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Leseprobe Kapitel 1-3

Alles wie immer

 

- Rico -

 

Wach werden, aufstehen, ab ins Bad. Frühstücken, nebenher Zeitung lesen. Anschließend mit Mom in den Großmarkt fahren, um für das Morelli’s, unser familieneigenes Restaurant, einzukaufen, während Dad bereits in der Küche alles vorbereitet. Um elf öffnen wir die Pforten und die ersten Mittagsgäste treffen ein. Bis dahin habe ich reichlich zu tun, um die Tische einzudecken, da ich erst einmal allein den Service übernehme. Gegen vierzehn Uhr ist der erste Ansturm vorüber und Francesca, meine Zwillingsschwester, gesellt sich zu mir, damit wir gemeinsam wiederum alles für den Abend vorbereiten können. Das Abendgeschäft geht kurz vor achtzehn Uhr los und hält uns bis Mitternacht auf Trab. Wenn der letzte Gast verabschiedet ist, fahre ich heim, schau mir maximal einen Teil meiner Lieblingsserie an, um kopftechnisch abzuschalten, und falle selten vor eins ins Bett.

Tagein, tagaus immer das gleiche Prozedere. Und das seit dem Ende meines Studiums für Gastronomiemanagement vor siebzehn Jahren.

Kaum jemand würde mir je diese Leere anmerken, die ich mit mir herumtrage. Eine Leere, die ich nicht einmal benennen kann. Es ist einfach nur ein hohles Gefühl. Da ich aber ein Meister der Verstellung bin, denken selbst meine Eltern, mir würde es gutgehen. Das ist in Ordnung für mich. Sie können mir eh nicht helfen. Womit ich nicht sagen will, dass es mir schlecht geht, das ist definitiv nicht der Fall. Schließlich habe ich eine wundervolle Familie, tolle Freunde und ein schönes Zuhause. Wie sagt man doch gleich? Jammern auf hohem Niveau.

Es gibt jedoch eine Person, die hinter meine Fassade blicken kann. Was sich vermutlich nicht verhindern ließe, selbst wenn ich es wollte, da es meine Schwester Fran ist. Die genau in diesem Moment stürmisch zur Tür hereingepoltert kommt.

»Was für ein Sauwetter!«

Durch eine heftige Windböe fliegt die Tür hinter ihr zu und sperrt den Frühjahrssturm aus, der den Tag noch trister erscheinen lässt, als er mir eh schon vorkommt. Trotz Schirm sieht sie aus wie ein nasser Hund. Das Einzige, was trocken geblieben ist, sind ihre Haare, die sie zu einer Hochsteckfrisur drapiert hat.

Mit einem Tablett Weingläser beladen kehre ich zum nächsten Tisch zurück, um ihn einzudecken. »Willst du dich jetzt jeden Tag über das Wetter aufregen?«, frage ich sie amüsiert.

Ihr Schirm landet im eigens dafür bereitgestellten Ständer am Eingang. »Wenn das so weitergeht, wachsen mir noch Schwimmhäute«, mault sie, während sie in Richtung Büro zockelt. »Ich zieh mich mal eben um.«

»Mach das.«

Auf meiner Höhe bleibt sie stehen und mustert mich eindringlich. »Ist heute wieder kein guter Tag, hm?« Genau das meinte ich, als ich sagte, sie würde hinter meine Fassade blicken können.

Ich zucke mit den Schultern und erwidere leichthin: »So gut wie jeder andere.«

Fran seufzt, kommt auf mich zu und küsst mir auf die Wange. »Das sagst du immer, wenn ich dich frage. Irgendwann wirst du es mir doch erzählen. Also warum nicht gleich?«

Ich deute auf ihre Kleidung. »Weil du Pfützen auf dem Teppich hinterlässt. Wenn Mom das sieht, bekommt sie einen mittelschweren Anfall.«

Sie schaut an sich hinunter. »Ist nur Wasser.«

»Stimmt. Aber wenn du krank wirst und ich hier vorne den Laden allein bewältigen muss, bekommst du mit mir Ärger. Also verschwinde und zieh dich um.«

»Was immer du willst.« Zwei Schritte weiter bleibt sie abermals stehen. »Oh, heute ist eine Reisegruppe angemeldet, oder?«

Ich schaue auf die Uhr und nicke. »Sie treffen in einer halben Stunde ein.«

»Mist, hab ich total vergessen«, murmelt Fran und verschwindet.

Zehn Minuten später taucht sie gekleidet in einem schwarzen Anzug auf und schaut sich um. »Ich nehme mir die Tische der Separees vor. Sonst noch irgendetwas, das vorbereitet werden muss?«

»Nein, soweit bin ich dann fertig.«

»Rico?«, höre ich Mom aus der Küche rufen.

Ich stecke den Kopf durch die Schwingtür. »Ja?«

»Ist Fran schon da?«

»Yep. Und bevor du fragst. Wir sind bereit für die Gäste.«

Mit einem Handtuch bewaffnet, kommt sie auf mich zu und lugt an mir vorbei in den Gastraum. »Wunderbar. Dann kann es ja losgehen. Gott, ich bin so aufgeregt.«

Mein Blick fällt auf Dad, der den Nachtisch in kleine Glasschälchen einfüllt und amüsiert den Kopf schüttelt. »Ich weiß nicht, warum du dich so verrückt machst. Es sind Gäste, nicht mehr oder weniger.«

Mom schaut ihn entrüstet an. »Du nimmst das alles wie immer zu sehr auf die leichte Schulter. Aber du weißt doch, was es für uns bedeuten könnte, wenn der Abend gut ankommt.«

»Das noch mehr Gäste kommen?«, feixt Dad.

»Ja, mein Lieber. Lach du nur.« Mom hört sich extrem nervös an. Ungewöhnlich für sie.

»Es wird schon alles gut gehen«, beruhige ich sie und schiebe sie zurück in ihr Reich. »Überlass sie nur uns und konzentriere dich auf das Menü. In Ordnung?«

»Aber stell dir doch nur mal vor, das Morelli’s könnte seinen Bekanntheitsgrad bis nach Toronto ausweiten. Wäre das nicht wundervoll?«, erklärt sie Dad.

»Ich bin mir immer noch nicht sicher, was das bringen soll. Wir sind jeden Abend bis auf den letzten Tisch ausgebucht. Was versprichst du dir bloß von der Aktion?«

»Anerkennung«, kommentiert Mom kurz angebunden, bevor sie sich leicht schmollend an die Arbeit macht.

Ehe ich mich zurück in den Gastraum begebe, höre ich Dad mit einem amüsierten Unterton fragen: »Unsere reicht dir wohl nicht mehr?«

»Ach, sei ruhig!«, kontert meine Mutter mit einem ebenfalls neckenden Tonfall.

Es ist nicht so, dass ich Moms Bedenken nicht verstehen würde. Es geht hier um ihre Reputation. Eine Anerkennung, die sie selbstredend jeden Abend von den Gästen bekommt. Aber es ist dennoch etwas anderes, sollte das Morelli’s über die Stadtgrenzen hinaus bekannt werden. Was auch der Grund war, warum wir uns auf eine Anfrage eines Reisebüros hin damit einverstanden erklärten, eben diese Reisegruppe heute zu empfangen. Bisher haben wir nur kleine Feierlichkeiten ausgerichtet. Na ja, das Morelli’s war zwar schon Schauplatz einer ungewöhnlichen Weihnachtsfeier, die Henry Tremblay im vergangenen Jahr veranstaltet hat, aber da zählten wir selbst zu den geladenen Gästen und durften keinen Finger rühren. Das hat meine Mutter fast in den Wahnsinn getrieben.

»Sie dreht langsam durch, hm?«, erkundigt sich Fran leise, als ich an ihre Seite trete, um ein letztes Mal einen Kontrollblick über die eingedeckten Tische schweifen zu lassen.

»Du kennst doch Mom. Sie will immer, dass alles perfekt ist.«

»Wie perfekt soll es denn noch werden?«

»Da gibt es nur eine Antwort drauf, Schwesterchen: So perfekt, dass sie zufrieden ist.«

Fran seufzt, als auch schon die Tür geöffnet wird und eine wild gemischte Horde durchgeweichter und schimpfender Leute hereinströmt, um die wir uns augenblicklich mit einem freundlichen Hallo kümmern.

 

*

 

Es ist jetzt einen Monat her, dass meine Eltern ein Reiseveranstalter anschrieb und nachfragte, ob er ihnen einen Vorschlag unterbreiten könne. Im ersten Moment waren wir alle etwas verwirrt, denn der gute Mann hat seinen Firmensitz in Toronto, was mal eben dreitausendsiebenhundert Kilometer entfernt liegt. Er deutete vorab nur an, worum es ginge, hätte aber gerne kurzfristig einen Termin für eine geschäftliche Unterredung mit uns vereinbart. Wir, also meine Eltern, willigten unter dem Motto Anhören schadet nicht ein. Keine zwei Tage darauf stand bei uns ein imposanter Kerl mit der Idee im Gepäck, eine kulinarische Rundreise in sein Programm aufnehmen zu wollen, auf der Türschwelle.

Ich hatte so meine Zweifel, ob das ein ernstgemeintes Angebot war und hielt mich daher zurück, meine Meinung offen kundzutun. Mom hingegen faszinierte die Vorstellung von Anfang an. Wir konnten es an ihren funkelnden Augen erkennen, wie ihre Entscheidung ausfallen wird. Gott sei Dank, ging sie nicht augenblicklich darauf ein, sondern bat um ein paar Tage Bedenkzeit, die sie dann damit verbrachte, uns zu überzeugen, dass es eine wunderbare Gelegenheit wäre, unser Restaurant bekannter zu machen. Dad reagierte zu diesem Zeitpunkt genauso wie vorhin. Seiner Meinung nach ist der ganze Quatsch unnötig, denn der Laden liefe besser denn je. Worin ich ihm uneingeschränkt recht gebe.

Mom davon abzubringen war jedoch aussichtslos. Weshalb wir alle nachgiebig mit den Achseln zuckten und erwiderten: »Was immer dein Wille ist.« Und das meine ich ernst. Dad, Fran und ich standen vor ihr und verwendeten haargenau den gleichen Wortlaut. Es war schon beinahe bizarr, wie einig wir uns gewesen sind. Nun ja, seitdem fiebert Mom auf den heutigen Tag hin. Sollte der ein voller Erfolg werden, ist der Deal perfekt und das Morelli’s wird über das Reisebüro, welches in ganz Kanada Filialen und eine Onlineplattform unterhält, als Highlight einer zweiwöchigen Rundreise buchbar sein.

 

*

 

Wie zu erwarten verläuft der Abend reibungslos. Wir sind ein eingespieltes Team, es hätte mich gewundert, wenn es Beschwerden geben würde. Hellauf begeistert und wild durcheinanderplappernd genießt die illustre Truppe das Beisammensein. Die Stimmung ist perfekt.

»Sag mal, kennst du den Mann?«, fragt mich Fran ohne Vorwarnung, als wir beide den Nachtisch aus der Küche holen.

Ich werfe einen Blick über die Schulter. »Wen meinst du?«

»Den Hübschen, ganz hinten. Himmel, glotz doch nicht gleich so auffällig hin!«

Ich habe eine schwache Ahnung, wen sie meint. Schließlich bin ich nicht blind und vollkommen resistent gegen das gezeigte Interesse an meiner Person. Zumindest nicht, wenn es so offensichtlich ist. Allerdings scheint der gut aussehende Kerl nicht mit mir zu flirten, sondern versucht, meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, als würde er mir etwas sagen wollen, fände jedoch nicht die passenden Worte. »Wie kommst du darauf?«, spiele ich den Ahnungslosen. »Sie sind alle, soweit wir wissen, aus Toronto. Ich kenne niemanden von dort.« Und wenn er was will, muss er mich schon ansprechen, denke ich mir im Stillen.

»Hm, seltsam«, sinniert Fran leise.

»Warum?« Plötzlich schaut besagter Mann in meine Richtung und nickt mir zu. Er ist die reinste Augenweide. Dunkler Teint, stechender Blick, dunkelbraune, lässig frisierte Haare, die ihm bis in den Nacken reichen. Ein paar freche Strähnen fallen ihm unentwegt ins Gesicht und mir kribbelt es in den Fingern, sie ihm zurückzustreichen. Er könnte als waschechter Italiener durchgehen. Die Reisegruppe scheint zwar eine wilde Mischung zu sein, dennoch passt er mit seinem maßgeschneiderten Anzug so gar nicht ins Bild. Er wirkt fehl am Platz, sticht heraus wie ein funkelnder Diamant zwischen Pflastersteinen. Er ist zurückhaltend und freundlich, unterhält sich nur, wenn er angesprochen wird, und wirkt, als wälze er permanent Probleme. Kann mich natürlich auch irren. Meine Menschenkenntnis ist nicht übel. Aber lange nicht so gut, wie sie sein sollte, wenn man bedenkt, was mein Job ist. Okay, ich übertreibe es ein wenig. Ich komme mit jedweder Art Gast klar und kann mich auf ihre Wünsche einstellen, nicht selten auch von den Augen ablesen. Das Einzige, das mir abgeht, so betont jedenfalls Fran immer, ist mein Gespür für Menschen, die sich für mich auf eine intimere Weise interessieren.

Die Schwingtür schließt sich hinter uns, als Fran mich mit hochgezogener Augenbraue mustert, um dann schief zu grinsen, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Was nicht von der Hand zu weisen ist.

»Was?«, frage ich leise nach, da Mom in Hörweite ist und die Desserts anrichtet.

»Genau den habe ich gemeint.«

»Ich kenne ihn nicht, okay. Und selbst wenn, warum zum Henker interessiert dich das überhaupt?«

Fran zuckt leichthin mit den Schultern, ehe sie sich zu mir vorbeugt und flüstert: »Erstens ist er ein Sahneschnittchen. Und zweitens kam es mir seltsam vor, wie er dir die ganze Zeit über, in der er annahm nicht beobachtet zu werden, nachschaute. Somit ist klar, dass er mehr Interesse an deiner Wenigkeit zeigt als an meiner und ich dachte, es böte sich mal wieder eine Chance für dich, Dampf abzulassen.«

Ich werfe einen schnellen Blick hinter den Küchenpass. Unsere Eltern sind zum Glück total in ihre Arbeit vertieft. »Seit wann machst du dir Gedanken über mein Sexleben?«

»Seitdem es dir immer schwerer fällt, deine Fassade aufrecht zu halten. Und wer sagt, dass ich nicht mehr damit andeuten will?«

»Mehr?«, frage ich dümmlich nach.

»Ich will ja nur sagen, dass es an der Zeit ist, dass du aus deinem Schneckenhaus kommst.«

»Fang nicht schon wieder damit an.« Leider kann ich nicht mehr erwidern, da Mom uns mit dem Nachtisch rausschickt.

Frans Blick auf dem Weg in den Gastraum ist eindeutig. Das Thema ist noch nicht vom Tisch und ich werde von ihr auch keine Chance erhalten, mich auf irgendeine Art da herauslamentieren zu können.

Innerlich seufze ich auf. Ich weiß nicht, wie oft sie schon versucht hat, mich in diese Ecke zu drängen.

Als wir am Tisch ankommen, deutet sie in Richtung des Mannes, von dem eben die Rede war, und flüstert: »Dein Part.« Dann setzt sie ihr strahlendes Gäste-Lächeln auf und schenkt jedem Einzelnen ihre volle Aufmerksamkeit.

Miststück, schießt es mir durch den Kopf, ehe ich ebenfalls eine freundliche Miene aufsetzte und meine Arbeit verrichte. Ich serviere den Nachtisch und erkundige mich, ob noch jemand etwas zu trinken wünscht, als ich bei besagtem Gast ankomme und er mich nun von der Seite anspricht. Jedoch so leise, dass ich mich zu ihm herunterbeugen muss, um ihn überhaupt zu verstehen. Ich gehe natürlich davon aus, dass er eine Bestellung aufgeben möchte und vielleicht ein wenig schüchtern ist, weshalb mich seine Worte auf dem falschen Fuß erwischen, als er sagt: »Ich muss mit Ihnen unter vier Augen reden. Ist das irgendwie machbar?«

Ich verharre in gebeugter Haltung und starre ihn perplex an.

Sein Blick irrt über den Tisch, als hätte er Bedenken, jemand würde lauschen. Als ich weiterhin schweigend neben ihm stehe, fügt er leise, aber entschieden hinzu: »Es ist wirklich dringend.«

»Im Moment ist es etwas schwierig, mich fortzustehlen«, gebe ich verwirrt und ebenfalls kaum hörbar zurück.

»Das ist kein Problem, ich kann warten. Wann machen Sie Feierabend?«

Das wird ja immer schöner. »Mit Sicherheit nicht vor zwölf.«

Die Aussicht auf ein mitternächtliches Treffen scheint ihm unbehaglich zu sein. Was die Theorie eines Flirts at acta legt. »Dann morgen früh?«

Des Menschen Wille ist sein Himmelreich. »Dann allerdings sehr zeitig.« Jetzt bin ich aber neugierig.

Er nickt. »In Ordnung. Wo?«

Ich überlege eine Sekunde. »In welchem Hotel sind Sie untergebracht?«

»Im Best Western«, entgegnet er prompt.

Auf die Schnelle fällt mir nur ein Laden ein. »Wie wäre es mit Denny’s am Fraser Drive? Keine drei Minuten Fußweg von ihrer Unterkunft entfernt.«

Er atmet erleichtert aus. »Gut, dann dort. Wann?«

»Acht Uhr?«

»In Ordnung. Ich bin da.«

 

Nach diesem sonderbaren Gespräch vergeht der Rest des Abends wie im Fluge, trotzdem mir ständig die Frage durch den Kopf geht, was er von mir will. Bis die Reisegruppe glücklich und zufrieden von dannen zieht, treffen sich unsere Blicke ein ums andere Mal. Ich kann nicht den Finger drauflegen, aber er kommt mir auf eine seltsame Art und Weise vertraut vor. Dabei bin ich mir absolut sicher, ihn noch nie zuvor gesehen zu haben.

Erst als ich mit Fran den Gastraum für den nächsten Tag vorbereite, wird mir etwas klar: Ich habe keinen Schimmer, mit wem ich mich da morgen früh überhaupt verabredet habe. Er hat mich dermaßen überrumpelt, dass ich nicht mal auf die Idee kam, ihn nach seinem Namen zu fragen.

 

~*~

 

Geschwisterliebe

 

- Joshua -

 

Was treibe ich hier eigentlich? Die Frage stelle ich mir jetzt seit Stunden. Ich komme mir dämlich und obendrein wie ein Hochstapler vor. Dass ich mich überhaupt auf derlei Spielchen eingelassen habe, kann ich nicht fassen. Zumal es auch noch auf meinem Mist gewachsen ist. Ich könnte nicht mal jemand außer mir die Schuld an diesem peinlichen Debakel geben. Und das mir, als gestandener Anwalt, der für seine Klienten immer wieder aufs Neue in den Ring steigt, um ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen. Ich kann nur hoffen, dass es niemand erfährt. Das würde meinen Ruf in Nullkommanix zunichtemachen.

Die ganze Sache hatte ich mir zu einfach vorgestellt, als ich nach einem hektischen Gespräch mit Johanna, meiner Schwester, kurzerhand diese Reise als Vorwand nahm, um Frederico McMullen unter die Lupe zu nehmen.

Wie immer, wenn Jo außer sich ist, hat sie das Talent mich mit ihrer Stimmung anzustecken. Sie ist die Einzige, die es schafft, mich aus der Reserve zu locken, sodass ich chaotisch und unüberlegt reagiere. In diesem Fall war ich ebenso sauer wie sie, allerdings aus gänzlich unterschiedlichen Gründen. Denn ich hätte es wissen müssen, dass es irgendwann einmal so kommen würde und sie mir reinen Wein einschenken muss. Dass es jedoch auf diese Weise geschieht, damit habe ich dann wiederum nicht gerechnet.

Aber gut, der erste Schritt ist getan, wenn auch stümperhaft. Morgen früh wird sich hoffentlich alles aufklären und ich kann zurück nach Toronto, um wieder in aller Ruhe meinem Job nachzugehen.

Allerdings muss ich zugeben, dass sich allein der Abend im Morelli’s gelohnt hat. Ich habe selten so gut gegessen. Nicht dass es in meiner Heimatstadt keine guten Restaurants gäbe, aber das Morelli’s hat mich positiv überrascht. Wer hätte schon damit gerechnet, in einem verschlafenen Urlaubsnest wie Revelstoke gaumentechnisch so verwöhnt zu werden? Ein kleines Trostpflaster für die letzten achtundvierzig Stunden, in denen ich Hals über Kopf ohne große Erklärungen vorübergehend meine Mandanten an meinen Partner abgegeben habe und mich einer Reisegruppe anschloss, die mich gelinde gesagt in den Wahnsinn treibt.

Nachdem wir das Morelli’s verließen, versuchten sie mich zu einem Pubbesuch zu überreden. Ich hatte alle Mühe, mir einen triftigen Grund einfallen zu lassen, mich ihnen nicht anschließen zu müssen. Also schob ich einen wichtigen Anruf vor und verabschiedete mich.

Jetzt sitze ich auf meinem Zimmer fest und langweile mich zu Tode. Das Bett ist allerdings äußerst bequem, weshalb ich es mir dort kurzerhand mit meinem Laptop gemütlich mache und der Fernseher für Hintergrundberieselung sorgt. Dermaßen dekadent habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt.

Ich bin gerade dabei, einige geschäftliche E-Mails zu beantworten, als mein Handy neben mir einen Veitstanz aufführt und das Konterfei meiner Schwester anzeigt. Wenn ich ehrlich bin, habe ich keine Lust mit ihr zu reden. Erstens weil ich immer noch sauer auf sie bin und zweitens nichts Neues zu berichten habe. Na ja, und drittens bin ich weit davon entfernt, über meine Aktion im Restaurant hinweg zu sein. Mir ist unbegreiflich, warum ich mich wie ein verschüchterter Junge benahm. Okay, das ist gelogen, es lag eindeutig an meinem Gegenüber, wobei er ja eher hinter mir stand. Oder neben mir? Egal.

Johanna würde versuchen mir jede peinliche Einzelheit aus der Nase zu ziehen. Und ich Depp würde sie früher oder später ausplaudern, weil ich gar nicht anders kann. Denn im Gegensatz zu ihr, konnte ich ihr noch nie etwas verheimlichen. Eine Tatsache, die ich darauf zurückführe, dass wir Zwillinge sind. Natürlich weiß ich nicht, wie es bei normalen Geschwistern abläuft, aber ich hatte immer das Gefühl, zwischen uns gäbe es eine noch engere Verbindung.

Nun gut, ich sollte wohl differenzieren. Im Regelfall kann sie mir auch nichts vorenthalten. Im Grunde tat sie das auch nur bei dieser einen Sache. Ich wusste schon immer, dass da etwas ist. Sie hat es auch nie wirklich abgestritten, ist eben nur nicht darauf eingegangen, hat geblockt und das Thema gekonnt umschifft. Jedoch brodelte es in letzter Zeit zu sehr unter der Oberfläche. Es wartete nur auf den richtigen Zeitpunkt, um ans Tageslicht gelassen zu werden und unser aller Leben auf den Kopf zu stellen.

Sie wird eben warten müssen, entscheide ich nach dem fünften Klingeln – Jo kann hartnäckig sein, wenn sie was will – und ignoriere sie geflissentlich, auch wenn es mir ein schlechtes Gewissen verpasst. Aber sie hat es nicht anders verdient.

Endlich verstummt mein Smartphone und ich atme schon erleichtert auf, als auf dem Bildschirm unten rechts ein kleines Fenster aufploppt und der Eingang einer Message angezeigt wird.

»Verdammt, Jo!«, grummele ich entnervt, ehe ich den Messenger öffne.

 

Du bist online. Warum gehst du nicht an dein Handy?

 

»Direkt wie immer«, murmle ich und suche zeitgleich nach einer Ausrede.

 

Hab es ausgestellt.

 

Und das soll ich dir jetzt glauben? Erzähl keine Märchen, du gehst mit diesem verflixten Ding sogar aufs Klo, wenn es sein muss. Du bist noch sauer auf mich, stimmt’s?

 

JA, verdammt!!!!

 

Sag das doch gleich. Dann lass ich dich noch ein bisschen Schmollen. Aber morgen muss es dann auch wieder gut sein, kleine Bruder.

 

Die Frau ist keine zwei Minuten älter als ich. Aber dennoch weiß sie ganz genau, dass ich nicht anders kann, als zu Grinsen, was sie ja zum Glück nicht sieht.

 

Na bitte, so ist’s besser. Gute Nacht, Josh. Bis morgen. Und vergiss mich nicht, sonst setze ich mich in den Flieger und komme doch noch rüber.

 

Eine leere Drohung, das weiß ich. Obendrein wäre es äußerst kontraproduktiv. Denn Jo, würde mit der Tür ins Haus fallen und genau das Gegenteil erreichen, weshalb ich hier bin. Ihr »Na bitte, so ist’s besser« lässt meine Gesichtszüge gefrieren. Woher verdammt nochmal weiß sie, dass ich grinse? Oder worauf spielt sie damit an? Unwillkürlich überprüfe ich die Videoeinstellungen. Alles deaktiviert. Sie macht mich noch verrückt.

 

Bis morgen, du Quälgeist.

 

Ich warte erst gar nicht auf eine weitere Stichelei, sondern schließe das Programm und klappe den Deckel zu. Für E-Mails fehlt mir jetzt einfach der Kopf. Dann werfe ich einen Blick auf die Uhr. Halb zwölf. Nicht meine übliche Zeit schlafen zu gehen. Aber was soll ich hier sonst unternehmen, um auf andere Gedanken zu kommen? Also nicht dass ihr denkt, ich würde mir permanent die Nächte mit Partys um die Ohren schlagen. So ist es definitiv nicht. Normalerweise ist mein Tag allein durch mein Arbeitspensum in der Kanzlei randvoll und ich komme streckenweise nicht vor dreiundzwanzig Uhr nach Hause, was wiederum erklärt, dass ich Single bin. Mitchel, mein Ex, war ein geduldiger Mann, ist er sich immer noch. Er hat es doch tatsächlich ganze vier Jahre mit mir und meinem Job ausgehalten, bis er vor etwa drei Jahren dann die Reißleine zog – seine Worte, ich fand sie ein wenig theatralisch – und über Nacht verschwand.

Es hätte mich gefühlsmäßig tief treffen sollen, als ich erfuhr, dass Mitch sogar Toronto, seiner innig geliebten Heimat, den Rücken kehrte. Aus der heutigen Sicht war ich echt ein kaltherziges Arschloch und hab es nicht besser verdient. Natürlich denke ich manchmal an unsere gemeinsame Zeit zurück, aber nicht im melancholischen Sinn. Es fühlt sich eher an, als würde ich das Leben eines anderen betrachten. Womöglich hatte er damals recht, als er sagte, ich wäre beziehungsunfähig. Und selbstverständlich habe ich über seine Worte nachgedacht. Also später. Aber ich liebe meinen Job, meine Wohnung, meine Unabhängigkeit. Keine emotionalen Verpflichtungen zu haben, ist doch nett. Und bisher sah ich keinen Grund, mein Leben zu ändern. Nicht einmal für Mitch, was mich zu einem noch größeren Arschloch macht, oder?

Die einzigen Personen, für die ich sofort alles stehen und liegen lassen würde, sind Jo und ihr Sohn Dean. Wie man unschwer erkennt, da ich nur ihretwegen hier bin. Sie sind seit vier Wochen der klägliche Rest meiner Familie.

Unsere Eltern begaben sich auf einen ihrer spontanen Trips, wer weiß wohin. Ein Umstand, den Jo und ich bereits seit Kindertagen kennen. Es konnte durchaus vorkommen, dass sie plötzlich wie vom Erdboden verschwanden und uns das Personal darüber in Kenntnis setzte, wann sie ihre Rückkehr geplant hätten. Wir begriffen aber auch sehr schnell, dass diese Terminlichkeiten nicht in Stein gemeißelt waren. Weshalb schon mal einige Wochen vergehen konnten, bis wir sie wieder zu Gesicht bekamen.

Ein liebevolles, harmonisches Familienleben? Keine Ahnung, ob es das überhaupt gibt. Jo und ich kannten seit jeher nichts anderes, weshalb es für uns zur Normalität gehörte, dass wir vom Hauspersonal umsorgt wurden. Wenn jetzt aber jemand von euch denkt: Oh, diese armen Kinder, dann muss ich euch enttäuschen, wir waren nicht arm und wir sind auch nie an der Situation verzweifelt. Was aber sicher auch daran lag, dass wir uns hatten – immer.

Ich sollte aufhören, in diese Richtung zu denken, es bringt nichts und versetzt mich nur in eine seltsame Stimmung, die mir missfällt. Aber es ist merkwürdig, hier tatenlos herumzusitzen. Nur hat es keinen Sinn mich auf etwas anderes konzentrieren zu wollen, denn mir spukt ständig Frederico McMullen durch meine Gedanken.

Bevor ich nach Revelstoke reiste, hatte ich zwar ein Bild von ihm gesehen, aber es wäre nur fair von Jo gewesen, mich wenigstens ein klein wenig vorzuwarnen, was seine hinreißende Art angeht. Zumal sie meinen Männergeschmack kennt und, wie Frederico beweist, teilt. Sie hätte mehr als nur ihren jahrelangen Frust über ihn kundtun können. Ehrlicherweise muss ich zugeben, seine Persönlichkeit hat mich heißkalt erwischt. Eine kleine Andeutung ihrerseits darüber, was mich erwartet, hätte es mir erspart, wie ein hormongesteuerter Kerl sabbernd und sprachlos zwischen all den gut gelaunten Touris zu hocken. Denn das ist eine Sache, die ich nicht von mir gewohnt bin. Aber nein, mir hat’s glatt die Sprache verschlagen, als er vor mir stand, und ich habe ungewöhnlich lange gebraucht, um ihn anzusprechen.

Insgeheim beruhige ich mich selbst. Ich bin ein schwuler Kerl, der Augen im Kopf hat und männliche Attraktivität zu schätzen weiß, wenn sie sich ihm bietet. Auch wenn das Objekt der Begierde nicht in meinem Team zu spielen scheint. Ich bin gespannt, wie das morgige Gespräch verläuft.

Mein Laptop landet auf dem Boden, ehe ich mich aus dem Bett quäle, mich meiner Klamotten entledige und im Bad für die Nacht fertigmache.

 

*

 

Gegen sieben holt mich mein Handy mit Madness von Muse aus dem Schlaf. Nicht dass es meine allmorgendliche Weckhymne wäre. Es ist wohl eher Zufall. Aber nach dem wirren, heißen und extrem intensiven Traum, aus dem ich schweißgebadet erwacht bin, passt sie wie die Faust aufs Auge. Denn ich scheine dem totalen Irrsinn zu verfallen.

Im Ernst jetzt?! Blindlings suche ich mein Handy auf dem Nachtschrank und drücke auf dem Display herum, bis Matthew Bellamy endlich die Klappe hält und mich nicht mehr über immerwährende Erinnerungen, verrückten Kämpfen und Liebe zutextet. Frustriert und mit rasendem Herzen fahre ich mir durchs Haar. Wann zum Henker hatte ich das letzte Mal einen feuchten Traum? Kann mich nicht erinnern. Muss zu der Zeit gewesen sein, als ich Mitch kennenlernte. Himmel, das ist schon sieben Jahre her!

Seufzend rolle ich mich aus dem Bett und schlurfe ins Bad. Nach einer kalten Dusche – na gut, sie war lauwarm, so hart bin ich dann doch nicht –, schlüpfe ich in meine Sachen und begebe mich auf den Weg ins Denny’s.

Unser Reiseleiter hat gestern Abend versprochen, erst gegen Mittag zum Sammeln zu trommeln. Ein Umstand, der mir gefällt. Denn um ehrlich zu sein, bin ich ungern ein hirnloses Herdentier, das willenlos hinter jemandem hertrottet und sich den ganzen Tag bespaßen lässt. Mir wäre im Traum nicht eingefallen, eine Reise wie diese zu buchen, wenn ich nicht dringend einen Grund gebraucht hätte, um unauffällig in die Nähe von Frederico McMullen zu gelangen. Was an sich schon wieder absolut dämlich klingt. Genauso gut hätte ich einfach herfliegen, mit ihm reden und zurückfliegen können. Aber irgendwie kam mir der Gedanke, hier aufzutauchen und allein in ein Restaurant zu gehen oder ihm anderweitig aufzulauern, würde zu sehr auffallen. Fragt mich nicht, was mich auf den Trichter brachte. Denn es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass ich zwischen turtelnden Pärchen mutterseelenallein an einem Tisch sitze, um profaner Nahrungsaufnahme nachzugehen.

Um dieser ganzen Sache mit dem gemeinschaftlichen Amüsement aus dem Weg zu gehen, habe ich eh vor, mich spätestens am Nachmittag auszuklinken und nach Toronto zurückzufliegen.

 

Kurz vor acht treffe ich im Diner ein und halte nach Frederico Ausschau. Einige Plätze sind belegt. Im Hintergrund dudelt leise Musik. Das Publikum, eine wilde Mischung. An der Fensterfront sitzen zwei Anzugtypen mit Aktentaschen, wahrscheinlich auf ihrem allmorgendlichen Zwischenstopp, um ihr Koffeinlevel aufzuladen, bevor sie den Tag im Büro versauern. Banker, Versicherungsfuzzis oder sowas in der Art. Etwas abseits hocken drei Jugendliche, ihre Köpfe nach unten gebeugt und rasant auf ihren Handys tippend, während vor ihnen auf dem Tisch Gläser mit Coke schal und warm werden. Eiswürfel sind schon keine mehr zu erkennen. Womöglich kommunizieren sie sogar über Messages miteinander. Was mich nicht verblüffen würde. Mein Neffe ist sechzehn und wenn Jo und ich nicht dann und wann den Riegel vorschieben – zumindest, wenn er sich in unserer Gesellschaft befindet –, hätte er gewiss schon einen mächtigen Haltungsschaden und eine Brille mit Gläsern so dick wie Glasbausteine. Hier und da sitzen Familien mit quengelnden Kindern. Zu ihren Füßen bettelnde Hunde. McMullen kann ich dagegen nirgends sehen. Nun gut, es ist noch nicht acht. Und womöglich ist er ein Mensch, der sich nicht von der Uhr versklaven lässt. Ich suche mir einen ruhigen Tisch und wähle den Stuhl mit der besten Aussicht auf die Eingangstür.

»Guten Morgen. Was darf ich Ihnen bringen?«, werde ich von einer freundlich lächelnden jungen Frau gefragt. Sie macht den Job sicher nur vorübergehend. Das ist in diesen Diners fast schon Standard.

»Guten Morgen. Kaffee wäre wundervoll.«

Dana, wie ihr Namensschild verrät, schreibt emsig auf ihren kleinen Block und schaut mich dann fragend unter ihrem Pony hindurch an. »Pancakes, Waffeln, oder etwas anderes?«

»Erst mal bitte nur Kaffee. Ich erwarte einen Gast. Vielleicht nehme ich später noch etwas, aber danke.«

»Gern. Bin gleich wieder bei Ihnen.«

Als sie durch den Gastraum eilt, schwingt die Eingangstür auf und ein absolut hinreißender Frederico McMullen blickt sich suchend um, bis er meinen Blick kreuzt. Seine Miene ist ernst und dennoch komme ich nicht umhin festzustellen, dass er einfach so was von in mein Beuteschema passt, dass mir ganz schwummerig wird. Mit jedem Schritt, den er sich mir nähert, legt mein Herz einen Takt zu. Seine schlanke Gestalt steckt in dunklen Jeans und einem schwarzen Poloshirt, bei dem der offenstehende Kragen den Blick auf seine Kehle lenkt. Eine leichte Jacke hängt ihm lässig über der Schulter. Die dunklen, kurzen Haare sind perfekt gestylt. Der Dreitagebart lässt ihn verwegen aussehen, was widerrum von seiner Brille ad absurdum geführt wird, da diese eher einem Nerd gehört, als einem Draufgänger. Der Mann wirkt widersprüchlich und das ist eine gefährliche Mischung, denn ich bin aufs Äußerste fasziniert. Und dass, wo wir nicht mehr als drei Sätze ausgetauscht haben.

Vor dem Tisch hält er inne und nickt mir zu, macht jedoch keine Anstalten sich setzen zu wollen. »Guten Morgen. Sie wollten mit mir reden? Gut. Aber bevor ich mich zu Ihnen setze, würde ich doch gerne wissen, wer Sie überhaupt sind.«

Ich könnte jetzt natürlich behaupten, es wäre gestern Abend ein Versehen meinerseits gewesen, mich nicht vorgestellt zu haben, aber das wäre gelogen. Um auf Nummer sicher zu gehen, dass er nicht sofort erfasst, woher der Wind weht, und eventuell ein Gespräch verweigern würde, stellte ich mich ihm nicht vor. Und er fragte ja auch nicht nach.

Der Stuhl unter mir gibt ein scharrendes Geräusch von sich, als ich aufstehe, um ihn zu begrüßen. »Mein Name ist Joshua Weaver.« Sein Händedruck ist fest und selbstbewusst. Ich deute auf den Stuhl neben mir. »Nehmen Sie doch bitte Platz, dann erkläre ich Ihnen alles.«

Seine Miene ist skeptisch und dennoch sehe ich, wie sich seine Stirn in Falten legt, als würde er in seinem Kopf eine Antwort darauf suchen, woher er mich kennen könnte. Er ist sichtlich ratlos und setzt sich zu mir, als auch schon Dana wie der Blitz herbeigerannt kommt. »Hi, Rico. Was soll’s sein?«

Sofort breitet sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus und er schnurrt: »Hey, Süße. Bring mir doch bitte einen doppelten Espresso.«

»So schlimm, hm?« Sie strahlt ihn an, als wäre er ihr vom Himmel herabgestiegener Traummann.

»Kennst mich doch. Ich brauche etwas Anlaufzeit, um in die Pötte zu kommen.«

Woher sich die beiden wohl kennen? Und was mich noch brennender interessiert, wie sehr kennen sie sich?

Innerlich schüttle ich über mich selbst den Kopf. Reiß dich mal zusammen, Weaver! Und doch lasse ich ein weiteres Mal meinen Blick über ihn gleiten, in der Gewissheit, er bemerkt es nicht, da er mit seiner Verehrerin beschäftigt ist, und denke: Okay, Mädchen, irgendwie nachvollziehbar, dass du nicht anders kannst, als ihn anzuhimmeln.

Nur dummerweise ist Dana nicht so abgelenkt, wie ich annehme, denn als ich aufschaue, blicke ich in ihr amüsiertes Gesicht.

Sie zwinkert mir keck zu und fragt: »Und haben Sie jetzt Hunger

Himmel hilf! Will sie mich fertig machen? Andererseits überrascht mich ihre Reaktion auch wieder. Ich hätte eher mit eifersüchtiger, kratzbürstiger Schnippischkeit gerechnet. Bevor ich mich dazu hinreißen lasse, etwas Unpassendes von mir zu geben, grinse ich zweideutig und sage: »Habt ihr was heißes im Angebot? Ich hätte jetzt Lust auf einen Gaumenkitzler.«

Dana verschluckt sich an ihrer eigenen Spucke, ehe sie nach Luft ringend nickt und krächzt: »Waffeln mit Sahne?«

Okay, ich mag sie. »Perfekt«, hauche ich in ihre Richtung, während Fredericos Blick sichtlich verwirrt zwischen uns hin und her irrt.

Ich bin heilfroh, dass mich hier niemand kennt, da ich mich wie ein Teenager benehme. Ein kurzes Räuspern verschafft mir ein wenig Zeit, um mich zu sammeln und der Ernsthaftigkeit dieses Treffens zu erinnern. Genug gefeixt. Die Umstände sind im Grunde nicht lustig. Aber hey, wie langweilig wäre das Leben, wenn wir stets den Konventionen gehorchen würden? Dana wirft mir einen wissenden Blick zu und verlässt taktvoll den Tisch. Scheinbar ist ihr klar, dass mein Gegenüber nur seinen Espresso möchte, denn sie fragt nicht einmal nach.

Bevor ich das Wort ergreife, genehmige ich mir noch einen großen Schluck Kaffee. Dann lehne ich mich bemüht locker zurück. Ich habe es mir ehrlich gesagt, nicht einfach vorgestellt. Aber es ist noch viel schwieriger, als ich dachte. »Ich muss mich wohl erst einmal für meinen unhöflichen Überfall gestern Abend entschuldigen«, beginne ich und hoffe, dass es unverfänglich genug ist, um ein Gespräch aufbauen zu können.

Frederico zuckt mit den Schultern. »Schon vergessen.«

»Danke.« Ich mustere ihn einen Moment und kann dann doch nicht anders, als mich zu erkundigen: »Ihnen sagt der Name Weaver nichts, stimmt’s?«

»Ich würde Ihre Frage gerne verneinen. Aber das wäre gelogen. Denn irgendetwas klingelt da bei mir. Ich komme nur nicht drauf. Allerdings bin ich mir definitiv sicher, dass ich Sie noch nie zuvor gesehen habe. Und dennoch kommen Sie mir bekannt vor. Wie ist das möglich?« Er schaut in Richtung Tresen, als hoffe er auf Unterstützung. Die bekommt er jedoch nicht, sondern Dana serviert ihm seinen doppelten Espresso und mir einen Teller mit frischgebackenen Waffeln, auf denen ein riesiger Berg Sahne thront. Ich ziehe die Portion zu mir heran und schüttle amüsiert den Kopf. »Danke, Dana. Sie sind ein Engel. Jetzt muss ich nachher nur noch zwanzig Kilometer um die Blöcke laufen, um die dreißigtausend Kalorien von meinen Hüften fernzuhalten.«

»Sie sehen nicht aus, als würde es Ihnen schwerfallen«, kontert Dana vergnügt, bevor sie am Nachbartisch weitere Bestellungen aufnimmt.

Ich schiebe mir einen Bissen in den Mund, der augenblicklich auf der Zunge zergeht und genieße den Geschmack, ehe ich sage: »Das ist nicht so verrückt wie Sie vielleicht denken. Sie kennen meine Schwester.«

»Ihre Schwester?«

»Johanna?«

Scheinbar klickt es bei ihm umgehend. Seine Augen werden riesengroß und er formt mit den Lippen lautlos den Namen meiner Schwester.

Bingo. Er hat es!

»Johanna hat einen Bruder?«, wispert er fassungslos.

Was mir nur wieder bestätigt, wie zugeknöpft mein liebes Schwesterlein sein kann. »Wir sind Zwillinge.«

»Zwillinge also.« Er scheint sich erstaunlicherweise im Griff zu haben, denn obwohl er mit Sicherheit tausend Fragen hat, warum wieso weshalb ich überhaupt hier bin, will er wissen: »Wie geht es ihr?«

»Ausgesprochen gut.«

»Das freut mich.«

Er würde gerne noch mehr wissen, das sehe ich ihm an. Aber dennoch schweigt er und nippt an seinem Espresso.

»Wissen Sie, es gibt keinen behutsamen Weg, Ihnen zu sagen, was ich jetzt sage. Aber vorab möchte ich Sie daran erinnern, dass ich nur der Bote bin, da Johanna … Na ja, ich kann es leider nur so ausdrücken: Sie ist feige.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«

»Von Ihnen und Jo.«

»Wie Sie schon festgestellt haben, ist das lange her. Ich wüsste nicht, was wir noch miteinander zu schaffen hätten. Zumal sie diejenige war, die unsere Beziehung beendet hat.«

»Haben Sie sie geliebt?« Die Frage schwappt über meine Lippen, ohne dass ich es verhindern kann. Mir ist klar, es geht mich nichts an. Und trotzdem bin ich neugierig. Wenn ich ehrlich bin, aus verschiedenen Gründen. Erstens weil Jo mir auf dieselbe Frage keine Antwort geben wollte oder konnte. Und zweitens weil ich widersprüchliche Schwingungen von ihm auffange.

Abermals erscheinen auf seiner Stirn Denkerfalten, ehe er lakonisch erwidert: »Damals nahm ich es an, ja.« Frederico neigt den Kopf und kneift die Augen zusammen. »Das ist doch aber nicht der Grund, weshalb Sie hier sind. Also spucken Sie es schon aus.«

»Richtig. Schieben Sie es einfach auf meine Neugier. Der wahre Grund ist Dean, Ihr Sohn.« Ich erwarte Verwunderung, Bestürzung, sogar Fassungslosigkeit. Aber nichts davon tritt ein.

Er schaut mich nur an und zuckt mit den Schultern. »Dann hat Sie einen passenderen Mann gefunden und geheiratet. Schön für sie.« Er klingt verletzt.

Plötzlich wird mir klar, dass er mich falsch verstanden hat. Ich muss es umformulieren. »Ich meinte, Dean, Johannas«, ich deute auf ihn, »und Ihr Sohn.«

 

~*~

 

Der Wahnsinn beginnt

 

- Frederico -

 

Ich finde das ganze Treffen ja schon sehr seltsam und habe mich nur darauf eingelassen, weil ich den Mann anziehend finde und ich mehr als neugierig auf ihn und das war, was er mir so dringend zu sagen hat. Aber ich glaube mich verhört zu haben, als er von Johanna und mir und unserem Sohn redet. Weshalb ich garantiert ein ziemlich dämliches Gesicht ziehe und dümmlich nachfrage: »Unser Sohn? Ich verstehe nicht.«

»So überraschend das auch für Sie sein mag, aber Sie sind Vater eines sechzehnjährigen Jungen.«

»Sie wollen mich verarschen, oder?«, platzt es mir heraus, ehe ich ihn amüsiert angrinse. »Wer hat Sie geschickt? Mein Bruder?« Ich wiegele sofort ab. »Nein, quatsch, auf so einen durchgeknallten Schwachsinn würde Donovan niemals kommen. Also raus mit der Sprache! Wer steckt dahinter?« Mir fällt beim besten Willen niemand ein, der mich reinlegen will. Und selbst wenn, mir einen halbwüchsigen Sohn unterjubeln zu wollen, ist dann doch eine extrem schräge Nummer.

»Rico, Sie missverstehen hier etwas. Ich bin nicht hier, um Sie auf den Arm zu nehmen. Zumal das wirklich kein Thema ist, was sehr lustig rüberkommt. Es ist mein vollkommener Ernst. Sie sind der leibliche Vater von Dean Weaver, meinem Neffen und Johannas Sohn.«

Ich glaube ihm kein einziges Wort und dennoch wächst in mir so etwas wie Zweifel. Ist es möglich, dass Jo damals schwanger war? Aber wenn ja, warum hat sie mich verlassen und nie ein Sterbenswörtchen darüber verloren?

Wut steigt in mir hoch. Ich muss dringend an die frische Luft, bevor ich etwas Unüberlegtes tue oder sage. Weshalb ich kopflos aufspringe, an einer verblüfften Dana vorbeirausche und hinter mir höre, wie der Geisteskranke zu ihr sagt: »Wir sind gleich wieder zurück.«

Ich trete auf den Gehweg, biege blindlings nach rechts ab und stapfe von dannen. Ziellos, mein Blick nach innen gekehrt. Während ich an ausweichenden Passanten vorbeieile, erwacht die Erinnerung an die letzten gemeinsamen Tage mit Johanna.

 

*

 

Wir haben lange gebraucht, um zueinanderzufinden. Sie ist mir beim ersten Aufeinandertreffen – es muss im zweiten Studienjahr gewesen sein – sofort aufgefallen. Sie hat mir augenblicklich den Verstand geraubt. Was mich damals total verunsicherte, denn ich war mir zu diesem Zeitpunkt meiner Sexualität absolut sicher. Dachte ich zumindest. Bis dahin hatte ich nur Dates mit Kerlen. Keine große Sache.

Dann betrat Johanna die Bühne und ich hatte nur noch Augen für sie. Sie war eine Schönheit, strahlte pure Energie und Selbstvertrauen aus. Irgendwann habe ich es dann akzeptiert, dass ich sie und niemanden sonst wollte. Mein Herz und mein Körper summten regelrecht, wenn sie auch nur in der Nähe war. Ich dachte, okay, dann bin ich eben nicht schwul, sondern bi, was soll’s. Damit komme ich nun auch noch klar, schließlich hatte ich mich bereits damit abgefunden, auf Schwänze zu stehen. Also setzte ich alles auf eine Karte und machte ihr den Hof.

Ja, schon klar, hört sich verrückt und altbacken an. Aber anders kann ich es gar nicht beschreiben. Sie trug permanent eine Aura der Unnahbarkeit vor sich her. Nicht dass sie arrogant oder abweisend wirkte. Es wagte nur niemand, sie um ein Date zu bitten. Somit versuchte ich es mit Blumen und Schokolade. Lud sie unermüdlich jeden Freitag ins Kino ein, was sie auch jedes verdammte Mal höflich ablehnte. Eben diese Höflichkeit war der Grund, warum ich nicht aufgab. Ich bildete mir ein, ihr würde doch etwas an mir liegen und rechnete mir immer wieder Chancen bei ihr aus.

Keine Ahnung, warum es dann geschah, aber eines Tages, ich kam gerade aus dem Blumenladen mit einem Strauß Lilien für sie im Arm, als sie mich direkt vor der Tür abfing, mich anlächelte, mir das Bouquet aus den Händen nahm und sagte: »Okay, du hast gewonnen. Lass uns essen gehen.«

Himmel, ich fühlte mich wie auf Wolke sieben. Ich war der glücklichste Schweinehund auf dem Campus. Und die folgenden Monate waren wie ein Rausch der Gefühle. Wir verbrachten jede freie Minute zusammen und konnten die Finger nicht voneinander lassen. Unsere Kommilitonen nannten uns schon die siamesischen Zwillinge. Denn wo einer von uns auftauchte, war der andere nicht weit entfernt.

Ich hätte gewarnt sein sollen. Denn so grandios, wie es zischen uns lief, konnte es nicht in alle Ewigkeit weitergehen. Aber ich hatte Scheuklappen auf. Selbst als ich sie fragte, wie unsere Zukunft nach dem Studium aussähe, nahm ich ihre Antwort, dass es sich schon zeigen würde, als gegeben hin. Und womöglich war für Außenstehende bereits absehbar, dass etwas verquer lief. Für mich war es jedoch die schönste Zeit meines Lebens. Bis …

Allein die Erinnerungen an damals setzen mir heute noch zu. Eine Woche vor unserem Abschluss brach Jo einen für mich absolut unlogischen Streit vom Zaun. Ich kann nicht mal mehr sagen, worum es ursprünglich ging. Was der Beweis ist, dass es Nichtigkeiten gewesen sein müssen. Ich weiß nur noch, dass die ganze Sache von einer auf die andere Minute eskalierte und sie mich anschrie, ich sollte gefälligst aus ihrem Leben verschwinden. Egal was ich versuchte, sie wollte mich nicht anhören. Mit gepackter Reisetasche verschwand sie für immer aus meinem Leben. Ich habe sie danach nie wiedergesehen.

Ich stand tagelang unter Schock und mir ist immer noch schleierhaft, wie ich überhaupt den Abschluss geschafft habe. Ich kann mich nicht mal mehr an die letzten Prüfungen erinnern. Rückblickend liegt alles hinter einer dicken Nebelwand.

Erst sehr viel später – ich war mittlerweile zurück in Revelstoke und arbeitete bei meinen Eltern im Morelli’s – ließ ich die Gedanken an Jo zu und ich stellte bestürzt fest, dass ich rein gar nichts über sie wusste. Ich kannte ihren Namen und dass sie in Toronto aufgewachsen ist, das war alles. Wenn wir uns unterhielten, redeten wir nur über meine Familie, aber nie über ihre. Nennt mich Dummkopf, ich habe es nicht anders verdient. Aber ich war blind vor Liebe. Und dann fühlte ich mich nicht nur hintergangen, nein, obendrein kam ich mir wie der letzte Idiot vor. Ich war nur froh, dass meine Eltern nichts von alldem mitbekommen hatten. Selbst Fran erzählte ich nichts davon. Sie war anfangs misstrauisch, fragte mich ständig, was mit mir nicht stimmte, gab dann aber irgendwann auf. Es dauerte eine Weile, bis ich mein Leben wieder halbwegs in den Griff bekam.

 

*

 

Verdammte siebzehn Jahre ist das jetzt her und nach all der Zeit, soll ich einfach so hinnehmen, dass ich einen Sohn habe? EINEN SOHN! Mir fällt es schwer, auch nur daran zu denken. Tausend Dinge stürmen auf mich ein. Und ich weiß nicht, welche Frage, welches Gefühl ich zuerst beantwortet haben oder ergründen will.

Johanna hat mir damals das Herz gebrochen. Ich Trottel habe es ihr in ihre wunderschönen Hände gelegt und sie hat es kaltblütig zu Staub zermahlen, als wäre es nichts wert, als wäre es nur der Dreck unter ihren Fingernägeln. Siebzehn verdammte Jahre habe ich mir immer wieder gesagt, es muss an mir gelegen haben. Ich bin eben nicht gut darin, eine Beziehung zu führen. Siebzehn verdammte Jahre habe ich mir vorgeworfen, alles falsch gemacht zu haben. Schließlich war Jo perfekt, oder nicht? Siebzehn verdammte Jahre habe ich mich nur auf Kerle eingelassen, die eine schnelle Nummer suchten. Ja, richtig gehört, es gab vor und nach Johanna immer nur Männer. Sie war die einzige Frau, die ich je wollte. Warum das so ist? Ich habe keinen Gott verdammten Schimmer.

Wütend stiefele ich weiter in Richtung Stadtrand. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen und dennoch fällt mir nichts Besseres ein, als dass ich mit Mom zum Einkaufen sollte.

Ich angle mein Handy aus der Jackentasche und rufe Fran an, die beim zweiten Klingeln in der Leitung ist. »Hey!«, nuschelt sie verschlafen.

Mir fehlt der Sinn für Smalltalk, weshalb ich sofort zum eigentlichen Grund meines Anrufs komme. »Du musst mich heute bei Mom vertreten.«

Ein leises Rascheln ist zu hören. Scheinbar hat Fran sich im Bett aufgesetzt. »Was ist los?«, erkundigt sie sich mit ernster, alarmierter Stimme.

»Ich kann jetzt nicht darüber reden. Sag mir einfach, dass du für mich einspringst. Bitte!« Mein flehender Ton ist mir fast schon unangenehm. Aber hey, das hier ist meine Schwester.

»Okay. Du musst mir jetzt nichts weiter erklären. Ich will nur wissen, ob du in Ordnung bist.«

Ein abfälliges Lachen quält sich mir durch die zugeschnürte Kehle. »Körperlich bin ich okay.«

Eine Sekunde herrscht angespanntes Schweigen. Dann höre ich sie tief durchatmen und sagen: »Gut, nimm dir die Zeit, die du brauchst. Ich kümmere mich um Mom und Dad. Und Rico, ich weiß nicht, was in dir vorgeht, aber bitte mach keine Dummheiten. Egal was es ist, wir bekommen das hin, okay?«

Ich nicke, bis ich begreife, dass Fran es ja nicht sehen kann. Also erwidere ich mit belegter Stimme: »Das wird sich zeigen. Aber danke, Schatz.« Dann lege ich auf und folge dem Weg am Golfplatz vorbei tief in den Wald, den ich nur am Rande meines Bewusstseins wahrnehme, denn in meinem Kopf herrscht Chaos.

Je weiter ich laufe, umso mehr verstummen die lebendigen Geräusche einer erwachenden Stadt und werden durch die des Waldes ersetzt. Schließlich komme ich am Fluss an und setzte mich auf einen umgestürzten Baum. Das Rauschen des Wassers besänftigt ein wenig mein Gemüt und mir wird bewusst, wie idiotisch ich mich verhalten habe, als ich wie ein bockiger Teenager einfach abgehauen bin und Johannas Bruder zurückgelassen habe. Aber was soll’s, nun ist es passiert.

Nun, da ich hier so sitze und dem Fluss dabei zusehe, wie er an mir vorbeizieht, frage ich mich: Warum jetzt, nach all den Jahren? Johanna kann nichts von mir wollen, sonst hätte sie sich doch längst bei mir gemeldet, oder nicht? Denn im Gegensatz zu mir wusste sie genau, wo ich zu finden bin. Es stand von Anfang an fest, dass ich nach meinem Studium in das Geschäft meiner Eltern einsteige und es später einmal übernehmen würde. Es war sozusagen meine große Lebensplanung. Eine weitere Lüge, der ich mich stellen muss, bevor es zu spät ist. Aber das ist ein anderes Thema und im Moment nebensächlich.

Ein leises Räuspern reißt mich aus meinen Gedanken und ich blicke mich überrascht um. »Ich dachte, ich wäre allein«, stelle ich sinnigerweise fest.

Jos Bruder kommt gemessenen Schrittes auf mich zu und lässt sich neben mir auf dem morschen Baum nieder. »Sorry, ich wollte dich nicht kopflos durch die Gegend rennen lassen.«

Dass er in die vertrauliche Anrede gewechselt ist, nehme ich gelassen hin. »So kopflos nun auch wieder nicht, aber danke für deine Fürsorge.« Mein Blick liegt auf dem Wasser, während mir seine Anwesenheit mehr als nur bewusst ist. Wir sitzen so nah nebeneinander, dass mich sein Aftershave in der Nase kitzelt. Seine Körperwärme überwindet den kleinen Abstand zwischen uns, sickert unter die Haut meines linken Armes, meiner Hüfte und Oberschenkel. Wir berühren uns nicht und dennoch kommt es mir so vor, als würden wir es. Und seltsamerweise beruhigt mich seine Gegenwart.

»Es tut mir leid«, beginnt Joshua.

»Tja, was soll ich sagen, es ist nicht deine Schuld, dass ich nichts von meinem Sohn gewusst habe, oder?« In meiner Stimme liegen Trotz und Wut und immer noch Argwohn.

»Ich habe es selbst erst vor ein paar Tagen erfahren.«

Überrascht blicke ich ihn von der Seite an. »Wie das? Hat Johanna jemandem ein Kuckucksei ins Nest gelegt?« Ich kann nicht anders als dermaßen ätzend und erbittert zu klingen. Ich bin so wütend.

Joshua schnaubt. »Na ja, das wäre ihr sicher zuzutrauen, aber nein, sie hat nie geheiratet.«

»Sag mir eins. Warum jetzt? Was hat sich geändert?«

»Das ist schwer zu erklären. Im Grunde solltest du mich als Vorhut ansehen.«

»Was meinst du damit. Ist Johanna etwa auf dem Weg hierher?«

»Oh nein, ganz sicher nicht. Aber wie ich meinen Neffen kenne, wird es nicht lange dauern, bis er einen Weg gefunden hat, um sich abzusetzen.«

»Scheiße, das kann er doch nicht machen!«

»Dieser Meinung sind wir ebenfalls. Nur, Dean hat seinen eigenen Kopf. Und nachdem er durch unvorhersehbare Umstände herausgefunden hat, wer sein Vater ist, warte ich nur darauf, dass er sich auf den Weg zu dir macht. Jo hat alles versucht und bisher hatte sie auch Erfolg ihn zurückzuhalten. Aber uns beiden ist klar, dass Dean Weaver nicht auf Dauer eingesperrt werden kann. Was auch der Grund ist, warum ich hier bin. So sehr ich dich auf dem falschen Fuß erwischt habe, es hätte dich definitiv noch mehr geschockt, wenn ein Sechzehnjähriger vor dir gestanden hätte und dir ganz trocken, wie er eben nun mal ist, gesagt hätte: ›Herzlichen Glückwunsch, du bist mein Vater.‹ Und glaub mir, das wäre genau so abgelaufen.«

»Und um mir das zu erzählen, musstest du mit einer Reisegruppe hier auftauchen? Findest du das nicht selbst komisch?« Klar, es gäbe sicher bessere Fragen, aber es ist das Erste, das mir einfällt.

Witzigerweise bettet Joshua den Kopf stöhnend in seine Hände und jammert: »Erinnere mich bitte nicht daran. Manchmal kann ich so ein Blödmann sein.«

»Kann ich nicht beurteilen«, necke ich ihn und remple ihn sanft von der Seite an. Die Situation ist verrückt und dennoch möchte ich Joshua nicht in einer peinlichen Lage sehen. »Wie hat Dean von mir erfahren? Oh, und hast du zufällig ein Bild von ihm dabei?« Ich habe keine Ahnung, was hier gerade mit mir geschieht, aber ich glaube, ich bin neugierig auf mein Kind. MEIN KIND! Himmel, mir wird schwindelig bei dem Gedanken. Und doch ist da ein kleines, leises Flattern ein gutes Stück unter meinem Herzen. Ein kleines Flattern, ein vorsichtiges Versprechen auf etwas, das ich noch nicht ganz benennen kann. Es ist ein seltsam gutes Gefühl. Ein Gefühl, das versucht meine innere Leere zu füllen. Nur ein wenig. Kaum spürbar. Aber es ist da. Und ich möchte so sehr, dass es wächst. Okay, für diese Gedankengänge ist es noch ein bisschen zu früh, aber ich will es einfach nicht ignorieren.

Joshua zieht sein Handy aus der Gesäßtasche und öffnet die Bildergalerie. »Hier schau!«

Ich blicke auf das Display und traue meinen Augen nicht. »Verflucht, er sieht aus wie ich in seinem Alter.«

»Ja, und jetzt stell dir mal vor, dir hätte aus heiterem Himmel eine jüngere Ausgabe deiner Selbst gegenübergestanden.«

»Oh Mann, womöglich noch im Restaurant. Ich wäre komplett ausgeflippt«, gebe ich leise zu. »Na gut, bin ich ja jetzt auch. Aber den Schaden, den ich bei Dean damit angerichtet hätte …«

»Ja, das hätte ihn sicher aus der Bahn geworfen.«

»Entschuldige, dass ich vorhin einfach abgehauen bin.«

Joshua klopft mir vertraulich auf die Schulter. »Vergiss es. Ich weiß nicht, wie ich an deiner Stelle reagiert hätte. Alles gut.«

»Okay. Danke.« Ich lasse meinen Blick durch die Natur schweifen und flüstere: »Und wie geht es jetzt weiter?«

»Das liegt ganz bei dir.«

»Ich würde ihn gerne sehen.« Eine Feststellung, so ernst und wahr, dass ich von mir selbst überrascht bin.

»Oh, Rico, das will er doch auch. Wir müssen nur einen Weg finden, wie wir es bewerkstelligen.«

»Was ist mit Johanna?«

»Sie wird nicht begeistert sein. Ich weiß nicht, was damals zwischen euch gelaufen ist. Sie hat es mir nicht erzählt.«

Es sollte nach all der Zeit, die vergangen ist, nicht mehr schmerzen. Aber das tut es dennoch. Denn ich bin mir immer noch nicht darüber im Klaren, wie ich es habe vermasseln können. »Ich geb’s ungern zu, aber ich weiß selbst nicht, warum sie mit mir Schluss gemacht hat.«

Joshuas Blick huscht ungläubig zu mir. »Ist das dein Ernst?«

Und dann schildere ich einem wildfremden Mann die Story meines Lebens. Er ist der erste Mensch, dem ich sie anvertraue. Und es fühlt sich auf seltsame Weise richtig an. Während ich ihm von Johanna und mir erzähle, schüttelt er immer wieder fassungslos den Kopf. Als ich ans Ende gelange, sitzen wir beide entgeistert nebeneinander und starren nun gemeinsam schweigend aufs Wasser, bis Joshua flüstert: »Und ich dachte immer, ich kenne meine Schwester. Ich verstehe es nicht.«

»Weißt du, ich würde eine Menge dafür geben, zu erfahren, was damals schiefgelaufen ist.«

»Lass uns erst einmal die Sache mit Dean regeln und dann«, Joshua springt behände vom Baum und dreht sich schwungvoll zu mir um, »dann knöpfe ich mir meine Schwester vor.«

 

~*~

Ende der Leseprobe

Impressum

Texte: Nele Betra
Bildmaterialien: shutterstock / Nele Betra
Lektorat: Brigitte Melchers
Tag der Veröffentlichung: 27.08.2017

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