Kapitel 1
- Jamey -
Ich bin müde. Mir ist schweinekalt, mein Rücken protestiert lautstark bei jeder Bewegung und wenn ich nicht bald etwas Gehaltvolleres als pappige Sandwiches zwischen die Kiemen bekomme, falle ich vom Fleisch. Obendrein bin ich so langsam, aber sicher mit meiner Geduld am Ende. Nach vier Monaten, in denen ich kreuz und quer durch Kanada gereist bin, um meines Ex-Schrägstrich-Mistkerl-Kollegen Tyrone Willard habhaft zu werden, will ich einfach nur noch nach Hause. Ich sehne mich nach einer vernünftigen Mahlzeit, einem sauberen, weichen Bett, vorzugsweise meinem eigenen, und einem Menschen, mit dem ich mich zivilisiert unterhalten kann. Oh, und eine heiße Wanne wäre wundervoll.
Mittlerweile bin ich an einem Punkt gelangt, wo mir beinahe alles egal ist und ich liebend gerne meine Deckung auffliegen lassen würde, nur um endlich wieder nach Revelstoke zurückkehren zu können. Scheiß auf meinen Ruf. Scheiß auf meine Karriere. Scheiß auf …
Nein, kommt nicht infrage. Ich hänge so tief drin und habe viel zu viel auf mich genommen. Es wäre Schwachsinn, aufzugeben. Ich spüre es in den Eingeweiden, dass Willard in absehbarer Zeit einen Fehler begeht. Er fühlt sich gehetzt, kann nirgends hin, ohne Angst haben zu müssen, erkannt zu werden. Die Landesgrenzen sind für ihn tabu, er steht auf der Fahndungsliste und würde in Nullkommanix hinter seinem Rücken das metallische Klicken von Handschellen hören, sollte er nur den Versuch wagen, das Land zu verlassen. Und das ist ihm auch absolut bewusst, denn schließlich hat er neben seinem Hobby als Brandstifter jahrelang als Sergeant seinen Dienst verrichtet.
Ich zermartere mir seit einer Ewigkeit das Hirn darüber, wie er es angestellt hat, unentdeckt zu bleiben. Nicht nur, was seine Verbrechen angeht – was ich mir damit erkläre, dass er durch seinen Job auf dem Laufenden blieb und uns somit immer einen Schritt voraus war –, sondern dass nicht einmal ich, als ein langjähriger Kollege, hinter seine saubere, aufrichtige Fassade geblickt habe. War ich wirklich so blind? Mir hätte doch ein Licht aufgehen müssen. Allein die Tatsache, dass er mit seinen fünfundvierzig Jahren immer noch Sergeant war und keine Ambitionen zeigte, seine berufliche Laufbahn voranzutreiben. Aber ich dachte mir nichts dabei. Nicht jeder ist ein Alphatier, darauf bedacht, Karriere zu machen. Nein, es gibt genug Menschen, die mit dem zufrieden sind, was sie haben und wer sie sind. Und das ist auch völlig in Ordnung. Aber Willard verfolgte wohl den Plan, als durchschnittlich und unauffällig abgestempelt zu werden. Jemand, den man gerne übersieht, weil er sich in keiner Weise in den Vordergrund spielt. Das hat er geschafft. Es geht mir echt an die Nieren, dass ich dermaßen auf ihn reingefallen bin.
Wenn ich so wie jetzt kurz davor stehe, an meiner Menschenkenntnis zu zweifeln, fallen mir Logans Worte ein: »Willard ist ein Soziopath. Du hattest keine Chance.« Vor meinem inneren Auge sehe ich Logan direkt vor mir, wie er sich lässig irgendwo anlehnt und mich schief angrinst.
Ich ziehe meine Jacke enger um mich, rutsche tiefer in den Autositz und spüre, wie sich mir ein wehmütiges Lächeln ins Gesicht schleicht. Oh ja, Logan ist schon etwas Besonderes. Das ist mir in der ersten Sekunde aufgefallen.
Momentan scheinen Selbstgespräche an der Tagesordnung zu sein, denn wie so oft murmle ich vor mich hin: »Reiß dich zusammen, Bradford! Logan ist Geschichte.« Zumindest, was über eine Freundschaft hinausgehen würde. Mein Timing war mies. Wie immer, wenn es um Männer wie ihn geht. Männer, bei denen ich mir etwas Ernstes gut hätte vorstellen können.
Nach langer Zeit sprang ich über meinen eigenen Schatten. Ein Schatten, der aus inneren Dämonen und Selbstzweifel besteht. Ich nahm all meinen Mut zusammen und traute mich, den ersten Schritt zu machen. Leider umsonst, denn Jack war schneller oder eben einfach der Richtige für Logan. Wer weiß schon, ob es mit uns überhaupt funktioniert hätte.
Obwohl ich Logan in die Kategorie Typ-für-nur-eine-Nacht einstufte, hätte ich es gerne auf einen Versuch ankommen lassen. Ihn hätte ich sogar so nahe an mich herangelassen wie niemanden sonst seit acht Jahren. Ich seufze tief auf, denn um ehrlich zu sein, es wäre nett gewesen, ihn wenigstens einmal durch die Laken jagen zu dürfen. Womöglich ist es auch besser so, denn andernfalls gäbe es nicht diese aufkeimende Freundschaft zwischen uns.
Blödsinn, ich drehe mich wieder im Kreis. Das Thema Logan ist vom Tisch. Und, wie schon gesagt, hätten wir auch nur eine Nacht miteinander verbracht, wären wir definitiv nicht befreundet. Was wir überraschenderweise sind, obwohl wir uns nur einige Male persönlich gegenüberstanden. Aber sobald ich mit ihm telefoniere, gibt er mir das Gefühl, er würde sich Sorgen um mich machen – als ein Freund, versteht sich.
Das bringt doch alles nichts. Kopfschüttelnd setze ich mich wieder auf und konzentriere mich auf den Hauseingang in etwa hundert Meter Entfernung. Den Leihwagen – mittlerweile der vierte oder fünfte, hab aufgehört mitzuzählen – parkte ich an einer strategisch optimalen Stelle. Durch umstehende Bäume und spärliche Straßenbeleuchtung fällt er trotz des frisch gefallen Schnees nicht auf, verschwindet im Hintergrund wie weißes Rauschen, da er genau diese Farbe hat. Von hier aus habe ich nicht nur das Motel im Blick, sondern auch die einzige Straße, die es in diesem Kaff zu geben scheint.
Laut einer netten Verkäuferin, mit der ich mich vor einer guten Stunde in einem winzigen Store unterhielt, hat sich ein Mann, dessen Beschreibung auf Willard passt, in diesem Motel einquartiert. Woher die gute Frau das wissen kann? Das ist schnell erklärt. Wir befinden uns in einer Kleinstadt Namens Iskut, gefühlt aus vier Häusern bestehend und einem Lebensmittelladen, der zugleich Post und Diner ist. Dass es hier ein Motel gibt, ist unerklärlich. Iskut liegt achtzehn Autostunden nördlich von Revelstoke entfernt – am Arsch der Welt. Das Nest hat sicher nur dreißig Einwohner, wenn überhaupt, und der Besitzer der Absteige ist der Schwager jener Verkäuferin. Tja, die Welt ist klein und noch kleiner in Iskut.
Allerdings ist dieses verschlafene Örtchen eine gewaltige Verbesserung, wenn ich daran zurückdenke, wo ich in den letzten Wochen schon überall rumgekurvt bin. Da gab es Orte, deren Namen ich nicht einmal aussprechen konnte. Ich rechnete jede Sekunde damit, von den Einheimischen verschleppt zu werden. Mir ist immer noch schleierhaft, was Willard dort überhaupt wollte. Dachte er ernsthaft, er könne sich irgendwo häuslich niederlassen und ein beschauliches Leben führen? Nicht solange ich atme. Zumindest ist das mein Plan. Ich muss jedoch zugeben, dass mich die ganze Sache zermürbt.
Dieser Scheißkerl hat es doch bisher tatsächlich geschafft, mir permanent durch die Lappen zu gehen. Ich war so oft so nah dran, ihn zu kriegen. Nur jedes Mal, wenn ich dachte, ich hätte ihn, verschwand er wenige Augenblicke vorher. Mir ist es ein Rätsel, wie er das anstellt. Es ist, als hätte er den siebten Sinn und wüsste immer genau, wann ich in seiner Nähe bin. Mir ist zudem noch etwas aufgefallen. Willard hinterlässt Spuren, die so offensichtlich sind, dass ich den Eindruck gewinne, er würde mit mir Katz und Maus spielen.
Warum ich überhaupt hinter ihm her bin? Ich bin Police Inspector. Es ist also mein Job. Na ja, sagen wir mal so: Willard war der Meinung, mich zum Narren halten zu können, was mir nicht gefiel.
Nachdem ich ihn festgenommen und die Staatsanwaltschaft Anklage wegen Brandstiftung in mindestens zwei Fällen gegen ihn erhoben hatte, sollte sein Fall in Vancouver verhandelt werden. Nur dummerweise hat ihm am Tag seiner Überführung jemand dabei geholfen, sich abzusetzen. Und dieser Jemand kann nur aus den eigenen Reihen stammen.
Die Abteilung für interne Angelegenheiten trat auf den Plan und nahm die Ermittlungen auf, im Zuge derer ich suspendiert wurde – offiziell zumindest.
Es gibt nur eine Handvoll Menschen, die über die Fakten Bescheid wissen. Einer davon ist mein Vorgesetzter Commissioner Gordon Heinzman, schließlich hat er mir damals den Befehl erteilt, Willard zur Strecke zu bringen.
*
Aber von Anfang an. Ich bin sicher kein ängstlicher Kerl, dennoch ging mir während der Vernehmung durch die Dienstaufsicht ganz schön der Arsch auf Grundeis und ich sah bereits meine Karriere den Bach runtergehen, da sie felsenfest der Meinung waren, ich wäre derjenige gewesen, der Willard zur Flucht verhalf.
Dann trat Heinzman überraschend für mich ein, gab mir Rückendeckung und nahm die Sache in die Hand. Er verbürgte sich für mich, was ich ihm hoch anrechne, obwohl ich keine Ahnung habe, wie er es angestellt hat. Denn die Abteilung für interne Angelegenheiten nimmt in der Regel keine Rücksicht und verfolgt einzig und allein ihr Ziel, Dienstvergehen aufzudecken. Dienstvergehen klingt viel zu harmlos dafür, dass hier jemand einem nachweislichen Straftäter zur Flucht verholfen hat.
Und was Heinzman angeht. Ich hatte bisher zwar keine Probleme mit ihm, aber unser Verhältnis war rein dienstlich und zuweilen etwas unterkühlt. Ich nahm all die Jahre, die ich nun schon für ihn arbeite, an, dass ich eher eine geduldete Person auf seinem Revier wäre. Wenn man so will, der Quotenschwule. Denn daraus habe ich noch nie einen Hehl gemacht. Dem scheint jedoch nicht so zu sein. Und ich denke, ich habe mich gewaltig in ihm getäuscht.
Als mein direkter Vorgesetzter forderte er ein Vieraugengespräch mit mir. Er setzte mich darüber in Kenntnis, dass er mir niemals zutrauen würde, Willard geholfen zu haben und davon ausginge, ich werde selbst bei einer Suspendierung, die unweigerlich im Raum steht, nicht locker lassen und auf eigene Faust gegen Willard ermitteln. Den Umstand könne er dann auch gut und gerne für seine Zwecke nutzen, denn er würde ums Verrecken nicht zulassen, dass ihn einer seiner Männer hintergeht. Ihm wären dahingehend leider die Hände gebunden, so gerne er selbst Willard zu fassen bekäme.
Seine deutlichen Worte erstaunten mich. Zumal ich ihn dermaßen angepisst noch nie erlebt hatte und er mich dann wohl doch besser kennt, als ich bisher annahm. Nachdem ich ihm zähneknirschend zustimmte, nickte er und verließ sein Büro, um mit den Männern der Internen zurückzukehren.
Somit saßen wir zu viert um seinen Schreibtisch herum, während er ihnen den Vorschlag unterbreitete, mich auf Willard anzusetzen. Was natürlich im ersten Moment auf taube Ohren traf. Aber Heinzman wäre nicht Heinzman, wenn er nachgegeben hätte. Er erklärte ihnen kurz und knapp, dass ich wahrscheinlich der Einzige bin, der überhaupt eine Chance hätte, Willard auf die Spur zu kommen, da ich ihn schließlich am besten kennen würde. Wie mein Boss auf den schmalen Pfad kommt, nachdem auch ich hinters Licht geführt wurde, ist mir nicht ganz klar. Aber er hatte mit seiner Annahme recht, dass ich versuchen würde Willard zu finden. Denn sollte ich suspendiert werden, hatte ich einen Ruf wiederherzustellen – meinen. Was bis zu diesem Moment jedoch nur ein vager Gedanke war, sprach Heinzman offen aus, als hätte er ihn direkt aus meinem Kopf gefischt.
Nach dieser seltsamen Unterhaltung erlangte ich auf wundersame Weise das Vertrauen der Männer und wir einigten uns darauf, dass ich offiziell als freigestellt gelte, um inoffiziell zu ermitteln, und so die Gefahr eingedämmt wäre, dem Maulwurf ungewollt Informationen zukommen zu lassen, die er dann natürlich Willard zuspielen würde.
Erwartungsgemäß erhielt ich klare Richtlinien. Im Zuge der Ermittlungen sollte ich wenn möglich jeglichen Kontakt zur Außenwelt vermeiden. Etwaigen Verwandten und Freunden sollte ich erzählen, ich wäre im Urlaub. Die Interne erklärte sich sogar damit einverstanden, nur von Heinzman und nicht von mir persönlich auf dem Laufenden gehalten zu werden. Die Angelegenheit ging dermaßen rasend vonstatten, dass ich noch völlig durch den Wind war, als ich in meinem Schlafzimmer Klamotten zusammensuchte, um mich an Willards Fersen heften zu können. Hey, ich bin Inspector, spezialisiert auf Brandermittlungen, kein Undercover-Agent à la James Bond.
Auch wenn es meinem Ego schmeichelte, dass Heinzman so viel Vertrauen in mich setzt und ich Willard mit hundertprozentiger Sicherheit auch auf eigene Rechnung verfolgt hätte, war mein Bauchgefühl, was ihn anging, mies. Und klar, für Heinzman bin ich nur ein Werkzeug, um seine eigenen Ziele zu erreichen, da mache ich mir nun wirklich nichts vor. Aber ich bin wohl derjenige, der seiner Entscheidung größtes Verständnis entgegenbringen kann.
*
Tja, so kam es also dazu, dass ich nun hier sitze, mir den Allerwertesten abfriere und hungrig wie ein Bär bin.
Ich bin ehrlich, zu Beginn war es mehr als abenteuerlich. Man gab mir die Chance, den Kerl zur Strecke zu bringen, der seit mindestens vierzehn Jahren Menschen ins Unglück gestürzt hat. Sei es, weil er ihre Existenzgrundlage zerstörte oder weil Angehörige ums Leben kamen. Und nicht zu vergessen, wegen dem mein Ruf auf dem Spiel stand. Noch nie im Leben fühlte ich mich derart gefordert. Nur ist es so, dass mich diese 007-Nummer in keiner Weise mehr beeindruckt. Und richtig, ich habe im Grunde nicht nur einmal gegen die Anweisung verstoßen, mich von der Außenwelt abzuschotten, da ich hin und wieder Logan kontaktierte. Aber diese kurzen Telefonate geben mir Halt. Denn ich weiß, da ist jemand, dem etwas an mir liegt, auch wenn es nicht auf die Weise ist, wie ich mir gerne gewünscht hätte und er auch keine Ahnung hat, wo ich mich aufhalte.
Immer noch in meine Gedanken vertieft nippe ich am mittlerweile kalten Kaffee, als die Fahrertür unvermittelt aufgerissen wird, ich erschrocken zur Seite blicke und denke: Scheiße, warum erst jetzt?, ehe Schmerz in meinem Gesicht explodiert und alles um mich herum in Dunkelheit versinkt.
Kapitel 2
- Donovan -
»Schönen Feierabend, Alex. Wir sehen uns in ein paar Tagen«, rufe ich von der Ausgangstür zurück in die Praxisräume, während ich mir den Schal enger um den Hals wickle, meine Handschuhe anziehe und zugleich gegen mein schlechtes Gewissen ankämpfe. Ich muss mich regelrecht dazu zwingen, die Klinke herunterzudrücken.
»Ja, ja. Und mach dir bloß keinen Stress«, entgegnet meine aufmüpfige Angestellte, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, um die Ecke zu schauen. Ich kann sogar hören, wie sie mit den Augen rollt.
»Und vergiss nicht …«, will ich Alex erinnern, als ich sofort von ihrem Erscheinen unterbrochen werde und sie wie eine Rachegöttin auf mich zustürzt, um mich zur Tür hinauszuschieben.
»Das hatten wir gestern schon besprochen. Und ich möchte ungern an die gefühlten zwanzig Mal von heute denken. Du hast mir eine To-do-Liste erstellt, diese als Dokument wahrscheinlich auf allen Rechnern im Umkreis von dreißig Kilometern gespeichert und sie bestimmt hundert Mal ausgedruckt. Ich besitze sogar zwei Exemplare in meiner Wohnung. Und ich sage dir, das ist abnormal. Also fang jetzt bitte nicht wieder von vorne an.« Sie steht in der Tür, als wolle sie mir den Zugang zu meiner eigenen Praxis verweigern. »Und jetzt geh endlich heim, mach, was auch immer du um diese Uhrzeit machst und genieße deinen Urlaub, so kurz er auch sein mag.«
»Alexandra Brown! Du kannst doch nicht …«
»Wie du siehst, kann ich es doch. Und komm mir nur nicht mit meinem vollen Namen. Die Zeiten, als mir das noch imponiert hat, sind vorbei, Chef.« Sie verriegelt die Glastür von innen und winkt mir ein letztes Mal zu, während ich verdattert davor stehe und ihr dabei zusehe, wie sie die Beleuchtung im Empfang und Warteraum ausschaltet. Dann schnappt sie sich das schnurlose Telefon und verschwindet ohne einen Blick zurück durch die hintere Tür zu unseren Patienten.
Natürlich bin ich ihr nicht böse. Sie hat ja vollkommen recht und meint es auch nicht so, wie es für Außenstehende wirkt. Alex ist nur zu Mitmenschen biestig, die sie mag. Alle anderen werden kategorisch ignoriert.
Es wird tatsächlich Zeit, dass ich ein paar Tage ausspanne. Aber das sagt sich leichter, als es in Wahrheit ist. Immerhin war es mein innigster Wunsch, Veterinär zu werden und eine eigene Praxis aufzubauen.
Es ist schon etliche Jahre her, als ich sie stolz eröffnete und seitdem um jeden Hund, jeden Vogel, Nager oder Exoten gekämpft habe. Nicht dass es in Revelstoke ein Überangebot an Tierarztpraxen gäbe. Das ist nicht der Fall. Meine ist die erste überhaupt, die es in meiner Heimatstadt gibt. Aber sämtliche Tierhalter sind bis dato in die nächstgrößere Stadt gefahren und haben ihre Lieblinge dort behandeln lassen. Es hat seine Zeit gedauert, bis sie Vertrauen in meine Fähigkeiten entwickelten. Jetzt kann ich über den Zustrom nicht klagen. Was der Grund für eine Auszeit ist, so kurz sie auch sein mag.
Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich dem Unausweichlichen zu ergeben. Also stapfe ich durch den frisch gefallenen Schnee zu meinem Auto und fahre endlich heim – ein Zweizimmerapartment im Haus meiner Eltern.
Ja, ich lebe noch unter ihrem Dach. Seltsam? Finde ich nicht. Wir pflegen ein sehr gutes Verhältnis. Mom ist mehr eine Freundin für mich und Dad, na ja, Dad ist eben Dad. Er sagt selten mehr, als er muss. Aber wenn er dann mal den Mund aufmacht, hat es Hand und Fuß.
Ich steige aus meinem Wagen und höre Harley hinter der Haustür bellen. Er weiß immer ganz genau, wenn jemand von der Familie vorfährt, und kann es partout nicht erwarten, denjenigen zu begrüßen. Was mich auch davon abhält, über die Außentreppe zu meiner Wohnung hinaufzugehen. Ich will gerade den Schlüssel aus der Jackentasche fischen, als Mom grinsend die Tür öffnet und somit den Weg für Harley freigibt, der im Galopp durch den Schnee sprintet und seine nassen Vorderpfoten mitten auf meinem Kaschmirmantel parkt.
»Oh, Mom, war das jetzt wirklich nötig?«, jammere ich, während ich in die Hocke gehe und versuche einem feuchten Hundekuss auszuweichen. »Und was suchst du hier? Wieso bist du nicht im Morelli’s?«
»Dir auch einen wundervollen Abend, mein Junge. Du hast Glück, mich anzutreffen, ich bin eigentlich schon wieder auf dem Sprung. Und ich glaube, ich hatte schon erwähnt, dass du eindeutig zu eitel bis, um der Sohn deines Dads zu sein, oder?«, zieht sie mich wie immer gnadenlos auf.
Harley winselt und fordert meine volle Aufmerksamkeit ein. Mir ist klar, er lässt nicht eher von mir ab, bis ich ihn nicht ausgiebig gekrault habe. Und ihm ist dabei gleich, wo wir uns befinden oder ob es junge Hunde regnet. Die Bemerkung meiner Mutter ignoriere ich geflissentlich und frage: »Warst du schon die Abendrunde mit ihm laufen?«
»Ich wollte mir gerade den Mantel schnappen und mit ihm gehen, bevor ich zu deinem Dad zurückfahre. Aber wenn du magst, überlasse ich es gerne dir«, entgegnet sie und kommt mir bereits mit ausgestreckter Hand entgegen, um mir meine Tasche abzunehmen.
Ich schaue zu ihr auf und schüttle nur grinsend den Kopf. »Das hast du geplant.«
»Was? Das würde ich doch niemals tun. Und woher hätte ich wissen sollen, dass du auf dem Weg bist?«
»Von Alex?«, schlage ich vor.
Mom schaut verlegen zur Seite und nuschelt: »Könnte sein, dass sie kurz angerufen hat.«
Ich lache. »Könnte sein? Der Buschfunk zwischen euch funktioniert besser als der vom CSIS.«
Sie grinst mich an. »Oh, jetzt vergleichst du uns schon mit dem Geheimdienst. Das wird ja immer schlimmer.«
»Glaub mir, Mom, der Canadian Security Intelligence Service würde euch vom Fleck weg verpflichten, wenn er auch nur den Hauch einer Ahnung hätte, was ihr zwei so auf die Beine stellt, um auf dem Laufenden zu bleiben.«
»Jetzt übertreibst du aber. Und ich denke nicht, dass sie Italiener auf Dauer ertragen würden.«
Ich tätschle Harleys Flanke und erhebe mich, um mir den Schnee vom Mantel zu klopfen. »Also gut, wenn du mir sein Geschirr bringst, dreh ich mit ihm eine große Runde.« Mein Blick gleitet forschend über den Himmel. »Das Wetter scheint zu halten.«
Mom eilt ins Haus, stellt meine Tasche ab und bringt mir die Leine. Während sie sich in eine dicke Jacke einmummelt, gurte ich Harley an. Dann werde ich in eine feste Umarmung gezogen und fast schon gewaltsam mit dem Gesicht auf Augenhöhe gezerrt, damit sie mir einen Kuss auf die Stirn geben kann. »Essen steht oben im Herd. Nur kurz aufwärmen«, erklärt sie mir, derweil sie ihre Handschuhe überstreift. »Ich dachte, du hast vielleicht Hunger, wenn du kommst.«
»Danke, Mom. Wir sehen uns morgen früh.«
»Schlaf gut.« Sie steigt in ihr Auto und rauscht davon.
Eins ist glasklar, meine Mutter war nicht hier, weil sie irgendwas vergessen hat, sondern um mir das Essen in mein Apartment zu stellen, nachdem sie von Alex erfahren hat, dass ich auf dem Weg bin.
Als ich mit Harley die Straße entlangschlendere, muss ich unwillkürlich an meine Familie denken.
Dad, gebürtiger Kanadier, lernte meine Mom in Italien kennen, verliebte sich Hals über Kopf und entführte sie nach Kanada. Ein schwieriges Unterfangen, denn meine Großeltern sträubten sich anfangs dagegen, ihre Tochter einem rüden Kanadier zur Frau zu geben und ihm dann auch noch zu gestatten, sie außer Landes zu schaffen. Nun gut, es war wohl doch ziemlich hilfreich, dass Mom augenblicklich schwanger wurde. Meine Großeltern fanden sich eher damit ab, ihre Tochter ziehen zu lassen, als deren Ruf ruiniert zu sehen.
Das ist jetzt achtunddreißig Jahre her und ihre Ehe ist gleichermaßen turbulent wie zu Beginn. Aber wen wundert’s? Emilia Morelli ist mit einem temperamentvollen Charakter gesegnet, weiß, was sie will und wie sie es bekommt. Und mein Dad, tja, der ist ihr immer noch so verfallen wie damals, als er sie das erste Mal sah. Sie lieben sich abgöttisch, auch wenn Mom ihm gerne mal mit dem Rührholz droht.
Francesca und Frederico, meine älteren Zwillingsgeschwister, die nicht nur sehr italienische Vornamen erhielten, sondern auch das Temperament meiner Mutter, würde es im Traum nicht einfallen, etwas anderes machen zu wollen, als im familieneigenen Restaurant zu arbeiten.
Meinen dann doch sehr normalen Vornamen verdanke ich Dad. Ich glaube, es war das erste und letzte Mal, dass er sich so vehement gegen eine Entscheidung seiner Frau stellte. Denn wenn es nach Mom gegangen wäre, würde ich Filippo oder so ähnlich heißen. Zum Glück beharrte Dad am Tage meiner Geburt auf Donovan und erklärte mir dann später, dass er schließlich Verstärkung gegen die italienische Übermacht brauchte.
Aber zurück zu unserer familiären Leidenschaft: Das Morelli’s. Es ist keine typische Pizzabude mit rot-weiß karierten Tischdecken und Windlichtern. Hier handelt es sich eher um gehobene italienische Küche in einem sehr luxuriösen Ambiente. Selbstverständlich werden neben fantastischen Kreationen meiner Mom auch Klassiker wie Brodetto, eine köstliche Fischsuppe, oder Spaghetti Bolognese serviert, aber eben nicht nach 08/15. Mom liegt das Kochen im Blut und sie zaubert selbst aus den einfachsten Zutaten etwas Besonderes.
»Na, das ist ja eine Überraschung. Sag bloß, Alex hat dich endlich dazu überreden können, aus der Praxis zu verschwinden«, höre ich Jack von Weitem rufen.
Ich stöhne genervt auf, während Harley nach vorne prescht, um den Kerl zu begrüßen, der mich sauber abserviert hat, aber mit dem ich dennoch freundschaftlich in Kontakt stehe, da ich seinen gefiederten Freund namens Bandit regelmäßig als Gast empfange. »Alter Verräter«, flüstere ich Harley zu, ehe wir die Straßenseite wechseln. An Jack gewandt erwidere ich: »Ich glaube, ich muss ein ernstes Wörtchen mit ihr reden. Du bist jetzt schon der Zweite, den sie darüber informiert hat.«
»Sei nicht so streng mit ihr. Sie meint es doch nur gut.«
Neugierig blicke ich mich um. »Und warum bist du allein unterwegs? Wo ist deine bessere Hälfte?«
»Logan ist zu Hause. Ich wollte eigentlich nur noch ein paar Sachen aus dem Supermarkt holen, die ich heute Nachmittag vergessen habe.«
»Und du bist zu Fuß unterwegs und machst diesen riesigen Umweg, weil …?«
Jack hockt vor mir und krault Harley zwischen den Ohren, als er zu mir aufschaut und mich schief angrinst. »Ich wollte nur mal sehen, ob es dir gut geht.«
Ich reiße vor Überraschung die Augen auf und muss ein selten dämliches Gesicht ziehen, denn Jack klopft Harley die Seite und steht lachend auf. »Jetzt guck nicht so betreten, nur weil ich wissen will, wie es dir geht.«
»Und das ist dir wichtig seit …?«
»Seit ich weiß, dass es scheiße ist, allein zu sein. Und ich dachte, wir wären so was wie Freunde.«
»Oh bitte, komm mir nicht mit der Bekehrernummer.«
»Hatte ich nicht vor. Also, wie sieht’s aus?«
Seit wann ist er so hartnäckig? Bis vor ein paar Monaten war ihm nichts wichtiger, als mich auf Abstand zu halten. Ich bin nicht beschränkt. Mir ist klar, warum er das getan hat. Er dachte, ich würde nicht akzeptieren können, dass wir dann und wann nur eine schnelle Nummer schieben. Na ja, so ganz falsch lag er damit nicht. Ich hätte schon gerne mehr von ihm gewollt. Aber ich dränge mich niemandem auf. So nötig habe ich es dann auch wieder nicht. »Danke der Nachfrage. Mir geht’s prächtig.«
»Schön zu hören. Ich hoffe, du weißt, dass du jederzeit mit mir reden kannst, wenn du jemanden zum Quatschen brauchst.« Jack macht den Eindruck, als hätte er auf ein Pfefferkorn gebissen. Es scheint ihm wichtig zu sein, mir das zu sagen, aber dennoch fällt es ihm schwer. Ehe ich darauf antworten kann, fragt er aus heiterem Himmel: »Du sag mal, glaubst du, es wäre möglich, kurzfristig noch einen Tisch für zwei im Morelli’s zu ergattern?«
»Verdammt, Jack, du hast Themenwechsel drauf, da wird’s mir ganz schwindelig. Wie kommst du nur darauf, ich könnte dir da eine Auskunft geben? Du weißt doch genau, dass ich maximal zum Essen dort auftauche.«
»Na ja, ist mir nur so eingefallen. Ich bin eh auf dem Weg, dann kann ich auch gleich vorbeischauen und Rico fragen. Und ähm …«
Die Unterhaltung wird irgendwie immer merkwürdiger. »Warum druckst du jetzt herum? Sag, was du denkst«, fordere ich ihn auf. Himmelherr, wir haben es schon miteinander getrieben – nicht nur einmal – und ich bin der Arzt seines Kakadus, obendrein könnten wir uns nicht aus dem Weg gehen, selbst wenn wir es wollten. Dazu ist Revelstoke zu sehr Dorf. Was also kann bitte so schwierig dran sein, einfach mit der Sprache herauszurücken?
»Wir geben morgen Abend eine Party. Ganz ungezwungen. Und ich wollte dich fragen, ob du Lust hast vorbeizukommen. Du fährst doch erst am Sonntag, oder irre ich mich?«
»Bei dir?«, hake ich nach. Denn ich weiß, Logan hat sein Apartment noch nicht aufgegeben. »Und richtig, Sonntag früh geht’s los.«
»Ja, bei mir. Bei Logan wäre es wohl auch etwas beengt. Zumal er in den nächsten Tagen seinen restlichen Kram zu mir schafft.«
»Oh, dann zieht ihr nun vollends zusammen? Schön.« Wenn das letzte Wort ein wenig abfällig geklungen hat, lag es echt nicht in meiner Absicht. Ich winke ab. »Sorry, alte Gewohnheiten.«
Jacks Schultern sinken mit einem Mal erleichtert herunter und er grinst mich endlich gelassen an. »Schon okay. Ist halt ’ne blöde Situation, oder? Aber ich würde mich wirklich freuen, wenn du kommen könntest.«
»Und Logan hat kein Problem damit?«
»Quatsch, es war ja seine Idee.« Schockiert blickt er mich an. »Mist, das hört sich jetzt total bescheuert an, oder? Er fragte mich nur vorhin, ob ich dich nicht auch einladen wolle. Und na ja, da dachte ich, warum auch nicht, schließlich sind wir Freunde.«
Er windet sich wie ein Aal. Und um ehrlich zu sein, verschafft mir das eine gewisse Genugtuung. Dennoch muss ich ihm zustimmen, wir sind so was wie Freunde. Vielleicht noch etwas gehemmt im Umgang miteinander, aber das lässt sich überwinden. »Also gut, wann steigt die Party?«
»Gegen acht. Sei einfach da. Für Essen und Getränke ist gesorgt.«
»Dann ist es sozusagen eine Logan-zieht-zu-Jack-Party? Oder steckt noch mehr dahinter? Du hast keinen Geburtstag, das weiß ich. Logan etwa?«
»Nein«, nuschelt Jack plötzlich reichlich verlegen, ehe er kurz angebunden befiehlt: »Komm einfach!« Dann tätschelt er Harley zum Abschied den Kopf und stiefelt ohne ein weiteres Wort an mir vorbei in Richtung Mainstreet.
Ich blicke auf meinen vierbeinigen Begleiter hinab, der mich im Gegenzug neugierig mustert. »Was bitte war das denn jetzt?« Mit einem unwilligen Schnauben legt Harley das Thema ad acta und zieht mich hinter sich her. Es fehlte wirklich nur noch sein Schulterzucken.
Harley und ich nehmen den langen Weg, der uns zu einem Waldstück führt, wo ich ihn von der Leine lassen kann. Was ich jedoch nur tue, da ich weiß, dass er aufs Wort hört. »Na, dann lauf, mein Junge.«
Das lässt er sich nicht zweimal sagen. In der nächsten Sekunde sehe ich ihm dabei zu, wie er durch tiefen Schnee hechtet und fröhlich bellt. Auch ein Umstand, den hier draußen niemand stört, egal wie spät es ist. Ich hänge mir die Leine über die Schulter, vergrabe meine Hände in die Manteltaschen und laufe langsam weiter, während Harley wie von der Tarantel gestochen vorläuft, um dann sofort wieder zu mir zurückzukehren. Das Spielchen hält er notfalls Stunden aus, schließlich ist er ein Husky.
Nun gut, dann also morgen noch eben die Party bei Logan und Jack, bevor ich mich am Sonntag vor Sonnenaufgang in mein Auto schwinge, um endlich mal Urlaub an der Westküste zu machen. Eine verrückte Idee, wenn ich bedenke, dass ich mindestens sechzehn Stunden unterwegs sein werde. Aber ich muss einfach aus Revelstoke weg, um tatsächlich abschalten zu können. Ich hoffe nur, das Wetter spielt noch solange mit. Wenn ich erst einmal angekommen bin, ist mir egal, ob es schneit oder nicht. Mit Sicherheit ist es in dem Ferienhaus, das ich angemietet habe, auch bei rauer Witterung gemütlich und ich kann den Ausblick aufs Wasser genießen.
Kapitel 3
- Jamey -
Schmerz. Sinne raubender, bohrender Schmerz, der mein Hirn schier zum Explodieren bringt.
Wo bin ich?
Trotz der wahnsinnigen Kopfschmerzen versuche ich meine Augen zu öffnen, was mir jedoch nicht gelingt. Obwohl es dunkel ist, fühlt es sich an, als rammte mir jemand glühende Pfeile in die Augäpfel. Also lasse ich meine Handflächen umhertasten und erkunde so meine nähere Umgebung. Offenbar liege ich auf einem Bett. Meins? Möglich. Ich weiß es nicht.
Es scheint mitten in der Nacht zu sein, kein Funken Helligkeit dringt durch meine Augenlider, die ich vorsorglich fest verschlossen halte. Ich atme tief durch, horche in die Dunkelheit. Erdrückende Stille. Außer meinem eigenen Atem und einem muffigen Geruch nehme ich nichts wahr.
Langsam wälze ich mich auf die Seite, was sofortige Übelkeit zur Folge hat und mich augenblicklich zurück auf den Rücken zwingt. Flach ein- und ausatmend kämpfe ich den Würgereiz nieder, der sich beharrlich in mir aufbaut. Mein Körper fühlt sich tonnenschwer an. Ich könnte im Moment nicht aufstehen, geschweige denn zur Toilette rennen, selbst wenn ich wollte. Ich bin froh, einfach nur hier zu liegen, hoffend, dass das irrsinnige Pochen hinter meinen Schläfen und dieses fiese Schwindelgefühl verebbt.
Mein Puls beruhigt sich allmählich, die Übelkeit lässt ein wenig nach, als mein Verstand anfängt zu arbeiten und Fragen über Fragen auf mich einstürmen.
Habe ich am Abend einen über den Durst getrunken? Einen Moment denke ich über diese Möglichkeit nach. Ich weiß es nicht.
Welcher Tag war gestern, welcher ist heute? Ich weiß es nicht.
Abermals frage ich mich: Wo bin ich? Keine Ahnung.
Und dann die Frage aller Fragen: Wer bin ich? ICH. WEISS. ES. NICHT.
Die Erkenntnis katapultiert mich geschockt in eine sitzende Position und ich reiße unwillkürlich die Augen auf. Was eine weitere Welle an Schmerz und Übelkeit über mich hereinbrechen lässt, sodass ich mir instinktiv an die Stirn greife, an der ich unter meinen Fingerspitzen Feuchtigkeit verspüre. Irritiert schaue ich auf meine Hand. Es ist jedoch zu dunkel, um sehen zu können, was es ist.
Stück für Stück gewinnt meine Sicht an Schärfe, meine Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit und ich kann rechts von mir diffuse Umrisse eines Fensters erkennen. Einige Meter vor mir befindet sich eine Tür, unter der ein Streifen Licht ins Zimmer dringt. Zittrig quäle ich mich auf die Füße und taumele vorsichtig durch den Raum, um an der Wand neben der Türzarge entlangzutasten. Tatsächlich finde ich einen Schalter, den ich betätige. Gleißendes Licht strahlt von der Zimmerdecke, lässt mich qualvoll aufstöhnen und abermals meine Hand an den Kopf heben. Auf halber Strecke halte ich erschrocken inne. Meine Finger sind blutverschmiert. Für eine Bestandsaufnahme von mir selbst lasse ich meinen Blick über meine Kleidung gleiten. Winterstiefel und Jeans sehen sauber aus. Auch wenn ich mich nicht daran erinnern kann, wann ich sie angezogen, geschweige denn gekauft habe. Mir ist nicht mal klar, ob es sich überhaupt um meine eigenen Klamotten handelt. Mein Oberkörper steckt in einem dicken Pullover, bei dessen Anblick mir erneut übel wird. »Scheiße!«, fluche ich, als ich die cremefarbene Wolle über und über mit Blut besudelt sehe. Meine Stimme kommt mir ebenfalls fremd vor. Was ist hier nur los?
Panik macht sich in mir breit. Ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, was mich hinter der Zimmertür erwartet, reiße ich sie auf, stolpere blindlings hinaus den Flur entlang, die Treppe hinunter und an einem älteren Mann vorbei, der bei meinem Erscheinen entsetzt aufspringt, um mir mit den Worten »Oh mein Gott, was ist passiert?« hinterherzuhetzen.
Wie vom Donner gerührt bleibe ich vor dem Haus stehen, blicke mich um und sehe in eine idyllische Winterlandschaft, so friedlich, dass es schon fast absurd anmutet. Ich unterdrücke ein hysterisches Lachen und kämpfe ein weiteres Mal gegen Schwindel und Übelkeit an, sauge die kalte Nachtluft in mich ein. Was zum Geier geschieht mit mir?
Eine kräftige Hand packt meinen Oberarm, lässt mich zusammenzucken. Wie durch dicken Nebel höre ich eine besorgte Stimme rufen: »Um Himmels willen, Mr. Cooper! Sagen Sie doch was!«
Gegen meinen Willen gehe ich in die Knie. Mein Körper sinkt wie ein nasser Sack auf den Gehweg, scheint mir nicht mehr zu gehorchen. Und das, wo er doch im Moment das Einzige ist, bei dem ich mir sicher bin, dass er mir gehört. Mein Verstand nimmt die Information meines Namens auf. Cooper also? Ein Anfang, denke ich noch, bevor mir die Lichter ausgehen.
*
Mit einem Gefühl der Schwerelosigkeit driftet mein Bewusstsein unter der Oberfläche der Realität, bricht nur dann und wann durch. Es ist eigenartig. Ich nehme mich selbst wahr, spüre, wie mein Körper bewegt wird und sanfte Hände etwas mit meinem Kopf anstellen, kann Stimmengewirr um mich herum hören und dennoch schaffe ich es nicht, meine Augen zu öffnen oder mich in irgendeiner Weise bemerkbar zu machen. Es ist, als würde jemand auf der Leitung stehen. Ich kann Informationen empfangen, aber keine senden. Obendrein bin ich so unendlich müde. Nur meine Neugier bringt mich dazu, angestrengt den aufgebrachten und zugleich besorgten Stimmen zu lauschen.
»Wir können hier nicht viel für ihn tun. Die Jungs müssten in den nächsten Minuten eintreffen, um ihn nach Kitimat ins General Hospital zu fliegen. Ah, da kommen sie ja schon.«
Plötzliches Dröhnen übertönt ihre Wortwechsel, bevor es wieder etwas leiser wird.
»Du musst doch wissen, wer bei dir eincheckt«, höre ich einen Mann vorwurfsvoll ausrufen, ehe sich ein anderer – er klingt wie der Typ, der mir aus dem Haus gefolgt ist – vehement zu rechtfertigen versucht.
»Ich kann dir nur sagen, dass er vorhin von einem gewissen Mr. Black auf dessen Zimmer gewuchtet wurde. Als ich ihn fragte, ob etwas mit dem Mann nicht stimmen würde, meinte er nur lächelnd, Cooper hätte wohl ein Bierchen zu viel gehabt. Ich hab mir doch nichts dabei gedacht. Wenn ich gewusst hätte …«
»Der Mann ist voller Blut. Und das ist dir nicht aufgefallen?«, unterbricht ihn der wütende Mann. »Zeig uns das Zimmer. Wir sehen uns um und schauen nach, ob wir seine Ausweispapiere finden. Und dann brauchen wir noch die Daten von diesem Black. Ich hoffe für dich, dass du die hast.« Die letzten Worte verklingen, als würde er sich entfernen. Vielleicht hat er das ja auch. Aber wer …?
Irgendetwas wird mir auf das Gesicht gepresst und ich spüre für eine Sekunde wieder diese Panik in mir aufsteigen, ehe mich eine Gleichgültigkeit erfasst, die mich selig und ruhig dahingleiten lässt.
* Ende der Leseprobe*
© 2017 Nele Betra
Texte: Nele Betra
Bildmaterialien: shotterstock / Nele Betra
Lektorat: Brigitte Melchers / Bernd Frielingsdorf
Tag der Veröffentlichung: 05.07.2017
Alle Rechte vorbehalten