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LESEPROBE KAPITEL 1-3

DIE BITTE

- Craig -

 

»Meine Güte, du bist aber heute früh dran«, begrüßt mich Ally abwesend, ohne auch nur vom Schreibtisch aufzusehen. Neben ihr steht der übliche Thermobecher mit ihrem heißgeliebten Tee.

Wie jeden Tag verstaue ich meine Jacke im Garderobenschrank. »Guten Morgen, meine Liebe. Das sagt die Richtige. Seit wann bist du denn schon hier?« Meine Ledertasche landet neben ihrem Stuhl, bevor ich neugierig über ihre Schulter schaue. »Und wieso sitzt du hier, um Klausuren zu kontrollieren? Hat dich dein Mann rausgeschmissen?«

Endlich schaut sie zu mir auf. Wirkt allerdings leicht irritiert, als würde ihr meine Anwesenheit erst jetzt auffallen, ehe ein kleines Lächeln über ihr Gesicht huscht. »Sorry, guten Morgen.« Ally lehnt sich zurück und klopft mit dem Kugelschreiber auf den Stapel Papiere vor sich. »Ich bin gestern nicht mehr dazu gekommen. Du kennst ja Mairi. Na ja, und da ich Russel und sie heute früh nicht unnötig stören wollte, dachte ich, ich kann es genauso gut auch hier erledigen. Zumal ich um diese Uhrzeit meine Ruhe habe.« Sie deutet auf mich. »Und was treibt dich schon hierher?«

Nachdem ich mir einen Stuhl geschnappt habe und mich neben meine Kollegin und beste Freundin setze, reicht sie mir ihren Thermobecher. »Auch einen Schluck? Ist noch heiß.«

Ich nehme ihn dankend entgegen. Während ich den Deckel abnehme, erkläre ich: »Es sind noch einige Vorbereitungen für die Aufführung zur Abschlussfeier nächste Woche zu erledigen. Und, na ja …«

Ohne auf meinen Erklärungsversuch einzugehen, seufzt Ally: »Quälen dich etwa wieder deine Albträume?«

»Ja, ist schon seltsam. In letzter Zeit häufiger.« Ich blicke sie an und schenke ihr ein beruhigendes Lächeln. »Kein Grund sich Sorgen zu machen.«

Sie mustert mich einen Moment und nickt dann. »Okay.«

Ich weiß, Ally macht sich Gedanken um mich, immerhin kennt sie meine Vergangenheit und hat mir durch eine miese Zeit geholfen. Sicher, es liegt schon Jahre zurück und ich habe schon lange die verdammten Flashbacks akzeptiert, die mich anfangs als ein zitterndes und wimmerndes Häufchen Elend zurückließen. Sie werden mich mein Leben lang immer wieder heimsuchen.

Es gibt Zeiten, da geht es mir wunderbar und dann wiederum reicht ein einziger Trigger – ein Geruch, eine Farbe, ein Geräusch oder was auch immer –, der mich an damals erinnert und peng, schon passiert es und ich bin mittendrin.

Obwohl, in der Zwischenzeit bin ich froh, dass sich diese Erinnerungen nur noch in meinen Albträumen manifestieren. Im realen Leben habe ich sie im Griff; habe gelernt, wie ich gar nicht erst in eine Schockstarre verfalle, wenn es mich dann doch mal droht zu überwältigen – meistens jedenfalls. Früher hat es mich einfach so aus heiterem Himmel eiskalt erwischt. Es war keine Seltenheit, dass ich mitten auf der Straße zusammenbrach und die Leute dachten, ich hätte zu tief ins Glas geschaut. Zeiten, denen ich sicher nicht hinterhertrauere.

Ein weiteres Seufzen von Ally reißt mich aus meinen Gedanken. Was mir gerade durch den Kopf ging, weiß sie ganz genau. Ich sehe es ihrem Blick an. Und dennoch meidet sie nun das Thema. Wofür ich ihr unendlich dankbar bin. »Craig, ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich dieses Jahr auf die Semesterferien freue.« Sie streckt sich, bis es geräuschvoll in ihrem Rücken knackt, als hätten sich ein paar Wirbel an ihren ursprünglichen Platz begeben, und gähnt herzhaft. »Du hast mir immer noch nicht gesagt, was du im Urlaub anstellst.«

Unwillkürlich zucke ich mit den Schultern, ziehe aber dennoch eine Augenbraue hoch, da sie mich das sicher schon das hundertste Mal fragt. »Allison Dunbar, du bist schlimmer als ein Pitbull, der sich an einem Autoreifen festgebissen hat.«

Plötzlich verschwindet der Becher aus meiner Hand. »Craig Irvine«, äfft sie mich nach, »ich habe dich von meinem Tee trinken lassen, du bist mir was schuldig.«

Sie blickt mich dermaßen empört an, dass ich lachen muss.

»Lachst du mich etwa aus?«

»Das würde ich nie wagen.«

»Dein Glück. Also?«, hakt Ally nach und drückt mir den Becher wieder in die Hand.

»Ich habe nichts geplant. Aber im Zentrum gibt es genug zu tun.« Ich klopfe ihr auf die Schulter. »Mach dir um mich keinen Kopf. Mich wird schon nicht die Langeweile plagen.« Ich nehme einen kleinen Schluck vom aromatischen Getränk und frage: »Wann geht’s bei euch los? Schon gepackt?«

»Lenk nicht vom Thema ab. Und nein, wir haben noch nicht gepackt. Schließlich fahren wir erst in einer Woche. Und Russel kann auch mal was tun«, murrt sie leise vor sich hin.

»Hast du ihm das genau so gesagt?«

»Nicht wortwörtlich.«

Ich grinse sie an. »Du weißt, dass Männer es unkompliziert mögen, oder?«

»Och na ja, ich denke, so subtil war ich dann auch wieder nicht.«

Was ich mir sehr gut vorstellen kann. »Also hast du ihm gesagt, er ist ’ne faule Socke und wenn er diesmal nicht mit anpackt, schläft er ab sofort auf dem Sofa?«

»So in der Art.«

Wir schauen uns beide an und brechen in Gelächter aus. Als wir uns beruhigen, erkundige ich mich: »Wann machst du heute Feierabend? Ich hätte mal wieder Lust auf eine ausgedehnte Tratschrunde mit dir.«

Allys Nase kräuselt sich so wie immer, wenn sie in Gedanken ist. »So gegen vier. Russel wollte Mairi zu seinen Eltern bringen, da er Überstunden schiebt. Ich kann sie anrufen und Bescheid geben, dass ich etwas später komme, um sie abzuholen.«

»Wunderbar, du rettest mir den Tag.«

Sie tätschelt mein Knie. »Dazu sind Freunde da, oder nicht?«

»Richtig.« Schnaufend erhebe ich mich und ergreife meine Tasche. »Sehen wir uns in der Mittagspause?«

»Hm?« Ally ist bereits in ihre Arbeit vertieft.

Vor der Tür zum Flur bleibe ich stehen, grinse sie an und mache die allgemeingültige Geste für Nahrungsaufnahme. »Mangiare, Essen, Futter, Mittagspause?« Ich deute auf sie, dann auf mich »Wir beide?«

»Oh, ja klar, warum nicht. Ich bin eh für die Mensa-Betreuung eingeteilt.«

»Super, dann also bis nachher.«

Ally grummelt nur leise vor sich und ist kopftechnisch sofort wieder abwesend.

Mit einem Kopfschütteln verlasse ich das Lehrerzimmer und mache mich auf den langen Weg zu den Lagerräumen, in denen sämtliche Dekomittel für Feierlichkeiten zu allen möglichen Anlässen des Jahres verstaut sind. Ich könnte mich immer noch selbst in den Hintern treten. Ich war so dämlich, mich auch noch freiwillig für die Dekoration zu melden. Als hätte ich nicht schon genug mit unserer Aufführung zu tun.

Mir kommt plötzlich meine frühere Englischprofessorin Fiona King in den Sinn. Wenn sie mich jetzt so sehen würde, hätte sie nur eine mitleidslose Miene für mich übrig und Sir Walter Scott zitiert: »Wenn ein Mensch keinen Grund hat, etwas zu tun, so hat er einen Grund, es nicht zu tun.« Dann würde sie mir zuzwinkern, ihren Batikrock raffen, um wie ein Geist aus alten Woodstock-Zeiten von dannen zu schweben und mich in meiner Verwirrung einfach stehen zu lassen. Ich höre sogar ihre Holzkette leise klappern. Die Erinnerung an sie bringt mich immer zum Lächeln.

Die Frau ist der Grund, warum ich englische Literatur studiert habe. Als ich das erste Mal in der Universität von Edinburgh war – es gibt jedes Jahr Tage der offenen Tür, an denen für jedermann frei zugängliche Vorlesungen gehalten werden – und mir ihren Vortrag anhörte, stand für mich fest: Das ist es, was ich machen will. Und wenn möglich, will ich in ihren Kurs. Diese Frau stand auf dem Podium und strahlte eine unfassbare Liebe für das geschriebene Wort aus. Der Anblick, den sie bot, war beeindruckend und irritierend zugleich. Denn seien wir doch mal ehrlich, wer rechnet denn bitte damit, dass ein Urgestein der wilden Sechziger, das optisch in diesem Jahrzehnt hängengeblieben ist, so viel Leidenschaft für die alten Dichter aufbringt?

Die folgenden Jahre vergingen wie im Flug. Professor King war ebenfalls der Grund, mich nach meinem Studium für ein Lehramt zu bewerben. Allerdings am College.

Bis heute habe ich es nicht bereut. »Na ja, außer diese blöde Veranstaltung«, murre ich leise vor mich hin. An sich ist es natürlich keine blöde Veranstaltung, aber das Drum und Dran nervt mich ein bisschen. Als ob ich nicht schon genug um die Ohren hätte.

Im Selbstgespräch vertieft laufe ich durch das schwach beleuchtete und stille Gebäude, als hinter mir überdeutlich schnelle Schritte durch das Treppenhaus hallen. Es ist bisher erschreckend ruhig gewesen, da ich selbst kaum Laufgeräusche von mir gebe. Mag sich verrückt anhören, aber vor Jahren habe ich mir angewöhnt, wenn möglich Schuhe zu tragen, die so gut wie lautlos auf harten Böden sind. Was durchaus einen Grund hat. Denn nur so kann ich mir sicher sein, nicht aus dem Hinterhalt überrascht zu werden. Nein, Craig, denk an etwas anderes, rufe ich mich zur Ordnung. Also konzentriere ich mich wieder auf meine Umgebung.

Da scheint es jemand eilig zu haben. Ich drehe mich verwundert um und warte. Ist Ally noch etwas eingefallen? Ich bleibe mucksmäuschenstill stehen und lausche dem näherkommenden Geräusch. Noch ist niemand zu sehen, denn ich verließ den Hauptgang, als ich nach links abgebogen bin. Irgendwie hört es sich nicht nach Ally an. Ihre Pumps klingen heller, nicht so dumpf wie schwere Biker- oder Springerstiefel. Der harte Klang ist enervierend und ich muss zugeben, er beunruhigt mich in einer Weise, die mir nicht gefällt. Bin ich durch die vergangene Nacht zu empfindlich? Es ist ungewöhnlich für mich, so extrem zu reagieren.

Ohne auch nur darüber nachzudenken, setze ich einen Fuß hinter den anderen, um mehr Abstand zu wem auch immer zu bekommen. Mein Atem geht flach und schnell. Mein Herz verfällt in einen altbekannten Takt und hämmert stakkatomäßig von innen gegen mein Brustbein. Einfach weiteratmen, fordere ich mich selbst auf.

Mittlerweile dröhnen mir die Schritte beängstigend in den Ohren und meine Hände beginnen zu zittern. Atmen! Ein. Aus. Ein. Aus. Hier ist niemand, der dir etwas antun wird, wiederhole ich mein mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangenes Mantra immer und immer wieder.

Meine Muskeln sind aufs Äußerste angespannt – auf Flucht eingestellt. Aber ich will dem nicht nachgeben. Ich darf es nicht zulassen. Muss gegen die aufkommende Panikattacke ankämpfen. Meine Sicht verschwimmt, um sich zu einem Tunnelblick zu fokussieren.

»Verdammt nochmal, Mr. Irvine!«, höre ich eine weibliche, mir sehr vertraute Stimme keuchend rufen.

Für den Moment bin ich nicht fähig etwas zu sagen. Mir ist die Kehle vor Angst zugeschnürt. Weshalb ich der jungen Dame einfach stumm entgegensehe und hoffe, sie würde mir meinen Zustand nicht ansehen.

»Mr. Irvine?« Jetzt steht sie keine zwei Schritte von mir entfernt und mustert mich besorgt. »Alles in Ordnung? Sie sehen blass aus.«

Ihre letzten Worte dringen vollends in meinen Verstand vor und ich komme langsam wieder zu mir. Erst jetzt, als sie mir auf meine Hände starrt, fällt mir auf, dass ich meine Tasche wie einen Schutzschild vor mich halte und meine Fingerknöchel weiß angelaufen sind.

»Shit! Ich wollte Sie nicht erschrecken. Sorry.«

Endlich realisiere ich vollständig die Sachlage. »Drew?«

Eine ihrer Augenbrauen wandert zur Stirn hinauf. »Ähm, ja?«

Ich atme noch einmal tief durch und versuche mich in einem Lächeln, das hoffentlich nicht zu verkrampft rüberkommt. »Guten Morgen. Was sagt Ihre Mom, wenn sie Sie so fluchen hört? Außerdem sind Sie viel zu früh dran. Was kann ich für Sie tun?«

Ihr prüfender Blick liegt weiterhin auf mir. Allerdings ist er nicht herablassend, als würde sie denken, ich hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank, sondern wirkt auf eine irritierende Weise verständnisvoll.

»Na ja, Mom ist nicht hier, oder?«, zieht sie mich nun auf. »Und ich glaube, ich bin aus dem Alter raus, dass sie sich darüber beschwert. Um ehrlich zu sein, muss ich sie dann und wann daran erinnern, dass ich noch einen kleinen Bruder habe, dessen Ohren immer gespitzt sind. Aber weshalb ich hier bin … Sie hatten letztens gemeint, für die Jahresendfeier wäre noch einiges zu erledigen. Ich dachte, ich schaue mal etwas eher vorbei und guck, was ich Ihnen abnehmen könnte. Ich bin gerade im Flur zum Lehrerzimmer eingebogen, als Sie es verlassen haben. Aber, Himmel, Sie haben einen Schritt drauf.« Sie beugt sich abermals vor und holt tief Luft.

»Wow, das ist echt nett, Drew.« Sie schaut zu mir auf und ich deute hinter mich. »Was halten Sie davon, wenn wir zusammen überlegen, wer welche Aufgaben übernehmen kann?«

Drew kämmt sich mit den Fingern ihre tiefschwarzen Haare aus dem Gesicht und nickt. »Hört sich gut an.«

»Na dann mal los«, fordere ich sie sanft auf. Seite an Seite folgen wir dem Flur. Dem Himmel sei Dank, mein Fluchtinstinkt ist ebenfalls wieder runtergefahren und ich kann mich ein wenig entspannen.

Ich kenne Drew Cavanaugh seit drei Jahren. Sie ist keine typische Studentin, sondern eher jemand, der mich extrem überrascht hat. Und das im positiven Sinne.

Anfangs dachte ich, okay, jetzt hast du einen Grufti in der Klasse. Na das kann ja heiter werden. Aber nein, ich habe mich zu Vorurteilen hinreißen lassen und wurde von ihr eines Besseren belehrt. In einem tollen Gespräch erklärte sie mir, dass Gruftis einfach nur den Style mögen. Sie gehöre, wenn, dann schon eher zu den Goth’s. Und dann informierte sie mich darüber, dass Gothic eine Lebenseinstellung ist. Vereinfacht ausgedrückt: Ein Goth setzt sich mit den dunklen Mythen und Philosophien auseinander. Damals war ich skeptisch. Dachte, und wo bitte liegt da jetzt der Unterschied?

Drew mag durch ihr Äußeres auf den ersten Blick hart und abweisend erscheinen, ist es aber in keinster Weise. Jeder, der sich auch nur die kleinste Mühe macht sie kennenzulernen, bemerkt es sofort. Ihr düsterer Eyeliner, die kinnlangen, glatten schwarzen Haare – die zu Hundertprozent gefärbt sind, denn mir ist das eine oder andere Mal ein blonder Ansatz aufgefallen, wenn ich neben ihr am Tisch stand, während sie etwas notierte –, die Piercings oder die Kleidung im Gothic-Style sind kein Statement an sich. Es ist einfach sie: Eine junge Frau, die einfühlsam, hilfsbereit und klug ist. Die sich aber auch nicht die Butter vom Brot nehmen lässt und für ihre Freunde oder besser gesagt, für ihren Freund einsteht. Ich würde Drews Stil nicht als Fassade bezeichnen. Er ist eben ihre Art sich auszudrücken. Sie will nicht vor irgendwelchen familiären Problemen fliehen, wie man anderen so oft nachsagt. Was wiederum nicht völlig von der Hand zu weisen ist. Aber bei ihr könnte ich mir das gar nicht vorstellen. Ich kenne die Cavanaughs. Ellen und Duncan sind die besten Eltern, die man sich nur wünschen kann. Und wie ich selbst schon erfahren durfte, setzt sich die Cav-House-Familie – so nennt Drew sie, wenn sie von ihnen spricht – aus einem bunten Haufen liebenswerter Menschen zusammen, die entweder verwandt oder befreundet sind und sich alle gleichermaßen umeinander kümmern. Mit ihren neunzehn Jahren lebt sie sogar noch bei ihnen und nicht in einer WG, was schon sehr erstaunlich ist und mehr beweist als tausend Worte.

Was andererseits ihren Freund angeht … Scott Forbes ist das absolute Gegenteil von ihr. Sie sind wie Yin und Yang. Und dennoch sehe ich sie jede freie Minute miteinander verbringen. Ich glaube mich sogar zu erinnern, dass die zwei von der allersten Stunde an einen Draht zueinander hatten. Inwieweit sich zwischen den beiden in den Jahren mehr entwickelt hat, kann ich nicht sagen. Und es ginge mich auch nichts an. Aber wenn ich raten müsste, würde ich darauf wetten, dass sie mittlerweile mehr als nur enge Freunde sind.

Aber zurück zu Scott. Der junge Mann ist … tja, wie drücke ich es am besten aus, ohne herablassend zu klingen? … Sagen wir es mal so: Er ist eine graue Maus, wie sie im Buche steht. Ein wissbegieriger Student, der auf den ersten Blick in die Nerd-Schublade passt. Allerdings bin ich mir bei ihm sicher, dass er, im Gegensatz zu Drew, einen Schutzwall um sich errichtet hat, und zwar einen meterdicken. Und ich gehe sogar noch einen Schritt weiter. Ich bin fest davon überzeugt, Drew ist die Einzige, die ihn wirklich kennt und der er sein wahres Ich offenbart. Na gut, abgesehen von seinem Bruder. Ich zerbreche mir schon seit langem den Kopf über ihn. Über Scott, nicht über seinen Bruder.

»Mr. Irvine?«

»Oh, entschuldigen Sie, Drew. Ich wollte Sie nicht totschweigen.«

Sie gluckst und entlockt mir damit einen erstaunten Blick. »Was?«

»Sie mit Ihren seltsamen Formulierungen.«

»Also, was wollten Sie mich fragen?«

»Ähm, nicht dass Sie denken, ich will Sie ausfragen oder so«, druckst sie herum. Plötzlich bleibt sie stehen und knetet ihre Hände.

Oje, da kündigen sich Probleme an.

Ich wende mich ihr zu und warte, bis sie mich ansieht. »Sie wissen doch, Sie können mich fast alles fragen. Also raus mit der Sprache.«

»Ich habe letztens im Internet recherchiert und bin da auf Sie gestoßen.«

»Okay.«

»Na ja, Sie sind natürlich über Google zu finden. Was ja klar ist, da Sie auf der Webseite des Colleges als Dozent aufgeführt werden. Aber das ist es nicht, was ich meine.«

Sie ist nicht die Erste, die so erfährt, womit ich meine Freizeit verbringe. Nur sind die Reaktionen sehr unterschiedlich. Das geht mit Erstaunen los und hört nicht selten mit abfälligem Kopfschütteln auf. Im optimalen Fall kommentarlos. Im schlimmsten Fall mit den Worten: »Du vergeudest deine Zeit.« Mittlerweile prallt es an mir ab und ich unternehme auch keine Versuche mehr, engstirnigen Menschen Verständnis entgegenzubringen, oder sie über meine Beweggründe in Kenntnis zu setzen. Die Energie stecke ich lieber ins Zentrum. Kein Einziger dieser Kleingeister wird mich oder die anderen Ehrenamtlichen je verstehen, ohne die Existenzgründe dieser Einrichtung am eigenen Leib erfahren zu haben.

Aber gut, zurück zu Drew. »Sie waren also auf der Seite vom Irvine-Center?« Selbst nach all der Zeit habe ich mich immer noch nicht mit der Namensgebung anfreunden können. Aber er wurde uns sozusagen über meinem Kopf hinweg verliehen. Und es gibt wichtigere Dinge, als sich darüber zu beschweren.

Drew nickt unmerklich und flüstert: »Ich finde es toll, was Sie da auf die Beine gestellt haben, Mr. Irvine.«

Ich sollte nicht so erstaunt sein, immerhin kenne ich sie. Aber dennoch bin ich es und starre sie mit offenem Mund an, bevor ich ein klägliches »Danke« hervorquetsche. Und dann kommt mir ein Verdacht. »Drew, gibt es einen Grund, nach dieser Art von Einrichtung zu suchen?«

»Wir sind uns nicht sicher.«

»Wer ist wir?«, ich winke ab, »Vergessen Sie, dass ich gefragt habe. Sie und Scott, liege ich richtig?«

Drew scheint es extrem unangenehm zu sein und ich kann sie nur für ihren Mut, mich darauf angesprochen zu haben, bewundern. »Womit sind Sie sich nicht sicher?«

Sie schaut mich aus ihren großen, dunkel umrahmten Augen an. »Sie dürfen es niemandem sagen. Denn wenn wir uns irren, wäre das für denjenigen …«

»Ich kann schweigen. Und Sie müssen mir auch keinen Namen nennen. Was kann ich also für Sie tun?«

»Wir haben doch nächste Woche unsere Abschlussfeier.« Drew verzieht das Gesicht. So viel dazu, dass sie sich darauf freut und gerne behilflich wäre. Ich kann es ihr nicht mal verübeln. Immerhin wäre ich nach unserem Auftritt auch lieber woanders. »Es sind ja auch sämtliche Verwandte eingeladen und werden mit Sicherheit alle anrücken.« Sie stöhnt. »Oh Mann, sie werden definitiv alle da sein.« Dann räuspert Drew sich. »Na jedenfalls, Scott und ich wollten Sie fragen, ob Sie sich uns nach dem offiziellen Teil zu Tee und Kuchen anschließen würden.«

»Sehr gern. Aber das beantwortet nicht meine Frage.« Und erneut trifft mich eine Erkenntnis. »Zu wem gehört derjenige?«

»Zu Scott.«

»Sein Bruder?« Blöde Frage. Ich bin ein Schwachkopf. Schließlich weiß ich, dass Scotts Familie nur aus ihm und seinem Bruder besteht.

»Ja, Wylie.« Bevor ich auch nur etwas erwidern kann, fährt sie fort: »Bitte, Mr. Irvine. Sie müssen sich nicht lange mit uns abgeben. Aber Scott macht sich Sorgen um ihn. Er ist seit Monaten seltsam drauf. Und na ja, ich mache mir Sorgen um sie beide. Ich würde ja mit meiner Familie reden. Aber …«

Ich lege beruhigend die Hand auf ihre Schulter. So aufgelöst habe ich sie noch nie erlebt. »Ich werde sehr gern etwas Zeit mit Ihnen verbringen. In Ordnung?« Sie muss mir nicht wortwörtlich sagen, was sie von mir erhofft. Mir ist klar, Drew will, dass ich mir ein Bild von Wylie Forbes, den Bruder und bis vor gut zwei Jahren Vormund ihres besten Freundes mache. Und genau das werde ich auch tun. »Aber Ihnen muss klar sein, dass ich mich mit ihm nur über unverfängliche Themen unterhalten werde.«

Erleichtert atmet Drew auf. »Oh, Gott sei Dank.«

»Richten Sie Scott bitte aus, er kann jederzeit zu mir kommen. Ich finde es zwar toll, dass Sie versuchen ihm beizustehen. Nicht dass Sie mich da falsch verstehen, Drew. Aber wenn er ein Vier-Augen-Gespräch vorziehen würde, bin ich gerne für ihn da. In Ordnung?«

»Ja, klar, Mr. Irvine. Vielen Dank. Das ist toll.«

Ich deute auf den Flur und zwinkere Drew zu. »Dennoch Lust mir zu helfen?«

Sie zuckt mit den Schultern und verzieht gleichmütig das Gesicht. »Wo ich schon mal hier bin. Klar, lassen Sie uns gehen.«

Und dann fällt mir noch etwas ein. »Warum haben Sie nicht Ihren Onkel Sidney gebeten, mit Scotts Bruder zu reden?«

Drew bekommt einen verkniffenen Gesichtsausdruck. »Sidney?! Um Himmels willen, dann kann ich Wylie auch gleich aufs Department schleifen.« Sie schaut erschrocken über ihre eigenen Worte auf. »Oh, das hat sich jetzt wohl etwas extrem angehört. So habe ich es gar nicht gemeint. Aber Sie kennen Sid nicht, er würde augenblicklich die Kavallerie auffahren. Und das will ich nicht riskieren, da wir uns ja nicht sicher sind, was mit Wylie eigentlich los ist. Wir haben nur Vermutungen. Verstehen Sie?«

Die Beschreibung von Inspector Sidney Fleming hätte treffender nicht sein können, weshalb ich mir ein Schmunzeln verkneife, ehe ich begütigend nicke. »War auch nur eine Frage«, gebe ich gelassen von mir, ohne näher darauf einzugehen, dass ich Sid und seinen Partner Neal besser kenne, als Drew offenkundig bewusst ist. Ja, ihre Familie hat keineswegs nur goldene Zeiten erlebt. Woher mein Wissen rührt? Sid ist einer von wenigen, denen ich mich vor Jahren in meiner verzweifelten Suche nach Hilfe anvertraut habe und der mir Glauben schenkte, ohne mir das Gefühl zu geben, ich wäre kein Mann. Dass es für sein Verhalten einen Grund gab, erfuhr ich erst sehr viel später. In meinem speziellen Fall konnte er mir nicht weiterhelfen – rein ermittlungstechnisch –, was aber im Nachhinein keine Rolle spielte. Wir blieben dennoch in Kontakt. Als Sid dann von meinem Vorhaben hörte, Männern, denen das Gleiche oder Ähnliches wie mir widerfahren ist, eine Anlaufstelle zu bieten, um sich mit Gleichgesinnten auszutauschen und psychologische, medizinische sowie rechtliche Betreuung zu finden, boten Sid und Neal sofort ihre uneingeschränkte Mithilfe an.

Das ist lange her und mittlerweile sind wir in der glücklichen Lage in allen wichtigen Bereichen Unterstützung anbieten zu können. Ich wäre damals froh gewesen, wenn sich mir diese Möglichkeiten geboten hätten. Aber gut, vom jetzigen Standpunkt aus betrachtet, kann ich nur sagen: Ich habe versucht, aus meinen schlimmen Erfahrungen etwas Gutes zu generieren. Und wer kann das schon von sich behaupten, nicht wahr? Bloß, all das hätte ich ohne Menschen wie Sid und Neal niemals umsetzen können.

 

~*~

 

BRÜDER

- Wylie -

 

»Scott, bist du zu Hause?«, rufe ich, nachdem ich unser gemeinsames Apartment betreten habe und die Schuhe mit einem erleichterten Seufzer von meinen dampfenden Füßen und in die Ecke kicke. Als Harvey, mein Chef und Inhaber des Port O’Leiths, mich vorhin fragte, ob ich heute eher Feierabend machen wolle, konnte ich gar nicht schnell genug die Kurve kratzen. Nicht dass ich den Job in Harveys Pub nicht mag, aber heute war echt die Hölle los. Und obwohl eben das der Fall war, wundert es mich umso mehr, dass er es mir überhaupt angeboten hat. Na ja, egal. Nicht hinterfragen. Genießen. Und genau das habe ich auch vor. Ich werde mich jetzt auf die Couch schmeißen, mir irgendeinen Film reinziehen und einfach mal nichts tun.

»Wo sollte ich denn sonst sein?«, höre ich meinen Bruder aus dem Wohnzimmer murmeln.

»Blöde Frage, es ist Freitag. Ich dachte, du würdest dich mit Drew treffen.« Meine dünne Stoffjacke landet an der Garderobe, die sage und schreibe aus zwei in die Wand geschlagenen Nägeln besteht. Zu mehr wäre eh kein Platz, da der Flur, wenn man ihn denn überhaupt so bezeichnen kann, gerade mal so groß ist, dass ich mir die Ellenbogen anschlagen würde, sollte ich auch nur ein wenig die Arme vom Körper abspreizen. Aber gut, jeder Keller in Portobello ist besser, als das Wohnklo, in dem wir bis vor ein paar Jahren in Wester Hailes mit unseren Erzeugern gelebt haben. Von daher eine Verbesserung um mindestens tausend Prozent. Zumal unser Apartment kein Keller, sondern ein Garagenausbau ist, den wir von einem liebenswerten, älteren Ehepaar angemietet haben, die anscheinend Mitleid mit uns hatten. Mr. und Mrs. Guthrie planten den Ausbau ursprünglich für ihren Enkel. Allerdings ging der nach Deutschland und tingelt nun dort als Gitarrist und Bandmitglied von einem Gig zum nächsten. Angeblich sollen sie sehr erfolgreich sein. Ich gönne es ihm und finde es toll, dass die Guthries stolz auf ihren Enkel sind, obwohl er sich in den letzten fünf Jahren nicht ein einziges Mal hier hat blicken lassen. Zugegeben, das wurmt mich mehr, als es sollte. Ich mochte die alten Herrschaften jedoch von Anfang an und wäre froh gewesen, wenn sie Scotts und meine Großeltern hätten sein können.

Zurück zum Apartment. Klar, erschwinglich ist relativ. Aber selbst Studentenbuden kosten im Schnitt zwischen 150 und 195 Pfund in der Woche. Edinburgh ist eben kein billiges Pflaster. Wir sind mit unseren 500 Pfund im Monat mehr als gut bedient. Als Gegenleistung helfen Scott und ich im Garten aus, seitdem Mr. Guthrie vor zwei Jahren nach langer Krankheit im Alter von 92 seine Frau Elenore zurückließ. Die Frau ist ein wahrer Schatz und hat es nicht verdient, von ihrer Familie dermaßen vergessen zu werden.

Sie erinnert mich immer an Estelle Getty. Mrs. Guthrie ist genauso zierlich, quirlig und direkt wie die alte Dame aus der Serie Golden Girls. Die taffe Lady beklagt sich nie und hat immer eine Erklärung parat, warum ihre Tochter und ihr Schwiegersohn mal wieder nicht kommen konnten, obwohl sie es seit Wochen angekündigt hatten.

Was uns betrifft. Tja, eigentlich dachte ich damals, als Scotts Vater sich nach zig Jahren des ungezügelten Alkoholkonsums das Hirn und die Leber kaputt gesoffen hatte und das Zeitliche segnete, es würde endlich alles gut werden. Wirklich, alles wäre besser gewesen, als noch eine Woche mit diesem aggressiven Arschloch unter einem Dach zu leben. Und wäre Scott nicht gewesen, hätte ich sicher längst das Weite gesucht. Schließlich kam es ganz anders.

Im Nachhinein verstehe ich nicht, warum ich es nicht habe kommen sehen. Denn kaum war mein Stiefvater unter der Erde, packte Mutter ihre sieben Sachen und verschwand spurlos aus unserem Leben. Scott war fünfzehn, im Begriff trotz aller Widrigkeiten einen super Schulabschluss hinzulegen und hatte somit eine Chance auf ein Stipendium. Ich war zweiundzwanzig und arbeitete bereits seit Jahren im Supermarkt. Für mehr hat es leider nie gereicht. Ich will mich nicht beklagen, solange ich Scott damit eine normale Zukunft ermöglichen kann.

Ist es nicht erstaunlich, was einem innerhalb weniger Sekunden durch den Kopf geht? Immer noch besser, als an Dinge zu denken, die dich runterziehen, sage ich mir selbst und ändere sofort die Richtung, in die meine Gedanken abschweifen wollen. Wie ich feststellen muss, fällt mir das in letzter Zeit immer schwerer.

Als ich mich zu Scott aufs Sofa geselle, mustere ich ihn einen Moment, kann aber nicht erkennen, was ihm durch den Kopf geht. »Scotty, was ist los?«

Er zuckt mit den Schultern, wendet jedoch nicht den Blick von der Mattscheibe.

»Stress mit Drew?«, rate ich. Wobei ich mir das nicht vorstellen kann. Die zwei haben sich gesucht und gefunden. Sagt man doch so, oder?

»Quatsch. Mit Drew ist alles in Ordnung. Wie kommst du nur auf diesen Blödsinn?« Natürlich reagiert er sofort, wenn es um Drew geht. Der Junge ist sowas von verknallt in seine Freundin. Irgendwie total süß. Wenn er mir nur nicht so leidtun würde. Sie kennen sich jetzt schon seit drei Jahren. Drew ist ein tolles Mädchen. Er hätte keine Bessere finden können. Aber er hat es bisher nicht gepackt, ihr zu sagen, was er für sie empfindet.

Als sein großer Bruder sollte ich ihm Tipps geben. Wenn ich nur nicht die absolut schlechteste Adresse dafür wäre. Ich bin der Letzte, der ihm dahingehend Ratschläge erteilen sollte und das nicht nur, weil ich vom weiblichen Geschlecht keinen blassen Schimmer habe. Somit halte ich lieber meine Klappe und hoffe, er findet endlich den Mut, mit Drew darüber zu reden. Ich verstehe nur nicht, warum er so ängstlich ist. Ich meine, man braucht die zwei nur fünf Minuten zusammen beobachten und es ist sonnenklar, dass Drew Scotts Gefühle erwidert.

Aber wie gesagt, ich bin in dieser Angelegenheit kein guter Ansprechpartner. »Was ist es dann?«, stichele ich weiter.

»Menschenskind, Wylie! Ich wollte einfach nur in Ruhe den Film gucken. Okay?« Plötzlich setzt er sich auf und schaut mich entgeistert an. »Und was zum Teufel tust du überhaupt schon hier?«

Ich quäle mich von der Couch hoch und schlurfe zur Küchenzeile, die im Wohnbereich integriert ist. Wie schon erwähnt: Beengte Verhältnisse bedeuten, alles muss auf engstem Raum effizient verstaut werden. Zumindest hat noch ein kleiner Esstisch mit drei Stühlen Platz gefunden, damit wir nicht am Wohnzimmertisch essen müssen. »Ist noch Bier da?«, frage ich, bevor ich den Kühlschrank öffne.

»Sicher. Hab heute Nachmittag welches mitgebracht. Agnes hat es mir in die Hand gedrückt und gemeint, es läuft bald ab. Und bevor sie es entsorgen muss, können wir es auch trinken.«

»Nett von ihr.« Agnes ist unser beider Chefin. Da wir das Geld brauchen, arbeite ich nicht nur bei Harvey, sondern tagsüber im Sainsbury’s, wo ich Regale auffülle und stundenweise an der Kasse stehe. Klar, kein Traumjob, aber besser als gar nichts. Und ich habe mich dran gewöhnt.

Scott ist ebenfalls ein paar Stunden in der Woche dort, damit wir über die Runden kommen. Ich hätte es gern anders gehabt, aber das können wir uns leider nicht leisten. Mir wäre es lieber, er könnte sich voll und ganz auf sein Studium konzentrieren. Aber selbst wenn ich ihm gesagt hätte, er solle nicht jobben, hätte er mir einen Vogel gezeigt und gemeint: »Wir sind eine Familie. Ich kann genauso gut etwas für den Unterhalt beitragen wie du. Auch wenn es nicht viel ist.« Tja, was soll ich sagen? Ich bin unheimlich stolz auf meinen kleinen Bruder.

Mit zwei Büchsen Bier kehre ich zum Sofa zurück, lasse mich in die Polster fallen und lege meine Füße auf den Couchtisch. Ich reiche ein Bier Scott und öffne meins. Bevor ich es an meine Lippen setze, frage ich abermals: »Was ist dann los?«

»Echt, du nervst.«

»Okay, dann eben nicht. Oh, und ich bin schon hier, weil Harvey irgendwie den Samariter spielen wollte. Keine Ahnung, was mit ihm heute Abend los war. Er hat mich heimgeschickt, obwohl der Laden brummt.«

»Harvey ist kein Samariter. Er sieht nur, was ich sehe. Du bist fertig auf den Knochen und brauchst auch mal etwas Zeit für dich.«

»Wie auch immer. Ich beschwere mich nicht.«

In den nächsten Minuten sitzen wir schweigend nebeneinander und folgen der Filmhandlung. »Herrlich«, seufze ich, als ich tiefer in die Kissen rutsche.

»Boah, sag mal, willst du nicht erstmal duschen? Wenn ich Brillenträger wäre, würden jetzt meine Gläser beschlagen. Und du hast ein Loch im Socken!«, meckert Scott.

»Lass mich nur ein paar Minuten hier sitzen, dann verschwinde ich unter die Dusche. Bis dahin kannst du ja durch den Mund atmen, sollten meine Mauken wirklich so stinken.«

»Spinner!«, entgegnet Scott, lässt mich aber dann in Ruhe, sodass ich mich auf das Programm konzentrieren kann. Erst jetzt wird mir klar, was Scotty da überhaupt guckt. »Oh man, schon wieder Last Boy Scout

»Du musst ihn ja nicht mit ansehen. Außerdem finde ich Halle Berry spitze. Ihre Rolle ist nur viel zu kurz.«

»Ganz locker, Kleiner. Ich mag den Film ja auch. Aber sicher nicht wegen Halle«, frotzele ich und grinse Scott von der Seite an.

»Ja, schon klar. Jetzt erzähl mir aber nicht, du stehst auf Bruce Willis.«

Ich winke ab. »Ach Quatsch. Damon Wayans ist absolut heiß.«

Scott verzieht das Gesicht. »Bitte verschone mich mit Einzelheiten.«

Gespielt enttäuscht lehne ich mich zurück und murre: »Mit dir kann man nicht vernünftig reden. Ich glaube, wir müssen uns den Film mal mit Drew ansehen. Sie versteht mich garantiert.«

»Na das kann ich mir vorstellen«, grummelt Scott, kann sich aber ein Lächeln nicht verkneifen. Dann schaut er mich ernst an. »Ich habe heute mit Agnes geredet. Sie ist damit einverstanden, wenn ich in den Semesterferien ein paar Stunden mehr in der Woche komme.«

»Das musst du nicht. Und das weißt du auch.«

Scott verdreht die Augen und seufzt. »Schon klar. Aber bitte lass uns nicht wieder die gleiche Diskussion führen. Du kannst es eh nicht ändern. Ich hab schon zugesagt.«

»Hm.«

»Gut, dann ist das ja geklärt.« Entspannt verfolgt er den Film, ehe er wenige Augenblicke später vorsichtig fragt: »Du denkst dran, dass übermorgen die Jahresendfeier ist?«

Wenn Scott nicht mein Bruder wäre, hätte ich ihn schon längst zum Teufel gejagt, zumindest was diese unsäglichen schulischen Veranstaltungen angeht. Ich habe auf diese dämliche Abschlussfeier genauso viel Lust wie auf einen Zahnarztbesuch. »Sicher, Kumpel. Ich bin da.«

»Danke. Ich hoffe, dir ist klar, dass ich dir all das verdanke.«

»Blödsinn.«

Scott boxt mir sanft in die Seite. »Sei ruhig!«

»Okay, dann lass uns jetzt in Ruhe den Film gucken.«

 

*

 

»Hi, Wylie«, werde ich überschwänglich von Drew begrüßt, als ich mit Scott an meiner Seite bei ihr und ihren Verwandten ankomme, nachdem der offizielle Teil vorbei ist. Die Abschlussklasse wurde glanzvoll gefeiert und die restlichen Studenten in die Semesterferien entlassen.

Es ist nicht das erste Mal, dass ich Drews Familie auf einem Haufen antreffe. Denn immerhin war es schon das dritte Jahr für Scott und sie. Aber dennoch bin ich immer wieder aufs Neue überrascht. Nicht nur ihre Eltern und ihr Bruder sind anwesend. Da gibt es noch ihren Onkel Neal mit seinem Partner Sidney und einige andere, die sich in kleinen Grüppchen im Hintergrund halten und denen ich bisher sicher schon vorgestellt wurde, deren Namen ich mir aber nicht gemerkt habe. Daher gehe ich davon aus, dass es enge Freunde sind. Wäre es nicht so, hätte Drew mich schon über die verwandtschaftlichen Verhältnisse in Kenntnis gesetzt.

Drew umarmt mich kurz und tritt einen Schritt zurück. »Du kennst ja meine Eltern. Und an Neal und Sid erinnerst du dich bestimmt auch noch. Oder?«

Ich nicke Drew und ihrer Familie lächelnd zu. Klar kann ich mich erinnern. Ihr Onkel Neal ist ein schöner Mann, schätzungsweise Ende vierzig genau wie Sidney, der … na ja, ein wenig angsteinflößend wirkt. Seltsamerweise ist das jetzt das erste Mal, dass ich so über ihn denke. Im Grunde bin ich mir bewusst, dass er ein netter Kerl ist, der eine sehr direkte, aber sympathische Art hat und als Inspector arbeitet. Der Mann kann keiner Fliege was zuleide tun, außer Typen, die er hinter Schloss und Riegel verfrachtet. Nachdem ich ihn auf einigen von Drews erzwungenen BBQs im letzten Jahr schon etwas näher kennenlernen durfte, bin ich mir da absolut sicher.

Vor ein paar Wochen sind wir uns auf der Princes Street zufällig begegnet, woraufhin er mir nach einer kurzen, aber netten Unterhaltung seine Visitenkarte zuschob, als handele es sich dabei um etwas Illegales, und meinte, ich könne ihn jederzeit anrufen, sollte ich je seine Hilfe benötigen. Wie er darauf kam, mir dieses Angebot zu unterbreiten, erschließt sich mir immer noch nicht. Und jedes Mal, wenn ich über diese im Nachhinein seltsame Begegnung nachdenke … Wylie, komm sofort auf andere Gedanken, rufe ich mich geistig zur Ordnung. »Wo ist Jamie?«, erkundige ich mich bei Drew nach ihrem Bruder und versuche mich so abzulenken.

»Frag mich was Leichteres. Ich glaube, er hat vorhin einen seiner Kumpels getroffen.«

»Aha«, erwidere ich, als Scott sich an Drews Seite stellt und mich beide sonderbar ansehen. »Ähm, war übrigens ’ne tolle Aufführung, die ihr da auf die Beine gestellt habt. Ich wusste gar nicht, dass ihr zwei euch dermaßen für englische Literatur begeistert.« Rückblickend würde ich sagen, dass ihre kleine Darbietung eine Hommage an Sir Walter Scott war.

»Scott ist ein begnadeter Schriftsteller gewesen«, wird mir meine Annahme von Drew bestätigt. »Er war nicht nur ein Verfechter für Verständnis und Toleranz. Er wird sogar als Begründer des Geschichtsromans verehrt. Und wusstest du, dass er zu den Freimaurern gehörte?« Drew geht total in ihrem Vortrag auf und glüht vor Begeisterung. Als sie die Blicke ihrer Eltern bemerkt, läuft sie rot an und zuckt verlegen die Schultern. »Na ja, ist zwar nur ein Nebenfach, aber Mr. Irvine ist ein klasse Dozent. Ich glaube, bei ihm wäre selbst Betriebswirtschaft interessant.«

»Wird hier gerade über mich geredet?«, höre ich eine sanfte Stimme hinter mir fragen.

Wenn man vom Teufel spricht. Ihn würde ich überall wiedererkennen. Craig Irvine wäre in einem anderen Leben mein Traummann schlechthin. Natürlich sind auch wir uns bereits einige Male über den Weg gelaufen. Denn immerhin unterrichtet er Drew und Scott. Aber wie gesagt, mir war nicht klar, dass die zwei sich so sehr einbringen. Denn wie Drew schon erwähnte, zählt es nicht zu den Hauptfächern. Aber was weiß ich schon. Ich war nie auf einer Uni. Weshalb ich nicht mitreden kann.

»Hallo, Mr. Irvine. Der junge Mann hat vollkommen recht. Einen kleinen Abriss über ausgewählte Szenen aus Scotts Werken auf die Bühne zu bringen, war eine wunderbare Idee.«, wendet sich Drews Mom ihm zu und schüttelt ihm enthusiastisch die Hand.

Sein Lächeln könnte Stahl schmelzen. »Ohne meine Studenten wäre es überhaupt nicht machbar gewesen. Folglich gilt der Dank wohl eher ihnen als mir.«

»Da haben Sie bestimmt recht. Dennoch hatten Sie das Zepter in der Hand, stimmt’s? Also nehmen Sie ein ernst gemeintes Kompliment einfach mal an«, entgegnet Mrs. Cavanaugh liebenswert, aber mit einem leicht tadelnden Unterton, ehe sie ihren Blick in die Runde schweifen lässt. »Ihr Lieben, entschuldigt mich einen Moment, ich schau mal, wo sich Jamie rumtreibt.«

»Schatz, hier wimmelt es nur so von netten und fürsorglichen Menschen. Lass ihm doch ein bisschen Freiraum. Jamie wird schon nichts anstellen.« Drews Dad schiebt seiner Frau den Arm unter ihre rote Lockenpracht und um die Schultern, um ihr einen Kuss auf die Schläfe zu drücken.

»Mom, Dad hat vollkommen recht«, pflichtet Drew ihrem Dad bei.

»Na gut. Aber ich sag euch eins, wenn er ein Labor in die Luft jagt, könnt ihr die Suppe auslöffeln«, grummelt sie mit einem feinen Lächeln auf den Lippen.

»Oh Gott, Mom, er ist zwölf und nicht fünf. Aber beruhige dich, ich hatte eh vor mit Scott und Wylie das Buffet zu stürmen und halte die Augen offen. Ich kippe gleich um vor Hunger. Mr. Irvine, wollen Sie sich uns anschließen?«

»Eine sehr gute Idee«, bestätigt der Mann, als hätte er nur auf die Frage gewartet.

»Neal, Sid, wir reden nachher, okay? Übrigens freu ich mich, dass ihr hier seid.« Drew eilt zu ihnen und drückt jedem einen Kuss auf die Wange. Was ihr ein wenig schwerfällt, da sie wie ihre Mutter eher klein ist.

Neal zieht sie zu ihrer offensichtlichen Überraschung in eine feste Umarmung und flüstert: »Jederzeit, mein Schatz. Und ich bin so stolz auf dich.« Dem Mann stehen doch tatsächlich Tränen in den Augen.

Und dann fällt mir wieder ein, was mir Scott erzählt hat. Drew war gerade drei Jahre alt, als Neal sie und ihre Mutter in einer Hauruck-Aktion aus Glasgow geholt und nach Edinburgh gebracht hat, um sie aus den Fängen von Drews Vater zu holen.

Wenn ich so etwas höre, überkommt mich abgrundtiefer Hass gegenüber diesem Abschaum der Menschheit. Und mir wird erschreckend bewusst, wie viel Elend es gibt. Missbrauch, in so vielfältiger Art, dass einem übel wird, wenn man nur darüber nachdenkt. Und das Schlimme ist, vieles geschieht unter dem Deckmantel einer liebenden Familie. Physisch und psychisch werden Kinder oder Partner unterdrückt und gequält, die nicht die leiseste Chance haben, dem zu entrinnen. Sicher, als Erwachsener bieten sich eher Möglichkeiten. Man muss diese jedoch erst einmal erkennen und dann den Mut finden zu ergreifen. Aber als Kind … Verdammte Scheiße! Ich kenne diese Situation aus eigener Erfahrung.

Eine Beziehung ist selten von Anfang an so verkorkst. Es ist ein schleichender Prozess, der mit Kleinigkeiten beginnt, die der dominierte Partner aus diversen Gründen entschuldigt, bis es dann irgendwann zu spät ist. Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich unserer Mutter in gewisser Weise verzeihen kann, auch wenn ich nicht verstehe, warum sie Scotts Vater nicht schon vorher verlassen hat. Sie wollte offenbar einfach nur weg. Dass sie so aber einen Jugendlichen zurückließ, der sie mehr denn je gebraucht hätte, ist ihr in dem Moment nicht in den Sinn gekommen.

Es ist, wie es ist. Zum Glück haben wir unser Leben allein auf die Reihe bekommen und nie wieder etwas von ihr gehört. Was Scott betrifft, er schweigt sich über sie aus. Und da es ihm scheinbar gut damit geht, akzeptiere ich das voll und ganz.

»Mr. Forbes?«

Ein Prickeln rieselt mir über den Nacken, als Scotts Dozent mich mit leiser, sanfter Stimme aus meinen Überlegungen reißt. Ich schaue auf und bemerke, wie mich alle Umstehenden besorgt mustern. »Ähm, ja?«

»Drew und Scott sind schon vorgegangen.«

Gott, wie peinlich. Ich muss wie ein Trottel in der Gegend gestanden haben. Ich lächle Drews Mom zu. »War schön, Sie zu sehen, Mrs. Cavanaugh. Ich …«

»Hatten wir uns nicht bereits darauf geeinigt, dass Sie Ellen sagen sollen?«

Oh, hatten wir? Muss mir entfallen sein. »Entschuldigung. Also Ellen, es war toll, Sie zu sehen«, berichtige ich mich und drücke für eine Sekunde ihren Arm. »Mr. Cavanaugh.« Dem Rest nicke ich höflich zu und bin froh, mich vom Acker machen zu können – auch wenn ich es an der Seite des Mannes tue, der mir allein durch seine Anwesenheit den Verstand zu vernebeln scheint. Eine Tatsache, die mich massiv verunsichert.

»Wylie, ich hoffe, wir sehen uns bald wieder«, ruft mir Drews Dad hinterher.

Ich winke ihm zu und versinke in Schweigen.

»Wir müssen hier entlang, Mr. Forbes«, setzt mich mein Begleiter nur Augenblicke später in Kenntnis, ehe er die Hand hebt, um mich offensichtlich am Ellenbogen in die andere Richtung dirigieren zu wollen.

NICHT ANFASSEN! Ein panischer Gedanke, der schlagartig von mir Besitz ergreift und mich mitten in der Bewegung erstarren lässt. Mir muss die pure Angst ins Gesicht geschrieben stehen, denn er hält sofort inne und schenkt mir ein beruhigendes Lächeln, als würde er sagen wollen: »Alles gut. Ich tu dir nichts.« Aber warum sollte er so etwas denken?

Als wäre überhaupt nichts vorgefallen, fragt er: »Sie kennen die Cavanaughs?« Dann winkt er ab. »Dumme Frage. Drew und Scott sind ja schon ewig befreundet. Da bleibt das wohl nicht aus.«

Ich räuspere mich und bin erleichtert, dass er sich nicht danach erkundigt, was eben in mir vorgegangen ist. Wie hätte ich es auch erklären sollen? Ich kenne den Grund. Aber ich begreife immer noch nicht, dass ich es einfach nicht aus meinem System bekomme. Verdammte Scheiße, ich bin ein Mann und sollte es langsam in den Griff kriegen! Ich atme einmal tief durch und begebe mich gesprächstechnisch auf einen sicheren Pfad. Smalltalk ist keine schlechte Idee. Und die Cave-House-Familie bietet genügend Stoff für stundenlangen Tratsch. Natürlich nicht im negativen Sinn, eher im bewundernden. »Ja, sie sind schon toll. Scott ist gerne bei ihnen. Ich kann es ihm nicht verübeln.«

»Ach kommen Sie, sind Sie etwa eifersüchtig?« Irvine zwinkert mir zu.

»Eifersüchtig? Ganz sicher nicht. Ich bin ja froh, dass Scott so herzlich bei ihnen aufgenommen wurde.« Er war schon immer ein sehr introvertierter Mensch. Was nicht zuletzt auf seinen Charakter, sondern eher auf unser beschissenes Elternhaus zurückzuführen ist.

»Und was ist mit Ihnen?«, fragt er mich derart direkt, dass ich schlucken muss.

»Was soll mit mir sein?«

»Ich glaube, Sie wären dort genauso willkommen wie Ihr Bruder.«

»Möglich«, gebe ich kleinlaut zu. Die Cavanaughs haben mich in den letzten Jahren nicht nur ein oder zwei Mal eingeladen. Doch was soll ich bei ihnen? Ich gehöre nicht dazu. Das habe ich schon vor sehr langer Zeit verstanden und akzeptiert.

»Mr. Fleming, der Partner von Drews Onkel wirkt zwar manchmal etwas furchteinflößend, aber das täuscht.«

Wie zum Geier kommt er denn jetzt bitte darauf? »Na ja, er wäre sicher nicht der Lebensgefährte von Neal, wäre das nicht der Fall.«

»Richtig.« Irvines Blick ist dermaßen eindringlich, ich fühle mich auf beunruhigende Weise wie eine Amöbe unter dem Mikroskop – klein und durchschaubar.

Ich deute mit einem Kopfnicken zum Buffet, das wir soeben erreicht haben. »Wir sollten uns ranhalten, sonst gehen wir leer aus.«

»Gute Idee«, stimmt er mir beherzt zu und lässt somit das Thema fallen.

So viel dazu, dass wir nur Smalltalk betreiben und es ungefährlich wäre. Ich werde es doch wohl schaffen, ein paar Minuten so zu tun, als wäre ich nicht total durchgeknallt, oder? Ich meine, im Port O’Leath bekomme ich es doch auch irgendwie hin, nicht wie ein paranoider Narr durch die Gegend zu schleichen und bei jedem Mann, der ungewollt in meine Komfortzone eindringt, das ängstliche Kätzchen zu mimen.

Ich ergattere einen Teller zwischen zwei plaudernden Damen hindurch und entscheide mich für ein bereits dick mit Butter bestrichenes Crumpet. Mein Begleiter folgt meinem Beispiel, beißt herzhaft hinein und nuschelt: »Gute Wahl. Nichts geht über einfache Küche.«

Dem kann ich nur zustimmen. »Ich könnte nie etwas essen, bei dem ich nicht weiß, was es ist.«

»Oh Gott, ja. Ich war mal mit einem Bekannten in einem dieser total angesagten Restaurants. Dort wird diese komische Art der Zubereitung angewendet. Wie heißt sie noch gleich?«

»Molekularküche?«

»Ja, genau. Jedenfalls sah alles sehr spannend aus. Die Farben und die Konsistenz der einzelnen Bestandteile, verstehen Sie? Aber dennoch war ich skeptisch. Es wirkte alles so unnatürlich, als wäre es geradewegs aus einem Sciencefiction-Film entsprungen. Es waberten sogar Nebelschwaden über dem Teller. Im Ernst, wenn ich erst warten muss, bis sich das schlechte Wetter verzogen hat, um an mein Essen zu kommen …«, Irvine winkt ab. »Ist eine Erfahrung, die ich nicht unbedingt wiederholen muss.«

Er ist witzig und bringt mich zum Lachen. »Oh, das wäre auch nichts für mich.«

Das Gespräch verebbt und wir stehen kauend nebeneinander. Dieses Schweigen ist jedoch nicht unangenehm, stelle ich fest, während wir Studenten und deren Angehörige beobachten. Um uns herrscht ausgelassenes Treiben und eine Welle locker-leichter Stimmung schwappt zu uns herüber. Seltsam, aber sie ist irgendwie ansteckend. Denn unversehens grinsen wir uns ohne einen triftigen Grund an.

Um ehrlich zu sein, eine ungewohnte Aktion für mich. Und es fühlt sich merkwürdig an, als wären meine Wangenmuskeln total irritiert und überfordert. Es ist lange her, dass ich mich mit einem Fremden so unbeschwert gefühlt habe. Ich darf mir nichts vormachen. Mir ist absolut klar, was oder besser gesagt, wer der Grund ist. Craig Irvine strahlt eine extreme Vertrauenswürdigkeit aus, ich kann gar nicht anders, als mich in seiner Gegenwart zu entspannen. Nicht vollends, aber mehr als in den vergangenen Monaten. Ich habe keinen Plan, wie lange ich ihn so ansehe, doch plötzlich weiten sich seine Augen, als wäre er über irgendetwas erstaunt, um dann übers ganze Gesicht zu strahlen, als hätte ich etwas Außergewöhnliches gesagt oder getan.

»Oh, da seid ihr ja. Mr. Irvine, ist es okay für Sie, wenn wir Wylie noch etwas in Ihrer Obhut belassen?«, fragt Drew mit einem verschmitzten Grinsen. Wie aus dem Nichts ist sie neben uns aufgetaucht und hat mich beinahe zu Tode erschreckt. Scott steht hinter ihr und mustert mich wieder so seltsam, wie er es in letzter Zeit häufig tut. Was hat er nur? Er kann nichts von alldem wissen. Und ich habe mich in seiner Gegenwart immer im Griff, denke ich zumindest.

Irvine wirft mir einen fragenden Blick zu. »Wegen mir gerne. Mr. Forbes, was halten Sie davon, wenn wir uns noch einen Eistee besorgen und ich Ihnen den wundervollen Campuspark zeige. Oder kennen Sie den schon?«

Ich schüttle den Kopf. »Bisher war ich nur im Gebäude unterwegs.« Dann wende ich mich Scott zu. »Was habt ihr vor?«

Schlagartig färben sich seine Wangen rot und mir geht ein Licht auf. Heiliger Strohsack. Ist heute etwa der Tag aller Tage? Will er Drew endlich die Augen öffnen? Himmel, ich kann ihm jetzt nicht in den Rücken fallen.

Ohne auf eine Antwort der beiden zu warten, nicke ich Irvine zu. »Eistee hört sich gut an. Und ich wollte schon lange mehr vom College sehen. Wer weiß, vielleicht irgendwann …« Was erzähle ich da eigentlich für eine Scheiße? Ich bin sechsundzwanzig und werde garantiert nie wieder die Schulbank drücken. Nicht dass ich das von vornherein ablehnen würde. Aber mal ehrlich, es wäre mehr als peinlich, als angehender Greis zwischen Jugendlichen zu hocken.

»Oh, das finde ich wundervoll«, jubelt Drew.

Was mich dazu animiert, sie misstrauisch zu beäugen. Was soll das? Dieses Girligetue ist absolut untypisch für sie. Na ja, ich werde es wohl nicht hier und jetzt herausfinden. »Geht ihr nur. Mir wird schon nicht langweilig. Wollt ihr komplett verschwinden?« Ich hole den Autoschlüssel meines in die Jahre gekommenen Vauxhalls hervor. »Hier, ich komme schon irgendwie heim.«

»Nein, lass nur«, wiegelt Drew ab, »meine Eltern fahren uns später noch zu einer Party.«

Der Schlüssel verschwindet wieder in der Jeans. »Oh, na dann. Wir sehen uns. Und habt viel Spaß.«

Drew drückt mir einen Kuss auf die Wange und verabschiedet sich von Irvine mit einem vielsagenden Blick. Vielsagend für die beiden, denn mich verwirrt er nur. Was wird hier gespielt?, frage ich mich in den letzten zwanzig Minuten sicher schon das vierte oder fünfte Mal.

 

~*~

 

FEHLSCHLAG

- Craig -

 

Wir besorgen uns die Getränke und schlendern in Richtung Durchgang zum Innenhof. Die ganze Sache wird mir langsam unangenehm. Natürlich hatte ich versprochen, ein Auge auf Scotts Bruder zu werfen. Und die Sorgen von Drew und ihm sind nicht von der Hand zu weisen. Wylie zeigt eindeutige Reaktionen, die darauf hinweisen, dass ihm irgendetwas zugestoßen sein muss. Was? Da kann ich nur spekulieren. Aber ich mag ihn und würde ihm gern helfen. Von Scott und Drew jetzt so plump hängengelassen zu werden, gefällt mir allerdings überhaupt nicht.

Zu meiner Überraschung sind wir plötzlich unter uns, als wir den kleinen Campuspark betreten. Weit und breit keine Menschenseele in Sicht. Die meisten sind eh auf der Feier.

Ich weiß, es geht mich im Grunde nichts an und ich sollte die Klappe halten, aber ich möchte Wylie auch nichts vorspielen, weshalb ich nach einigen Metern stehen bleibe und warte, bis er mich ansieht. Sein Blick ist nicht nur misstrauisch, sondern schlagartig verschlossen.

Ich hole Luft. »Wissen Sie …«

»Spucken Sie’s schon aus«, unterbricht mich Wylie ruppig.

Verdammte Scheiße! Ich winde mich innerlich wie ein Aal. »Es tut mir leid. Aber ich muss Ihnen etwas beichten.« Und mir ist es lieber, ich frage ihn direkt, als mich in Mutmaßungen zu ergehen.

»Drew und Scott?«, trifft er mitten ins Schwarze.

»Ja.«

Wylie mustert seinen Eistee und nickt. »Tja, ich hab’s mir fast gedacht. Sie haben sich seltsam benommen. Also, worum geht es?«

»Sie machen sich Sorgen um Sie«, gebe ich offen zu.

»Und anstatt mich persönlich darauf anzusprechen, heuern die zwei ihren Dozenten an?«

»Es tut mir wirklich leid, Wylie. Mir ist klar, dass ich nicht das Recht habe, mich in Ihre Angelegenheiten zu mischen. Aber nun habe ich mich auf diese Sache eingelassen und will Ihnen nichts vorspielen. Darf ich fragen, wie es Ihnen geht?«

Wylies Miene verfinstert sich und ich sehe abgrundtiefe Abscheu aufblitzen. Allerdings glaube ich nicht, dass sie gegen mich gerichtet ist. Er starrt eine gefühlte Ewigkeit an mir vorbei in die Ferne, als würde er ernsthaft darüber nachdenken, mir zu antworten. Die Wangenmuskeln zucken. Seine Körperhaltung ist angespannt, als bereite er sich auf eine Flucht vor. Unvermittelt drückt er mir sein Glas in die Hand und grollt: »Richtig, Sie haben nicht das Recht dazu.« Dann macht er auf dem Absatz kehrt und lässt mich ohne ein weiteres Wort stehen.

Als er aus meinem Blickfeld verschwindet, schließe ich die Augen und kann nicht fassen, wie unprofessionell ich mich verhalten habe. »Mist«, murmle ich. Ich bin so ein Blödmann. Haben mich all die Gespräche mit Opfern und meine eigene Erfahrung nicht gelehrt, dass die Holzhammermethode ineffizient ist?

Mit zwei immer noch randvoll gefüllten Gläsern kehre ich zum geselligen Treiben zurück und finde diese aufgesetzte Sorglosigkeit einfach nur lächerlich. Und auch wenn ich es besser weiß, denn sie ist nicht aufgesetzt, zumindest nicht bei allen, kommt mir die Galle hoch, wenn ich darüber nachdenke, wie viele Männer sich möglicherweise in diesem Moment hier unter den geladenen Gästen befinden, die mit ihren inneren Dämonen kämpfen.

Da sie ihrer Ansicht nach nicht dem männlichen Leitbild entsprechen, fühlen sie sich klein und schwach. Ein Bild, das der Gesellschaft vorgaukelt: Männer werden nicht missbraucht. Männer behalten immer die Oberhand. Männer weinen nicht.

Die wenigsten Außenstehenden erkennen, wie schlecht es ihnen geht. Bis zu einem bestimmten Grad sind Opfer fähig den Schein von Normalität aufrechtzuerhalten. Kollegen und Bekannte bemerken gegebenenfalls nur einen Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben, was dann damit entschuldigt wird, viel zu tun zu haben, denn der Job hätte schließlich Priorität. Jeder Einzelne entwickelt einen gewissen Perfektionismus darin, Ausreden zu erfinden.

Nahe Verwandte wie Scott erkennen zwar Veränderungen im Verhalten oder im Wesen, fühlen sich jedoch machtlos, da sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit seichten Erklärungen hingehalten, schlimmstenfalls rüde abgeschmettert werden.

Aber selbst wenn Opfer über ihren eigenen Schatten springen und den Mut aufbringen, sich zu öffnen, fehlen qualifizierte Ansprechpartner, die Betroffene ernst nehmen und ihnen Wege aufzeigen, ihre entsetzlichen Erlebnisse zu verarbeiten und medizinischen und rechtlichen Beistand anbieten. Es existieren so gut wie keine Anlaufstellen für den Austausch mit Gleichgesinnten. Denn auch Jahre später ist es wichtig, zu wissen, an wen man sich wenden kann, sollte es einem wieder schlechter gehen.

Wie gesagt, ich spreche aus Erfahrung. Als ich missbraucht und verletzt in einer dunklen Seitengasse zurückgelassen wurde und es tatsächlich noch schaffte, mit meinem Handy den Rettungsdienst zu rufen, hatte ich Schmerzen und fühlte mich zutiefst beschämt. Eine irrationale Angst, wie die Sanitäter reagieren würden, paralysierte mich zusätzlich zu dem, was mir angetan wurde. Aber mir blieb keine andere Wahl.

Ich bin überzeugt, ich wäre neben dem stinkenden Mülleimer verreckt. Und auch wenn ich den Anruf in den Monaten danach mehr als einmal bereute und verteufelte, bin ich heute froh, ihn getätigt zu haben.

Als der Krankenwagen eintraf … Ich kann mich noch an die Blicke der Sanis erinnern, als wäre es gestern gewesen und nicht bereits sieben Jahre her. Sicher, sie versuchten professionell zu wirken. Dennoch war ihre Unsicherheit erschreckend. Sie versorgten für den Anfang meine Verletzungen und brachten mich zum Rettungswagen. In der Zwischenzeit fuhr ein Streifenwagen vor und zwei Cops traten an meine Seite, um meine Aussage aufzunehmen.

Ich fühlte mich beschmutzt, wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden. Fand aber dann doch noch den Mut, ihnen zu berichten, was vorgefallen war. Ihre ungläubigen Blicke, dieses halb versteckte, herablassende Lächeln des einen, werde ich in meinem ganzen Leben nicht mehr vergessen. Es war beinahe genauso schlimm wie der Übergriff an sich.

Später, nachdem ich vollgepumpt mit Schmerzmitteln im Krankenhausbett lag, waren es dann die Ärzte, die mir das Gefühl gaben, ich wäre selbst schuld an meiner Situation. Ich hätte schreien können vor Wut. Niemand glaubte mir, auch wenn sie es immer wieder beteuerten. Ich sah es ihnen an, hörte das Tuscheln, wenn sie annahmen, ich würde schlafen. Wurde ich wach, tat zwar jeder so, als bringe er mir Mitgefühl entgegen, aber in Wirklichkeit war genau das Gegenteil der Fall.

Mein Körper heilte. Meine Seele nicht.

Und obendrein wurde auch nicht für Gerechtigkeit gesorgt. Oh, sicher, ich wusste, wer mir das angetan hatte. Und er wurde auch vernommen. Aber er stellte es so dar, dass ich ihn angegriffen und er nur aus Notwehr zurückgeschlagen hätte. Und nein, es gab keine Zeugen.

Dass meine Verletzungen schwerwiegend waren, interessierte nicht. Und dass dieses Schwein mich vergewaltigt hatte, noch weniger. Ein Fakt, der trotz medizinischer Unterlagen totgeschwiegen wurde. Man riet mir, die Sache ruhen zu lassen. Es stände Aussage gegen Aussage. Zu diesem Zeitpunkt gab ich klein bei, sah keinen Ausweg.

Ich habe lange gebraucht, um mich aus diesem dunklen, zähen Sumpf voller Selbsthass und Selbstvorwürfe herauszukämpfen. Geschafft habe ich es erst, als ich in einem Internetforum für Betroffene einen Leidensgenossen kennenlernte, der mir die Adresse einer Psychiaterin hier in Edinburgh gab. Dr. Bridget Kincaid arbeitete damals bereits mit Traumapatienten und hatte Erfahrung mit Männern in meiner Lage.

Mit ihrer Hilfe verarbeitete ich Stück für Stück die Geschehnisse und lernte mit den Flashbacks umzugehen. Ein langer Weg, der im Grunde nie ein Ende findet, da ich auch heute noch mit den Folgen zu kämpfen habe. Je nach Tagesform mal mehr, mal weniger.

Es gab aber nur eins, das zählte und mir Kraft gab: Ich wollte ein Leben danach. Nicht irgendeins. Keins, in dem ich nur mein Dasein friste. Ich wollte wieder aktiv am Leben teilnehmen, meine Zukunft selbst gestalten und mich darauf freuen können. Keine leichte Aufgabe – für niemanden in meiner damaligen Situation. Nur was wäre die Option gewesen? Ich will gar nicht daran zurückdenken, wie oft ich mir wünschte, ich hätte den Mut, meinem Leben ein Ende zu setzen. Ich fühlte mich anfangs verraten und verkauft. Bis ich begriff, dass es eben doch Menschen gibt, denen ich am Herzen liege. Auch wenn meine Eltern nie erfahren haben, was geschehen war, wusste ich, sie lieben mich. Sie waren ein wichtiger Grund meine Gedanken nicht in die Tat umzusetzen. Ich konnte es ihnen einfach nicht antun. Tja, und dann war da noch Ally.

 

Ich atme tief durch, erinnere mich daran, wo ich mich befinde, und konzentriere mich auf das Hier und Jetzt. Zurück am Buffet stelle ich die Gläser ab und schaue mich kurz um. Es würde niemandem auffallen, wenn ich jetzt ginge. Mir ist die Lust abhandengekommen, auch nur eine weitere Minute zu bleiben.

»Hey, Hübscher!«, säuselt Ally mir ins Ohr, sodass ich um ein Haar einen Meter in die Luft gesprungen wäre.

»Himmel, Ally!«

»Und ich dachte, wir könnten den Abend nutzen und uns abseilen. Aber so wie du guckst …«

Ich verdrehe die Augen. »Wie guck ich denn?«

»Griesgrämig, als würdest du am liebsten jedem Einzelnen hier den Kragen umdrehen wollen.«

»Wo wolltest du denn mit mir hin? Willst du nicht Mairi ins Bett bringen?«, erkundige ich mich, ohne auf ihre Anspielungen einzugehen. Ihre Treffsicherheit ist wie immer beängstigend.

»Keine Ahnung wohin. Ich habe mich für den Abend bei Mairi und Russel abgemeldet.« Sie lehnt sich ein Stück zu mir und flüstert: »Und wenn du denkst, ich habe nicht bemerkt, dass du mich schon wieder ignorierst, hast du dich geschnitten.«

»Nur wir zwei?«

»Yep.«

Sehr gut. Ich wollte jetzt zwar nach Hause, doch ein Abend mit meiner besten Freundin ist sicher die bessere Alternative. »Bin dabei.«

»Spitze.« Ally wirft einen Blick in die Runde. »Lass uns gleich abhauen, solange die anderen beschäftigt sind.«

»Na dann mal los.«

Mit gesenkten Köpfen, als würden wir etwas aushecken, schleichen wir uns davon. Am Auto angelangt, bin ich heilfroh, dem Tumult entkommen zu sein. »Wo steht deins?«

»Russel hat mich hergefahren, nachdem ich ihm gesagt habe, ich will noch auf ein Bier.«

»Ein Mann mit Weitsicht«, necke ich sie.

»Richtig. Wobei er manchmal ein wenig übertreibt mit seiner Fürsorglichkeit.«

Wir steigen beide ein. »Hey, du sprichst mit mir. Ich weiß, dass du genau das an ihm so sehr liebst.«

»Aber wehe du verrätst es ihm.«

»Ich doch nicht.« Ich starte den Motor und fädle mich in den Verkehr ein.

»Und? Erzählst du mir, was los war?«

»Ist sicher keine gute Idee. Zumal ich mich wie der letzte Idiot verhalten habe.«

»Das wäre mir allerdings neu. Denn ein Idiot warst du noch nie. Du hast immer einen Grund, für das, was du tust. Also, was war diesmal der Grund?«

»Macht es dir was aus, wenn wir erst mein Auto wegbringen und in Portobello bleiben?« Dann kann ich mir heute nach langer Zeit mal so richtig einen hinter die Binde gießen und brauche mir keinen Kopf machen, wie ich nach Hause komme. Keine schlechte Idee.

Ally tätschelt mein Knie. »Sicher, Schätzchen. So schlimm, hm?«

Ungewollt entkommt mir ein tiefes Seufzen, ehe ich auf die Uhr im Armaturenbrett linse. »Es ist noch früh am Tage. Gehen wir ein Stück am Strand? Wir können ja dann im Esplanade einkehren.«

»Meinetwegen.« Ally hat wieder diesen besorgten Gesichtsausdruck aufgesetzt.

»Beruhige dich. So schlimm ist es nun auch nicht.«

»Wenn du es sagst.« Sie glaubt mir kein einziges Wort.

Wir biegen in den Milton Drive ein und fahren die kurze Auffahrt zu meinem Haus hinauf, um den Wagen an seinen angestammten Platz zu stellen. Von meiner Haustür bis zum Anfang des Portobello Beachs sind es keine dreihundert Meter. Andere würden es wohl eher als Ende bezeichnen, je nachdem von welcher Seite man es sieht.

Es ist später Nachmittag, als uns die Junisonne ihre abendlichen Strahlen auf den Pelz brennt. Sie ist für diese Jahreszeit schon ziemlich kräftig. Aber es weht uns ein frischer Wind um die Nasen. Und genau dieses Widersprüchliche mag ich so sehr. In einer Sekunde heiß, in der nächsten kühl. Einer der Gründe, warum ich mir vor ein paar Jahren mein neues Zuhause hier in diesem Teil der Stadt gesucht habe. Ursprünglich stamme ich aus Portree, die einzige größere Stadt der Isle of Skye. Ich wollte eigentlich nur fürs Studium nach Edinburgh, um dann als Lehrer an meine alte High School zurückzukehren. Nun ja, ich bin dem Tor zu Schottland, wie Edinburgh auch genannt wird, innerhalb kürzester Zeit verfallen. Und mich würden keine zehn Pferde mehr hier wegbekommen.

Meine Eltern waren nicht so glücklich mit meiner Entscheidung, haben sich jedoch recht schnell damit angefreundet. Wir sehen uns regelmäßig zu den Feiertagen. Wobei ich zugeben muss, dass ich es bin, der sie besucht. Wenn ich es zeitlich hinbekomme, schaue ich auch gerne mal einfach nur so bei ihnen vorbei. Sie haben es nicht so mit dem Reisen.

»Ich habe dich vorhin mit Drew und Scott bei den Cavanaughs gesehen. Der nette Kerl neben dir war doch Scotts Bruder, oder irre ich mich?«

Ich schüttle amüsiert den Kopf. »Seit wann bist du so durchschaubar? Du weißt doch ganz genau, dass er es war. Und wenn du darauf anspielst, ob mein idiotisches Verhalten mit ihm zu tun hat, liegst du wie immer vollkommen richtig.«

Ally runzelt die Stirn und lässt ihren Blick über den beinahe leergefegten Strand schweifen. Vereinzelte Kinder jagen sich gegenseitig bis zur Wasserlinie und zurück zur Uferpromenade, versuchen sich kichernd an den Klamotten zu fassen zu bekommen. Ally lächelt ihnen versonnen hinterher und sinniert: »Nicht mehr lange und ich muss Mairi an die Leine nehmen.«

»Ja klar, als ob das was bringen würde. Dein kleiner Wirbelwind fummelt so lange an den Verschlüssen, bis sie offen sind.«

Ally kichert. »Stimmt. War auch nur ein Scherz. Mir schwillt regelmäßig der Kamm, wenn ich Eltern sehe, die ihre Kinder wortwörtlich an der Leine führen.« Sie winkt schnaubend ab. »Egal.« Plötzlich bleibt sie stehen und schaut mich an, als hätte sie ein Geistesblitz getroffen. »Allerdings werde ich mir meinen Schatz am Wochenende schnappen und mit ihr herfahren. Russel hat mich schon vorgewarnt, dass die Baustelle kurz vor der Abnahme steht und er noch etliches zu Ende bringen muss. Also, wie sieht’s aus? Hast du Lust dich uns anzuschließen?«

»Oh, das wäre toll. Ich hab die Süße schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.«

»Ja, ich weiß. Sie vermisst dich schon so sehr. Erst gestern hat sie nach dir gefragt.«

Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Sie hat nach mir gefragt?«

»Na ja, nicht mit vielen Worten, du Schlaumeier. Ich hatte sie auf dem Arm, als ich sie ins Bett bringen wollte und sie zeigte auf das Bild im Flur. Du weißt schon, welches ich meine. Das, auf dem wir beide stolz mit unseren Diplomen angeben.«

»Ah.«

»Jedenfalls deutete Mairi mit einem Knubbelfinger darauf und sagte: Onte Craib.«

»Na toll! Hört sich immer noch an, wie etwas zu Essen«, scherze ich. Innerlich schwillt mir allerdings das Herz an. Ich liebe die Kleine abgöttisch. Und sie kommt so was von nach ihrer Mom. Wenn Mairi mir ihr süßes verschmitztes Lächeln schenkt, habe ich immer Angst, ich bekomme Löcher in den Zähnen, wenn sie mich zu lange anstrahlt.

»Was jetzt, beschwerst du dich etwa?«, foppt mich Ally und rempelt mich wie eins der Kinder von vorhin von der Seite an.

Ich bleibe wie vom Blitz getroffen stehen und starre sie entgeistert an, als sie lauthals lachend vor mir wegläuft. Ohne groß darüber nachzudenken, setze ich ihr nach und bekomme sie ein gutes Stück weiter die Promenade entlang am Arm zu fassen – Ally ist verdammt schnell –, packe sie bei den Hüften und wirbele sie im Kreis, bis sie vor Lachen nicht mehr kann und mich anbettelt, sie sofort wieder runterzulassen, da sie sonst Russel holt, der mich verhaut.

Das gibt mir den Rest und ich stimme in ihr sorgloses Gelächter mit ein. Meine Güte, wann haben wir uns das letzte Mal so kindisch verhalten? Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.

Es dauert einen Moment, bis wir uns beruhigen. Jetzt bin ich außer Atem, aber mir geht es gut. Ich spüre das Leben, wie es in mir kribbelt. Wie die Glückshormone sich ihren Weg suchen und mir ein wundervolles Gefühl verschaffen. »Danke.« Ich muss es unbedingt loswerden.

Wie immer weiß Ally, was in mir vorgeht. »Nicht dafür. Wenn es nur immer so einfach wäre, dich zum Lachen zu bringen.«

Ich lege ihr einen Arm um die Schultern, ziehe sie an meine Seite und schlendere mit ihr weiter am Strand entlang. »Du weißt, dass ich dich liebe, oder?«, flüstere ich ihr leise ins Ohr. Und es ist mein absoluter Ernst. Ohne sie wüsste ich nicht, wo ich heute wäre.

»Ich weiß, Schatz.«

Schweigend folgen wir dem Weg und genießen die abendliche Brise. Ich bin mir sicher, dass Ally mich nicht noch einmal fragen würde, aber ich möchte ihr dennoch erzählen, was heute vorgefallen ist. Ich warte aber lieber noch, bis wir im Esplanade sitzen und uns über Zwiebelringe und Erdnüsse hermachen, während wir bei gut gefüllten Gläsern Ale versumpfen. Gott sei Dank ist morgen Samstag. So wie früher stecken wir es eben doch nicht mehr weg. Unter der Woche bis in die Puppen im Pub abhängen und am nächsten Tag halbwegs fit seinem Job nachgehen? Undenkbar. Entweder sind wir aus der Übung, oder ich werde einfach zu alt für den Scheiß. Wieder flutscht mir ein kleiner Seufzer über die Lippen.

»Ja, du sagst es.«

Ich blicke auf Ally. »Ich hab was gesagt?«

»Nicht wirklich. Aber du hast so laut gedacht, dass ich weiß, was in dir vorgeht.«

»Und das wäre?«

»Dass wir alt werden. Aber weißt du was? Das ist mir schnurzpiepegal. Lass uns heute so richtig einen drauf machen. Notfalls kann Russel dich auch noch mitnehmen und nach Hause karren.«

»Oder du rufst ihn an und sagst ihm, dass du heute bei mir übernachtest.« Ehrlich, ich denke mir bei solchen Vorschlägen nichts. Ich liebe sie, wie schon gesagt. Sie ist meine Seelenverwandte. Aber zu mehr als einer innigen Umarmung und einem freundschaftlichen Kuss wird es zwischen uns nie kommen. Bevor es Russel gab, war es gang und gäbe, dass wir bei mir oder bei ihr übernachteten.

»Was soll’s, warum nicht?« Wir bleiben abrupt stehen und Ally fischt ihr Handy aus der Jackentasche. Sie zwinkert mir zu und schon muss Russel in der Leitung sein. »Russ, mein Schatz«, beginnt sie. Er scheint sie jedoch zu unterbrechen, denn sie verdreht die Augen und sagt dann. »Was soll das heißen? ›Wenn du schon so anfängst …‹«, imitiert sie gekonnt seine Stimme. Sie lauscht einen Moment und beißt sich auf die Unterlippe. Dann räuspert sie sich und sagt: »Aber sicher, mein Liebling.« Sie hält das Mikro zu und flüstert in meine Richtung: »Dieser Mann kennt mich viel zu gut. Er hat es schon erraten, worum ich ihn bitten will.«

Auch wenn Ally manchmal etwas ruppig wirkt, sobald es um ihren Gatten geht, weiß ich, dass sie ihn mit Zähnen und Klauen verteidigen würde. Die zwei haben sich gesucht und gefunden. Und ich bin so glücklich darüber, dass sie einen so guten Kerl wie ihn an ihrer Seite hat.

»Ja, Schatz, wir werden es nicht übertreiben, versprochen. Also, dann bis morgen. Und gib unserem Engel einen dicken Kuss von mir, ja?« Das Handy verschwindet in ihrer Jacke und sie grinst mich an.

»Was?«

»Ich soll dir was ausrichten.«

»Okay.« Ich kenne Russel und kann mir denken, was jetzt folgt.

Ally hakt sich bei mir unter. »Erstens lässt er dich grüßen und zweitens soll ich dir mitteilen: Sollte mich ein fremder Kerl auch nur von weitem angaffen und du lässt das zu, würde er dich deiner Männlichkeit berauben.«

»Ach, seit wann ist er denn so förmlich?«

»Na gut, wortwörtlich hieß es, er reißt dir die Eier ab, wenn du nicht auf mich aufpasst.« Ihre freie Hand wedelt in der Luft herum. »Ich hab doch gesagt, er übertreibt es.«

 

~ENDE DER LESEPROBE~

 

 

»Injured«

© 2017 Nele Betra

Impressum

Texte: Nele Betra
Bildmaterialien: shutterstock
Cover: Nele Betra
Lektorat: Brigitte Melchers
Satz: Nele Betra
Tag der Veröffentlichung: 29.10.2017

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