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Leseprobe Kapitel 1-3

Feuer

- Logan -

 

»Was zum Henker treibst du da oben?«, brüllt mir Owen, mein Flugleiter, über das Headset ins Ohr, während ich durch eine dicke Rauchwand fliege und versuche mit heftigen Turbulenzen klarzukommen, die durch die aufsteigende Hitze verursacht werden.

Der gewaltige Feuerteppich, über den ich hinwegfliege, entwickelt eine Gluthitze, die mir den Atem nimmt und mich zu grillen versucht. Der Himmel über mir verschwindet hinter einer massiven Rauchdecke, die ebenfalls zu glühen scheint, denn sie hat die Farbe des Feuers angenommen, das unter mir wütet. Bäume explodieren regelecht durch die wahnsinnige Hitzeeinwirkung, der sie ausgesetzt sind, und zerstieben in Abermillionen glühende Teilchen. Ein wunderschöner und zugleich tödlicher Funkenflug. Denn angefacht durch den starken Wind, der von Sekunde zu Sekunde an Kraft zunimmt, findet er seinen Weg in angrenzende Baumkronen, um sich dort über neue Nahrung herzumachen.

In einem unzugänglichen Gebiet wie diesem hier in den Rockys, über dem ich mich gerade befinde, gibt es nur noch wenig, was einem dermaßen außer Kontrolle geratenen Waldbrand entgegengesetzt werden kann.

Da wären auf der einen Seite die Feuerspringer: Mutige Männer und Frauen, die zuvor mit Fallschirmen von einem meiner Kollegen so nah wie möglich an der Brandstelle abgesetzt werden, um sich von dort zu Fuß weiter vorzukämpfen und mit primitivsten Hilfsmitteln wie Handpumpen, Spaten und Sägen Brandschneisen zu schlagen und so versuchen, das Inferno unter Kontrolle zu bringen. Sie tragen für den Notfall ein sogenanntes Iglu mit sich, welches sie aufbauen, sollten sie eingeschlossen werden oder es zu einer Überrollung durch das Feuer kommen. Es hält maximal 900 Grad aus.

Und dann wären da noch wir: Piloten wie ich, die mit ihren Maschinen und deren Ladung unterstützend von oben eingreifen. Und da ich einmal hier bin …

Owens hysterische Schreierei veranlasst mich nur, die Lautstärke meiner Kopfhörer runterzuregeln, ehe er mir einen Tinnitus vom Feinsten verpasst.

Um ihn nicht mit meinem Schweigen dazu zu animieren, seine Stimmbänder ein weiteres Mal überzustrapazieren, antworte ich in ruhigem Tonfall: »Meinen Job, wenn ich mich nicht irre.«

»Den du mit Sicherheit nicht mehr lange ausüben wirst, solltest du nicht augenblicklich deinen Arsch aus der Gefahrenzone bringen.«

»Was ich auch vorhabe, sobald ich meine Fracht über dem Zielpunkt abgeworfen habe.«

»Logan, du hörst mir wie immer nicht zu. Der Wind hat sich gedreht und kommt jetzt böig mit vierzig Knoten aus Südwest. Wenn du also nicht vorhast deinen Hintern rösten zu lassen, solltest du sofort abdrehen.«

Ich höre ihm nicht zu? Der Kerl sitzt mir wie ein Zwerg im Ohr, brüllt mich permanent an und behauptet, ich höre ihm nicht zu? Und was denkt der sich eigentlich? Dass ich die Jungs da unten im Stich lasse? »Owen, ich habe wirklich keine Zeit, mit dir zu diskutieren. Was wir allerdings später gerne bei einem kühlen Bier nachholen können.« Mein Herz rast und pumpt mir Unmengen Adrenalin durch die Adern. Und dennoch gebe ich mich unbesorgt.

Das Steuerhorn nach vorne drückend, bringe ich mein Baby in den Sinkflug, was mich nur noch tiefer in die Feuerhölle am Boden eintauchen lässt. Ich kann das wütende Monster regelrecht hören und spüren, wie es fauchend mit todbringenden Klauen nach mir und meiner Maschine greift. Aber das darf ich nicht zulassen, denn zwischen den Bäumen sitzen ein paar gute Männer fest, die ihr Leben an vorderster Front für andere in Gefahr bringen. Und sollte ich es nicht schaffen, ihnen die Flucht in Richtung Fluss zu ermöglichen … Nein, darüber kann und will ich jetzt nicht nachdenken.

Genau vor meiner Nase steigt eine Leuchtkugel in den Himmel auf, um sofort wieder im dicken Rauch zu verschwinden. Ich atme fürs Erste durch und höre auch schon Charlies dringliche und rauchige Stimme. »Feuerboss an Tanker 39. Verdammt, Logan, wo bleibst du?«

»Haltet euch bereit. Bin direkt über euch.« In dem Moment, als ich sie vorwarne, werfe ich zig tausend Liter Löschmittel ab, was mir Charlie mit einem Jubelschrei über Funk quittiert.

»Darf ich davon ausgehen, dass ich getroffen habe?«, frage ich unnötigerweise und grinse zufrieden vor mich hin, ehe ich abdrehe und zurück zur zehn Kilometer entfernt liegenden Einsatzbasis fliege, um meine Lady ein weiteres Mal betanken zu lassen.

»Du Himmelhund!«, brüllt er außer Atem.

»Jetzt seht zu, dass ihr da rauskommt!«

»Sind unterwegs.«

Der Rückflug dauert nicht lange und ich sehe bereits im Geiste einen tobenden Charlie am Rand der Landebahn stehen. Das gibt sicher eine seiner Predigten.

 

*

 

Ich liebe meinen Job. Es ist zwar nicht der, den ich immer wollte, aber er ist alles, was ich habe.

Meine Karriere bei der Royal Canadian Air Force nahm vor drei Jahren ein jähes Ende. Der Witz an der ganzen Sache ist, dass es mich nicht im Einsatz erwischt hat, wie man es sich zwar nie wünscht, was aber immer noch besser wäre, als bei einem Trainingsflug wie ein Anfänger auf die Landebahn zu krachen. Nun gut, mittlerweile sehe ich es nicht mehr so verbissen. Denn wie sich im Nachgang herausstellte, war es nicht mein Verschulden.

Endlich hatte ich es geschafft, bei den Seeaufklärern in Comox stationiert zu werden, als mich auch schon das Material im Stich ließ.

Ich flog als Copilot mit der Dash-8 meinen dritten Einsatz, als bei der Landung das Bugfahrwerk wie ein Streichholz wegknickte. Dummerweise hatten wir Pech und bekamen die Maschine nicht mehr unter Kontrolle, weshalb sie ausbrach und auf die Seite fiel.

Alles halb so tragisch, denkt man, denn immerhin ist sie nicht explodiert. Meine Wirbelsäule fand es allerdings nicht so spaßig. Ich zog mir heftige Stauchungen zu, die mir ein paar kleine Langzeitschäden hinterließen.

Lange Rede, kurzer Sinn: Mir wurde von einem netten Militärarzt ein gesundheitlicher Bedenklichkeits-Stempel aufgedrückt. Was mich natürlich nicht hätte aus der Air Force ausscheiden lassen. Aber ich lebe, um zu fliegen, und nicht, um hinter einem Schreibtisch zu versauern. Also nahm ich, wenn auch schweren Herzens, meinen Abschied und versuchte mein Glück in Abbotsford, etwa sechzig Kilometer von Vancouver entfernt.

Nun ja, Glück ist wohl etwas übertrieben, denn ein alter Freund legte ein gutes Wort für mich ein. Somit erhielt ich die Chance, mich als Feuerflieger zu beweisen.

Ich absolvierte die Ausbildung und bin seitdem bei jedem Waldbrand in Kanada mit von der Partie.

 

*

 

Nach nicht einmal zehn Minuten rolle ich über die Landebahn und hinüber zu meinem Stellplatz. »Verdammt! Ich hab’s gewusst!«, murmle ich, als ich die Motoren abschalte und Owen vor der Halle stehen sehe.

»Schätzchen, geh in Deckung. Er ist stinksauer«, warnt mich Chloe, Owens rechte Hand und Tochter, über Funk mit einem Lachen in der Stimme vor.

»Danke für den Tipp, Süße«, erwidere ich so cool wie möglich, nehme das Headset ab und hänge es über das Steuerhorn, ehe ich mich abschnalle und die Cockpitkuppel öffne, um auszusteigen.

»Hast du jetzt vollends den Verstand verloren?!«, höre ich Owen über den Lärm, der hier herrscht, hinweg schreien.

»Himmel, verschone mich bitte mit deiner Gardinenpredigt«, entgegne ich genervt, im Wissen, dass bei Owen kein einziges Wort ankommt.

Ich springe von der letzten Sprosse, drehe mich um und winke den Jungs zu, die bereits mit ihren Schläuchen zugange sind, um meine Douglas wieder aufzutanken. »Gebt mir ’ne viertel Stunde. Ich muss nur mal eben in die Keramikabteilung«, rufe ich ihnen zu und ernte belustigtes Kopfschütteln, ehe sie mich ignorieren und ihrer Arbeit nachgehen.

Es hilft alles nichts, ich muss mich dem Unausweichlichen stellen: Owen in Bestform. Ich hole tief Luft, setze ein lässiges Grinsen auf und lege einen Arm um seine Schultern, was mir nicht so ganz gelingen will, da er ein Koloss von Kerl ist. Nein, nicht das, was ihr denkt. Ich würde ihn eher als quadratisch, praktisch, gut bezeichnen. »Owen, mein Freund, was gibt’s? Oh, übrigens, hast du abgenommen?«

Sein Blick fällt automatisch auf seine dicke Plauze und er zupfelt am Hosenbund herum. »Ach, na ja, vielleicht ein klein …« Owen bemerkt sofort seinen Fehler und räuspert sich, ehe er sich kerzengerade aufrichtet und mich knurrig von der Seite anfunkelt. »Mistkerl!«

Selbst im Dunkeln sehe ich, wie er bis zu den Ohren rot anläuft. Sehr gut, ich habe ihn aus dem Konzept gebracht. Funktioniert aber auch immer wieder, denke ich und verkneife mir ein Schmunzeln, bevor ich ihn frage: »Schon was von den Jungs gehört? Sind sie rausgekommen?«

»Charlie hat sich gemeldet, sie haben es bis zum Fluss geschafft.« Er sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Dank dir. Aber das rechtfertigt noch lange nicht, dass du dich meinen Anweisungen widersetzt hast.«

»Ach, komm schon, Owen. So wild war es doch gar nicht.«

»Hör auf mit dem Scheiß von wegen: Ach, komm schon, Owen«, wiederholt er meine Worte mit dem gleichen bettelnden Unterton. »Wenn dieser Einsatz vorbei ist, erscheinst du in meinem Büro.« Ich will bereits Einwände vorbringen, als er abrupt stehen bleibt, sich zu mir beugt und flüstert: »Kein einziges Wort mehr.« Er macht auf dem Absatz kehrt und stapft wütend davon.

Perplex verharre ich an Ort und Stelle und starre ihm hinterher. Verdammt, ein deutlicheres Zeichen, dass ich den Bogen überspannt habe, benötige ich nicht. »Scheiße!«

 

*

 

Die Nacht neigt sich ihrem Ende zu. Das Feuer leider nicht. Es ist hartnäckig und frisst sich Meter für Meter tiefer in unbegehbares Terrain, was die Einsätze für den Bodentrupp immer gefährlicher werden lässt.

Ich will eigentlich nicht pausieren, aber selbst ich muss mir irgendwann Erschöpfung eingestehen und dass ich in meinem jetzigen Zustand eine Bruchlandung hinlege, sollte ich mich noch einmal in die Lüfte erheben. Also gehe ich im Morgengrauen in die provisorisch eingerichteten Schlafunterkünfte, um mir zumindest für ein oder zwei Stunden etwas Ruhe zu gönnen.

Der kleine, beschauliche Flugplatz in der Nähe von Fort McMurray, mit gerade mal einer Lande- und Startbahn, die sonst nur von Flugenthusiasten genutzt wird, gleicht dem Vorhof zur Hölle. Hunderte Einsatzkräfte bevölkern ihn auch noch um diese unchristliche Uhrzeit, machen sich für einen weiteren Einsatz bereit oder sitzen am Ende ihrer Kräfte irgendwo in der Gegend herum und versuchen sich für ein paar Minuten auszuruhen.

Und trotz des vorherrschenden Durcheinanders, des unterschwelligen, rauchigen Gestanks, des fettigen, rußigen Drecks, der überall an einem klebt und mittlerweile ein Teil von einem geworden zu sein scheint, und der Sorge um das Gelingen unserer Mission spürt man den Zusammenhalt. Keiner von uns ist hier, weil er muss, sondern weil er sein Bestes geben will. Jeder Mann, jede Frau würde alles riskieren, um das Leben der Einwohner dieser Region und deren Existenzgrundlage zu retten.

Im Laufe der Zeit habe ich viele wie mich kennengelernt. Menschen, die ihr Leben im Singledasein fristen. Nicht aufgrund mangelnder Kandidaten. Eher eine Notwendigkeit, geboren aus der bitteren Erfahrung, gesehen zu haben, wie es Hinterbliebenen erging, die Partner, Partnerin, Mutter, Vater oder geliebtes Kind während eines Einsatzes verloren.

Wir sind durchgeknallte Verrückte, die mit Galgenhumor in den Tod gehen, wenn es sein muss. Aber irgendjemand muss diesen Job schließlich erledigen.

Zum Teil wird mir nachgesagt, ich würde übertreiben, hätte einen Heldenkomplex. Aber das ist Schwachsinn. Mag ja sein, dass ich mich das eine oder andere Mal ein wenig zu weit aus dem Fenster lehne, um mein Ziel zu erreichen. Aber ich würde niemals so weit gehen, eine Mission mit voller Absicht zu sabotieren, nur um danach als der Retter in der Not dazustehen.

Rufe und Motorengeräusche nehmen immer mehr ab, verhallen in der Morgendämmerung, je näher ich der Notunterkunft komme. Eine seltsame Ruhe erfasst mich und zugleich eine Nervosität, als hätte ich etwas vergessen. Ihr kennt das sicher. Endlich hat man den stressigen Tag hinter sich gebracht, um dann in aller Ruhe seinen Feierabend zu genießen, und plötzlich nagen Zweifel an einem. Von der Sorte: Habe ich mein Bestes gegeben? Ist es tatsächlich nötig, jetzt eine kurze Auszeit zu nehmen? Was wäre, wenn in der Zwischenzeit etwas geschieht, das ich hätte verhindern können?

»Du siehst aus, als würdest du dem Nächsten, der dir über den Weg läuft, an den Hals gehen«, höre ich Chloe aus dem Dunkeln flüstern.

Irritiert blicke ich mich um, will ergründen, woher ihre Stimme kommt, und nehme ihren Umriss im Durchgang zum Tower wahr. »Hey, Süße. Du bist ja immer noch hier.«

Sie schaut den Flur zu den Schlafräumen entlang und winkt mich dann zu sich. »Komm mal mit. Ich muss mit dir reden.«

Für Chloe ist es untypisch, so ernst zu sein, weshalb ich mir sofort Sorgen mache und ihr willig in ein angrenzendes Büro folge. Sind meine aufkeimenden Zweifel etwa berechtigt?

Sie bittet mich herein und schließt hinter uns die Tür, ehe sie eine kleine Schreibtischlampe einschaltet und an mir vorbeigeht, um dann vor dem Fenster stehen zu bleiben und auf die Betriebsamkeit vor dem Gebäude zu starren.

Ich trete hinter sie und schaue ebenfalls hinaus, bevor ich ihr vorsichtig eine Hand auf die Schulter lege. »Chloe, was ist los?«

Sie verschränkt ihre Arme vor der Brust und schüttelt traurig den Kopf. »Du bringst dich noch um.«

Fünf kleine, leise Worte, die mir jedoch heftiger zusetzen, als würde sie mir Owen ins Gesicht schreien. »Das wird nicht passieren, versprochen.«

»Das Versprechen wirst du nicht halten können, wenn du so weitermachst, Logan.«

Ich bin verwirrt. In mir tobt Bedauern, jemand so wundervollen wie Chloe unglücklich gemacht zu haben. Nur hätte ich nie gedacht, dass ich ihr dermaßen am Herzen liege.

Wir kennen uns seit dem ersten Tag, den ich für ihren Vater fliege. Sie besitzt eine starke Persönlichkeit und nimmt kein Blatt vor den Mund. Weshalb ich sie sofort sympathisch fand. Chloe ist kein Prinzesschen. Sie steht im wahrsten Sinne des Wortes ihren Mann. Unsere Freundschaft war bisher immer sehr kumpelhaft. Es überrascht mich, dass sie nun plötzlich so rührselig erscheint.

Ich umfasse ihre Schultern und drehe sie zu mir um. Was ich nun sehe, verschlägt mir den Atem und verknotet meine Eingeweide. »Himmel, Chloe, du weinst!«, platze ich heraus.

Mein fassungsloser Ausruf veranlasst sie zu einem abfälligen Schnauben. Dann wischt sie sich unwirsch über die Wangen und boxt mir in die Seite. Was mich nur vor Überraschung zusammenzucken lässt, nicht weil sie mir damit Schmerzen zugefügt hätte.

»Ja, du Trottel. Und du bist schuld!«, murmelt sie freudlos.

»Ich verstehe nicht, was mit dir los ist. Du weißt, was da draußen abgeht. Und es war nun wirklich nichts Außergewöhnliches, den Jungs den Weg zu bereiten.«

»Quatsch keinen Müll!«, fährt sie mich an und geht einen Schritt auf Abstand. »Mir ist klar, dass ihr Verrückten ohne eure unerschrockene Art nicht einen einzigen Einsatz überleben würdet. Aber ich beobachte dich nun schon eine Weile. Und glaub mir, wenn ich dir sage, dass du direkt auf eine Katastrophe hinsteuerst.«

Im Ernst, ich bin müde und nicht mehr in der Lage, eine vernünftige Unterhaltung zu führen. Ich fahre mir gereizt durchs Haar und seufze, ehe ich mich ihr wieder zuwende. »Chloe, sei mir nicht böse, aber lass uns das Gespräch hier beenden. Ich will dir nicht wehtun, indem ich etwas sage, was ich hinterher bereuen würde.«

Sie mustert mich eindringlich von oben bis unten. »Ich sehe, dass du fertig bist. Aber ich wollte es dir unbedingt heute noch sagen, bevor du ein weiteres Mal aufsteigst und ich keine Gelegenheit mehr dazu bekomme, weil …«

Meine Hand schnellt hervor und legt sich auf ihre Schulter, um jedes weitere Wort zu unterbinden. »Sag es nicht!« Natürlich bin ich nicht abergläubisch. Allerdings bedeutet es nie etwas Gutes, über Dinge zu reden, geschweige denn auch nur nachzudenken, die nicht eintreten sollen. »Ich schätze deine Sorge um meine Gesundheit, aber sie ist unangebracht.« Ich muss sie irgendwie beruhigen, sonst komme ich heute nicht mehr in den Schlaf und den brauche ich im Moment so dringend wie die Luft zum Atmen. »Weißt du, ich bin kein Anfänger und weiß, was ich zu tun habe. Also bitte, mach dich nicht verrückt, okay?«

»Sicher«, murmelt Chloe, ehe sie mit einem verbissenen Gesicht an mir vorbeistapft und ich sie sagen höre: »Das haben auch schon andere von sich behauptet.« Dann fällt die Tür hinter ihr ins Schloss und ich bleibe in erdrückender Stille mit einem schlechten Gewissen zurück.

 

~*~

 

Seltsamer Überraschungsbesuch

- Jack -

 

Die gegenwärtige Gluthitze setzt mir extrem zu und das, obwohl ich seit Jahren daran gewöhnt bin. Denn die Sommermonate in Kanadas Wäldern können mörderisch sein. Nur irgendetwas fühlt sich heute anders an. Als läge Unheil in der Luft. Ich kann den Finger nicht drauflegen, will es eigentlich auch gar nicht versuchen, schließlich besitze ich nicht den siebten Sinn. Rede ich mir zumindest ein.

Mom hätte es eine Vorahnung genannt und mir ans Herz gelegt, darauf zu hören und Maßnahmen zu ergreifen, wie zum Beispiel das Weite zu suchen. Meine Eltern, im Einzelnen meine Mutter, tickten dahingehend schon immer etwas anders als, sagen wir mal, normale Leute und haben in jeder Lebenslage auf ihr Bauchgefühl gehört – bis auf ein Mal, das letzte Mal, das ich sie lebend gesehen habe, beide.

Wären sie hier, hätten sie längst ihre Sachen gepackt, um irgendwo an die Küste zu verschwinden. Womöglich nach New Glasgow auf der Halbinsel Nova Scotia?, fällt mir ein und ich muss darüber lächeln, auch wenn es ein wehmütiges Lächeln ist. Traurigkeit erfasst mich, wie jedes Mal, wenn ich an sie denke.

Trotzdem sie in meiner frühen Jugend Schottland verlassen haben, um hier neu anzufangen, konnten sie nie wirklich loslassen. Weshalb sie in regelmäßigen Abständen nach Nova Scotia reisten. Wie auch immer. Dort fühlten sie sich ihrer Heimat nahe. Denn eine Reise in die schottischen Highlands war finanziell nicht drin.

Meine Motorsäge kommt abrupt zum Stillstand, als ich den Finger vom Knopf nehme. Ihr unverkennbares Geräusch verklingt als Echo tief in den Wäldern. Ich setze mich auf einen knochentrocknen Baumstamm, ziehe die Arbeitshandschuhe aus und werfe sie neben die nun am Boden liegenden Säge. In der Nähe gehen meine Kollegen weiterhin ihren Tätigkeiten nach und ich höre, wie Äxte rhythmisch immer und immer wieder auf ihr Ziel treffen, während an anderer Stelle Rufe laut werden, die vor fallenden Ästen oder Bäumen warnen.

Genau das ist meine Welt. Es klingt in meinen Ohren wie eine Symphonie von Bach und gibt mir ein Gefühl von Zugehörigkeit. Auch wenn ich kein geselliger Mann bin, genieße ich den Moment. Ich brauche keine langen Unterhaltungen, die in der Regel damit enden, dass man sich einen Schwank aus der Jugend erzählt oder über Eroberungen prahlt. Beides geht niemanden etwas an. Ersteres, weil ich nicht will, dass irgendjemand meint, er müsse mich bedauern, und Letzteres, weil sie wahrscheinlich schockiert wären, würde ich ihnen von meinen erzählen. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie begeistert reagieren, wenn ich ihnen von muskulösen Oberarmen und stoppeligen Kinnpartien vorschwärme.

Wobei die Jungs nach der Geschichte mit Carter und Henry im letzten Jahr abgeklärter sind. Aber gut, ich will es nicht herausfordern und ihnen geht es in dieser Beziehung sicher genauso wie mir. Ich mag ihnen auch nicht zuhören, wenn sie bewundernd über große Oberweiten berichten. Oder … Gott bewahre mich vor noch intimeren Details. Mich schüttelt’s regelrecht, wenn ich weiter darüber nachdenke.

Ich fahre mir mit dem Unterarm, der in einem Flanellhemd steckt, über die Stirn, um mir den in Strömen herablaufenden Schweiß abzuwischen. Dann löse ich meine Mähne und fasse sie erneut am Hinterkopf zusammen, bändige sie in einem festen Knoten. Sicher wären kurze Haare angebrachter und auch angenehmer, aber das kommt mir nicht in die Tüte. Ich mag mein Haar genau so, wie es jetzt ist.

Nach einem tiefen Schluck aus meiner Wasserflasche schweift mein Blick über die Umgebung und ich erwische mich dabei, wie ich nach irgendetwas Ausschau halte, das außerhalb der Norm liegt. »Himmel, Jack! Du benimmst dich wie eine ängstliche Tussi«, nörgle ich über mich selbst.

»Hey, mein Großer!«, tönt Carters Stimme hinter mir.

Wenn man vom Teufel spricht …

Über meine Schulter hinweg werfe ich ihm einen überraschten Blick zu und setze mich aufrecht hin. »Was suchst du denn hier?« Hoffentlich hat er nicht gehört, was ich gerade vor mich hin gegrummelt habe.

»Ich dachte, du freust dich, mich zu sehen.«

Ich winke ab. »Ja klar, du bist nur hier, weil du Sehnsucht nach mir hattest.«

Carter verzieht den Mund, ehe er sich zu mir setzt. »Erwischt.«

»Dacht ich’s mir doch.«

»Na ja, Henry und Avery sind in Vancouver und …«

»… ehe dir die Decke auf den Kopf fällt, dachtest du, könntest du mir auf den Nerv gehen.«

»So ungefähr. Und, wie sieht’s aus? Alles in Ordnung? Oder braucht ihr irgendetwas?«

»Nö, alles bestens.«

Plötzlich mustert er mich eindringlich. »Du lügst.«

»Quatsch. Warum sollte ich? Es ist wirklich alles in Ordnung. Wir liegen gut in der Zeit.« Ich schnaufe theatralisch. »Und wenn du dich fragst, warum ich gelangweilt in der Gegend herumsitze, dann lass dir gesagt sein, dass es dieses Jahr eine mörderische Hitze ist.«

»Stimmt, das ist mir allerdings auch schon aufgefallen.«

Er zupft an meinem Haar. »Schneid dir endlich das Gestrüpp ab!«

»No way, mein Freund.«

Carter lacht leise, ehe er mir freundschaftlich den Rücken tätschelt, aufsteht und flüstert: »So eitel.« Dann zwinkert er mir zu und stapft in Richtung der anderen.

Er ist ein guter Mann und obendrein ein wunderbarer Chef. Ich muss zugeben, nach Williams Tod, Carters Vater, hatte ich meine Zweifel, ob er es tatsächlich schaffen würde, in dessen Fußstapfen zu treten. Aber meine Bedenken waren unbegründet. Er schmeißt den Laden bald besser als sein Dad und seitdem Henry und Avery an seiner Seite sind, wirkt er ausgeglichen. Nun gut, natürlich nur solange sie nicht wie heute in Vancouver weilen. Aber wie ich Henry kenne, sind sie spätestens heute Abend wieder daheim. Man könnte behaupten, Carter ist ein verdammt glücklicher Mann.

Ich schaue auf die Uhr und rapple mich auf, um die letzten Stunden Tageslicht zu nutzen, als mir einfällt, dass wir dieses Wochenende eine Pause einlegen. Das passiert in der Erntesaison eher selten, da wir unser Soll sonst nicht schaffen würden, aber dann und wann ist es notwendig, um neue Energie zu tanken. Wir raffen dann all unsere Habe im Camp zusammen und kehren für kurze Zeit zu unseren Familien zurück. Natürlich nur die anderen, ich habe ja keine. Ich für meinen Teil verbringe meine Freizeit in meiner Hütte – in Abgeschiedenheit und Ruhe.

 

*

 

Es ist bereits mitten in der Nacht, als ich endlich mit einem guten Buch in meinem gemütlichen Sessel vor dem Kamin sitze und die Füße hochlegen kann. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass ich ihn bei der Bullenhitze, die draußen herrscht, nicht angefeuert habe.

Himmlisch, diese Ruhe.

Bevor ich mit meinem Lieblingsspielzeug, einem altersschwachen Quad, das ich mir vor Jahren von Grund auf neu aufgebaut habe, auf den Mount MacKenzie gefahren bin, hatte ich noch einen Abstecher bei Save-on-Foods eingelegt, um meine mageren Lebensmittelbestände aufzustocken. Das Wetter ist wie schon erwähnt trocken und ich habe mir für den nächsten Tag vorgenommen, nichts weiter zu tun, als faul in der Gegend herumzusitzen und ein Steak auf den Grill zu schmeißen. Wobei, das mit dem Grill sollte ich lassen. Es ist einfach zu gefährlich. Nein, ich werde es stattdessen in die Pfanne hauen. Ich möchte schließlich nicht verantwortlich für einen Waldbrand sein.

Meine Augen fallen mir irgendwann zwischen Seite drei und vier zu und ich gleite in einen seligen Erschöpfungsschlaf.

 

*

 

Keine Ahnung, wie spät es ist, als mich ein merkwürdiges Geräusch aufschreckt. Ich blinzele einen Moment, um mir klar zu werden, wo ich mich befinde.

Ah ja, nicht in meinem Wohnmobil, obwohl mir mein Rücken etwas anderes weismachen will. Das Bett dort ist grottig. Draußen wird es langsam hell. Ich kann durch das Fenster diffuse Umrisse von Bäumen erkennen. Die kleine Lampe neben mir, die ich mir zum Lesen eingeschaltet habe, ist immer noch an und verbreitet ein anheimelndes, warmes Licht im Wohnbereich.

Ich horche in die frühmorgendliche Stille meiner Hütte, kann aber nur vage Vogelgezwitscher von draußen vernehmen. Vielleicht war es auch nur ein Traum, denke ich so bei mir, als ich plötzlich ein erbärmliches Krächzen höre. Dermaßen schrill und laut, dass sich mir die Nackenhaare aufstellen und ich sofort aus dem Sessel springe, um meine Winchester aus der Ecke zu schnappen und an die Tür zu schleichen.

Nicht dass ich ein Waffennarr wäre. Sie ist reinweg ein Erbstück meines Großvaters und ich halte sie in Ehren. Davon mal abgesehen, dass sie wunderschön ist und super hierher passt.

Sacht drücke ich die Klinke herunter und ziehe das Türblatt einen Spalt weit auf, um einen Blick auf die Umgebung zu erhaschen. Ich bin ja nun seit einigen Jahren so oft hier oben, wie ich kann, aber das habe ich noch nie gehört. Bitte nicht falsch verstehen, ich kriege jetzt nicht vor lauter Angst die Flatter, aber Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.

Mit dem Repetiergewehr im Anschlag trete ich vor die Tür und … nix. Das Geräusch muss ich mir tatsächlich eingebildet haben, denn der Wald lässt nur seine typischen morgendlichen Klänge verlauten. Ich sichere meine Flinte und senke sie langsam, um wieder reinzugehen und meinen müden Knochen noch ein, zwei Stündchen Schlaf im Bett zu gönnen, als mich etwas oberhalb meines Kopfes ohrenbetäubend ankreischt. Ich mache instinktiv einen Satz nach hinten und nehme die Waffe abermals hoch, während mir fast das Herz im Leib stehen bleibt.

Ich kneife die Augen zusammen, um irgendetwas zu erkennen, ehe mir etwas Helles auf einem Ast auffällt, der direkt über das Dach der Hütte ragt. Bedächtig setze ich einen Schritt vorwärts, als auch schon wieder dieser entsetzliche Laut alles Leben auf dem Mount MacKenzie verstummen lässt, so, als würden der Berg und all seine Bewohner den Atem anhalten. Von der Tatsache mal abgesehen, dass ich wahrscheinlich sowieso nichts hören könnte, da mir die Ohren klingeln, als hätte jemand direkt neben meinem Kopf eine Kanone abgefeuert.

»Was zum Geier?«, flüstere ich und lehne das Gewehr gegen die Holzfassade, bevor ich mich einen weiteren Schritt vorwage.

Meine Augen haben sich mittlerweile an die vorherrschenden Lichtverhältnisse gewöhnt und ich werfe einen intensiven Blick auf das, was sich in ungefähr vier Metern Höhe über mir befindet. Dieses Was-auch-immer ist zwar schweinelaut, aber nicht größer als vierzig Zentimeter. Ich entspanne mich und atme tief durch. Keine Gefahr, ein Glück. Auch wenn es hier Braunbären gibt, habe ich noch nie einen weißen in dieser Größe auf einem Baum hocken sehen.

Meine Fantasie geht mit mir durch und ich muss grinsen, als ich direkt unter dem Vogel zum Stehen komme, neugierig hinaufschaue und er mit schiefgelegtem Kopf und aufgerichteter Federhaube zu mir herunter.

»Lieber Himmel, wer bist du denn?«, frage ich, während sich sein Kopfschmuck nervös auf und ab bewegt und der kleine Kerl von einem Fuß auf den anderen tippelt, als müsste er dringend aufs Klo.

»Du bist aber ein ganz Hübscher. Wo bist du denn ausgebüchst?« Ja, in Ordnung, ich komme mir schon reichlich dämlich vor.

»Tscheat-tscheat!«, brüllt er mich einmal mehr mit aufgerissenem Schnabel an und spreizt seine Flügel, als wolle er mir sagen: Ich habe keine Angst, nur damit du es weißt.

Ich hebe beschwichtigend die Hände. »Hey, komm mal runter. Ich hab dich nicht eingeladen.«

»Tscheat-tscheat«, diesmal etwas leiser und friedlicher.

»Okay, mein Freund. War nett, dich kennenzulernen«, kommentiere ich sein Gezwitscher, wenn man es denn so nennen kann, denn es tut gewaltig in den Ohren weh. Ich weiß, dass Papageien und im Besonderen Kakadus ziemlich intelligent sind. Weshalb ich leichthin sage: »Du kennst sicher den Heimweg. Also hab ein schönes Leben.«

Ein vorwurfsvolles, lang gezogenes »Tscheeeeat« folgt und lässt mich innehalten.

»Sorry, mein Hübscher, aber ich habe frei und werde mir jetzt noch eine Mütze voll Schlaf holen. Wenn du nichts dagegen hast, wäre ich dir sehr verbunden, wenn du eine Weile deinen Schnabel halten könntest oder dich nach Hause verkrümelst.« Ich schüttle über mich selbst den Kopf. Stehe ich hier tatsächlich vor meiner Hütte und unterhalte mich mit einem Federvieh? So langsam geht’s los. Ich sollte mich doch um etwas mehr Geselligkeit bemühen, sonst werde ich noch trotteliger.

Auf dem Weg zur Tür ergreife ich die Winchester. In dem Moment, als ich hineingehen will, höre ich hinter mir schwere Flügelschläge und blicke zurück, um dem Wattebausch adieu zu sagen, da ich davon ausgehe, er würde sich tatsächlich davonmachen. Aber weit gefehlt, er fliegt nicht weg. Nein, ich muss in Deckung gehen, da er direkt auf mich zukommt. Also ducke ich mich, in der Annahme, er würde mich angreifen. Wieder falsch gedacht, denn ich spüre nur einen Luftzug über mir und als ich mich aufrichte, sehe ich ihn gerade noch im Inneren der Hütte verschwinden und auf dem Kaminsims landen. Mit aufgestellter Haube und gespreizten Flügeln läuft er aufgeregt hin und her und sein Kopf wippt dabei stetig auf und ab.

»Ich glaube, du erliegst da einem gewaltigen Irrtum«, erkläre ich ihm.

Seine Aufregung scheint schlagartig verebbt zu sein, denn plötzlich hält er inne und schaut mich mit seinen schwarzen Knopfaugen und zur Seite geneigtem Kopf fragend an. »Tscheat?«

In der Zwischenzeit findet meine Flinte an ihren angestammten Platz zurück und ich gehe abermals zur Tür, um sie so weit wie möglich zu öffnen. »Du kannst nicht hierbleiben.« Ich deute auf den Wohnraum. »Wie du siehst, bin ich auf Papageienbesuch nicht vorbereitet.« Ich kann nur hoffen, dass niemand zufällig vorbeikommt und mich dabei beobachtet, wie ich mit dem Vogel rede. Aber mal ehrlich, er schaut, als würde er jedes verdammte Wort verstehen.

Langsam nähere ich mich ihm und bleibe zwei Schritte vom Kamin entfernt stehen. »Du wirst sicher vermisst«, versuche ich ihm ein schlechtes Gewissen einzureden. Also wirklich, ich leide an einer gewaltigen Macke.

Seine gelben Hauptfedern senken sich langsam, die Atmung wird ruhiger und er wirkt insgesamt entspannt, als er seinen Kopf einzieht und zu einer flauschigen Kugel mutiert. Im nächsten Augenblick schließen sich flatternd seine Augen und ich stehe da wie bestellt und nicht abgeholt. »Das kann jetzt nicht dein Ernst sein«, flüstere ich. Eines seiner Augenlider hebt sich und mich beschleicht der Eindruck, er würde sagen wollen: Du nervst, lass mich schlafen!

Ich schaue zum Eingang zurück. »Verflucht, was mache ich jetzt nur?« Auch wenn es hier draußen friedlich ist, möchte ich die Hütte nicht sperrangelweit offen stehen lassen. Wer weiß, was für Tiere sich dann hier einfinden. »Ja, klar. Der Beweis sitzt direkt vor deiner Nase«, brummle ich, während ich die Tür schließe und ratlos in den Sessel sinke.

An Schlaf ist jetzt nicht mehr zu denken und da ich über keinen Laptop verfüge, bleibt mir nur eins, mich über entflohene Kakadus schlauzumachen: Mein veraltetes, aber immerhin internetfähiges Smartphone.

Um diesen kleinen Banditen nicht aufzuscheuchen, erhebe ich mich behutsam und schleiche lautlos zum Küchenschrank, wo ich gestern Abend mein Handy deponiert habe. Zurück im Sessel schaue ich zu meinem Gast, der mir nur wieder einen genervten Blick schenkt. »Ist ja gut, bin ja schon still«, murmle ich, während ich die Suchfunktion aufrufe und mir Seiten über Papageien anzeigen lasse. »Ach du liebes bisschen. Über zwei Millionen Suchergebnisse.« Das hat so keinen Zweck. Ich würde Tage benötigen, um mich durch diesen Wust an Webseiten zu arbeiten. Eine andere Lösung muss her, und zwar schleunigst. Mir fällt nur eine ein: Donovan McMullen.

Er ist der ortsansässige Veterinär und na ja, wir hatten mal was miteinander. Ist allerdings schon eine ganze Weile her. Seitdem stehen wir in losem Kontakt. Oder besser gesagt, er ruft mich an. In letzter Zeit immer seltener, was auch gut so ist. Er wurde mir schlichtweg zu anhänglich. Und ich wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen, indem ich ihn eiskalt abserviere. Aber er ist ein schlauer Mann und hat es wohl endlich geschnallt, dass zwischen uns nichts läuft, was über einen netten Fick hinausgeht. Was wiederum der Grund ist, warum ich mich jetzt so schwertue, ihn einfach anzurufen. Er könnte es durchaus in den falschen Hals bekommen. »Was für ein Scheiß«, schimpfe ich leise. Woraufhin ein kaum vernehmliches Knattern oberhalb des Kamins ertönt und ich ein »Entschuldigung« verlauten lasse.

Nur sehe ich jetzt keinen anderen Weg, den Kakadu, der auf meinem Kaminsims sitzt, als gehöre er genau dahin, zurück zu seinem Besitzer zu schaffen – sollte ich ihn denn überhaupt ausfindig machen können. Oh, und ich bin nicht vollends verblödet. Nie im Leben wäre ich so selten dämlich und würde dieses Tier mit bloßen Händen anpacken.

In irgendeiner Tierzeitschrift habe ich mal gelesen, Kakadus besitzen dermaßen große Hebelwirkung im Schnabel, dass mich dieser so unschuldig aussehende Wattebausch locker um einen Finger erleichtern könnte. Da ich jedoch jeden einzelnen davon mag und auch in Gebrauch habe, würde ich ungern darauf verzichten müssen. Von den unangenehmen Schmerzen ganz zu schweigen.

Bevor ich mich überwinde Donovan anzurufen, betrachte ich ein weiteres Mal meinen Hausgast. Wie ist das jetzt nur passiert? Ich wollte doch nur meine Ruhe genießen. Aber nein, ich sitze zu einer absolut unmöglichen Zeit in meinem eigens zum Relaxen erschaffenen Rückzugsort und werde von einem dreisten Vogel um meinen Schlaf gebracht.

Wie ich ihn so mustere und er total entspannt in seinem Federkleid zu versinken droht, passiert etwas, dass ich so nicht geplant habe: Ich bedauere ihn. Wenn er so zutraulich ist, ohne Umschweife in mein Haus flattert und sofort einschläft, was so uncharakteristisch für seine Art ist, dann muss er völlig erledigt sein.

Ob er wirklich nur stiften gegangen ist? Was, wenn wir nicht herausfinden, zu wem er gehört? Möglicherweise will er ja aber auch gar nicht mehr zurück, weil er mies behandelt wurde. Na ja, das ist eher unwahrscheinlich. Hätte er einen psychischen Schaden, würde man es daran erkennen, dass er sich die Federn ausrupft. Allerdings ist seinem Federkleid nichts anzusehen. Es ist wunderschön. Strahlt wie eine frisch gefallene Schneeflocke, während auf seinem Rücken die gelben Spitzen seiner Kopffedern hervorspickeln. Sein kurzer, krummer Schnabel ist so schwarz wie seine Augen, nur am Ansatz etwas heller, als hätte er zu viel Puder benutzt. Was wohl auch der Fall ist. Kakadus neigen beim Putzen dazu, Unmengen Talkum abzusondern – eine besondere Art, ihr Gefieder zu pflegen. Wieso weiß ich das nur? Muss wohl ebenfalls in dem Bericht gestanden haben.

Die Richtung, in die meine Gedanken abschweifen, gefällt mir nicht. Es sollte mir egal sein, was mit ihm wird. Ich will für nichts und niemanden verantwortlich sein. Schon gar nicht für einen Vogel, der mir, sobald er wieder zu Kräften gekommen ist, vermutlich die Einrichtung in Streichholz große Stückchen zerlegt.

Ohne länger darüber nachzudenken, suche ich Donovans Nummer heraus und drücke auf »Anrufen«.

Es klingelt und klingelt, ehe mir einfällt, wie früh es ist. Er wird noch nicht wach sein, denke ich, und will bereits auflegen, als ich seine heisere Stimme erstaunt ausrufen höre: »Jack?! Brennt die Hütte?« Trotzdem ich ihn aus dem Schlaf geholt haben muss, scheint er vorher auf sein Display geschaut zu haben. Es hätte mir klar sein müssen, dass er von meinem Anruf nicht nur wegen der Uhrzeit überrascht sein würde.

»Sorry, Don, hab nicht daran gedacht, dass es noch so früh ist.«

»Macht nichts. Nun bin ich wach. Was gibt’s?« Im Hintergrund höre ich ein leises Rascheln. Vermutlich wird er sich nur bequem in sein gemütliches Bett zurücklehnen. Ja, das wäre mir jetzt auch lieber. Also nicht in seinem, sondern in meinem eigenen natürlich – und vor allem allein.

»Ich hab hier ein kleines Problem, bei dem ich deine Hilfe brauche.«

Als er lacht, wird mir die Zweideutigkeit meiner Worte bewusst, jedoch lässt er sie mich nicht genauer ausführen. »Auf den Anruf warte ich schon sehr lange.«

»Blödmann! Ich rede nicht von Sex.«

»Schade«, gähnt er. »Was ist es dann?«

»Mir ist vor ein paar Minuten ein Kakadu zugefLogan.«

»Okay«, kommentiert er gedehnt, so als wäre es das Normalste auf der Welt.

»Na ja, jetzt sitzt er auf meinem Kaminsims und schläft.«

»Glückwunsch, du wurdest adoptiert.«

Ich setze mich abrupt auf, was den kleinen Kerl hochschrecken lässt und er prompt mit einem ätzenden »Tscheat« seine Kopffedern aufrichtet, um mir zu zeigen, was er von dieser unerhörten Störung hält. Nur Sekunden darauf schüttelt er sein Federkleid und kauert sich wieder mit geschlossenen Augen hin.

»Das war er, oder? Hm, vielleicht auch sie.«

»Ja«, flüstere ich in den Hörer und verhalte mich ganz still. »Keine Ahnung, ob es ein Männchen oder ein Weibchen ist. Ist das wichtig? Ich will nur, dass du herkommst und mich von dem Tier befreist.« Ich stocke. »Ähm, so war das jetzt nicht gemeint. Es gibt da doch aber sicher jemanden, der ihn vermisst, denkst du nicht? Schließlich habe ich noch nie von frei lebenden Kakadus in Kanada gehört.« Letzteres sollte ein Witz sein.

Selbstverständlich leben hier keine Kakadus. Kanadas Wälder beherbergen alle möglichen Tierarten. Von Polarfüchsen über Wapitis im Norden bis hin zu Präriehasen und Backenhörnchen im Süden. Und die Bären nicht zu vergessen. Aber ganz sicher keine Tiere, die ihren natürlichen Lebensraum in Australien oder Tasmanien haben. Er oder sie muss also jemandem gehören. Entweder einem Züchter oder einer Privatperson.

»Jack! Hörst du mir mal zu?«, unterbricht Donovan meine Gedanken. Scheinbar redet er schon eine Weile und ich habe ihn glattweg ignoriert.

»Sorry. Was hast du gesagt?«

»Du weißt so gut wie ich, dass diese Tiere hier nicht wild leben. Womit du vollkommen recht damit hast, dass er abgehauen sein muss. Ich kann mich mal schlaumachen, ob irgendjemand etwas weiß …«

»Ja, ja, das ist gut. Aber wann bist du hier, um ihn abzuholen?«

Donovan seufzt auf und sagt: »Okay, ganz ruhig. Fangen wir mal von vorne an. Hast du die Augenfarbe erkennen können?«

»Sicher, er sitzt keine zwei Meter von mir entfernt und blinzelt mich ständig genervt an.«

Mein verzagter Tonfall bringt Donovan zum Lachen. »Er blinzelt nur? Dann scheint er dich wirklich zu mögen, mein Freund. Das wird ’ne harte Nuss. Aber zurück zur Augenfarbe. Also?«

Eine harte Nuss? Was bitte heißt das denn wieder?

»Schwarz.«

»Gut, dann können wir getrost davon ausgehen, dass er tatsächlich ein ER ist. Weiter im Text. Wie sieht sein Federkleid aus?«

Ich schaue zu ihm rüber und verfalle erneut in Bewunderung über dieses makellose Weiß.

»Jack? Wo bist du schon wieder mit deinem Kopf?«

»Ähm, es sieht sauber aus«, gebe ich dümmlich zurück.

»Keine kahlen Stellen?«

»Nicht dass ich wüsste. Hab bisher jedenfalls keine sehen können.«

»Das ist ein sehr gutes Zeichen.« Es raschelt abermals in der Leitung, ehe Donovan fortfährt: »Pass auf, ich ziehe mich an und hole eine Transportbox aus meiner Praxis. In Ordnung?« Einen Moment herrscht Ruhe. »Ich sollte in etwa zwei Stunden bei dir sein. Wirst du es bis dahin noch aushalten?« Seine Frage klingt amüsiert.

»Natürlich!«, wende ich ruppig ein. Schließlich will ich nicht wie ein Weichei dastehen. Das wäre womöglich ein gefundenes Fressen für ihn. Ich höre ihn jetzt schon, wie er mich aufzieht: Mr. Jack Carmichael, geboren in den schottischen Highlands, so robust wie eine deutsche Eiche und grimmig wie ein Grizzly, lässt sich von einem süßen kleinen Vogel einschüchtern.

»Gut. Bis später.« Dann ist die Leitung tot und ich starre auf meine morgendliche Überraschung. Scheinbar schläft er tief und fest und träumt etwas Interessantes, denn ich höre ihn leise vor sich hin schnattern und dann und wann mit dem Schnabel knirschen.

Als ich nach all der Aufregung wieder runterkomme und die Ruhe mich schläfrig macht, entscheide ich mich nicht fürs Bett, sondern bleibe hier sitzen. Wie schon gesagt, er könnte meine Einrichtung zu Kleinholz verarbeiten, während ich im Nachbarzimmer selig ein Nickerchen halte.

Ich schnaube abfällig vor mich hin. Was für ein Quatsch! Wem will ich hier etwas weismachen? Ja okay, ich gebe zu, es beunruhigt mich ein wenig, ihn hier allein zu lassen. Ich meine, könnte ja sein, er wird wach und kann sich nicht erinnern, wie er hergekommen ist, und wird panisch. Das möchte ich mit meiner Anwesenheit vermeiden. Obwohl er dann eventuell noch mehr Angst bekommt.

Ach egal, denke ich noch, ehe mich der Schlaf übermannt.

 

*

 

»Tscheeeeat!«

Mitten aus einem Traum gerissen, rast mein Herz und meine Atmung geht so schnell, dass ich Angst habe zu hyperventilieren. »Himmel, Arsch und Zwirn!«, motze ich und springe heute das zweite Mal wie angestochen aus meinem Sessel.

»Ah ja, das ist er also?«, ertönt Donovans Bass hinter mir und verpasst mir den nächsten Schreck, während ein bedrohliches Fauchen vom Kaminsims meine Nackenhaare zu Berge stehen lässt.

Ich wende mich zur Seite, damit ich den Kakadu und Donovan im Auge behalten kann. »Du bist jetzt friedlich, sonst kommst du in die Pfanne, du beleidigter Gockel.« Mit dem Zeigefinger deute ich anklagend in Richtung Kamin, wo ein aufgeregter Kampfhahn stolz seine Brust herausdrückt, den gelben Kopfschmuck wippen lässt, seine Flügel weit abspreizt – wahrscheinlich, um größer zu wirken – und faucht wie ein aufgebrachter Drache. Es fehlt nur noch, dass Rauchschwaden aus seinen Nasenlöchern aufsteigen.

Dann wende ich mich Donovan zu. »Auch wenn es hier keine Klingel gibt, wäre ich dir sehr dankbar, wenn du dich das nächste Mal bemerkbar machst, wenn du reinwillst.«

»Reg dich ab. Ich habe zwei Mal geklopft.« Er schaut zum Kakadu. »Dein Freund da drüben hat mich gleich beim ersten Mal gehört.«

Hm, das würde dann auch das Geschrei von zuvor erklären, schießt es mir durch den Kopf.

Donovan hebt eine Kunststoffbox hoch. »Die Frage ist, wie wir ihn da reinbekommen.«

»Du bist hier der Tierarzt und solltest wissen, wie das funktioniert. Oder nicht?«

Er zuckt mit den Schultern. »Kakadus sind eher seltene Patienten. Aber gut, lass uns mal sehen.« Dann holt er Handschuhe aus seiner hinteren Hosentasche und streift sie sich über.

Ich blicke zwischen ihm und Bandit hin und her. Bandit? Habe ich dem Kerlchen gerade einen Namen verpasst? Mit einem Seufzer setze ich mich und überlasse Donovan die Bühne.

Mit vorsichtigen Schritten und leisem Gemurmel nähert er sich dem Kamin, was mein Schlafgast mit einem skeptischen Blick quittiert. Er stellt augenblicklich seine Federn auf und tippelt aufgeregt an den äußeren Rand, versucht so viel Abstand wie möglich zu halten.

Donovan flüstert unverständliches Zeug, offenbar, um ihn einzulullen. Was jedoch nicht zu funktionieren scheint, da Bandit Hilfe suchend an ihm vorbei in meine Richtung schielt, als wolle er sagen: Hey, was ist das für ein Clown?

Die Box landet leise am anderen Ende des Kaminsimses. Da dieser jedoch sehr schmal ist, droht sie jeden Moment herunterzufallen.

»Hallo du, na wie sieht’s aus? Hast du Lust, auf eine kleine Reise zu gehen?«, säuselt Donovan in einem fort auf ihn ein.

Plötzlich geht alles sehr schnell. Ich sehe, wie Donovan einen Schritt vor setzt und zupackt. Ein lautes »Tscheat« ertönt und Bandit flattert an seinem Widersacher vorbei, dreht eine Runde im Wohnzimmer und landet schwer auf meiner Schulter.

»Scheiße!«, fluche ich, bleibe jedoch wie versteinert sitzen. Schließlich brauche ich mein Ohr noch und will ihn nicht dazu animieren, es als Frühstück zu missbrauchen.

Donovan verharrt an Ort und Stelle und mustert mich mit einem schiefen Grinsen.

Ich funkle ihn an und flüstere: »Mach was!«

»Ich denke, es ist keine gute Idee, ihn noch mehr aufzuregen. Wir wollen ihm schließlich helfen und keinen Herzinfarkt verpassen.«

»Du bist mir keine Hilfe. Was soll ich jetzt tun?«

»Bleib einfach sitzen und warte ab, was passiert.«

Meine Augen werden groß. Natürlich nicht vor Angst, so weit kommt’s noch. Aber Himmel, auf meiner Schulter sitzt ein Vogel, so groß wie mein Unterarm, und ich spüre regelrecht, wie sich sein Blick in meine Wange bohrt.

»Rede mit ihm«, schlägt Donovan vor.

»Und was?«

»Egal. Irgendwas. Er scheint dich zu mögen. Wenn er deine Stimme hört, fühlt er sich vielleicht sicher und beruhigt sich wieder.«

Ich schlucke hart, bevor ich, ohne mein Gesicht zu ihm zu drehen, wispere: »Du bist aber ein Braver. Hast du vorhin gut geschlafen? Dieser böse Mann da vorne hat dich einfach wach gemacht, stimmt’s?«

Mein Blick liegt auf eben diesem Mann. Und er hat nichts Besseres zu tun, als mich dämlich anzugrinsen. Als würde ich mir nicht schon bekloppt genug vorkommen, verschränkt er sein Arme und lehnt sich gegen den Kamin, um die Show zu genießen.

Erschrocken zucke ich zusammen, als mich etwas Kühles am Ohr berührt. Mit einem Mal ist es, als hätten wir die Rollen getauscht, denn Bandit gibt ein leises Schnattern von sich, als würde er jetzt mich beruhigen wollen.

Meine Neugier siegt über die Angst, mein Ohr oder die Nase zu verlieren, und ich wende ihm mein Gesicht zu, um sofort in riesige, schwarze Kulleraugen zu blicken. Natürlich kommt mir das nur so vor, weil er mir so nahe ist, aber es ist trotzdem ein seltsames Gefühl, denn er wirkt gigantisch. Nicht nur seine Augen, auch sein Schnabel hat etwas Furchteinflößendes an sich. Nun gut, es ist nicht nur ein Werkzeug, um Nüsse und Äste zu zerkleinern, damit er sie als Nahrung zu sich nehmen kann, sondern obendrein eine effektive Waffe, mit der er sich garantiert auch zu verteidigen weiß. Davon gehe ich zumindest mal aus.

Misstrauisch beäugen wir uns gegenseitig und ich traue mich nicht einmal, zu blinzeln.

Keine Ahnung, wie lange wir so dasitzen, aber plötzlich kommt Bewegung in Bandit. Bedächtig setzt er einen Fuß wie in Zeitlupe vor und stupst mich vorsichtig gegen die Nase. Abermals mit diesem schnatternden Ton, der tief aus seiner Kehle zu kommen scheint.

Mein Blick wandert auf seinen Schnabel, der in dieser Entfernung verschwommen wirkt. Ich muss beinahe schielen, um ihn überhaupt sehen zu können. Seine kleine Zunge kommt zum Vorschein und tanzt von einer Seite zur anderen. Sie sieht irgendwie witzig aus, denn sie ähnelt einem schwarzen, ledrigen Wurm, der vorn abgeflacht wie ein Stempel ist.

So was habe ich auch noch nie gesehen. Nun gut, wann macht man sich auch Gedanken über das Aussehen einer Kakaduzunge?

»Hallo!«, flüstere ich. Was er mit einem leisen »Tscheat« kommentiert.

»Geht’s dir gut?«

Keine Antwort. Ja schon klar, ich hatte auch nicht wirklich eine erwartet. Allerdings rückt er noch ein kleines Stück näher und schmiegt sich nun mit seiner Stirn an meine Wange. Himmel Herrgott, ich gebe es natürlich ungern zu, aber das treibt mir glatt Tränen der Rührung in die Augen und schnürt mir die Kehle zu. Wie vertrauensselig der kleine Kerl doch ist.

»Tja, dem gibt es wohl nichts mehr hinzuzufügen«, raunt Donovan, den ich mittlerweile total vergessen habe.

Bandit knabbert äußerst vorsichtig an meinem Ohrläppchen und mir läuft peinlicherweise eine Gänsehaut über den Nacken. Nicht weil es mir unangenehm ist, sondern da es sich seltsam liebevoll anfühlt, was er mit meinem Ohr anstellt.

»Er kann nicht bei mir bleiben. Und das weißt du auch. Ich bin die Sommermonate kaum daheim, wie soll ich mich um Bandit kümmern? Nein, das geht nicht«, rede ich mir selbst ein. Denn in Wahrheit wächst mir der kleine Stinker von Sekunde zu Sekunde mehr ans Herz. Aber wie soll das funktionieren?

»So, so, Bandit!«

»Was?«, frage ich scheinheilig nach.

»Wie ich sehe, hat er sich schon in dein Herz geschlichen, sonst hättest du ihm doch keinen Namen gegeben.«

»Das bedeutet gar nichts«, lüge ich ihn dreist an. »Sag mir, was ich jetzt tun soll. Schließlich bist du doch hier der Fachmann für Tierfragen.«

»Da kann ich dir leider auch keinen Rat geben. Es sieht nur eben mal so aus, als wurdest du tatsächlich von ihm ausgesucht. Sei mir nicht böse, wenn ich dich zu deinem neuen Partner beglückwünsche. Er hat das geschafft, was andere vergeblich versuchen«, neckt Donovan mich, bevor er wieder ernst wird. »Du könntest probieren vorsichtig aufzustehen und ihn zur Box zu bringen. Vielleicht kannst du ihn dazu überreden hineinzuklettern.«

Auch wenn ich Bandits Vertrauen in meine Person mehr genieße, als ich sollte, muss ich der Sache sofort ein Ende bereiten. Es war mir ernst damit, dass ich keinerlei Verantwortung für jemanden übernehmen kann. Schon aus dem Grund, dass ich mich im Sommer in den Wäldern herumtreibe. Also erhebe ich mich vorsichtig. Aus dem Augenwinkel immer den Blick auf seine Reaktion und schleiche im Schneckentempo hinüber zum Kamin, wo die Box auf uns wartet.

Donovan rückt ebenso langsam von uns ab, will ihm auf diese Art seinen Freiraum geben, sodass er sich nicht bedrängt fühlt.

Bandit zwinkert und seine Haube richtet sich abermals auf, aber er bleibt weiterhin auf meiner Schulter sitzen. Während ich mir wie ein Verräter vorkomme.

Leise rede ich im Kauderwelsch auf ihn ein, bis wir an der offenen Box stehen und ich mich vorbeuge, um ihn auf gleich Höhe des Eingangs zu bringen. Ängstlich tippelt er über meine Schulter in Richtung Nacken und krallt sich mit einem Fuß in mein Haar. Was ich nicht sehe, aber spüren kann, da es auf meiner Kopfhaut ziept.

»Na komm schon, Süßer. Dir passiert auch nichts. Du musst doch Hunger haben. Also lass uns zu Donovans Praxis fahren und schauen, ober er etwas Leckeres für dich da hat. Was meinst du?«

Ich bringe meine Schulter so nah wie möglich an die Box und warte. Bandit rührt sich kein Stück, beginnt nur an meinem Haar zu schnubbeln, als würde er mich putzen wollen. Möglicherweise braucht er das jetzt, also lasse ich ihn gewähren, während ich weiterhin gebeugt vor der Box stehe und mir langsam, aber sicher das Kreuz anfängt wehzutun.

Wieder vergehen gefühlte Stunden. Es herrscht absolute Ruhe und ich höre nur die kleinen Laute, die Bandit von sich gibt. Aus welchen Gründen auch immer er der Meinung ist, es wäre nun doch eine gute Idee, in die Box zu wechseln, lässt er von mir ab und tappert hinein, um sich dort auf eine Holzstange zu setzen. Und na ja, sein Blick wirkt irgendwie beleidigt oder anklagend. So als würde ich ihn im Stich lassen wollen.

Ein Gitter schiebt sich in mein Sichtfeld und ich spüre Donovans Hand auf meiner Schulter. »Hier«, wispert er.

Ich nehme ihm das Teil ab, hänge es behutsam in die dafür vorgesehen Ösen an der Box und lege einen kleinen Riegel davor, der die ganze Sache sichert. »Tut mir leid«, raune ich Bandit zu, der nur seinen Kopf abwendet, als würde er nichts mehr von mir wissen wollen. Ja, mir ist klar, dass ich in seine Reaktionen zu viel hineininterpretiere. Aber so kommt es mir nun mal vor.

»Wie geht es jetzt weiter?«, frage ich Donovan, der sich den Griff oberhalb der Transportbox greift und sie behutsam vom Kaminsims nimmt.

»Ich nehme ihn mit in die Praxis. Dort habe ich noch eine leere Voliere, in der er erst einmal unterkommen kann. Dann ziehe ich Erkundigungen ein, ob er als vermisst gemeldet wurde.«

Unbehaglich steige ich von einem auf den anderen Fuß. »Meinst du, ich sollte mitkommen? Nur damit er sich nicht so allein fühlt.«

Donovan lacht und schüttelt verständnislos den Kopf. »Er hat es dir echt angetan, was?«

Ich winke ab. »Ach na ja, nee.«

Er tätschelt meine Schulter. »Ist doch in Ordnung, Jack. Es passiert nicht oft, dass man plötzlich der Mittelpunkt eines anderen wird.« Er klingt traurig. Aber ich will und kann nicht auf ihn eingehen. Denn er würde es sicher missverstehen.

»Das ist wohl etwas übertrieben. Er kennt mich doch nicht einmal.«

»Glaub mir, das ist ihm egal. Er hat sich entschieden. Bei Kakadus kann das blitzschnell gehen. Also, wenn du willst, kannst du gerne mitkommen.«

Ich werfe noch einen Blick auf Bandit, den die ganze Aktion total gestresst haben muss, denn er hat sein Köpfchen unter einen Flügel geschoben und scheint zu schlafen. »Na gut. Aber gib mir eine Minute. Ich muss mich noch frisch machen und umziehen, dann können wir meinetwegen los.«

»Alles klar.«

Fünf Minuten später stehe ich wieder im Wohnzimmer.

»Willst du bei mir mitfahren?«, fragt mich Donovan, der bereits mit Bandit an der Tür wartet.

»Nein, ich nehme mein Quad.«

»Gut. Wir sehen uns unten. Bis gleich.«

»Bis gleich«, grummle ich, da es mir immer schwerer ums Herz wird, wenn ich mir vorstelle, wie ich Bandit bei Donovan zurücklasse.

 

~*~

 

Anschiss oder Lob?

- Logan -

 

Wir haben sage und schreibe eine Woche gebraucht, um den Waldbrand in den Griff zu bekommen. Einige von uns bleiben noch in Fort McMurray, um die endgültige Entwarnung abzuwarten oder notfalls erneut einschreiten zu können. Allerdings ist es nicht mehr notwendig, das gesamte Personal an diesen Ort zu binden. Weshalb auch ich kurz vor meinem Abflug nach Abbotsford stehe. Das zum Glück nur ungefähr 1.500 Kilometer entfernt ist und ich den Überflug in einem Ritt ohne Zwischenlandung zwecks Auftanken schaffe.

Allerdings gibt es noch eine klitzekleine Verzögerung. Denn Owen hat seine Drohung wahr gemacht. Ich stehe gerade in einem Büro, das, solange wir hier sind, zur Einsatzzentrale umfunktioniert wurde, und bekomme von ihm einen mächtigen Einlauf.

»Du bist der dämlichste und sturköpfigste Kerl, der mir je untergekommen ist.« Owens Meinung nach eine Tatsache, die es wert ist, in den mannigfaltigsten Formulierungen ausgedrückt zu werden. Mir war gar nicht klar, wie inspirierend ich doch sein kann. Innerlich feixe ich mir eins, da er sich wunderbar reinsteigert. Als wäre ich der Einzige, der gerne mal über die Stränge schlägt.

»Du brauchst gar nicht so frech zu grinsen«, fährt er mich plötzlich an.

Scheiße, ich hab wohl nicht auf meinen Gesichtsausdruck geachtet. Das muss ich noch üben. »Owen, bitte«, nörgele ich nun.

»Nix, Owen, bitte. Du warst bei der Royal Air Force. Da kann ich doch wohl davon ausgehen, dass du dich disziplinierter verhalten kannst. Du bist kein kleiner Junge mehr. Du trägst Verantwortung …«

bla, bla, bla, hallt es in meinem Kopf wider, während ich versuche, seine endlose Litanei auszublenden. Diesmal mit einer ernsthaft betretenen Miene natürlich. Den Fehler mache ich sicher nicht zweimal. Owen tritt mir vor Wut in den Hintern und befördert mich somit bis nach Alaska, wenn nötig. Und da ist es mir dann doch etwas zu frisch.

»Um dich auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, wirst du den nächsten Reinigungsdienst unseres Hangars übernehmen«, höre ich ihn sagen, kann es aber irgendwie nicht glauben, dass er es ernst meint. Weshalb ich amüsiert pruste.

»Du denkst, das war Spaß? Okay, dann hänge ich den Bürotrakt mit dran.«

Mir fällt die Kinnlade runter und ich will gerade etwas einwenden, als er mich abrupt unterbricht. »Noch ein Wort und du wirst es bereuen.«

Ich gebe mich geschlagen und nicke ihm zu. »Alles klar, Boss.«

»Komm mir jetzt nicht mit dieser Boss-Scheiße. Sieh lieber zu, dass du deinen vermaledeiten Hintern hier wegschaffst, sonst komme ich noch auf ganz andere Ideen.«

Spontan kommt mir da mindestens eine in den Sinn. Aber ich denke nicht, dass er es in seinem aufgebrachten Zustand amüsant fände, wenn ich meinen Einfall kundtun würde. Also setze ich mich lieber in Bewegung und mache mich aus dem Staub.

»Oh, und bevor ich es vergesse«, ruft Owen mir hinterher und ich wende mich ihm ein weiteres Mal zu. »Du hast doch sicher schon davon gehört, dass sich Tremblay Timber Trading nach Feuerfliegern umsieht, oder?«

Ich runzele die Stirn. »Hab da was läuten hören. Was hat das mit uns zu tun?«

»Na ja, sagen wir’s mal so. Sie sind sich noch nicht schlüssig, wie sie ihr Vorhaben umsetzen wollen. Cowley meinte beim letzten Telefonat, sie würden zwei Möglichkeiten in Betracht ziehen. Entweder sie schließen einen Vertrag mit einer Firma wie unserer ab oder sie bauen eine eigene Staffel auf.«

»Ich verstehe nicht, inwiefern mich das tangieren sollte.«

»Ganz einfach. Der nächste Waldbrand kommt mit Sicherheit. Denn dieser Sommer ist zu trocken und zu heiß, als dass wir uns gelangweilt zurücklehnen könnten. Er bat mich, meine Jungs in Alarmbereitschaft zu versetzen. Sollte es Waldgebiete treffen, die Triple-T gehören, würde er uns engagieren. Sozusagen als Testeinsatz, woraufhin sie sich entscheiden werden, in welche Richtung sie weiter verfahren.«

Ich bin mir nicht so ganz im Klaren darüber, was Owen mir damit sagen will, also schließe ich erneut die Bürotür hinter mir und stehe mit verschränkten Armen vor dem Schreibtisch. »Owen, warum erzählst du mir das? Ich meine, es ist deine Entscheidung, welche Geschäftsbeziehungen du eingehst oder auch nicht. Oder willst du mir damit etwa ans Herz legen, ich solle ein artiger Junge sein und mich gut benehmen, wenn es zu einem Einsatz kommt?« Sein vorheriger Anschiss in allen Ehren. Und die lächerliche Strafarbeit nehme ich, wenn auch nicht kommentarlos, hin, schließlich kann ich die Beweggründe dahinter verstehen. Er sorgt sich um seine Leute. Aber das, was ich seinen Worten entnehme, macht mich dann doch ein wenig sauer.

Owen setzt sich stocksteif auf und blickt mich ernst an, ehe er seinen Kopf schüttelt. »Beruhige dich. Das ist es nicht. Du gehst zwar an die Grenzen, wenn es um Risikobewertungen und deinen persönlichen Einsatz geht, aber mir ist klar, dass ich mich auf dich verlassen kann, sobald Professionalität gegenüber Auftraggebern gefragt ist. Was ich eigentlich versuche dir durch die Blume zu sagen, ist, dass das deine große Chance sein könnte.«

»Chance? Wofür?«, frage ich perplex nach.

Owen lehnt sich zurück und mustert mich einen weiteren Moment, bevor er tief durchatmet, als liege ihm etwas extrem Wichtiges auf dem Herzen. »Es ist möglich, dass ich mir mit dem, was ich nun sagen werde, keinen Gefallen tue, das weiß ich jetzt schon«, seufzt er. »Aber ich denke, das muss sein.« Er deutet auf den Stuhl vor mir. »Setz dich, auf ein paar Minuten mehr oder weniger kommt es sicher nicht an, oder?«

Verflucht, will er mich feuern oder was? Mit einem skeptischen Blick pflanze ich meinen verwirrten Hintern auf den ungemütlichen Holzstuhl und warte.

Owen legt seine Unterarme vor sich auf den Tisch und verschränkt seine Finger, ehe er sich in meine Richtung beugt und sagt: »Du bist ein guter Mann, Logan. Aber ich glaube nicht, dass du bei uns auf Dauer glücklich wirst. Jedenfalls nicht so, wie es im Moment läuft.«

»Scheiße! Du feuerst mich tatsächlich.«

Owen reißt erstaunt seine Augen auf. »Was!? Nein, wie kommst du denn auf den schmalen Pfad? Blödsinn! Ich will dir nur sagen, dass du kein Mann bist, der sich gerne unterordnet. Mir ist immer noch schleierhaft, wie du es bei der Air Force ausgehalten hast. Aber das ist ein anderes Thema. Du hast Führungsqualitäten, die du nutzen solltest. Himmel, Logan, überleg doch mal! Wie oft haben wir uns schon wegen Insubordination in die Haare bekommen?«

Ich grinse ihn an. »Weißt du, Owen, wie du eben so schön festgestellt hast, bin ich nicht mehr in der Air Force, also lass doch bitte dieses hochtrabende Gerede.«

»Meinetwegen nenn es, wie du willst. Der Punkt ist, dass du deine eigene Fliegerstaffel leiten solltest. Womit wir wieder auf Triple-T zurückkommen. Glaub mir, ich habe mir in den letzten Wochen nicht nur einmal den Kopf darüber zerbrochen und bin schlussendlich auf folgende Lösungen gekommen. Sollten sie tatsächlich einen Vertrag mit uns eingehen wollen, schaffe ich das nicht mehr allein und du müsstest mehr Verantwortung übernehmen, um mich zu unterstützen. Andernfalls, wenn sie expandieren, ihre eigenen Tanker anschaffen und auch das Personal einstellen, wärst du der perfekte Kandidat für sie, um die Abteilung zu leiten. Solltest du dich also für den Job bewerben wollen, mein Empfehlungsschreiben wäre dir absolut sicher.«

Ich starre ihn an, während seine Ansprache Wort für Wort in meinen Verstand sickert.

»Sag, hast du noch nie darüber nachgedacht, wie es wäre, dein eigenes Ding durchzuziehen?«, fragt er mich.

»Tja, keine Ahnung. Im Grunde hat sich mir diesbezüglich noch keine Option aufgezeigt, weshalb ich noch nie in die Verlegenheit gekommen bin, darüber nachzudenken. Aber es hat was, das muss ich schon zugeben.«

»Gut. Du hast ja noch etwas Zeit, bis es spruchreif wird. Und bis dahin hast du auf der Base genug zu tun. Ich will sie blitzblank vorfinden, wenn ich in ein paar Tagen nachkomme.«

Mir klappt abermals der Unterkiefer herunter, als ich aufstehen will, aber mitten in der Bewegung verharre. »Du bietest mir eine Beförderung an, schlägst mir sogar vor, mich bei einer anderen Firma zu bewerben, um mich besserzustellen, weil du der Meinung bist, ich wäre gut in dem, was ich tue, und willst dennoch, dass ich den Boden deines mickrigen Büros in Abbotsford putze?«

»Und die Toiletten. Ah, die Aufenthaltsräume könnten auch mal wieder gründlich gereinigt werden«, fügt Owen beiläufig an.

Ich glotze ihn nur blöd an.

»Was ist? Das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun. Noch bin ich dein Boss.« Er stöhnt melodramatisch. »Verdammich, soll ich es tatsächlich sagen?«

»Was?«

Owen erhebt sich schwerfällig aus seinem Stuhl und grinst mich fies an. »Solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst …«

»Okay, okay, hab’s begriffen«, mosere ich und verschwinde hinaus in den Flur.

Mir ist schon klar, dass Owen nichts anderes übrig bleibt, als genau so zu reagieren, wie er es getan hat. Es wäre unfair meinen Kollegen gegenüber, wenn er bei mir nicht die gleichen Maßstäbe ansetzen würde wie bei ihnen. Was nicht heißt, dass es mich nicht hammermäßig ankotzt.

 

*

 

Zurück in Abbotsford, nehme ich mir zwei Tage frei. Lediglich, um mal wieder Energie zu tanken.

Da wir uns jedoch, wie Owen schon sagte, in Bereitschaft befinden, gibt es zwar nicht sehr viel zu tun, aber wir müssen dennoch in der Nähe bleiben. Somit entscheide ich mich für eine Clubtour in Vancouver, was mich nur eine Stunde Autofahrt kostet. Natürlich erst, nachdem ich wie ein tasmanischer Putzteufel durch die Räumlichkeiten gewuselt bin. Was erledigt ist, ist erledigt. Meine Devise. Aber jetzt muss ich mal wieder Dampf ablassen.

Und da mir das Gespräch mit Owen immer noch im Hirn herumgeistert, lege ich einen Abstecher in der Burrard Street 550 ein, wo sich der Firmensitz von Triple-T befindet. Ich parke meine zweite große Liebe – einen 65er Shelby-Mustang – am Straßenrand ein und lasse den Blick über die Umgebung schweifen. Es ist bereits nach sechs und dennoch herrscht rege Betriebsamkeit vor und im Gebäude. Keine Ahnung, was ich hier eigentlich will. Vielleicht nur, um ein Gefühl für die Firma zu bekommen, oder was weiß ich.

Wie fast alle großen Firmengebäude in Vancouver beherbergt auch dieses hier im Erdgeschoss ein Foyer, in dem ein Portier alle Besucher in Empfang nimmt. Ohne sich dort anzumelden, hat man keine Chance, auch nur in die Nähe der Aufzüge zu gelangen, ohne von der Security freundlich, aber entschieden vor die Tür gesetzt zu werden.

Ich habe nicht vor, nach oben zu fahren. Na ja, was sollte ich auch dort? Aber vis-à-vis der Anmeldung befindet sich eine Wand, über und über mit gigantischen Tafeln bestückt. Ich stelle mich davor und studiere jedes einzelne Firmenlogo und die dazugehörigen Namen. Es ist nicht so, dass mir Tremblay Timber Trading Inc. unbekannt wäre, allerdings es ist doch ein Stück weit etwas anderes, hier zu stehen und den Leuten auf seltsame Weise nahe zu sein. Allein das Wissen, dass in der dreißigsten Etage die Geschäftszentrale liegt, macht die ganze Sache irgendwie realer für mich.

Vor ein paar Jahren war der Inhaber Henry Tremblay in aller Munde, oder besser gesagt in allen Zeitungen permanentes Tagesthema, als er seine Frau durch einen grässlichen Unfall mit dem firmeneigenen Heli verlor. Ich bin kein Leser von Society-Klatsch. Aber selbst wenn man gewollt hätte, man wäre nicht drum herumgekommen, an seinem Unglück teilzuhaben. Und wenn ich ehrlich bin, das Schicksal seiner Familie ging mir an die Nieren. So etwas hat niemand verdient.

Dann war es einige Jahre ziemlich ruhig um ihn. Nur hier und da ein paar Zeilen über die Geschäfte, die er tätigte. Bis zum letzten Sommer, als er der Öffentlichkeit den bisherigen, langjährigen Anwalt der Firma, Mark Cowley, als neuen Geschäftspartner vorstellte.

Die Überraschung war groß. Denn niemand hätte vermutet, dass er jemals einen Teilhaber ins Boot holen würde und diesen auch noch zum Geschäftsführer ernennt. Nein, er zog sich offiziell aus den laufenden Geschäften zurück und ging mit seiner Tochter nach Revelstoke, um dort mit einem Mann zu leben.

Ich stehe also hier vor diesen prächtigen Anzeigen, die Luxus und Macht nur so ausstrahlen, und schüttle bewundernd den Kopf. Denn ja, ich empfinde Hochachtung für den Mann, für seinen Mut, sein Leben so zu gestalten, wie er es offensichtlich immer wollte. Und dass er so offen damit umgeht, nun in einer Beziehung mit einem Mann zu leben, finde ich noch erstaunlicher.

Die Medien waren in heller Aufregung. Aber auch das flaute ab und es erscheinen nur noch dann und wann sogenannte Schlagzeilen von ihm und seiner Familie. Da es allerdings keine Skandale mehr zu berichten gibt, interessiert es die Öffentlichkeit nicht. Oder besser gesagt, die Aasgeier der Medienwelt wittern keine spannenden News mehr, die Vancouvers Bevölkerung in Atem halten könnten.

Ich nicke zustimmend in Richtung Firmenschild von Triple-T und flüstere: »Gut gemacht.«

Obwohl ich ihn nicht persönlich kenne, ist er mir durch sein konsequentes Handeln sympathisch. Und wenn ich genau darüber nachdenke, wird wohl auch Mark Cowley, der nicht nur sein Anwalt, sondern auch Freund ist, ein integrer Mann sein, sonst hätte er ihm nie das Steuer seiner Firma überlassen. Nun gut, so ganz vielleicht auch wieder nicht. Möglich, dass er im Hintergrund immer noch einige Fäden zieht. Nur steht er eben nicht mehr in der Öffentlichkeit und scheint sein Leben mit Mann und Tochter zu genießen.

 

Es ist für einen Clubbesuch noch zu früh, weshalb ich zwecks Nahrungsaufnahme in ein Diner einkehre und bei einem Burger meinen Gedanken nachhänge. Owen hat nicht ganz unrecht. Es wird Zeit, meine Zukunft zu überdenken. Und wenn das bedeutet, eine andere Stelle anzunehmen, dann ist es eben so. Nicht dass es mir an Herausforderungen mangeln würde, schließlich habe ich die, sobald ich mich in die Douglas setze, aber was erwartet mich denn langfristig gesehen? Nicht sehr viel, wenn ich ehrlich bin.

Mit dieser Erkenntnis zahle ich meine Rechnung und mache mich auf den Weg, um ein wenig Spaß zu haben.


Ende der Leseprobe

 

 

Hearts 2

© 2017 Nele Betra

 

 

Impressum

Texte: Nele Betra
Bildmaterialien: Nele Betra / shutterstock
Lektorat: Brigitte Melchers / Bernd Frielingsdorf
Tag der Veröffentlichung: 07.05.2017

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