Yellow Pine
- Dylan -
»Die Sonne knallt heute erbarmungslos auf uns herunter, was altes Mädchen?« Schnaufend ziehe ich mir den Stetson vom Kopf, wische mit dem Handrücken über meine Stirn und kraule Pepper die aufgestellten Ohren.
Nachdem ich frisches Wasser in ihren Napf gefüllt habe und sie sich gierig darüber hermacht, sinke ich auf die Holzstufen, die zur Veranda hinaufführen. Nur für einen kurzen Moment, ehe ich mit dem Pick-up und meiner Terrier-Dame nach Darby fahre, um Zaundraht zu besorgen, was ich ursprünglich heute früh schon erledigen wollte, aber verschieben musste, da sich Darrell, meine rechte Hand, mit einer heftigen Magenverstimmung krank gemeldet hat.
Hinter mir quietscht die Fliegengittertür. Ohne hinzusehen, weiß ich, wer dort steht. »Alles in Ordnung?«, frage ich meine Schwester. Gayle ist vor sechs Monaten mit ihrem Sohn Joey nach Hause zurückgekehrt und hat gerade eine fiese Scheidung hinter sich gebracht.
Nackte Füße in Flipflops schieben sich in mein Sichtfeld und ich muss schmunzeln. »Ich hoffe, du gehst so nicht in den Stall.«
Gayle reicht mir ein mit Kondenswasser beschlagenes Glas Eistee. »Wie oft willst du mir das noch vorbeten?« Sie setzt sich neben mich auf die Treppe und lehnt sich gegen meine Schulter, auf der Suche nach Nähe und … Ich glaube, ohne dass ihr das bewusst ist, auch auf der Suche nach Schutz. »Du vergisst immer wieder, dass ich genau wie du hier aufgewachsen bin. Ich habe zwar fast mein halbes Leben in Denver, bei diesem …« Sie schnaubt abfällig. »Es gibt gar keine passende Bezeichnung für dieses Arschloch.«
Ich schaue sie fragend an. Ihr Blick in die Ferne gerichtet. »Also, auch wenn ich mein halbes Leben in Denver verbracht habe, ist mir durchaus bewusst, welche Gefahren auf einer Ranch lauern.«
»Gut«, murmle ich und drücke ihr einen Kuss auf den Scheitel. Ihre langen, blonden Locken sanft und weich unter meinen Lippen. »Du hast mir gefehlt. Hatte ich das eigentlich schon erwähnt?« Ich will sie nicht noch mehr Trübsal blasen sehen, weshalb ich sie auf andere Gedanken bringen möchte. »Und außerdem kann ich im Moment jede Hilfe gebrauchen.«
»Du hast mir auch gefehlt. Die paarmal, die wir hier waren, sind zu wenig gewesen. Das ist ja nun Geschichte. Und was das andere angeht …« Gayle hebt ihr Gesicht und mustert mich ernst. »Wann gedenkst du endlich jemanden einzustellen und Darrell wieder zum Vorarbeiter zu machen?«
»Wenn wir es uns leisten können, Schatz.«
Gayle schüttelt den Kopf. »Du sagst immer wir. Will ich mich finanziell einbringen, heißt es plötzlich, du bist für diesen Part verantwortlich.«
»Willst du jetzt die gleiche Diskussion wie immer führen?«
»Ich habe darin jahrelange Übung. Aber mal im Ernst. Joey und ich leben jetzt hier und so lange du nicht sagst, wir sollen verduften, bleibt das auch so. Nur, dann möchte ich mehr beitragen, als dir das Essen auf den Tisch zu stellen.«
»Und den Haushalt zu führen«, ergänze ich.
»Und das, ja. Würden wir nicht hier bei dir leben, wäre es nicht anders. Also in Gottes Namen, hör auf dich dagegen zu sträuben und lass mich dir helfen.«
Wie schon erwähnt, ist es nicht das erste Mal, dass wir diese Unterhaltung führen. Bisher hatte ich das Gefühl, Gayle und Joey würden nicht auf ewig bleiben. Warum sollte ich dann zulassen, dass sie ihre Ersparnisse in eine Ranch steckt, die nicht ihr Zuhause ist? »Dann habt ihr zwei wirklich vor zu bleiben?«
»Sicher, Dummkopf! Davon abgesehen, dass ich von Männern die Nase voll habe. Und sollte sich noch einmal ein Geschöpf dieser Gattung auch nur in unsere Nähe wagen, braucht er sich nicht einbilden, wir würden für ihn alles stehen und liegen lassen. Soll heißen, selbst wenn ich mich wieder auf einen Kerl einlasse, dann einzig und allein unter der Maßgabe, dass er seinen Hintern hierher verfrachtet. Verstehst du, was ich damit sagen will?«
Ich könnte platzen vor Glück. Reiße mich jedoch zusammen, nicht wie ein aufgeregtes Fohlen umherzuspringen. Ich lege einen Arm um Gayles Schultern und drücke sie an meine Seite. »Wenn das so ist, Schwesterchen, lass uns in den nächsten Tagen in Ruhe über die Ideen reden, die dir und mir durch den Kopf spuken, okay? Und wir sollten darüber nachdenken, ob wir in naher Zukunft das Haus ausbauen.«
»Wieso? Hast du etwa vor, eine Familie zu gründen, oder ziehst du die Idee, Gästezimmer anzubieten, tatsächlich in Betracht?«
Ich lache. »Das meine ich nicht. Ich und Familie? Blödsinn!«
»Warum Blödsinn? Ist es denn so abwegig?«
Ich schaue sie verblüfft an. »Du weißt noch, dass ich schwul bin?«
»Und?!«
»Gayle, wir sind hier nicht in Denver.«
Sie wirft ihre Hände in die Luft. »Das ist schon richtig. Aber wir leben immerhin im 21. Jahrhundert. Ich finde, es wird Zeit, dass auch in Gegenden wie dieser hier Toleranz bei den letzten engstirnigen Idioten Einzug hält. Du nicht? Wobei ich glaube, dass es nicht in erster Linie an Darby und seinen Einwohnern liegt.« Gayle pocht mir an die Stirn. »Das Problem steckt da drin.«
Wenn sie wüsste. Ich wünsche mir nichts mehr, als den Mann fürs Leben zu finden. Das ist allerdings nicht so einfach, wenn man einzig innerhalb der Familie – in meinem Fall Mom, die bei einem Reitunfall ums Leben kam, als ich sechzehn war, meine Schwester und Joey – offen geoutet ist. Es ist nicht so, dass ich es verheimlichen würde. Ich hänge es allerdings nicht an die große Glocke. Reine Erfahrungswerte. Leider war es kein Einzelfall, dass, sobald es irgendjemand spitzbekommen hat und sich keine neugierigen Ohren und Augen in der Nähe befanden, ich in irgendwelchen dunklen Ecken von netten Mitmenschen angepöbelt und beleidigt wurde. Eine Frau, die mich blöd anmacht, kann ich ignorieren. Ich würde ihr kein Haar krümmen, selbst wenn es das größte Miststück wäre. Und nur, um das vorauszuschicken, davon gibt es die eine oder andere. Die männliche Bevölkerung schloss jedoch nicht selten mit meiner Faust Bekanntschaft.
Mom hat früher immer gesagt: »Dylan, mein Schatz, im Leben ist es sehr wichtig, das Gleichgewicht zu wahren. Man sollte immer darauf achten, nicht nur zu nehmen, sondern auch zu geben.« Ich widersprach meiner Mutter ungern und somit bin ich schlicht und ergreifend meiner Erziehung gefolgt. Was schlussendlich dazu führte, dass mein Freundeskreis recht überschaubar war und immer noch ist.
Ich drücke Gayles Hand. »Na gut, wenn es dir und Joey nichts ausmacht, mit mir unter einem Dach zu wohnen.«
»Überhaupt nicht. Und was Joey angeht, er vergöttert dich.« Sie zwinkert mir zu. »Und ich bin mir nicht sicher, ob das so eine gute Sache ist.« Ächzend steht sie auf und drückt ihren Rücken durch. Pepper hat mittlerweile den Napf leer geschlabbert und sitzt wartend zu meinen Füßen. Gayle beugt sich hinunter und krault sie unter der Schnauze. »Na, meine Süße?« Pepper schaut zu ihr auf und fiept. An mich gerichtet fragt Gayle: »Wann glaubst du, dass du zurück bist? Nur damit ich weiß, wann ich das Essen aufsetzen kann.«
»Sollte nicht lange dauern. Gavin hat mir schon alles zusammengesucht. Ich muss es lediglich aufladen.«
»Dann ist sechs in Ordnung?«
»Na klar. Wenn Joey danach Zeit hat, könnten wir einen kleinen Ausritt unternehmen. Bis dahin sollte es nicht mehr so heiß sein.«
»Er wird sich freuen.«
»Du kannst mitkommen, wenn du magst.«
»Ein andermal, okay?«
»Jederzeit«, gebe ich zu verstehen und sehe ihr hinterher, wie sie im Haus verschwindet. Mir ist klar, das wird nicht geschehen. Seit Moms Unfall hat sie nicht mehr auf dem Rücken eines Pferdes gesessen. Ich freue mich, sie hier zu haben. Mache mir dagegen Sorgen. Sie sieht unglücklich aus. Klar, sie durchlebt eine echt schwere Zeit. Dennoch würde ich es begrüßen, sie öfter lächeln zu sehen.
Ich rücke den Hut zurecht und erhebe mich ebenfalls. »Na dann komm!«, fordere ich Pepper auf, die sich das nicht zweimal sagen lässt. Sie ist in die Jahre gekommen. Von Zeit zu Zeit legt sie eine Gelassenheit an den Tag, die für einen Jack Russell Terrier eher untypisch ist. Neben mir auf dem Beifahrersitz zu sitzen, stundenlang umherzufahren und ihre Nase aus dem Fenster in den Wind zu halten, ist ihr liebster Zeitvertreib.
Die Yellow Pine Ranch befindet sich in vierter Generation im Familienbesitz. Mein Urgroßvater hatte sie erworben. Rinder- und Pferdezucht, das war es, was er immer wollte. Die Ranch lief über viele Jahrzehnte ausgezeichnet. Auch als meine Eltern sie übernahmen. Nachdem Mom starb, gab Dad die Rinderzucht auf. Ich erklärte es mir damit, er würde für meine Schwester und mich mehr Zeit haben wollen. Mir gefiel der Gedanke. Und mit meinen sechszehn Jahren war der womöglich reichlich einfältig. Um ehrlich zu sein, kenne ich Dads Beweggründe nicht wirklich. Er war nie jemand, der sehr viel redete. So sprach er mich auch niemals auf meine Neigung an. Entscheidungen betreffend Yellow Pine? Undenkbar.
Über Ersteres wusste er Bescheid, da bin ich mir absolut sicher, denn Mom und er hatten nie Geheimnisse voreinander. Ich kann mir jedoch vorstellen, dass es ihn zumindest anfangs beschäftigt hat. Denn eine Zeitlang beobachtete er mich mit Argusaugen. Nicht um mich bei irgendetwas in flagranti zu erwischen – es würde mir im Traum nicht einfallen, mit einem Angestellten etwas anzufangen –, sondern um zu sehen, ob ich meinen Aufgaben auf der Ranch gewachsen bin. Vom heutigen Standpunkt aus gesehen, bewundere ich ihn sogar dafür. Er kämpfte sicher mit Vorurteilen, überwand diese jedoch für seinen Sohn. Es war eher ein schleichender Prozess. Weshalb ich gar nicht genau sagen kann, wann sich diese hintergründige Spannung zwischen uns in Luft auflöste. Irgendwann fiel mir auf, dass er mich behandelte wie jeden anderen auf der Ranch.
Was die Sache mit seinen Entscheidungen die Ranch betreffend angeht … Er brachte mir früh bei, nicht infrage zu stellen, wie er die Dinge regelte. Schlussendlich weitete er die Pferdezucht aus. Neben Quarter Horses kamen Appaloosas hinzu. Beide Rassen ausgezeichnet geeignet für den Ranch- oder Farmbetrieb. Muskulös, schnell, wendig, ausdauernd und widerstandsfähig. Alles Eigenschaften, die sie fürs Ranching oder die Farmarbeit unverzichtbar machen. Sie lassen sich vor einen Pflug spannen und würden nicht mal mit den Nüstern zucken.
Ich beendete die Schule und stieg voll ins Ranchleben ein. Was bedeutete, ich durfte trotz jahrelanger Erfahrung mit dem Ausmisten der Pferdeboxen beginnen. Um mich hochzuarbeiten, wie Dad es nannte. Gayle ging nach Denver auf die Uni, die sie abbrach und dortblieb, als sie ihren zukünftigen Ex-Mann kennenlernte und augenblicklich schwanger wurde. Gayle fühlte sich verpflichtet, den Vater ihres Kindes zu heiraten. Ein Entschluss, den sie sehr bald bereute.
Für mich war es eine logische Konsequenz, Rancher zu werden. Denn genau so stellte ich mir mein Leben vor. Liegt wohl im Blut. Wir schwelgten zwar nie im Luxus, kamen gleichwohl über die Runden. Die Ranch ernährte uns und das war alles, was zählte. Dachte ich zumindest.
Das große Erwachen ereilte mich nach Dads Tod, der mehr als überraschend kam. Er machte nie einen gebrechlichen Eindruck, wirkte mit seinen fünfundsechzig Jahren rüstig. Wie dem auch sei, ich bekam endlich Einblick in die Bücher und stand von einer Sekunde zur anderen vor einem riesigen Schlamassel, der existenzbedrohend war. Die Ranch warf nicht mehr genug ab, um meine Mitarbeiter – zu jener Zeit waren sie zu fünft – und mich zu versorgen. Wie es aussah, hielten wir uns bereits seit Jahren geradeso über Wasser.
Jetzt war ich gefragt und musste Entscheidungen treffen, die mir absolut nicht behagten. Ich trennte mich bis auf Darrell von allen Rancharbeitern, verkaufte auf die Schnelle einige unserer Quarter Horses – natürlich unter Wert, schließlich sprach es sich wie ein Lauffeuer herum, dass wir in der Klemme steckten – und schraubte die Kosten auf ein Minimum. Allerdings nicht so sehr, als dass wir den Zuchtbetrieb hätten einstellen müssen. Schließlich brauchten wir eine Einnahmequelle. Das ungenutzte Weideland verpachtete ich an Milchbauern und andere Rancher, die ihre Rinder dort haben weiden lassen. Was sich bis heute nicht geändert hat und Dad längst hätte in Erwägung ziehen sollen. Warum er es nicht tat? Keine Ahnung. Wie gesagt, er redete nicht viel und ließ sich ungern in die Karten gucken.
Ich streckte meine Fühler aus und erkundigte mich über weitere Optionen, Gewinn zu erwirtschaften, ohne investieren zu müssen. Unsere Stallungen sind nicht gerade klein und da wir, wie schon erwähnt, den Pferdebestand auf ein Minimum reduzierten, stand ein Drittel der Boxen leer. Es zeigte sich, dass wir diese an Städter, die ihre Ferien hier in der Gegend verbrachten, auf Zeit vermieten konnten. Im Augenblick bin ich noch dran zu eruieren, inwieweit es machbar ist, die bereits von uns angebotenen Reitkurse auszubauen. Der Tourismus ist nicht zu unterschätzen. Warum also nicht auch in diese Richtung denken? Ich habe sogar in Erwägung gezogen, eine Art Heuhotel ins Leben zu rufen. Die letzten beiden Ideen wären jedoch nur umsetzbar, wenn wir Leute einstellen würden. Ich muss mit Gayle darüber reden und natürlich mit Darrell.
Was die Bank betraf, sie war nach Dads Tod mehr als großzügig und gab mir eine Frist von sechs Monaten, um die Ratenzahlungen für die Hypothek, die mein Vater vier Jahre zuvor aufgenommen hatte, aufs Laufende zu bringen. Sie hätten die Verträge genauso gut von jetzt auf gleich kündigen können. Ich will mir nicht einmal ausmalen, was das für uns bedeutet hätte. Natürlich hätten wir verkaufen können. Es lagen uns genügend Angebote vor. Makler sind Dauergäste. Kommen und gehen in regelmäßigen Abständen wie Ebbe und Flut. Aber verkaufen? Niemals! Auch wenn einige Interessenten nach meiner Absage teilweise aggressiv wurden. Um nicht zu sagen aufdringlich bis bedrohend. Worauf ich nicht viel gab und es für mich behielt.
Das ist jetzt zwei Jahre her und ich kann ruhigen Gewissens behaupten, wir sind aus dem Gröbsten raus. Und wenn Gayle tatsächlich ihr Geld – wovon ich bis vor einigen Wochen keinen Schimmer hatte – in die Ranch investiert, könnten wir es schaffen, einen oder zwei Helfer einzustellen und unsere Ideen Stück für Stück zu realisieren. Das wäre ein Traum. Ich liebe die Arbeit mit Pferden. Weitere Mitarbeiter würden hingegen den Druck rausnehmen und ich könnte mich anderen Geschäftszweigen zuwenden oder etwas mehr Freizeit genießen – wie auch immer die aussehen mag.
Ein Schlagloch reißt mich für den Moment aus meinen Erinnerungen. Pepper knurrt missbilligend und wirft mir einen beleidigten Blick zu. »Sorry, ich weiß, wir müssen dringend die Zufahrtsstraße in Ordnung bringen.« Als würde sie verstehen, was ich sage. Lächerlich.
An der nächsten Kreuzung biege ich links auf den Highway 473 ab, der uns direkt nach Darby bringt, das keine vierzehn Meilen entfernt liegt. Ein Achthundert-Seelen-Dorf, aber groß genug, um dort Lebensmittel und Baumaterial zu bekommen oder Kinder zur Schule schicken zu können. Für alles andere müssen wir ins fünfundsechzig Meilen entfernte Missoula. Ich tätschle Peppers Seite. »So, jetzt kannst du dich wieder entspannen.«
Die Straße liegt ruhig vor uns und ich schweife erneut in die Vergangenheit ab, während das Autoradio leise vor sich hin dudelt und mir die Klimaanlage kühle Luft entgegenbläst. Die würde natürlich effektiver funktionieren, wäre das Fenster der Beifahrertür geschlossen. Das möchte ich jedoch meinem Mädchen nicht antun.
Urplötzlich stand Gayle mit Joey und zwei Reisetaschen vor der Tür und meinte: »Wir sind’s.« Daraufhin dirigierte sie Joey, der total verstört aussah, sanft in mein altes Zimmer und ich hörte vom unteren Treppenabsatz, wie sie ihm versprach: »Es kommt alles wieder in Ordnung, mein Schatz. Morgen melde ich dich an der High School in Darby an. Wenn’s gut läuft, geht’s in ein paar Tagen los. Bis dahin kannst du ja deinem Onkel mit den Pferden zur Hand gehen.«
Gayle hat mir nicht wirklich den Scheidungsgrund genannt. Ich will ihn im Grunde auch nicht wissen. Weil es mich wütend macht. Warum sie es überhaupt so lange ausgehalten hat, ist mir ein Rätsel. Ich denke, sie hat es für Joey getan. Immerhin fühlte er sich in Denver wohl.
Mein Neffe ist fünfzehn. Ein absolut liebenswerter Junge. Der bis vor ein paar Monaten seinem Alter entsprechend offen und guter Dinge durchs Leben ging. Plötzlich wirkte er in sich gekehrt und ich hörte ihn nur murmeln: »Alles klar, Mom. Mach dir keine Gedanken.« Zum Glück hat er sich in der Zwischenzeit recht gut eingelebt und einen kleinen Freundeskreis aufbauen können. Wenn er nicht mit seinen Kumpels umherzieht oder vor einer Spielekonsole abhängt, hilft er ausgesprochen gern im Stall aus. Zumal er Linus, unseren einzigen Wallach, abgöttisch liebt.
Ich muss immer wieder grinsen, wenn ich darüber nachdenke, wie Linus und Pepper zu ihren Namen gelangt sind. Joey war ungefähr fünf, und genau zu dem Zeitpunkt bei uns zu Besuch, als unser Tierarzt Alex, vorbeikam und einen Terrier-Welpen brachte. Hunde gehören einfach auf eine Ranch. Und wir hatten auch stets ein oder zwei auf dem Hof. Nur, Dad ließ sie nie ins Haus. Ich fand das immer schrecklich. Sie taten mir leid und ich verwöhnte sie dementsprechend so gut ich konnte heimlich. Beide sind mittlerweile meinen Eltern gefolgt und mir bleibt allein Pepper.
Jedenfalls kam so dieser quirlige Welpe zu uns. Joey fackelte nicht lange und nannte sie Peppermint Patty. Als ich ihn fragte, wie er auf den Namen käme, meinte er ganz ernst: »Sie ist wie Peppermint Patty.« Er stemmte seine kleinen Fäuste in die Hüften und fragte empört: »Kennst du die Peanuts nicht?«
Gespielt angestrengt dachte ich einen Moment nach und gab mich dann geschlagen. Natürlich kannte ich die Peanuts und wenn unsere kleine Dame so dickköpfig wie diese Figur ist, nach der er sie benennen wollte, dann prost Mahlzeit. Also nickte ich ergeben, wandte jedoch vorsichtig ein: »Okay, aber Peppermint Patty ist ganz schön lang.«
Joey verdrehte genervt die Augen, als würde ich seine Geduld auf die Probe stellen, verschränkte die kleinen Ärmchen vor seiner schmalen Brust und stellte hochmütig fest: »Dann eben nur Pepper.«
Gayle und ich mussten uns mächtig ins Zeug legen, nicht in Gelächter auszubrechen, als wir uns über seinen Kopf hinweg amüsierte Blicke zuwarfen.
So ähnlich verhielt es sich mit Linus. Dad kaufte den Wallach für Joey. Was absolut vernünftig ist, da kastrierte Hengste umgänglicher sind. Der Pferdetransporter kam auf die Ranch, als uns Gayle mit Joey zu Thanksgiving besuchte. Da muss der Knirps ungefähr neun oder zehn gewesen sein. Er sah ihn, näherte sich ihm vorsichtig – schließlich wusste er, wie man auf ein Pferd zugeht –, strich ihm sanft über die weichen Nüstern und flüsterte: »Hallo, Linus.« Niemand von uns hat den Hauch eines Versuchs unternommen, Einwände vorzubringen. Nicht einmal Dad, der von albernen Namen – seine Worte – für Tiere nicht viel übrig hatte.
Pepper kläfft einmal kurz, als wir das riesige Holzschild von Darby passieren, als würde sie mich darauf aufmerksam machen wollen, dass wir angekommen sind. »Danke, Schätzchen. Ich weiß, dass wir da sind« Sie tut das jedes verflixte Mal, sobald wir nach Darby fahren.
Es ist wie ein Fluch. Seit zwei Jahren bin ich ständig dabei, diesen maroden Zaun zu reparieren. Ist eine Stelle geflickt, kommt Darrell nach einem Kontrollritt daher und meldet einen weiteren defekten Abschnitt. Mittlerweile habe ich das unbestimmte Gefühl, jemand würde sich einen schlechten Scherz mit uns erlauben.
Es sind in erster Linie nicht mal die Mustangs, also die wildlebenden Pferde, die in dieser Gegend verbreitet sind und auf der Suche nach Futter einen Weg auf Ranches finden. Das Problem ist, auch wenn wir das Geld dafür übrig hätten, sie durchzufüttern, ist es strengstens verboten.
Wird eine Herde wildlebender Mustangs gesichtet, ist man verpflichtet diese der staatlichen Behörde namens Bureau of Land Management, kurz BLM, zu melden. Die Tiere werden daraufhin aufgespürt, zusammengetrieben, in Transporter verladen und in sogenannte Holding-Facilities des BLM verbracht. Auf diese Weise soll ihr Überleben gewährleistet und eine Überpopulation verhindert werden. Ich erkenne durchaus eine gewisse Notwendigkeit darin. Mir blutet dennoch regelmäßig das Herz, die armen abgemagerten Tiere zu sehen.
Es weiden zwar nicht mehr unsere eigenen Rinder auf dem Land, aber wie schon erwähnt, verpachten wir von Zeit zu Zeit Weideflächen an benachbarte Rancher und Milchbauern.
Mittlerweile bin ich der Meinung, es hätte uns Zeit und Geld gespart, den Zaun komplett abzureißen und neu zu setzen. Dummerweise fehlte mir bisher eine helfende Hand und das nötige Kleingeld dafür.
Ich parke rückwärts vor Gavin’s Hardware ein. Kaum öffne ich die Fahrertür, als Pepper an mir vorbeiprescht und hoheitsvoll zum Eingang tippelt, wo sie bereits vom Inhaber erwartet wird.
»Ihre Treulosigkeit kennt keine Grenzen«, gebe ich amüsiert von mir und folge Queen Pepper. »Hey, Gavin. Was macht die Kunst?«
Gavin hockt vor Pepper, steckt ihr einen Hundekuchen zu und krault sie ausgiebig, bevor er zu mir aufschaut. »Alles bestens. Und was heißt hier treulos? Sie weiß eben, wer sie liebt.«
Ich pruste: »Ja klar. Wenn sämtliche meiner Hosentaschen mit Hundekuchen vollgestopft wären, hinge sie mir auch permanent am Hosenbein.« Wir wissen beide, es ist nur ein gutmütiges Geplänkel unter Freunden.
Gavin deutet zum Lagertor, das sich rechts von mir befindet. »Zwei Rollen Draht und diverses Zubehör stehen parat.«
»Super.«
Lautes Klingeln. Gavin springt zum Laden und ruft mir zu: »Wenn du einen Moment wartest, pack ich mit an.«
Ich blicke zu Pepper, die mit hängenden Ohren hinter ihm herschaut. Dann sehe ich mir die Ware an, die ich bestellt habe, und öffne die Ladeklappe vom Pick-up. »Na, was meinst du, ob ich den ganzen Kram allein aufgeladen bekomme?«
Pepper legt den Kopf schief und ich höre sie regelrecht denken: Ja klar. Sind wir neuerdings Supermann?
Ein Alien in Darby
- Tyrone -
Nach mehr als vierzig Stunden, die eine Nacht im Auto auf einem abgelegenen Waldweg und zweitausendsechshundert Meilen beinhalten, die ich ziellos durch etliche Bundesstaaten Amerikas hinter mich gebracht habe, stehe ich nun vor einem gigantischen Holzschild mit der Aufschrift: Welcome to Montana’s Bitterroot Valley and Darby.
Ich bin so verdattert, dass ich erst einmal an den Straßenrand fahre, aussteige und mir andächtig dieses Willkommensschild ansehe. Wo bin ich hier nur hingeraten? Anhand der Größe des Schildes sollte man meinen, ich wäre am Rande einer Großstadt gelandet. Weit gefehlt. In diesem Kaff können nicht mehr als fünfhundert Einwohner leben. Und die tun so, als wäre Darby der Mittelpunkt der Zivilisation. Zumindest, wenn ich mir diese monströse Holztafel ansehe, die obendrein überdacht ist.
Na ja, warum wundert es mich überhaupt? Im Grunde sollte ich mittlerweile an die Eigenarten der Amerikaner gewöhnt sein. Big is beautiful – eine Beschreibung, die offenbar auf alles angewendet werden kann. Und sei es ein Namensschild für eine Ortschaft, die am Arsch der Welt liegt und durch die am Tag garantiert nicht mehr als zehn Autos fahren.
Egal, denke ich und setze mich zurück in meine Rostlaube, die mich immerhin einmal quer durchs Amiland gebracht hat. Mal sehen, ob es in diesem Nest etwas zu beißen gibt.
Der Motor grummelt leise vor sich hin und ich gebe Gas. Hoffentlich lässt mich die Karre nicht so bald im Stich.
Drei sich endlos ziehende Jahre in Providence reichen mir für den Rest meines Lebens. Ich habe mich bemüht, dort Fuß zu fassen. Es hat nicht funktioniert. Ich kann nicht mal sagen, woran es lag. Nicht dass es mit meinem Umfeld Stress gegeben hätte. Wäre auch schwierig gewesen, da ich mich meistens aus allem raushielt. Ich wollte einfach nur meine Ruhe haben. Ging meinen Jobs nach. Egal ob als Kistenschlepper im Supermarkt oder Bedienung in Kneipen. Ich gab immer mein Bestes, auch wenn ich mir vor Jahren nie hätte vorstellen können in Amerika zu landen und das sicher nicht meine Wahl gewesen wäre, hätte ich denn eine gehabt.
Dummerweise blieb mir nichts anderes übrig, als in einer Stadt zu leben, in der ich einfach nicht heimisch wurde. Na schön, Providence ist sicher wundervoll. Hauptsächlich im Herbst. Trotzdem fühlte ich mich eingeengt, da ich mich bedeckt halten, jede Veränderung vorher genehmigen lassen musste. Das hätte noch so weitergehen können, bis zum jüngsten Gericht oder ich alt und grau bin. Je nachdem, was zuerst eintritt. Vorausgesetzt ich hätte mich den Regeln, die mein Leben der vergangenen Jahre unterlag, weiterhin unterworfen. Welche das waren? Tja, im Grund waren sie simpel, aber überlebensnotwendig. Ich höre meine Verbindungsperson, wie er es mir immer und immer wieder ins Hirn bläst, als würde er direkt neben mir stehen. »Vergiss deine Vergangenheit. Dein Name ist nicht mehr Torin Wallace. Ab sofort und für alle Zeit bist du Tyrone Stevens. Wenn du also am Leben bleiben willst, mach keine Mätzchen.« Er klang dabei immer sehr theatralisch.
Dieses ›für alle Zeit‹ hatte sich Gott sei Dank vor drei Wochen erledigt, als Carnegie – besagte Kontaktperson – überraschend auftauchte, um mir mitzuteilen, es bestände keine Notwendigkeit mehr, weiterhin im Zeugenschutzprogramm zu bleiben.
Ja, richtig gehört. Ursprünglich komme ich aus Schottland. Edinburgh war immer meine Heimat. Nun gut, lange Rede, kurzer Sinn: Ich war einer von mehreren Kronzeugen in einem Prozess gegen einen gewissen Lamondt – Drogenkönig, Menschenhändler, Mörder. Aufgrund meiner Aussage und der einiger anderer Zeugen wurde Lamondt für den Rest seines irdischen Daseins weggeschlossen. Zumindest ist er dermaßen lang verknackt worden, so alt wird kein Schwein, um irgendwann wieder ungesiebte Luft einatmen zu können. Das hieß aber noch lange nicht, vor seinen Handlangern und Geschäftspartnern sicher zu sein. Daher die Sache mit dem Zeugenschutz, für den sich eine Sondereinheit der schottischen Polizei, die Spezialist Crime Division, kurz SCD, verantwortlich zeichnet.
Wie gesagt, das liegt nun hinter mir und ich könnte rein theoretisch mein altes Leben wieder aufnehmen. Allerdings gibt es diverse Gründe, die es mir absolut unmöglich machen, in die Arme meiner Familie zurückzukehren. Das ist wiederum ein anderes Thema. Der Punkt ist, ich will nicht zurück, obwohl ich könnte. Und um ehrlich zu sein, habe ich das bereits vor langer Zeit entschieden, begriffen und akzeptiert.
Deswegen jetzt in Providence hockenzubleiben und zu versauern ist dagegen auch keine Option. Endlich kann ich wieder frei entscheiden. Hat eine Weile gedauert, bis ich diesen Umstand für mich realisierte.
Womit wir beim Motiv gelandet wären, warum ich hier bin. Vor gut zwei Tagen wollte ich nichts mehr, als ein paar Klamotten zusammenzupacken, ins Auto zu springen und einfach draufloszufahren. Scheißegal wohin mich der alte Blechhaufen auch tragen würde. Wieder einmal brach ich alle Brücken hinter mir ab und siehe da, jetzt befinde ich mich in Montana. Ohne Job. Ohne ein Dach über dem Kopf und mit ein paar Kröten in der Tasche. Niemand in Providence würde mich vermissen. Und obwohl es sich so ausweglos und verzweifelt anhört, fühlt es sich wundervoll an, mein eigener Herr zu sein.
Tatsächlich führt nur eine Hauptstraße durch Darby. Mein erster Eindruck? Ich bin in einer gottverdammten Goldgräberstadt gelandet. Entlang der Mainstreet stehen flache Holzgebäude, dessen Fassaden durchweg an Saloons erinnern. Keine zwei Kilometer … Meilen, es sind Meilen! Kann doch nicht so schwierig sein, verdammt! Also, noch einmal. Keine anderthalb Meilen später stehe ich bereits vor dem Ortsausgangsschild. Auf dem Weg dorthin fiel mir ein Postamt, das Sheriff’s Office, ein High School Komplex – ich kann es nicht glauben, sogar mit Elementary, Junior und Senior High – und dem Herren sei’s gedankt eine Pizzeria namens Little Blue ins Auge. Kurz entschlossen lege ich eine Kehrtwendung ein. Ab zum Essenfassen.
Ich bin im Begriff den Rückwärtsgang einzulegen, als mein Blick in eine Seitenstraße fällt. Dort müht sich ein Mann mit einer gigantischen Rolle Zaundraht ab, während ein kleiner, aufgeregter Hund um seine Beine scharwenzelt und ihn beinahe aus dem Gleichgewicht bringt.
Ohne darüber nachzudenken, fahre ich los, parke den Wagen am Straßenrand, stelle den Motor ab, springe aus dem Auto und renne über die Fahrbahn. »Hey, kann ich Ihnen helfen?«, rufe ich bereits von Weitem. Einfach damit er sich nicht unnötig abquält und womöglich noch dem Flohteppich zu seinen Füßen auf den Schwanz tritt.
Mitten in der Bewegung hält der Mann inne und schaut überrascht auf. Sein Gesicht wird von der breiten Krempe seines Stetsons beschattet, sodass ich es nicht wirklich erkennen kann. Nur das trotzig vorgestreckte Kinn lässt vermuten, dass er lieber darauf verzichten würde.
Bevor er sich komplett den Rücken verbiegt, eile ich an seine Seite und stemme mit ihm zusammen die tonnenschwere Rolle Drahtzaun auf die Ladefläche des vor uns stehenden Pick-up’s.
Erledigt.
Ich werfe einen Blick über seine Schulter. Da steht noch eine. »Gehört die auch Ihnen?«
Schweigen. Ein kurzes Blinzeln. Ein ruppiges Nicken folgt.
»Na dann, rauf damit!«, fordere ich.
Scheinbar widerwillig greift Mr. Schweigsam zu und wir wuchten auch dieses Monstrum aus Draht auf die Ladefläche.
»War’s das?«, erkundige ich mich.
Abermals Schweigen.
Gesprächig ist anders. Allerdings bin ich ihm so nahe, dass ich seinen Blick förmlich auf meiner Haut spüre. Einerseits fassungslos. Andererseits dermaßen eindringlich, dass mir zu meiner Überraschung Wärme ins Gesicht steigt.
Was ist los? Ist es in diesem Landstrich unnormal, zu helfen, wenn Not am Mann ist? Mein Magen erinnert mich lautstark daran, dass ich ihn füttern wollte. Ich deute mit dem Daumen über die Straße. »Also, ähm, wenn Sie doch noch Hilfe benötigen, ich bin gleich da drüben.«
Schweigen. Was sonst.
Irgendwie komme ich mir reichlich dämlich vor. Als hätte ich mich ihm ungefragt aufgedrängt. Na gut, habe ich auch. Ich zucke gleichgültig die Achseln, wende mich ab und stolpere um ein Haar über das Fusselmonster zu meinen Füßen, das mich mit schiefgelegtem Kopf von unten herauf ansieht. Dermaßen intensiv, ich bekomme glatt das Bedürfnis mich rechtfertigen zu wollen. Ich räuspere mich verlegen, beuge mich hinunter, tätschle entschuldigend den Kopf des Vierbeiners, ehe ich vorsichtig einen großen Bogen um ihn herum laufe, um meinen Rückweg anzutreten.
Auf der anderen Straßenseite angelangt, schlüpfe ich ins Auto. Dort verharre ich einen Moment und werfe einen Blick über die Straße. Scheiße, wie peinlich! Mich starren beide an – Mann und Hund –, als wäre ich ein Außerirdischer.
Unbehaglich starte ich den Motor, setze zurück.
Keine zwei Minuten später – ich komme mir immer noch beobachtet vor – fliehe ich ins Innere des Little Blues und verschaffe mir einen Überblick. Was einen Augenblick in Anspruch nimmt, da sich meine Augen erst an die vorherrschende Dunkelheit gewöhnen müssen. Also dunkel im Gegensatz zu draußen, wo die Nachmittagssonne erbarmungslos scheint. Und trotz Sonnenbrille, die ich sofort abgenommen habe, dauert es, bis ich die Einrichtung in Augenschein nehmen kann und zum Verkaufstresen schlendere. Für Pizza muss es entweder zu früh oder zu spät sein, denn ich bin der Einzige, abgesehen von der Frau hinter der Theke, die kleine Teiglinge knetet und in einer Frischhaltebox deponiert. Offensichtlich nutzt sie den Leerlauf, um alles für den abendlichen Andrang vorzubereiten. Unwillkürlich muss ich lachen. Abendlicher Andrang? Ja klar.
Die Glocke der Eingangstür muss sie ignoriert haben, denn erst als ich direkt vor ihr stehe, blickt sie zu mir auf. »Hi!«
»Haben Sie Pizza?« Das war natürlich scherzhaft gemeint. Aber die Lady sieht mich an … Tja, im Grunde genauso wie der Kerl mit seinem verflixten Vierbeiner.
Ich wedle mit der Hand in Richtung Tafel, auf der mit Kreide und in schwungvoller Schrift die aktuelle Auswahl zu ersehen ist, und grinse verunsichert – schon wieder. Warum habe ich das Gefühl, mich hier permanent erklären zu müssen? Ist ja nicht so, als würde ich Kauderwelsch reden. »Eine große Cola. Und dann bin ich neugierig, was auf der Darby-Pizza drauf ist.«
Die Lady wirft einen Blick auf die Übersicht an der Wand, als würde sie erst jetzt bemerken, dass sie überhaupt dort hängt. Dann wischt sie ihre bemehlten Hände an der Hüftschürze ab und beginnt einen Teigling auszurollen, um ihn in der Luft herumzuwirbeln.
Ich stehe mit offenen Mund da und beobachte sie dabei. Okay, das sieht professionell aus. Zwischen dem Wechsel von einer zur anderen Hand, deutet sie in den leeren Gastraum. »Such dir einen Platz. Wenn sie im Ofen ist, bringe ich dir dein Getränk.«
Oh, wow, das waren immerhin mehr Wörter, als ich erwartet habe, denke ich und lasse mich direkt auf einem Barhocker nieder. »Darf ich?« Und da ist es wieder, das Empfinden, sich seltsam fehl am Platz fühlen.
Sie nickt. »Klar, darum stehen die Dinger ja da.« In Windeseile belegt sie den Teig, schiebt ihn auf eine Holzschaufel und deponiert ihre Fracht mit Schwung und gekonnt aus dem Handgelenk heraus in einen Ofen, dessen Öffnung hinter ihr im Mauerwerk eingelassen ist. Die Schaufel stellt sie griffbereit daneben. Das alles wirkt ziemlich authentisch. Was mich für diese Gegend doch ein wenig verwundert. Will sagen, es macht einen sehr europäischen Eindruck. Im speziellen sogar nah dran am Original. Was ich beurteilen kann, da ich in der Kindheit mit meinen Eltern den einen oder anderen Urlaub in Italien verbrachte.
Die Lady dreht sich zu mir um und wirkt plötzlich wie ausgewechselt. Ich bekomme die Cola mit einer Serviette und einem herzlichen Lächeln serviert, das ihr Gesicht schier zum Strahlen bringt.
Verwirrung.
Ihre leuchtenden Augen scheinen mich zu scannen, als sie sich routiniert einen Lappen schnappt und Kondenswasser von der Arbeitsfläche wischt. Plötzlich hält sie inne und schiebt ihn auf die Seite, um ihre verschränkten Unterarme direkt vor mir auf dem Tresen abzustützen und mich neckisch zu fragen: »Du kommst wohl von sehr weit her, hm?«
Okay, das bestätigt meine Theorie, hier am Arsch der Welt gelandet zu sein. »Was verrät mich?«, gebe ich im selben Tonfall zurück. Mir ist durchaus bewusst, wie sie darauf kommt. Jetzt wird mir auch klar, dass genau das der Grund gewesen sein könnte, warum der Typ mit seiner Flohburg so seltsam konfus wirkte. Sie müssen wirklich gedacht haben, ich bin ein Außerirdischer.
Eine kleine Hand schiebt sich in mein Sichtfeld. »Hallo, ich bin Chelsea.«
Perplex erwidere ich ihren kräftigen Händedruck: »Tyrone.«
Während ich noch ihre Hand schüttle, langt sie mit der anderen an die Seite meines Kopfes und ich spüre, wie sie eine Haarsträhne um einen ihrer Finger wickelt.
Das nenne ich dreist. Erschrocken über ihr Eindringen in meinen Wohlfühlbereich, zucke ich zurück und entlasse ruckartig ihre Hand aus meiner. Ich will schon protestieren, als sie mich verlegen anlächelt. »Sorry, aber so rotes Haar sieht man hier nicht alle Tage. Ist wohl mit mir durchgegangen.« Sehnsüchtig sieht sie mein Haar an, das, wenn ich ehrlich bin, viel zu lang ist. Denn es reicht mir bis auf die Schultern. »Das ist übrigens ein Grund, warum ich glaube, dass du einen weiten Weg hinter dir hast.« Sie wirft einen Kontrollblick in den Ofen und konzentriert sich sofort wieder auf mich. »Der andere ist dein außergewöhnlicher Akzent. So wirklich kann ich ihn nicht einordnen. Da schwingt irgendwas mit, das ich noch nicht gehört habe.«
»Du machst mir nicht den Eindruck eines Weltenbummlers. Von daher kann ich verstehen, dass ich für deine Ohren ungewohnt klinge.« Die Sätze sind raus und im selben Moment denke ich, Scheiße, das war unhöflich.
Chelsea prustet. »Ganz locker, mein Großer. Mir wurden schon schlimmere Dinge an den Kopf geworfen, glaub mir.«
Nun gut, ich gebe zu, sie wird mir immer sympathischer.
»Also, verrätst du mir, woher du kommst?«, bittet sie mich und ich könnte schwören, sie flirtet mit mir. Was sie schlagartig liebenswert macht. Und wenn ich auf Damen stehen würde, käme sie sicher in die engere Wahl. Da dem nicht so ist, sollte ich vielleicht so fair sein und …
»Bist du auf der Durchreise?«, hakt Chelsea nach und unterbricht meinen Gedankengang, der so unangebracht ist, wie sonst was, da ich ja nicht vorhabe, mich in diesem Kaff häuslich niederzulassen.
»Irgendwie. Ich lebte bis vor zwei Tagen in Providence und hatte plötzlich das dringende Bedürfnis einfach alles stehen und liegen zu lassen. Also ab ins Auto und los ging’s.«
»Providence? Nee, danach hört es sich auch nicht an.«
»Du hast recht. Dabei habe ich die letzten drei Jahre dort gelebt und man sollte doch annehmen, der Akzent würde sich irgendwann verlieren, nicht wahr?«
Chelsea schiebt die Unterlippe vor und mustert mich eine Sekunde, ehe sie einen weiteren Blick auf die Pizza wirft. Sie greift sich die Schaufel und öffnet die Ofenklappe, aus dem gefühlte tausend Grad entweichen und selbst mir Schweißperlen auf die Stirn treiben. »Na ja«, fährt sie fort, während die Pizza auf einem Holzbrett landet und mit einem scharfen Teigroller in acht gleichgroße Stücke zerteilt wird. »Ein bisschen Rhode Island ist schon rauszuhören. Aber der Rest scheint mir nicht von diesem Kontinent zu sein.«
»Also liege ich richtig mit meiner Annahme, ihr glaubt, ich wäre ein Alien.«
Chelsea schiebt mir das Brett mit der dampfenden und wunderbar duftenden Pizza vor die Nase und lacht herzlich. »Du siehst unserer Spezies ziemlich ähnlich, weshalb ich einfach mal behaupte, du bist Terraner und kommst«, sie malt Anführungszeichen in die Luft, »von über’m großen Teich.«
»Ist das so offensichtlich?« Eine Frage, die ich mir nach drei Jahren in Amerika tatsächlich das allererste Mal stelle. Bisher habe ich niemand nahe genug an mich herangelassen, als dass es überhaupt zu derlei Gespräch hätte kommen können. Ihr denkt, das ist verrückt? Und ich gebe euch uneingeschränkt recht. Denn das ist es. Vor allem ist es einsam. Eine Erkenntnis, die mich jedoch erst vor ein paar Wochen ereilt hat, und zwar, nachdem Carnegie die guten Neuigkeiten überbrachte. Allerdings hatte ich auch triftige Gründe auf Abstand zu gehen; nur minimal mit den Menschen um mich herum zu interagieren. Gründe, die mich verständlicherweise vorsichtig werden ließen. Jetzt? Tja, ich kann es immer noch nicht fassen, dass sich eben genau diese in Luft aufgelöst haben.
Und dann ist da noch etwas. Etwas, das mich doch ziemlich überrascht. Ich will wieder ich selbst sein. Der Mann, der ich vor vielen Jahren war, bevor ich Fehler gemacht habe, die ich nie ausmerzen könnte. Natürlich wird das niemals funktionieren. Dafür ist zu viel passiert, habe ich mir zu viel selbst angetan. Und niemand außer mir trägt die Schuld daran. Ich kann aber versuchen einen kleinen Teil von mir wiederzufinden, der vor langer Zeit verlorengegangen ist.
Und womöglich wäre eine abgelegene Region wie diese hier, mit ihren netten und schweigsamen Hinterwäldlern, genau richtig dafür. Hier kennt mich niemand. Wenn ich wollte, könnte ich einfach ganz neu anfangen. Bei null sozusagen.
Ich bin mir nicht sicher, wie es sich mit meinen Ausweispapieren verhält, da ich nach dem Gespräch mit Carnegie keinen Kontakt mehr mit ihm hatte. Er meinte nur, ich solle mich melden, sobald ich entschieden hätte, wie und wo mein Leben weiterginge, er würde sich dann um alles kümmern – wie immer, seit ich ihn kenne. Und plötzlich wird mir klar, ich will zwar bis zu einem gewissen Grad mein altes Ich zurück, andererseits will ich nie wieder Torin Wallace sein. Denn diesen Namen verbinde ich mit einer Vergangenheit, die ich größtenteils hinter mir gelassen habe. Meine Zeit in Providence verlief unspektakulär, dennoch fühle ich mich mehr als Tyrone Stevens. Wäre es reines Wunschdenken, aus beiden Leben das Beste vereinen zu wollen? Ich kann es nur versuchen und sehen, wohin es führt.
Vielleicht ist dieser Gedanke der Grund, warum ich mich in Chelseas Nähe dermaßen unbefangen fühle. Was mich wiederum dazu verleitet, ein kleines Stück Wahrheit von mir preiszugeben. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, als ich die passenden Worte suche. Und dabei sind sie doch so harmlos. »Ursprünglich komme ich aus Schottland.« Da, jetzt ist es raus. Und tatsächlich habe ich das Gefühl, ein winziges Stück meines Selbst aus den Untiefen einer dunklen Vergangenheit gerettet zu haben.
»Na, das ist ja ’n Ding!« Ihre Überraschung wirkt echt.
Während sie die Information verarbeitet, beiße ich genüsslich in eine Teigecke. »Meine Güte, ist das lecker«, schnurre ich mit halbvollem Mund.
Hinter mir ertönt die Eingangsglocke und im Sekundenbruchteil erhellt sich Chelseas Miene um ein Vielfaches, bevor ihre Wangen knallrot anlaufen.
Neugierig drehe ich mich um. Ich muss unbedingt sehen, wer diese Wirkung auf sie hat. Denn plötzlich bin ich abgeschrieben. Was mich nicht wirklich unglücklich macht.
»Hey, ihr seht aus, als könntet ihr was zu trinken vertragen«, säuselt Chelsea.
Niemand geringerer als der Kerl, dem ich vor ein paar Minuten beim Verladen geholfen habe, schließt die Tür hinter sich. Er nimmt den Hut ab, fährt sich mit der anderen Hand durch sein dunkles Haar und nickt Chelsea höflich zu. »Danke, das wäre wundervoll.« Sofort fällt sein Blick auf mich und ich sehe, wie seine kleinen Rädchen im Kopf rotieren. Er tut ja gerade so, als hätte er nicht mit mir gerechnet. Dabei hat er mir mit seinem Flohzirkus, der übrigens bereits neben meinem Stuhl Platz genommen hat und mich mit schwarzen Knopfäuglein erwartungsvoll anstarrt, dabei beobachtet, wie ich die Straße zurückfuhr und hier hineinspazierte. Ja, ich war mir die ganze Zeit bewusst, dass sie mich nicht aus den Augen ließen.
Seltsames Völkchen.
»Pepper, lass den Mann in Ruhe und komm her!«, brummt der Cowboy, dessen Anblick ich erst jetzt voll zur Kenntnis nehme. Und herrje, er kann reden! Meine Güte, er bedient wirklich jedes Klischee. Kariertes Hemd. Abgetragene, sexy aussehende Jeans. Lederstiefel, die schon bessere Tage gesehen haben. Und eine unvermeidlich riesige Gürtelschnalle, die meinen Blick unwillkürlich in gefährliche Regionen lenkt. Mein Blut gerät in Wallung und um weitere Peinlichkeiten zu vermeiden, wende ich mich sofort von seinem Anblick ab, indem ich Pepper dabei beobachte, wie sie widerwillig mit eingekniffenem Schwanz an seine Seite trottet.
Während ich weiterhin genießerisch meine Pizza vertilge, höre ich einen Stuhl über den Boden scharren, als der Mann sich an einen der Tische am Fenster setzt. Chelsea richtet ein Glas Mineralwasser mit einer Scheibe Zitrone her und befördert eine kleine Schüssel unter dem Tresen hervor, die sie kurzerhand mit Wasser füllt. Ihre Hände zittern leicht. Das und ihre immer noch erröteten Wangen …? Oh je, da scheint jemand bis über beide Ohren in Mr. Schweigsam verknallt zu sein.
»Na, meine Süße?«, flötet Chelsea, nachdem sie das Getränk serviert hat und den Wassernapf der Hundedame vor die Schnauze stellt. Nach einer kurzen Streicheleinheit richtet sie sich wieder auf. »Wie geht’s dir, Dylan?«
Ah, Mr. Schweigsam hat einen Namen. Er nimmt einen tiefen Schluck und nickt Chelsea zu. »Wie immer gut.« Dieser Satz hört sich nach Automatismus an und kommt mir reichlich bekannt vor, da ich ihn in den letzten Jahren an die tausend Mal gesagt, aber nie so gemeint habe.
Ich mag nicht zuhören. Ihr Gespräch kommt mir zu persönlich vor. Deshalb drehe ich mich wieder um und widme mich meinem Essen. Dummerweise fehlt mir die Gabe, mein Gehör auf Durchzug zu stellen, weshalb ich nicht umhinkomme nun doch Zeuge ihrer Unterhaltung zu werden, ob ich will oder nicht.
»Du siehst müde aus«, stellt Chelsea mit erheblicher Sorge fest. Einmal mehr höre ich einen Stuhl über den Boden kratzen. Sie hat sich wohl zu ihm gesetzt.
»Mach dir keine Sorgen, Schatz, es geht mir gut.«
Schatz? Sie scheinen sich näher zu stehen, als ich dachte. Läuft da bereits was zwischen den beiden? Geht mich nichts an.
»Gavin war vorhin hier«, betont Chelsea, als würde dieser Fakt seine Worte aushebeln.
»Und?«
»Na ja, er hat mir erzählt, dass du kommst, um Material zu holen.«
»Sein Laden sollte nicht Gavin’s Hardware, sondern Gavin’s News heißen. Hat er mal darüber nachgedacht, eine eigene Zeitung herauszubringen?«
Der Mann hat Sinn für Humor. Wer hätte das gedacht? Der Kommentar kommt dermaßen trocken über seine Lippen, dass ich mich vor Lachen an meiner eigenen Spucke verschlucke. Ein Pizzakrümel entscheidet sich für den falschen Weg und mich überfällt ein heftiger Hustenreiz. Ich sehe nur noch verschwommen, da mir Tränen in die Augen schießen, während ich japsend um Sauerstoff ringe und um ein Haar dem Pizza-Krümel-Tod erliege.
Plötzlich landet ein gut dosierter Hieb auf meinem Rücken. »Hol Luft, Kumpel! Wir wollen doch nicht, dass Chelsea den Notarzt holen muss. Das gibt nur wieder Gavin Gesprächsstoff.«
Zwischen Röcheln und Husten, gluckse ich. Scheiße, der Kerl bringt mich noch um. Aus dem Augenwinkel sehe ich Pepper mit hängenden Ohren neben mir hocken. Der bescheuerte Gedanke, sie würde darüber sinnieren, ob ich ihr nun endlich den Rest meines Essens überlasse, da ich eh unfähig dazu bin, es unbeschadet zu genießen, schießt mir durch den Kopf. Abermals kämpft sich ein Kichern die Kehle hinauf.
Mittlerweile hat Chelsea Peppers Napf und Dylans Glas zu uns gebracht und geht zurück an ihre Arbeit. Mir ist die ganze Zeit bewusst, dass sie mich und Dylan aufmerksam mustert.
Ich werfe dem Mann an meiner Seite einen dankbaren Blick zu. Für verbale Kommunikation fehlt mir der Atem.
Dylans Miene wirkt verschlossen und dennoch kann ich einen Funken Belustigung erkennen, als er mich schweigend – was sonst – ansieht.
Aus welchen Gründen auch immer, ich habe das Gefühl, in diesen steingrauen Iriden zu ertrinken. Der Moment scheint ewig und doch nicht lang genug anzudauern.
Ich unterbreche den irritierend intim wirkenden Augenkontakt und schaue hilfesuchend zu Chelsea, die uns wiederum mit gerunzelter Stirn taxiert, bis ihr Blick fassungslos auf Dylan verweilt, der sich keinen Deut rührt und mich weiterhin anstarrt.
Es ist Pepper, die uns aus dieser abstrusen Situation herausreißt. Und ich könnte sie dafür knutschen. Ich zupfe ein kleines Stück Teig vom Pizzarand und halte es hoch. »Darf ich ihr das geben?«
»Ja, aber nicht mehr« brummt Dylan. Dann wendet er sich abrupt von mir ab und sagt zu Chelsea: »Ihr solltet demnächst zum Essen kommen. Gayle würde sich sicher freuen.«
Was hat der Mann für ein Problem? Informationen tröpfeln in mein Hirn. Ah, dann warten zu Hause Frau und Kinder auf ihn? Und warum sollte mich das interessieren? Ich gehe in die Hocke und halte Pepper die Leckerei hin. Erst kann sie nicht aufhören zu betteln. Jetzt ist sie skeptisch und wirft einen Blick zu ihrem Herrchen, der ihre stille Frage mit einem »Ist okay« beantwortet. Vorsichtig reckt sie ihren Hals und nimmt sanft das Teigstück aus meinen Fingern. Es fällt zu Boden. Ich will es gerade aufheben, als sie es sich schnappt und mit einem Happs verschlingt. Ihr Blick wandert von meinem Gesicht zur Hand, als würde sie fragen wollen: War das alles?
»Pepper, aus!«, dröhnt es von oben und lässt mich zusammenzucken.
Himmel, Arsch und Zwirn! Ich dachte, er wäre mit seiner Freundin oder was auch immer sie füreinander sind, beschäftigt. Entschuldigend zucke ich in Peppers Richtung mit den Achseln und halte ihr meine Hand hin, damit sie sich entscheiden kann, ob sie von mir gestreichelt werden will oder nicht. Abermals ein misstrauischer Blick. Dann stupst sie meine Finger an und schiebt ihren Kopf darunter. Okay, das verstehe selbst ich, der noch nie Haustiere besaß. Wobei ich Tiere liebe, bisher nur nicht die Gelegenheit hatte, ihnen näher zu kommen. Vielleicht sollte ich mir auch einen Hund anschaffen? Absurde Idee. Ich müsste erst einmal mein Leben auf die Reihe bringen, um ein Wesen, das von mir abhängig ist, daran teilhaben zu lassen.
»Tyrone?«, höre ich Chelsea über mir rufen. Sie wirkt leicht ungeduldig. Als hätte sie mich schon einige Male angesprochen.
Ich schrecke aus meinen Gedanken, kraule Pepper ein letztes Mal hinter den Ohren und wende mich Dylans Freundin zu, die plötzlich ein hinterhältiges Grinsen vor sich her trägt. »Ja?«, frage ich wachsam.
»Fährst du heute noch weiter?«
Irritiert über ihre Frage schaue ich Dylan an, der mich neugierig mustert. Sie hatte mich ja bereits danach gefragt, ob ich auf der Durchreise wäre. Eine eindeutige Antwort bin ich ihr jedoch schuldig geblieben – mir ebenfalls. »Ähm, wieso?«, frage ich nun. Scheiße, was haben die zwei zuvor miteinander beredet? Ich war so auf Pepper konzentriert und in wirre Ideen vertieft, ich habe überhaupt nichts mitbekommen.
»Na, ich dachte, wenn du übers Wochenende bleibst … Am Samstag ist Erdbeerfest.«
Ach du ahnst es nicht! Unschlüssig sinke ich in mich zusammen. Die freundliche Geste mit Füßen treten und Chelsea womöglich noch vor den Kopf stoßen? Das will ich ganz sicher nicht. Aber ein Dorffest? Ernsthaft? So mit allem Drum und Dran? Wie Landeier, kreischende Kinder, Schießbuden und alles, was Mann oder Frau aus Erdbeeren herstellen kann? Idiot!, schelte ich mich im Stillen. Hattest du nicht vorhin noch darüber nachgedacht, dass diese Gegend genau die richtige wäre, um zu sich selbst zu finden? Also, warum nimmst du die verdammte Einladung nicht an?
Neben mir erklingt ein dröhnendes Geräusch, was mich aufhorchen lässt. War das eben ein Lachen? Tatsächlich. Scheiße, der Kerl sieht atemberaubend aus. Kleine Lachfältchen bilden sich in den Augenwinkeln. Grübchen blitzen neben den Mundwinkeln auf. Strahlend weiße Zähne blenden mich geradezu und bilden einen hübschen Kontrast zu seinem sonnengebräunten Teint. Ich muss ihn anstarren wie ein Trottel, denn anders kann ich mir nicht erklären, warum plötzlich sein Gelächter verstummt und der ernste Gesichtsausdruck zurückkehrt.
Allerdings überrascht er mich, als er sagt: »Es hört sich schlimmer an, als es ist. Glaub mir. In Wahrheit gibt es viel mehr als Erdbeeren in sämtlichen Variationen. Wenn die Familienzeit vorbei ist, beginnt der interessante Teil. Denn am Abend bauen wir einen riesigen Grill auf. Es wird reichlich Bier ausgeschenkt und das Tanzbein zu Livemusik geschwungen.«
Seine Beschreibung bewirkt genau das Gegenteil, von dem, was er eventuell erreichen wollte. Es macht die ganze Sache nur noch klischeehafter und ich habe automatisch eine Szene aus Zurück in die Zukunft vor Augen. Wobei mir der Punkt, ob Alkohol in Strömen fließt oder nicht, reichlich egal ist, da ich eh keinen Tropfen mehr anrühre. Schon seit Jahren nicht.
Jetzt blicken mir zwei hoffnungsvoll wirkende Augenpaare – wenn ich Peppers mitzähle, drei – entgegen und ich kann gar nicht anders, als mich geschlagen zu geben. »Also gut. Aber wehe auf der Bühne stehen Typen mit langen Bärten und spielen Doubleback.«
»Keine Bange«, erklärt Dylan grinsend, »Darby ist nicht so reich, als dass es sich ZZ Top leisten könnte.«
»Gott sei Dank.«
»Du wirst sehen, wir haben adäquaten Ersatz für sie gefunden.«
»Du willst mich verkohlen, oder?«
Todernst deutet Dylan auf sein Gesicht. »Sehe ich aus, als würde ich Scherze machen?«
»Scheiße, nein!« Seufzend schiebe ich meinen Hintern zurück auf den Barhocker. »Nun denn, wie könnte ich einer so netten Einladung widerstehen?«
Schlagartig kehrt Ruhe ein. Dylan nippt an seinem Wasserglas. Chelsea knetet ihre Teiglinge und Pepper hat es sich zwischen ihrem Herrchen und mir bequem gemacht. Und ich? Ich knabbere befangen am letzten Stück Pizza herum und grüble: Ob die hier ein Motel haben?
Aus heiterem Himmel murmelt Dylan neben mir: »Danke übrigens.« Ich hätte es sicher nicht gehört, wäre es in diesem Augenblick nicht so still gewesen.
Gespräche und Erkenntnisse
- Dylan -
Keine Ahnung, ob Tyrone meinen geflüsterten Dank hört. Da offenbar niemand mehr etwas zu sagen hat und ich mich von Sekunde zu Sekunde unwohler in meiner Haut fühle, trinke ich mein Mineralwasser aus und stelle das leere Glas zurück auf den Tresen. »Okay, ich muss dann wieder. Bis ich alles verstaut und die Pferde versorgt habe, dauert es ein Weilchen. Ich möchte nicht, dass Gayle und Joey mit dem Abendessen auf mich warten müssen.« Blödsinniges Geplapper, das mir einen überraschten Blick von Tyrone einbringt.
Ich hole ein paar Dollar aus der Gesäßtasche und lege sie auf den Tresen, den Chelsea eilig umrundet, um mir einen Kuss auf die Wange zu drücken. »Alles klar, mein Lieber. Richte Gayle einen Gruß aus. Ich melde mich. Spätestens am Samstag sehen wir uns eh.«
»Wird erledigt.« Ich deute auf die Reste von Tyrones Pizza und dessen halbvolles Getränk. »Das geht auf mich.«
»Nein, das …«
»Wenn er sagt, das geht auf ihn, dann ist das so«, nimmt mir Chelsea die Worte aus dem Mund.
Ich zwinkere ihr dankbar zu, setze meinen Hut auf, tippe mit den Fingern gegen die Krempe und nicke Tyrone zum Abschied zu. »Man sieht sich vielleicht am Samstag.«
»Durchaus möglich«, gibt er ernst zurück, um sofort hinzuzufügen: »Und gern geschehen.«
Dann hat er mich wohl doch gehört. Ein weiteres wohlwollendes Nicken meinerseits. »Komm Pepper, es wird Zeit.«
Mit Wirrwarr im Kopf und in Begleitung meines alten Mädchens verlasse ich das Little Blue. Auf dem Weg zur Ranch versuche ich ein wenig Ordnung in meine Gedanken und ja, auch in meine Gefühlswelt zu bringen. Was für ein seltsames Aufeinandertreffen.
Es war längst an der Zeit, zu meiner guten Erziehung zurückzufinden und mich bei Tyrone zu bedanken. Immerhin hat der Mann mir geholfen, ohne eine Sekunde darüber nachzudenken. Das weiß ich deshalb so genau, da ich sein Auto bereits wahrgenommen hatte, als er am Ortsausgang kehrtmachte, kurz langsamer wurde, um dann abzubiegen und auf meiner Höhe haltzumachen. Ich dachte erst, er wolle nach dem Weg fragen.
Sein Eingreifen war im Grunde nicht nötig und einzig meiner Rastlosigkeit geschuldet, dass ich mich mit diesen unhandlichen Rollen abmühte. Ich hätte genauso gut darauf warten können, bis Gavin sein Telefonat beendet hatte und mit anpackte.
Dann stand plötzlich dieser Rotfuchs da und sein Anblick verschlug mir die Sprache. Mir war sofort klar, dass er neu in der Gegend sein muss. Und das nicht, weil ich so gut wie jeden in Darby und auf den umliegenden Ranches kenne, sondern weil ich mich definitiv an diese leuchtend roten Haare erinnert hätte. Als er dann auch noch den Mund aufmachte … Er brachte mich total aus dem Konzept.
Was er wohl über mich gedacht hat? Sicher nichts Gutes. Rückblickend muss ich zugeben, ich habe mich wie der typische Einsiedler aus den Bergen verhalten. Spröde, wortkarg und abweisend.
Wie dem auch sei. Nachdem ich meine Rechnung beglichen hatte und mich von Gavin verabschiedete, fuhren wir zurück und kamen am Little Blue vorbei, wo ich sein Auto stehen sah. Wir stiegen aus und ich stand einen Moment unschlüssig vor der Autotür herum, während Pepper mich ansah, als würde sie an meinem Verstand zweifeln. Was ich ihr nicht verübeln kann. »Sollen wir ihm folgen?«, fragte ich sie, ohne ernsthaft eine Antwort zu erwarten. Aber sie reagierte. Bellte mich kurz an, wie in Quatsch nicht, komm schon! und watschelte gemütlich los. Meine Füße waren bereits im Begriff sich in Bewegung zu setzen, um ihr zu folgen, da hatte ich noch nicht einmal eine Entscheidung getroffen. Okay, unterbewusst wohl schon.
Als wir zwei bei Chelsea eintrafen, finden wir ihn mit ihr allein vor. Was mir hätte klar sein müssen, wenn ich mein Gehirn eingeschaltet hätte. Immerhin ist hier um diese Zeit so gut wie nie etwas los. Was soll’s, jetzt war ich einmal da und konnte schlecht eine Kehrtwendung hinlegen. Obendrein strahlt mich Chelsea an, als wäre ich ihr verdammter Held – schon wieder. Eine Sache, die mir von Tag zu Tag mehr Kopfschmerzen bereitet.
Wir kennen uns seit Ewigkeiten. Meine Schwester ist ihre beste Freundin und Gavin, Chelseas Bruder, ist mein bester Freund. Wir waren früher das berühmt-berüchtigte Vierergespann in der Umgebung und uns wurde später nicht selten nachgesagt, wir wären irgendwann verwandt miteinander. Soll heißen, es geht seit Jahren das hartnäckige Gerücht um, ich hätte was mit Chelsea und Gavin mit meiner Schwester. Ich begreife die Gedankengänge der Leute nicht, wo sie doch im Grunde wissen, dass ich schwul bin. Ignoranz? Möglich. Vielleicht glauben sie, wenn sie sich etwas anderes vorstellen, wäre der Rest einfach nicht wahr und man müsste es nicht akzeptieren.
Tja, sorry, auf eine Doppelhochzeit werden sie dann bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten müssen. Das wird nicht passieren. Nicht in diesem Leben. Zumindest nicht in dieser Konstellation. Wobei Letztere durchaus denkbar wäre. Ich kann es zwar nicht mit Gewissheit sagen, aber ich glaube ganz fest, zwischen Gayle und Gavin lief früher mehr als Freundschaft.
Es gab eindeutige Anzeichen. Ich weiß noch, wie niedergeschlagen Gavin damals war, als es hieß, meine Schwester heiratet. Natürlich gehörten wir zur Hochzeitsgesellschaft, schließlich fand sie auf der Yellow Pine Ranch statt. Gavin war an dem Tag nicht er selbst. Es war nicht leicht, ihn davon abzuhalten, mit jedem Streit anzufangen. Vor allem mit dem Bräutigam. Irgendwann habe ich ihn mir geschnappt und ging mit ihm und einer vollen Flasche Bourbon unter dem Arm in den Stall. Dort machten wir es uns auf dem Heuboden gemütlich und füllten uns gekonnt ab. Das ist lange her. Und auch wenn er danach nie wieder ein Wort darüber verlor, denke ich nicht, dass Gavin je über Gayle hinweggekommen ist. Zumindest hat er sich nie gebunden. Ja klar, hier und da gab es Beziehungen. Die hielten jedoch nie länger als ein paar Wochen. Und na ja, irgendwann ist die Auswahl nicht mehr allzu groß. Der Nachteil, auf dem Lande zu leben.
Aber Chelsea und ich? Allein die Vorstellung ist so kolossal fern jeder Realität. Das wäre so, als würde ich auf meinen Traumprinzen warten, der auf einem weißen Ross angeritten kommt.
Kein weißes Ross. Dafür rotglühendes Haar. Was denke ich da nur wieder?!
Zurück zu Chelsea. Ich glaube mich zu erinnern, dass es auf Gayles Hochzeitsfeier gewesen ist – der Tag, an dem sich zwischen uns vieren alles veränderte –, als ich Chelsea zur Seite nahm und ihr rücksichtsvoll zu verstehen gab, ich hätte sie zwar sehr gern, zwischen uns könne jedoch niemals etwas laufen, da ich schwul bin. Auch wenn in Darby hinter vorgehaltener Hand über meine Neigungen geredet wird – was mich in Bezug auf die erhoffte Doppelhochzeit zunehmend verwirrt –, dachte ich immer, meine Schwester hätte es Chelsea gesagt und sie wüsste über mich Bescheid. Im ersten Moment sah sie mich ungläubig an. Dann muss ihr aufgegangen sein, dass ich es vollkommen ernst meinte. Sie nickte traurig und sagte: »Es ist eben nicht zu ändern.«
Wenn ich daran zurückdenke, muss ich gestehen, mir ist nicht klar, worauf sie sich bezog. Auf meine Homosexualität oder auf ihre Gefühle für mich. Es war nie wieder ein Thema zwischen uns, weshalb es mich irritiert, dass sie seit geraumer Zeit den Anschein macht, als würde sie sich erhoffen, ich hätte mich damals geirrt. Ich kann mich nicht erinnern, ihr irgendwelche Signale gesendet zu haben, die diese Idee rechtfertigen würden. Sollte ich mit Gayle reden? Womöglich kann sie mir helfen, diese unangenehme Situation aus der Welt zu schaffen. Ich will Chelsea nicht als Freundin verlieren. Was unweigerlich geschehen wird, wenn ich nicht langsam die Notbremse ziehe.
Kurz vor der Abzweigung zur Ranch klingelt mein Handy. Ich biege ab und halte sofort an. Hier fährt eh nie jemand außer uns, Lieferanten oder Besucher der Yellow Pine Ranch entlang. Während ich in der Mittelkonsole mein Telefon suche, mustert mich Pepper gelangweilt. Ich werfe einen Blick auf das Display. Darrell. »Hey, wie geht’s dir?«, melde ich mich.
»Wie sagt man so schön? Den Umständen entsprechend.« Darrell hört sich gequält an. »Sorry, Boss, ich dachte eigentlich, ich könnte morgen schon wieder arbeiten. Aber so wie es aussieht, ist es eine längere Geschichte.«
»Scheiße, das tut mir leid. Warst du beim Doc?«
»Ja. Er meinte, ich soll meinen Arsch im Bett behalten, außer ich müsste aufs Klo.« Darrell kichert.
Ich verziehe angewidert das Gesicht. »Zu viele Infos, Darrell. Aber du tust bitte, was der Doc sagt. Damit ist nicht zu spaßen. Und wenn du was brauchst, sag Bescheid, dann kommt einer von uns rüber.«
»Nein, nein, das fehlte noch. Ihr steckt euch nachher bloß an. Und du vergisst, ich bin nicht allein. Aaron kümmert sich um mich. Er müsste in ein paar Stunden wieder zu Hause sein. Bis dahin habe ich genug zu Trinken, meine Medis und die Keramik in Reichweite.« Bei Letzterem höre ich ihn erneut glucksen. Zumindest geht es ihm so weit gut, dass er mich aufziehen kann. Auch gut. »Ich mache mir nur Sorgen, ob ihr allein klarkommt«, höre ich ihn ernst sagen.
»Wir schaffen das schon. Du bleibst, wo du bist, lässt dich von deinem Mann verwöhnen und wirst gesund.«
»Alles klar, Boss. Und danke.«
»Blödsinn, wofür denn?«
»Dass du es so locker nimmst.«
»Na hör mal. Es hätte jeden von uns erwischen können. Ist ja nicht so, als ob du blau machen würdest. Also hör auf, ein schlechtes Gewissen zu haben. Wenn du in ein paar Tagen wieder hier bist, wird noch alles beim Alten sein, versprochen.«
Darrell gähnt lautstark. »Entschuldige, ich könnte gerade einfach nur umfallen und pennen.«
»Was hält dich davon ab?«
»Du, Boss.« Abermals ein unterdrücktes Kichern.
»Blödmann«, stauche ich ihn freundschaftlich zusammen. »Ich leg jetzt auf. Und wie gesagt, melde dich, falls was ist.«
»Wird gemacht.«
Darrell ist Ende vierzig, zehn Jahre älter als ich, gibt mir aber nie das Gefühl, das Greenhorn zu sein. Er hat mich nach dem Tod meines Dads sofort als Chef akzeptiert. Wofür ich ihm unheimlich dankbar bin. Natürlich nicht allein dafür; er gäbe für Yellow Pine seinen rechten Arm, würde ich ihn lassen. Bis vor ein paar Jahren bewohnte er eine der Unterkünfte für Rancharbeiter, die nun leer stehen. Dann lernte er Aaron, seinen jetzigen Partner, kennen und bezog mit ihm ein kleines Häuschen fernab von Darby und Yellow Pine. Ich finde es schade, kann ihn jedoch verstehen. Obendrein bewundere ich, wie die zwei mit den Leuten umgehen, die kein Verständnis dafür aufbringen, dass sie zusammenleben.
Ja, Gayle hat schon recht damit, wenn sie behauptet, es wäre an der Zeit, dass die Leute anfangen umzudenken und ihre Vorurteile über Bord werfen. Nur ist das leichter gesagt, als getan, für die alteingesessen Bewohner wie auch deren Kinder, die mit Intoleranz aufgewachsen sind. Andererseits muss ich mir selbst ankreiden, nicht wie Darrell dazu zu stehen; klipp und klar zu zeigen, es geht euch einen verdammten Scheiß an, wen ich liebe und mit wem ich den Rest meines Lebens verbringen will.
Allerdings gab es bisher niemanden, für den es sich gelohnt hätte genau diesen Schritt zu gehen. Ja, sicher könnte ich auch jetzt offen zu den Gerüchten Stellung beziehen. Ein für alle mal. Ach verdammt, ich bin im Grunde nichts weiter als ein Feigling. Verstecke mich hinter großen Worten und meiner Ranch, die abgelegen genug ist, um größtenteils in Ruhe gelassen zu werden. Na ja, wenn es irgendwann so kommen sollte, dass mir der Richtige über den Weg läuft, kann ich mir immer noch Gedanken darüber machen. Jetzt habe ich erst einmal genug mit Yellow Pine um die Ohren, als überhaupt Zeit für was oder wen auch immer zu haben.
Ich schiebe das Handy in meine Hemdtasche und streiche Pepper durch ihr drahtiges Fell. »Darrell hat’s mächtig erwischt.« Aufmerksam stellt sie die Ohren auf. »Da müssen wir die Arschbacken zusammenkneifen und die nächsten Tage allein zurechtkommen. Das schaffen wir, stimmt’s?« Ich könnte schwören, Pepper zieht bei meiner Frage eine Augenbraue hoch, als würde sie sagen wollen: Um was wetten wir?
»Onkel Dylan!«, höre ich meinen Neffen von Weitem rufen, als ich vor der Scheune anhalte, um dort den Draht und das restliche Material, sowie Werkzeug auf unseren alten, aber zuverlässigen F1 zu verladen.
»Hey. Du bist ja schon da. Alles klar bei dir?«
Die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, kommt Joey über den Hof geschlendert. »Logisch. Alles easy. Was machst du? Oh, und Mom meinte, du hättest gesagt, wir könnten ausreiten.«
»Das Angebot steht. Ich muss nur vorher ein paar Dinge erledigen.«
Joeys Blick gleitet über den Pick-up. »Haben wir wieder defekte Zäune?«
»Ja. Morgen früh, nachdem ich die Pferde versorgt habe, fahre ich zur nördlichen Grenze. Ich muss mir bloß überlegen, wie ich die Reparaturen ohne Hilfe erledige. Dummerweise kann es nicht warten, bis Darrell wieder da ist.«
»Du willst wirklich mit der Klapperkiste da rausfahren? Allein?«
Unseren alten Ford F1 hat mein Großvater angeschafft. So muss ich nicht meinen Pick-up nutzen, um auf die Weiden und Koppeln zu fahren. »Ey, sag nichts gegen das zuverlässigste Auto der Welt.«
Joey lacht. »Wenn du meinst. Dann geht es Darrell also noch nicht besser?«
»Leider nein.«
Ich will die erste Rolle von der Ladefläche wuchten, als mein Neffe mir zur Seite springt und mit anpackt. Zusammen schleppen wir sie die paar Schritte bis zur Scheune und schieben sie auf die Ladefläche des Fords. »Hilfst du mir noch bei der Zweiten?«
»Natürlich. Und würdest du mich lassen, könnte ich dir auch morgen helfen. Wenn schon nicht bei der Zaunreparatur, dann zumindest im Stall.« Er klingt richtig angepisst.
Erschrocken schaue ich ihn an. »Warum bist du sauer?«
»Weil du mich behandelst wie ein Kleinkind.«
»Oh. Das war nie meine Absicht«, murmle ich betreten.
»Warum versuchst du mich dann aus allem rauszuhalten?«, will Joey schnaufend wissen, nachdem wir die zweite Rolle Draht verstaut haben.
Ich klopfe meine Hände an der Jeans ab. »Na ja, ich will nicht, dass du dich zu irgendwas genötigt fühlst. Du hast dein eigenes Leben. Und …«
»Das sich hier auf der Ranch abspielt«, bekräftigt mein Neffe und blickt mich herausfordernd an. Himmel, er sieht Gayle so ähnlich, wenn er auf stur stellt.
»Ähm, schon richtig. Und wie ich von deiner Mom gehört habe, will sie bleiben. Aber ist das auch dein Wunsch?« Immerhin sind es nur noch ein paar Jahre, bis er sich entscheiden kann, fortzugehen.
Joey zuckt beiläufig mit den Schultern und erwidert trotzig: »Ich liebe Yellow Pine!«
Mir läuft glatt das Herz vor Zuneigung über und ich muss heftig schlucken. »Okay, wenn das so ist«, krächze ich, »Folgender Vorschlag meinerseits: Was hältst du davon, wenn wir morgen vor dem Frühstück gemeinsam die Stallarbeit erledigen und danach den Zaun reparieren? Vorausgesetzt, du hast Zeit.« Mir ist schon klar, dass Schulferien sind. Es könnte jedoch sein, dass er an irgendwelchen Veranstaltungen teilnehmen oder sich mit seinen Freunden treffen will.
Joeys Augen strahlen vor Glück, als wäre er wieder vier und könnte es kaum erwarten seine Weihnachtsgeschenke zu öffnen. »Im Ernst?«
»Klar. Und noch was … Solange du hier lebst …« Ich hebe die Hand, um ihn davon abzuhalten, etwas einzuwenden. »Joey, du bist jung und wirst vielleicht weggehen, um zu studieren. Selbst wenn nicht, wird es dir hier möglicherweise zu langweilig und du gehst nach Denver oder in eine andere Großstadt. Egal wofür du dich entscheidest, du wirst von deiner Mom und mir jedwede Unterstützung erhalten. Worauf ich eigentlich hinaus will, ist, ich freue mich, wenn du hilfst. Fände es aber fair, wenn du ein paar Dollar für deine Arbeit erhältst, um dein Taschengeld aufzubessern. Alles natürlich nur, solange du magst. Du kannst jederzeit abspringen.«
Joeys Miene ist eine Mischung aus Begeisterung und Bestürzung.
Ich gehe auf ihn zu und lege meine Hand auf seine Schulter. »Was ist?«
»Ich dachte, dir wäre klar, dass ich hierbleiben will. Was soll ich in Denver oder irgendwo anders, wenn es mir doch hier gefällt. Du hast dich auch hochgearbeitet und bist nicht fortgegangen.« Flüsternd fährt er fort: »Glaubst du, ich würde es nicht packen?« Stolz und Betroffenheit schwappen mir in Wellen entgegen.
»Was?! Nein, wie kommst du nur darauf?« Gott, er ist noch so jung und doch glaubt er, er wüsste bereits, was er mit seinem Leben anfangen will? Andererseits … Wusste ich mit fünfzehn nicht auch schon, was ich wollte? Unwillkürlich ziehe ich ihn in meine Arme.
Seine schlaksige Gestalt hat keine Chance. Mit einem überraschten Ächzen ergibt sich Joey und nuschelt gegen meine Schulter: »Dann geht das für dich in Ordnung?«
»Absolut!« Ich kann gar nicht in Worte fassen, was mir das bedeutet. Ich schiebe ihn auf Armeslänge von mir. »Und jetzt lass uns alles für morgen herrichten.«
»Okay, Boss.«
Mit einem amüsierten Kopfschütteln treibe ich ihn vor mir her in die Werkzeugkammer.
Zwei Stunden später, sitze ich meiner Schwester, gesättigt und mit Eistee in der Hand, auf der Veranda gegenüber, während mein Neffe in der Küche seiner allabendlichen Aufgabe nachkommt, den Tisch abräumt und den Geschirrspüler bestückt. Ich schaue zu Gayle rüber, die mich anlächelt, und sage mit gedämpfter Stimme: »Du hast da einen Prachtjungen. Weißt du das?« Joey muss nicht mitbekommen, dass wir über ihn reden.
»Ja, und ich bin heilfroh, dass er nicht allzu viel von seinem Dad mitbekommen hat.«
»Glaub mir, vieles ist auch eine Frage der Erziehung.« Ich nippe am Tee, genieße die kühle, herbe Süße und den atemberaubenden Ausblick auf die schneebedeckten Gipfel des Trapper Peaks, die von der untergehenden Sonne angestrahlt werden, das satte Grün der Wälder und Koppeln und den stahlblauen Himmel. Eine leichte Brise weht über die Ranch, vertreibt die Hitze des Tages und trägt leises Wiehern und zufriedenes Schnauben der Pferde herüber. Es wird nachher sicher ein toller Ausritt mit Joey, denke ich so bei mir.
»Ich werde wohl immer wieder zurück zur Yellow Pine wollen«, wispert Gayle nachdenklich, als sie meinem Blick folgt. »Die Jahre in Denver waren die Hölle für mich. Das Heimweh hat mich schier von innen heraus zerfressen.«
Ich mustere sie einen Moment. »Es war in erster Linie deine Ehe, die dich zerfressen hat. Vielleicht wärst du mit einem anderen Mann dort glücklich geworden.«
Ihr Blick begegnet meinem. »Ich hätte Yellow Pine niemals verlassen dürfen.« Sie beugt sich zu mir, wirft einen prüfenden Blick zur Tür, die weiterhin geschlossen ist, und flüstert betont: »Ich hätte Gavin niemals verlassen dürfen.«
Ich hatte also recht. Es war zwischen ihnen viel mehr als Freundschaft. »Warum hast du es dann getan?«
Gayle atmet tief durch, lehnt sich zurück und schaut in die Ferne. Einige Minuten später, ich rechne schon gar nicht mehr mit einer Antwort, sagt sie: »Diese Ehe aus den falschen Gründen einzugehen, war eine von zwei der größten Fehlentscheidungen meines Lebens. Erst stieg ich aus Frust mit einem Mann ins Bett, den ich kaum kannte. Dann dachte ich zu altmodisch und wollte meinem Kind nicht den Vater vorenthalten. Ich war jung und dumm. Lange Zeit gab ich die Hoffnung nicht auf, er würde sich irgendwann besinnen und doch noch ein guter Dad für Joey werden. Falsch gedacht. Aber eins würde ich um nichts auf der Welt missen wollen …«
»Joey?«
»Ja, er ist das Beste, was mir je passiert ist.«
»Darf ich dich was fragen?«
Gayle neigt ihren Kopf zur Seite und lächelt. »Natürlich.«
»Hast du Gavin geliebt?«
Nachdenklich dreht sie ihr Glas in den Händen, bevor sie so leise flüstert, dass ich es kaum verstehe, sondern eher von ihren Lippen ablese: »Ich habe nie aufgehört.«
ENDE der LESEPROBE
Texte: Nele Betra
Bildmaterialien: shutterstock
Cover: Nele Betra
Lektorat: Brigitte Melchers
Satz: Nele Betra
Tag der Veröffentlichung: 06.04.2018
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