke gekämpft und sie an die Garderobe gehängt habe. Auf Socken tapse ich in das Obergeschoss. »Gleich sind wir da«, setze ich mein Findelkind in Kenntnis, das mittlerweile versucht, unter mein Arbeitshemd zu kriechen.

Ich schnappe mir zwei große Badetücher und drehe mich nach Platz suchend im Kreis. Eine feuchte Nase drückt sich inzwischen an meine Haut, sodass ich nicht lange fackle und einfach vor der Wanne auf den Boden sinke, um dort ein Nest aus Frottee herzurichten. Nur mit größter Mühe kann ich die Krallen aus der Knopfleiste meines Hemdes lösen. »Offenbar gefällt es dir da, hm?«

»Mrrau«

»Guck mich nicht so vorwurfsvoll an«, schimpfe ich gutmütig, während ich den zotteligen Fellball in das weiche Nest setze, es sanft streichle und einen kurzen Blick unter das Schwänzchen riskiere. »Zier dich nicht, mein Kleines«, säusle ich, als es sich windet. »Ich will nur wissen, mit wem ich es zu tun habe. Na also, hat doch gar nicht wehgetan, oder?« Ich hebe die Ecken des Handtuches an und beginne, Mr. Cat sorgfältig abzurubbeln. »Das gefällt dir wohl?«

Ein dumpfes Schnurren ist zu hören und ich spüre unter meinen Fingern den kleinen Körper vibrieren. Nachdem der Winzling halbwegs trocken ist, nehme ich ihn wieder auf den Arm und werfe die Handtücher in den Wäschekorb.

»Die Frage ist nur, was mache ich jetzt mit dir?« Ich habe keine Ahnung, was ein Kätzchen benötigt. Meine Familie hatte nie Haustiere. Im Bekanntenkreis kenne ich ebenfalls niemanden, der sich auskennt. Der Einzige, der mir helfen kann, ist ein Tierarzt.

»Gute Idee«, lobe ich mich und rapple mich mühsam auf. Der nächste Blick fällt auf mein Spiegelbild, das mich daran erinnert, mich selbst erst einmal zu kultivieren, bevor ich so dreckig und müffelnd, wie ich bin, unter das Volk gehe. »Eigentlich sollte ich vorher duschen. Aber wo lasse ich dich solange?«

Ein Geistesblitz bringt mich nach unten in die Küche. Mr. Cat schnurrt leise vor sich hin, während er sich auf meinem Arm die Vorderpfoten leckt. Ich greife in den Schrank und befördere einhändig den größten Bratentopf zutage, den ich finden kann. »Ein Körbchen wäre besser«, erkläre ich Mr. Cat. »Dummerweise bin ich nicht so der Korbtyp. Falls du verstehst, was ich meine.« Ich blicke auf das Fellknäuel und schüttle den Kopf. »Als würdest du auch nur ein einziges Wort verstehen.«

Ich schleppe den gusseisernen Topf mit ins Bad, drapiere ein sauberes Handtuch darin und setze ihn hinein. Er blinzelt mich müde an, ehe er sich einrollt und die Augen schließt. Verzaubert durch das mir von ihm entgegengebrachte Vertrauen stehe ich da und starre das kleine Wesen einfach nur an.

Das mittlerweile flauschige Fell steht in alle Himmelsrichtungen ab. Auf den ersten Blick ist es dunkelbraun. Durch das Heben und Senken des Brustkorbs werden jedoch hellere Partien der Unterwolle sichtbar, die zu den Ringen um die Augen passen. Es wirkt beinahe so, als würde der Kleine eine ausgefallene Brille tragen. Das Fell an Kopf und Ohren ist zerzaust. Und plötzlich kommt mir ein Name in den Sinn. »Elton«, flüstere ich. Was den Hosenscheißer dazu animiert, ein Auge zu öffnen und abermals zu schnurren. Ein tiefes Schnaufen folgt, bevor er wieder sanft in den Schlaf zu gleiten scheint. Erneut verspüre ich eine Wärme, die in meinem bisherigen Leben nicht allzu oft Besitz von mir ergriffen hat. Vertrauen. Es ist nicht so, dass ich keine Freunde hätte. Aber jemand, der sich vertrauensvoll in meine Hände begibt …? Tja, das wäre schön.

Ich winke verächtlich ab. Katerchen ist so fertig, dass er wahrscheinlich inmitten einer Horde Wölfe eingeschlafen wäre. Ein letzter Blick. Dann drehe ich das warme Wasser auf. Es läuft und ich pelle mich aus den dreckigen Klamotten. Immer mit dem Gedanken im Hinterkopf, meinen kleinen Gast nicht zu lang aus den Augen zu lassen, beeile ich mich und bin innerhalb kürzester Zeit frisch geduscht, rasiert und sauber gekleidet. Als ich ein weiteres Mal vor dem Bratentopf innehalte, um Elton zu beobachten, fällt mir ein, dass ich für den Abend einen Ausflug in die Clubszene von Inverness eingeplant hatte. Also, was sich so Clubszene nennt. Denn so riesig ist meine Heimatstadt nun auch wieder nicht.

Den kleinen Mann allein lassen? Nein, das kann ich nicht. Zumal ich zu allererst herausfinden muss, was er benötigt. Und immerhin hatte ich keine Verabredung. Weshalb ich niemanden vor den Kopf stoße, wenn ich mich jetzt anders entscheide.

Ich schnappe mir den Bratentopf mit dem schlafenden Elton und setze mich im Wohnzimmer auf die Couch. Elton weiterhin im Tiefschlaf neben mir. Der Laptop steht geöffnet vom Vorabend auf dem Tisch. Ich fahre ihn hoch, suche im Internet die Nummer des ansässigen Veterinärs heraus und rufe sofort an. Ein Blick auf die Uhr und ich bezweifle bereits, überhaupt noch jemanden ans Telefon zu bekommen, als auch schon eine freundliche Stimme summt: »Praxis Dr. Shelby, was kann ich für Sie tun?«

Ich bin so perplex, dass ich einen Moment brauche, um mich zu fassen. »Ähm, da ist ja noch jemand.«

Ein fröhliches Kichern. »Ja, richtig. Mit wem habe ich denn das Vergnügen?«

»Oh, Entschuldigung. Keagan Holder. Ist Dr. Shelby zu sprechen?«

»Hallo, Mr. Holder. Dr. Shelby ist am Apparat. Um was geht es?«

Gott, wie peinlich, warum bin ich sofort davon ausgegangen, bei der netten, weiblichen Stimme würde es sich um die Empfangsdame oder Arzthelferin handeln?

Klischee, Dummbatz. Niemand ist davor gefeit.

»Mir ist heute eine Katze zugelaufen. Und …«

»Sie wollen sie wieder loswerden«, werde ich resigniert unterbrochen. Ihre Fröhlichkeit ist schlagartig verschwunden.

»Ähm, keine Ahnung«, entgegne ich verwirrt. »Elton saß bei mir auf der Treppe und war völlig durchnässt. Ich habe ihn zwar trocken bekommen, aber ich bin mir nicht sicher, was ich ihm als Futter geben kann. Und ich glaube, er ist noch ziemlich jung. Ich will nichts falsch machen«, erkläre ich mich eilig.

»Elton?«

»Ja, er sieht aus wie Elton John. Also können Sie mir ein paar Tipps geben?«

»Dann haben sie dem Kerlchen bereits einen Namen gegeben?«

»Sollte ich etwa nicht? Ich meine, er ist kein Rehkitz, das man am Straßenrand findet, verliebt streichelt und somit ungewollt seiner Mutter entreißt. Ich wüsste nicht …«

»Mr. Holder?« Plötzlich liegt wieder diese Fröhlichkeit in ihrer Stimme.

»Ja!«, motze ich mittlerweile ungehalten und kurz davor aufzulegen. Ich will doch einfach nur eine Auskunft und mich nicht für Weiß-der-Geier-Was rechtfertigen müssen.

»Was halten Sie davon, wenn Sie und Elton mich besuchen kommen? Ich schaue mir Ihren kleinen Freund an und kann Sie nebenher beraten. Ich habe auch Broschüren, in denen Sie später nochmal alles nachlesen können.«

Ja wie jetzt? »Heute noch?«

»Das wäre wohl das Einfachste. Ich bin eh noch mindestens zwei Stunden beschäftigt.«

Ich überlege einen Moment und nicke.

»Mr. Holder?«

Oh, richtig, das konnte sie nicht sehen. »Na ja, wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann würde ich Elton einsacken und wir kommen schnell rum.«

»Wunderbar. Dann sehen wir uns in ein paar Minuten. Lassen Sie sich nicht davon abschrecken, dass die Eingangstür abgeschlossen ist. Klingeln Sie einfach. Ich komme dann vor und lasse Sie rein.«

»In Ordnung. Bis gleich.«

 

Eine halbe Stunde später stehe ich mit dem Bratentopf unter dem Arm vor der Tierarztpraxis und klingele. Zum Glück hat der Regen nachgelassen, sonst wären wir jetzt beide pitschnass. Während ich warte, blicke ich an der Fassade hinauf. Altes Gemäuer, aber ein Windfang ist keine große Sache. Links und rechts ein paar rustikale Balken und ein wenig Schiefer als Überdachung, würden den Gesamteindruck nicht maßgeblich verändern. Eher aufwerten. In Gedanken sehe ich es direkt vor mir und finde die Idee gar nicht so übel. Vielleicht …

Die Tür schwingt auf und ich setze spontan einen Schritt zurück.

»Mr. Holder? Stimmt was nicht mit der Fassade?«

»Sorry. Mir ist nur etwas durch den Kopf gegangen.« Ich trete auf sie zu und reiche ihr meine Hand. »Hallo, Dr. Shelby. Danke, dass Sie sich heute noch für uns Zeit nehmen.«

»Kein Problem. Wie ich Ihnen bereits sagte, hatte ich einiges zu erledigen.« Sie deutet in Richtung Himmel. »Bei dem bescheiden-schönen Wetter fiel mir nichts Besseres ein, als mich um liegengebliebenen Papierkram zu kümmern. Aber kommen Sie. Ich bin gespannt auf den kleinen Racker, der da gerade neugierig unter ihrem Arm hervorlinst.«

Gemeinsam gehen wir durch einen kleinen Raum voller Stühle. Das Wartezimmer. Dann betreten wir eines von drei Behandlungszimmern. Dr. Shelby zeigt auf den in der Mitte stehenden, glänzenden Stahltisch. »Am besten hier.«

Ich stelle den Bratentopf ab und Elton linst neugierig über den Rand, als neben mir Dr. Shelbys fröhliche Stimme erklingt. »Ein Bratentopf? Das nenne ich kreativ.« Sie beugt sich vor und schnurrt: »Und du bist also Elton? Mein Gott, du bist aber auch ein Süßer.« Vorsichtig hebt sie ihn heraus und ich muss den Impuls unterdrücken, ihr Elton sofort aus den Händen zu nehmen. Verdammt!

»Er ist tatsächlich noch sehr jung. Ich würde ihn nicht älter als ein halbes Jahr schätzen.« Sie untersucht Elton, der sich das nur widerwillig gefallen lässt. Mit einem elektronischen Gerät, laut Dr. Shelby ein Scanner, gleitet sie über Eltons Schulterpartie und legt es mit einem Grummeln auf den Tisch. Er maunzt empört und macht den Eindruck, als würde er zu mir wollen. Ich rücke Dr. Shelby nicht von der Seite, während sie meinen kleinen Freund gewissenhaft unter die Lupe nimmt.

»Sie wissen, dass sich Katzen ihre Dosenöffner selbst aussuchen?«, setzt sie mich beiläufig in Kenntnis.

»Dosenöffner?«

»Ja, sie sind eigenwillige Geschöpfe und vertragen sich nicht mit jedem Zweibeiner.«

»Ach so, Sie meinen, Zweibeiner gleich Dosenöffner. Ich bin mir nicht sicher, ob das auf Elton zutrifft. Immerhin muss er ja irgendwoher kommen. Von daher glaube ich nicht, dass er mich bewusst ausgesucht hat.«

»Das mag schon sein. Aber in der kurzen Zeit, die er bei Ihnen ist, hat er sich bereits für Sie entschieden. Das ist offensichtlich.« Sie mustert mich einen Moment. »Sie haben gar keine Erfahrung mit Tieren?«

»Nein.«

»Das macht nichts. Dieser kleine Kerl hat Glück, dass Sie sich ihm angenommen haben. Um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, dass er ausgebüxt ist. Ich gehe eher davon aus, dass ihn irgendein hirnloser Idiot ausgesetzt hat.« Sie blickt mich erschrocken über sich selbst an. »Sorry, aber das macht mich wirklich wütend.«

»Wie schrecklich«, platzt es mir heraus.

Elton holt aus und versetzt Dr. Shelby einen Hieb.

»Ja, ja, ich hab dich verstanden«, kommentiert sie Eltons Unmutsbezeugung. »Wir sind schon fertig. Du bist ein gesunder Bengel. Ein wenig erschöpft, aber ansonsten machst du einen sehr lebhaften Eindruck. Zwei Tage Ruhe werden dir guttun.« Mit einem total entspannten Gesichtsausdruck setzt sie das Wollknäuel zurück in den Bratentopf und zieht langsam ihre Hände weg. Obwohl Elton das provisorische Transportmittel zuvor akzeptierte, springt er jetzt sofort wieder heraus und tappst unsicher zu mir. Er schmiegt seine Stirn an meinen Bauch.

»Er reagiert sehr sensibel auf Stimmungsschwankungen, wie es scheint.« Sie streichelt ihn über den Kopf. »Sorry, mein Kleiner. Ich wollte dich nicht erschrecken.« Dann schaut sie zu mir auf und erklärt amüsiert: »Er sucht bei Ihnen Schutz und markiert Sie.«

»Und das ist gut?«

»Das kommt darauf an, ob Sie vorhaben, Elton zu behalten.«

»Um ehrlich zu sein, habe ich mir darüber noch keine Gedanken gemacht. Aber selbst wenn, es könnte ja doch möglich sein, dass er vermisst wird.«

Dr. Shelby verschränkt die Arme, lehnt sich rücklings gegen den Behandlungstisch und beobachtet mich dabei, wie ich Eltons Wunsch nachgebe, ihn hochzunehmen.

»Wenn sich niemand meldet – und ich gehe schwer davon aus, dass es so kommen wird –, würden Sie ihn dann behalten wollen?«

Unwillkürlich drücke ich meine Nase in sein weiches Fell und nuschle: »Ich habe keinen Schimmer, wie das funktionieren soll. Aber ja, ich könnte es mir sehr gut vorstellen.«

»Leben Sie allein?«

Ich schaue alarmiert zu ihr auf. In ihrem Blick liegt nichts außer Neugier. Gott sei Dank. Mit einer flirtenden Tierärztin will ich mich nicht auch noch auseinandersetzen müssen. »Ja«, entgegne ich wahrheitsgemäß.

»Wenn ich mir euch so ansehe, denke ich, die Entscheidung ist längst gefallen – auf beiden Seiten. Sie sollten aber vielleicht noch etwas nicht ganz so unwesentliches über Elton wissen, bevor Sie sich tatsächlich auf ein Katzenabenteuer einlassen.«

»Das wäre?«

Sie krault Elton zwischen den Ohren, was er nun entspannt über sich ergehen lässt. »Der kleine Racker wird nicht klein bleiben.«

»Äh … Das dachte ich mir.« Sehe ich so dämlich aus?

»Nein, Sie verstehen mich falsch. Ich sagte ja bereits, er ist noch jung. Und natürlich würde er so oder so an Größe und Gewicht zulegen. Aber schauen Sie sich mal seine Pfoten an.«

Ich blicke auf Elton herunter, nehme vorsichtig eine in die Hand und streiche mit dem Daumen darüber. Ein leises, zufriedenes Schnurren vibriert an meiner Brust. »Was ist damit?«

»Sie sind für sein Alter sehr groß. Genau wie seine Ohren. Sehen Sie? Seine Körpergröße ist vergleichbar mit einer normalen Hauskatze von ungefähr einem Jahr.«

Das mit seinen Lauschern ist mir beim ersten Blick aufgefallen. »Ist das unnormal?« Sofort überkommt mich Sorge. Ist Elton vielleicht krank?

»Für seine Rasse absolut nicht«, feixt Dr. Shelby. »Die Maine Coon zählt zu den größten Hauskatzen der Welt.«

»Ach du Scheiße!«

Ein fröhliches Lachen hallt durch die Praxis. »Ja, so kann man es auch ausdrücken.« Sie tätschelt meinen Oberarm. »Aber keine Bange. Sie sind sehr lieb und extrem treu.«

»Von welcher Größe reden wir denn hier?«, frage ich leise. Irgendwie kommt es mir vor, als würde ich Eltons Gefühle verletzen.

Dr. Shelby schlendert zu einem Schreibtisch und kramt in der Schublade herum, bis sie mich anstrahlt und mit einem Prospekt herumwedelt. »Ich wusste, ich habe es hier drin.« Als sie wieder neben mir steht, sehe ich, dass es sich um ein kleines Heftchen handelt. Auf dem Cover ist eine majestätische Katze abgebildet. Darüber in riesigen Buchstaben der Titel: Maine Coon – Der sanfte Riese. Sie blättert ein paar Seiten um und hält es mir dann unter die Nase. »Schauen Sie, Elton ist ein Kater. Es ist natürlich schwer einzuschätzen, wie groß er schlussendlich wird. Allerdings ist es nicht selten der Fall, dass die Herren der Schöpfung eine Schulterhöhe von bis zu vierzig und eine Länge von bis zu einhundertzwanzig Zentimetern erreichen können – inklusive Schwanz.«

»Heiliger Strohsack!«

»Na ja, ansonsten sind sie pflegeleicht. Ich würde vorschlagen, dass Sie in den nächsten Tagen nochmal vorbeischauen. Wenn Sie wollen, kann ich mich mal umhören, ob jemand den kleinen Fratz vermisst.« Sie deutet auf den zuvor genutzten Scanner. »Gechipt ist er zumindest nicht. Sollte sich herausstellen, dass er wirklich herrenlos ist, übernehme ich gern die Vorsorge, wenn Sie wollen.«

»Was bedeutet das?«

»Um auf Nummer sicher zu gehen, würde ich einen Bluttest veranlassen. Um feststellen zu können, ob er bereits die notwendige Grundimmunisierung erhalten hat, wissen Sie? Eine Entwurmung ist auf alle Fälle wichtig.«

»In Ordnung. Jetzt sollte ich nur noch erfahren, was ich alles für ihn brauche.«

»Für heute kann ich Ihnen erstmal aushelfen. Ich gebe Ihnen gerne auch eine Aufstellung mit.«

»Das wäre super. Danke.«

»Kein Problem. Ich schau mal, was ich alles hier habe.« Dr. Shelby verschwindet für einige Minuten in einen angrenzenden Raum und kommt mit einem gut gefüllten Stoffbeutel wieder zurück. »Fürs Erste würde ich vorschlagen, Sie legen Zeitung aus, da Sie noch kein Katzenklo haben. Wenn Sie es aufstellen, natürlich so, dass Elton jederzeit Zugang hat. Und zeigen Sie ihm, wo es steht. Der Rest klappt dann wie von selbst.«

»Das sollte ich hinkriegen. Mir macht nur Sorgen, dass ich ihn tagsüber allein lassen muss. Glauben Sie, das wird ein Problem?«

»Wir haben Freitag. Müssen Sie am Wochenende arbeiten?«

»Ich habe ein paar Termine, die könnte ich notfalls verschieben. So dringend sind sie nicht.«

»Wenn das machbar ist, dann tun Sie das. So habt ihr zumindest zwei Tage, in denen ihr euch aneinander gewöhnen könnt und Elton sich erholen kann.« Dr. Shelby zwinkert mir zu. »Er wird sich Ihre Wohnung unter den Nagel reißen.«

»Also gut. Dann drücken Sie uns die Daumen, dass alles gut wird. Ich würde ihn ungern weggeben müssen.«

»Ja, das fände ich auch schade. Wo er sich doch schon so schnell an Sie gebunden hat.«

Ich nehme ihr den Beutel aus der Hand, packe das Informationsheftchen hinein und lege den nun schlafenden Elton wieder zurück in den Topf.

»Lassen Sie mich den Satansbraten nehmen«, bietet Dr. Shelby an und geleitet mich hinaus zum Auto.

 

*

 

»David, ich brauche deine Hilfe.«

»Und das fällt dir Sonntagfrüh um sieben ein?«, grummelt mir David müde ins Ohr.

Erst jetzt schaue ich auf die Uhr. »Oh, sorry. Hab die Zeit komplett aus den Augen verloren.«

»Na das muss ja dann ein sehr aufregender Samstag gewesen sein. Ich hoffe, es hat sich für dich gelohnt und du bist voll auf deine Kosten gekommen.« Der süffisante Tonfall ist nicht zu überhören und mir ist klar, worauf er anspielt.

»Deine Gedanken sind eindeutig zu zweideutig, mein Freund.«

»Wie auch immer. Was gibt’s?«

»Ich kann in den nächsten Tagen nicht wirklich von zu Hause weg. Würdest du zwei Termine für mich übernehmen? Sind nur Baubegehungen. Du weißt, worauf es ankommt, damit wir ein Angebot unterbreiten können.«

Die Müdigkeit scheint vergessen, als David mich beunruhigt fragt: »Keagan, ist was passiert?«

»Ganz ruhig. Nichts Dramatisches. Es ist sogar ziemlich albern. Also lach nicht.«

»Oh, jetzt bin ich neugierig.«

Ich erzähle ihm von Elton. Wie ich ihn gefunden habe und über die gemeinsam verbrachten Stunden. Dass er sich super eingelebt hat, ich ihn aber ungern jetzt schon allein lassen würde. Obendrein möchte ich das Angebot von Dr. Shelby annehmen, Elton, der in diesem Moment zusammengerollt auf meinem Schoß liegt, so schnell wie möglich genauer zu untersuchen. Als ich zum Ende meines Berichts komme, herrscht für den Moment Schweigen. »David? Bist du noch dran?«

»Du willst mich verarschen, oder?«

»Sicher nicht. Und ich sagte ja, es ist albern.«

»Also gut, ich werde das schon hinkriegen.«

»Davon gehe ich aus. Sonst hätte ich dich nicht gefragt. Sollte es dennoch Probleme geben, bin ich jederzeit erreichbar.«

Ein herzhaftes Gähnen. »In Ordnung, Chef. Mach dir keine Sorgen. Aber jetzt würde ich gern noch ein, zwei Stündchen am Kissen horchen, wenn’s recht ist.«

»Süße Träume. Und danke.«

»Ja, ja. Bis dann.«

Das Handy landet auf dem Tisch und ich schaue auf den schlafenden Elton hinunter. »Du bringst mein Leben ganz schön durcheinander.«

 

Zwei Stunden später klingelt mein Telefon. Ein äußerst ungünstiger Moment, denn ich bin gerade dabei, eine Rolle Klopapier vor Eltons Spieltrieb zu retten. Den Plagegeist in einer Hand, der sich nicht sträubt, seine spitzen Beißerchen an meinem Daumen auszutesten, nehme ich zischend den Anruf entgegen. »Holder?«

»Guten Morgen, Keagan. Blaire MacTavish hier. Ich hoffe, ich störe nicht.«

Was für eine Überraschung. »Nein, nein. Was kann ich für Sie tun?«

»Wenn Sie es ermöglichen könnten, würde ich Sie im Laufe der nächsten Woche gern auf Dachaigh Castle einladen, um die letzten Einzelheiten mit Ihnen zu besprechen. Ich wäre ja nach Inverness gekommen, aber ich denke, es ist vor Ort sinnvoller.«

Überrascht halte ich mitten in der Bewegung inne. »Dann kann ich davon ausgehen, dass wir uns einig werden?«

Mrs. MacTavish ist über siebzig und hat noch so viel Pfeffer im Hintern wie eine Zwanzigjährige. »Sie hatten nicht wirklich angenommen, ich würde Sie mit einer anderen Firma ausbooten, oder? Wenn das so ausgesehen haben sollte, tut es mir leid. Seit wir uns das erste Mal getroffen haben, weiß ich, dass nur Sie infrage kommen. Also, mein Junge, atmen Sie ganz tief durch. Sie haben den Auftrag. Mir geht es jetzt nur noch um organisatorische Fragen und ein oder zwei Details, die wir, wie schon erwähnt, lieber hier vor Ort besprechen.«

Mir fällt ein Stein vom Herzen. »Gott, Sie wissen gar nicht, wie glücklich Sie mich gerade machen.«

Ein ausgelassenes Kichern. »Ich höre es Ihnen an. Also, wann kann ich mit Ihnen rechnen?«

In diesem Augenblick zwickt mir Elton in den Zeigefinger. »Au, verdammt!«

»Mr. Holder, alles in Ordnung?«, erkundigt sich Mrs. MacTavish.

»Bin mir noch nicht ganz sicher.« Ich sinke auf die Couch und setze Elton auf meine Beine, um ihm einen kleinen Kunststoffball unter die Nase zu halten. »Bei mir hat sich letzten Freitag etwas ergeben, dass es mir spontanes Reisen erschwert.«

»Ist jemand aus der Familie krank geworden?«

»Was? Oh, nein. Zum Glück sind alle wohlauf.«

»Wollen Sie es mir nicht sagen? Vielleicht findet sich ja eine Lösung«, bietet die alte Dame verständnisvoll an.

Es ist wie beim Telefonat mit David. Ich komme mir lächerlich vor. Und dennoch ist mir Elton so wichtig, dass ich ihn einfach nicht hinten anstellen kann. »Na ja, mir ist ein kleiner Kater zugelaufen und ich muss mal sehen, ob ich jemanden finde, der solange auf Elton aufpasst.«

»Aber, junger Mann, das ist doch überhaupt kein Problem. Sie bringen Ihren Elton einfach mit. Wir haben hier so viel Platz, er wird sich sicher pudelwohl fühlen. Und ich würde mich freuen, ein Auge auf den Schlingel haben zu dürfen. Wir hatten früher auch Katzen. Leider ist Frieda vor ein paar Jahren von uns gegangen. Danach hatte es sich einfach nicht wieder ergeben, einen pelzigen Vierbeiner aufzunehmen.«

»Sind Sie sich sicher? Ich möchte wirklich keine Umstände machen.«

»Ach quatsch. Ich würde es nicht anbieten, wäre das der Fall.«

»Das ist sehr nett. Was halten Sie von Donnerstag? Bis dahin hat sich der Knirps ein bisschen an mich gewöhnt und ich kann alles Notwendige besorgen und erledigen. Oh, da fällt mir ein, ich brauche noch eine Transportbox.«

Wieder ein Kichern. »Sie werden das schon hinkriegen. Dann freue ich mich auf Donnerstag. Ach und Mr. Holder? Es wäre toll, wenn Sie ein, zwei Nächte bleiben könnten.«

»Aber warum denn?«

»Weil ich es so möchte.« Das klang jetzt irgendwie herrisch.

Wenn ich den Auftrag will, muss ich wohl oder übel über ein paar ihrer Eigenheiten hinwegsehen. »Na gut, ich werde es sicher einrichten können.«

»Das ist gut. Ich richte das Zimmer her, in dem Sie dann auch zukünftig unterkommen. So sehen Sie gleich, ob alles nach Ihren Wünschen ist. Immerhin wollen wir Sie eine ganze Weile bei uns behalten, nicht wahr?«

Ich weiß nicht warum, aber sie hört sich plötzlich auf eine seltsame Art geheimnisvoll an. Und was heißt, sie wird das Zimmer herrichten? Ich hoffe doch nicht, sie muss das allein bewerkstelligen.

 

Eine ungewöhnliche Freundschaft

 

- Blake -

 

Blaire ist in der Nähe und telefoniert. Es hat eine Weile gedauert, bis ich begriff, wer sie ist und warum sie hin und wieder so eigenwillige Monologe führt.

Nun gut, es hat auch eine gefühlte Ewigkeit gedauert, bis ich überhaupt verstand. Was man mir wohl nicht vorwerfen könnte, selbst wenn man wollte. Angangs dachte ich, ich wäre tot und würde Leidgenossen hören, die ebenfalls ihr irdisches Leben ausgehaucht hatten. Allerdings veränderte sich mit der Zeit ihre Ausdrucksweise, was mir immer sonderbarer vorkam. Nicht dass es kein Englisch war. Nein, die Formulierungen verwirrten mich.

Ich nahm es als gegeben hin. Mir blieb nichts anderes übrig. Denn mein Gehör schien alles zu sein, was mir geblieben war. Ein äußerst befremdlicher Umstand, den ich mir fortan damit erklärte, eine höhere Macht hätte mir für meine im Leben begangenen Sünden eine Strafe auferlegt. Dennoch ist es beängstigend, selbst nach all der Zeit und den über fünfzig Jahren, in denen ich Blaire nun schon in meiner Nähe weiß.

Plötzlich war da diese süße Stimme – jung und unschuldig. Nach der endlosen Zeit, die ich nur mit meinen eigenen Gedanken verbrachte, sprach mich jemand mit meinem Namen an. Ich war wie vom Donner gerührt, als ich feststellte, dass wir miteinander kommunizieren konnten. Blaire erklärte mir, sie würde mich nur in ihrem Kopf hören und sie müsse aufpassen, dass sie niemand für schwachsinnig hielte, wenn sie mit mir redete. Sie war es auch, die mir später aufzeigte, was mit mir geschehen war. Mittlerweile weiß ich: Ich bin nicht tot.

Ein schottisches Sprichwort besagt: Das Schlimmste kann ertragen werden, wenn man es kennt.

Da steckt eine Menge Wahrheit drin. Dennoch will ich nicht leugnen, dass mich dann und wann aus dem Hinterhalt – wie früher die Rotröcke – ein Gefühl der Ohnmacht überfällt. Eine für wahr furchterregende Empfindung, die mir mehr Seelenqualen bereitet, als meine anfängliche Ahnungslosigkeit über den Grund meiner jetzigen Existenz. Und Letzteres allein hinterließ bereits den Anschein, dem Wahnsinn zu verfallen.

Ich geriet zu Lebzeiten einige Male in brenzlige Situationen, in denen ich mich ausgeliefert fühlte, mein Leben am seidenen Faden hing. Aber ich fand stets einen Weg hinaus. Das hier, dieser körperlose Zustand, in dem ich mich laut Blaire seit nahezu zwei Jahrhunderten befinde, ist nicht einmal annähernd damit zu vergleichen.

Gäbe es eine Möglichkeit, Abbitte zu leisten, ich würde sie sofort ergreifen.

»Wir bekommen in ein paar Tagen Besuch«, setzt mich Blaire in Kenntnis.

»Das freut mich für dich. Ich mag es nicht, wenn du zu lange allein bist. Ist es dieser Holder? Bist du dir sicher, dass er der Richtige ist, um Dachaigh Castle neuen Glanz zu verleihen?«

»Wenn du mich fragst, könnten wir keinen Besseren finden.« Eine Aussage, die ich von ihr in den letzten Wochen oft gehörte habe. Und ich glaube, sie verschweigt mir da etwas. »Soweit ich das einschätzen kann«, fährt sie unbeschwert fort: »ist er mit Leib und Seele bei seiner Arbeit. Ach und ich bin nicht einsam, mein Lieber. Wie oft muss ich dir das noch sagen?«

»Bis ich es glaube? Ich habe dir schon vor Jahren ans Herz gelegt, du sollst dir endlich einen netten Mann nehmen und eine Familie gründen.«

»Wenn das Schicksal es so gewollt hätte, wäre es auch so gekommen. Und jetzt hör auf, mir Vorhaltungen machen zu wollen. Erzähl mir lieber, was wir heute noch anstellen.«

»Wie ist das Wetter?«

»Regnerisch. Warum fragst du? Willst du zu den Klippen?«

Wie so oft spüre ich ihre Sorge, die mich warm berührt und wie ein wollenes Plaid einhüllt. Es ist so verdammt lange her, als ich das letzte Mal jemand wirklich auf meiner Haut gespürt habe. »Das wäre wundervoll. Aber wenn das Wetter so schlecht ist, mag ich es dir nicht zumuten.«

»Du bist störrisch wie ein Maulesel. Ich bin zwar sechsundsiebzig, aber nicht hilflos. Und ein bisschen frische Luft würde mir guttun. Also lass uns den Nachmittag am Meer verbringen.«

»Wie du willst. Ich kenne dich zu gut, um mit dir zu hadern. Ich möchte nur nicht, dass du dich übernimmst. Und kleide dich bitte warm genug.«

»Herrje, du hörst dich an wie mein Vater.«

»Der ich hätte durchaus sein können, mon leannan.«

Wieder ein Kichern. Mit den Jahren ist es kratziger geworden, hat indes keineswegs seine unverhohlene Lebensfreude eingebüßt. »Du übertreibst wieder maßlos. Wir beide wissen, dass ich von deinem Bruder abstamme. Und nur weil du ein Urahn von mir bist, heißt das noch lange nicht, dass du mir etwas vorschreiben kannst.«

»Dickköpfig wie eh und je.«

»So sind wir MacTavishs eben. Lass mich ein paar Kleinigkeiten erledigen, dann können wir aufbrechen.«

»Aye, mo chridhe.«

»Ach, ich liebe es, wenn du das sagst«, flötet Blair, bevor ich höre, wie sie sich von mir entfernt.

Und ich liebe es, wenn sie mit mir auf den Klippen steht. Natürlich sehe ich nicht mit eigenen Augen oder erfahre am eigenen Leib, wie es sich anfühlt, dort zu sein. Aber Blaire beschreibt es mir ausführlich. Jedes winzige Detail findet durch ihre Worte den Weg in meine Gedanken und es entstehen Bilder und Eindrücke. Durch sie bin ich meiner Heimat so nahe, wie es nur geht. Durch sie rieche ich das Meer, schmecke es auf meiner Zunge, spüre den Wind auf meiner Haut und werde von der Sonne gewärmt, die heute leider nicht den Weg durch die Wolken zu finden scheint. Blaire wird nie müde, mich an ihrer Welt, die früher auch die meine war, teilhaben zu lassen.

 

ENDE der Leseprobe

Impressum

Texte: Nele Betra
Bildmaterialien: depositphotos
Cover: Nele Betra
Lektorat: Brigitte Melchers
Tag der Veröffentlichung: 01.06.2018

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