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LESEPROBE Kapitel 1 - 3

Unerwartet

- Henry -

 

»Guten Morgen, Elisa! Wie geht es Ihnen heute früh?«, begrüße ich meine Assistentin und gute Seele der Firma.

»Wunderbar, Sir. Danke der Nachfrage.« Mit einem freundlichen Lächeln eilt sie geschäftig um ihren Schreibtisch herum, greift in den Kragen meines Mantels, um mir herauszuhelfen und ihn sich ordentlich über den Arm zu legen. »Ist mit Avery am Wochenende alles gut gegangen?«

»Sie kennen doch mein kleines Mädchen. Bevor sie sich unterkriegen lässt, muss eine ganze Menge passieren«, entgegne ich stolz, während ich Schal und Handschuhe in ihre ausgestreckte Hand lege. Selbst nach all den Jahren, nachdem mein Vater mir den Posten des CEO vererbt hat, Elisa mich nun schon kennt und für mich arbeitet, lässt sie sich diese morgendliche Routine nicht nehmen.

»Das freut mich zu hören. Aber es wundert mich nicht wirklich. Sie ist schließlich Ihre Tochter. Wir dürfen noch Großes von Avery erwarten.« Pure Überzeugung spiegelt sich in Elisas Blick wider.

Ich lache kurz auf. »Na ja, das wird sich zeigen. Jetzt genießt sie erst einmal ihren ersten Ausflug ohne uns in die Berge.«

»Das wird sie ganz sicher«, bekräftigt Elisa, ehe ich meine Bürotür öffne und sie mich fragt: »Haben Sie schon gefrühstückt?«

»Ja. Aber wenn Sie mir einen starken Kaffee bringen könnten, das wäre fantastisch.«

»Kein Problem.«

Ich schließe die massive Tür hinter mir, lehne mich dagegen und atme tief durch.

Meine Nerven liegen seit zwei Tagen blank. Es hat mich einiges meines jahrelang antrainierten schauspielerischen Talents gekostet, um bei unserer Verabschiedung am Bus nicht auszuflippen und die Seite des besorgten Vaters in mir zur Räson zu bringen.

Ja, ich weiß, das hört sich alles sehr übertrieben an. Aber meine Reaktionen kommen nicht von ungefähr. Auch wenn ich hart daran arbeite, meine Gefühle in den Griff zu bekommen, fällt es mir schwer, aufkeimende Verlustängste zu verdrängen. Ich darf ihnen nicht erliegen. Denn sollte ich auch nur eine Handbreit nachgeben, würde ich Avery permanent überwachen lassen, was ich ihr wiederum nicht antun könnte. Ein Teufelskreis.

Mir fällt Elisas Kommentar ein und ich schüttle unwillkürlich den Kopf. Mein Gott, Avery ist gerade mal zehn und schon jetzt höre ich von allen Seiten, was sie Wunderbares von ihr erwarten würden. Natürlich versuche ich sie als Tochter eines erfolgreichen Unternehmers den Druck nicht spüren zu lassen. Ich kann mich viel zu gut an meine eigene Kindheit erinnern. Wirklich glücklich war ich nur im knapp sechshundert Kilometer entfernten Revelstoke bei meinen Großeltern. Diese Zeit ging leider viel zu schnell vorüber, denn plötzlich fand ich mich in einem Eliteinternat wieder. So lange ich denken kann, war klar, dass ich in die Fußstapfen meines Vaters treten werde. Ich wurde nie gefragt, ob ich das überhaupt wollte. Und ich hatte nie den Mut, mich dagegen zur Wehr zu setzen.

Um keinen Preis der Welt möchte ich das meinem Engel antun.

Was mich wieder einmal daran erinnert, dass sie mich heute Abend nicht wie gewohnt begrüßen wird und mir in ihrer üblichen aufgeregten Art von ihren Erlebnissen des Tages berichtet.

Allein der Gedanke versetzt mir einen Stich der Einsamkeit mitten ins Herz und ich muss mich davon abhalten, mein Handy hervorzuholen, um sie sofort anzurufen.

Mit geschlossenen Augen konzentriere ich mich auf das Gefühl unter meinen Händen. Meine Finger gleiten sanft über die kunstvollen Intarsien und Schnitzereien. Holz hatte schon immer eine beruhigende Wirkung auf mich. Das mag daran liegen, dass ich von einer Holzfällerfamilie abstamme. Das Einzige, was mir noch mehr Ruhe geben könnte, wäre der harzige Geruch von frisch geschlagenen Bäumen. Gott, ich sehne mich nach den Wäldern der Rockys; nach dem zwanglosen Leben der Holzfäller, denen nichts wichtiger ist, als ihre Tagesquoten zu erfüllen.

Auch wenn es ein knochenharter Job ist, würde ich meinen rechten Arm dafür geben, mit einem von ihnen tauschen zu können und nach Revelstoke, meiner Heimatstadt, zurückzukehren. Na ja, gut, vielleicht nicht unbedingt den Arm.

Mit beiden Händen fahre ich mir unwirsch durchs Haar und rufe mich zur Ordnung: »Himmel, reiß dich zusammen! Ihr wird schon nichts passieren.« Verbale Arschtritte sind meine Spezialität. Wehmütig seufzend stoße ich mich von der Tür ab und durchquere mein Büro, um einen Blick aus der dreißigsten Etage auf Vancouver zu werfen. Heute ist es zum vergleichsweise milden Winterwetter knackig kalt und die aufgehende Sonne verleiht allem ein eisiges Glitzern.

Mein Blick schweift über das Panorama und bleibt an meinem Spiegelbild in der Fensterscheibe hängen, das mir ein mürrisches Knurren entlockt.

Reife Leistung, denke ich, als mir auffällt, dass meine unüberlegte Geste meine Frisur durcheinandergebracht hat.

Ich schaue auf meine Uhr. In ein paar Minuten ist eine Besprechung mit Mark Cowley, meinem Anwalt, angesetzt. Er ist zwar ein alter Studienfreund, aber das heißt noch lange nicht, dass ich ihm derartig derangiert gegenübertrete. Selbst bei ihm sollte ich den Schein wahren und unantastbar wirken. Es ist unerlässlich, immer perfekt und Herr der Lage zu sein. Das schließt auch meine Frisur mit ein. Dinge, die mir bereits im Kleinkindalter ans Herz gelegt wurden.

Also stapfe ich in mein privates Bad, welches direkt am Büro angrenzt, und bringe mich zumindest rein optisch in Ordnung. Denn vollends wohl werde ich mich erst wieder fühlen, wenn ich mein kleines Mädchen wohlbehalten in die Arme schließen kann.

Ein letzter Kontrollblick in den Kristallspiegel über dem geschmacklos wirkenden Marmorbecken zeigt mir einen gepflegten Geschäftsmann, der weiß, was er will. Gut, genau so sollte es sein. Niemand muss erfahren, wie es in Wirklichkeit in mir aussieht.

Als ich die Badtür hinter mir schließe, kommt Elisa mit einem Tablett herein. »Mr. Cowley hat angerufen. Er wird ein paar Minuten später eintreffen«, setzt sie mich in Kenntnis, während sie mir eine dampfende, aromatisch duftende Tasse Kaffee an meinem Arbeitsplatz serviert.

Ich setze mich an den Schreibtisch und genieße den ersten Schluck, der mir heiß die Kehle runterläuft und sofort seine belebende Wirkung verbreitet. »Danke, meine Liebe«, seufze ich. »Hat Mr. Cowley gesagt, was der Grund seiner Verspätung ist?«

Elisa breitet die Unterschriftenmappe vor mir aus. »Nein. Allerdings hörte er sich aufgewühlt an.«

Ich schaue verwirrt von den Unterlagen auf. »Aufgewühlt? Sind Sie sicher, dass es Mark war, mit dem Sie telefoniert haben?«

Sie zwinkert mir neckend zu. »Oh, jetzt wo Sie es sagen.«

»Ich bin wirklich neugierig, was ihn so aus der Fassung gebracht hat.«

»Ich auch, Sir.« Elisa deutet auf ein Schreiben vor mir. »Das sollte heute noch in die Post.«

»Wissen Sie was, Elisa, beauftragen Sie doch bitte einen Expressdienst damit. Zumal ich dann mit Mr. Davis heute noch über Einzelheiten der Umsetzung reden könnte.«

Nachdem ich zwei weitere Geschäftsbriefe unterzeichnet habe, klappt sie die Mappe wieder zu und klemmt sie sich unter ihren Arm. »Wird erledigt. Die Unterlagen für Mr. Cowley liegen für Sie bereit.« Das zu betonen wäre nicht nötig. Etwas anderes hätte ich von ihr auch nicht erwartet.

»Vielen Dank. Wenn er da ist, schicken Sie ihn doch bitte gleich zu mir herein.«

»Selbstverständlich.«

Einen Anruf bei meinem Logistiker und gefühlte hundert beantwortete Mails später steht Mark schnaufend in der Tür. »Guten Morgen«, presst er zwischen zwei tiefen Atemzügen hervor. Wenn ich ihn mir so ansehe, hätte ich mir wirklich keine Gedanken über meine Haare machen brauchen. Er wirkt trotz maßgeschneiderten Anzugs total aufgelöst.

Mit einem Grinsen erhebe ich mich, um ihn zu begrüßen. »Sag mal, bist du die dreißig Etagen zu Fuß gelaufen oder warum bist du so außer Atem?«

Ich schüttele Mark freundschaftlich die Hand, ehe ich ihn zum Besprechungstisch geleite und ihm einen gepolsterten Lederstuhl anbiete. »Himmel, setz dich. Du siehst aus, als würdest du jede Sekunde umkippen.«

Mit einem Nicken lässt er sich wie ein nasser Sack auf den Stuhl fallen, um sofort seine Ellenbogen auf den Knien abzustützen und den Kopf hängen zu lassen. Ich stehe nur fassungslos daneben, als er murmelt: »Wenn es nur so einfach wäre.«

»Mein Gott, Mark, du machst mir langsam Angst«, entgegne ich mit einer Hand auf seiner Schulter und setze mich zu ihm, als abermals die Bürotür geöffnet wird und Elisa mit einem besorgten Blick, einem Kristallglas und einer großen Karaffe gefüllt mit Eiswasser auf uns zukommt.

»Hier, Mr. Cowley. Wenn ich noch etwas für Sie tun kann, sagen Sie es bitte.«

Mark setzt sich wieder aufrecht hin und bedenkt Elisa mit einem dankbaren Blick, während sie ihre Last vor ihm auf dem Tisch abstellt, um wortlos das Zimmer zu verlassen. Er gießt sich ein und nimmt einen tiefen Schluck. Dann lehnt er sich zurück und mustert mich mit zur Seite geneigtem Kopf und gerunzelter Stirn.

»Was ist los?«, will ich wissen. So fassungslos habe ich ihn noch nie erlebt. Nicht einmal in unserer gemeinsamen Studienzeit. Und ich kann ehrlichen Herzens behaupten, dass wir garantiert nichts ausgelassen haben, was unsere alten Herren regelmäßig auf die Palme gebracht hat.

Obwohl Mark sich offensichtlich körperlich erholt hat, scheint er nach den richtigen Worten zu suchen, denn bevor er etwas sagt, schluckt er schwer. Mit belegter Stimme rückt er dann doch mit der Sprache heraus: »Der Grund, warum ich zu spät komme, ist, dass ich vorhin einen Anruf von Davis erhalten habe. Oder besser gesagt von seiner Frau.«

Ich setze mich kerzengerade auf und frage vorsichtig nach: »Was wollte Charlotte?«

»William ist gestern Nacht an einem Herzinfarkt verstorben.«

Erschüttert blicke ich ihn an. Habe ich mich gerade verhört? Wie kann das sein? Er war erst sechzig und kerngesund. Zumindest soweit ich weiß.

»Dir ist klar, was das heißt, oder?« Er hört sich distanziert an, dennoch sehe ich, wie nahe es ihm geht. Denn er ist der Einzige, dem ich je erzählt habe, was mir die Familie Davis in Wirklichkeit bedeutet.

 

Vor wenigen Wochen konnten wir endlich den Vertrag mit Davis Timber Ltd. unter Dach und Fach bringen. Seine Firma holt nicht nur Baumstämme aus dem Umland von Revelstoke, sondern unterhält gleichzeitig eine Schreinerei, die außerhalb der Erntemonate Bauholz produziert, um bis ins Folgejahr finanziell über die Runden zu kommen.

In den letzten Jahren wurde es für kleine Firmen der Holzindustrie zunehmend schwieriger, sich über Wasser zu halten. Kanada und im Einzelnen die jeweiligen Distrikte gaben Abholzquoten vor, die für mich zwar nachvollziehbar sind, da so der Baumbestand gesichert wird, aber für die betroffenen Unternehmen ein heftiges Defizit bedeutete. Nicht nur die Vergabe der Lizenzen wurde neu geregelt, sondern auch die Bedingungen, um sie zu verlängern.

Was das mit meiner Firma Tremblay Timber Trading Inc. zu tun hat? Triple-T – wie wir inoffiziell auch genannt werden – hat sich bereits zu meines Vaters Zeiten auf den Handel von Bauholz spezialisiert. Er nahm Firmen wie die von Davis unter Vertrag und sicherte ihnen somit ein geregeltes Einkommen. Allerdings hört sich das uneigennütziger an, als es tatsächlich ist. Wobei ich über meinen Vater sicher so einiges Unvorteilhaftes sagen könnte, jedoch nicht, dass er unfair war. Zumindest nicht gegenüber seinen Geschäftspartnern. Sagen wir mal so: Es gab in unserem Unternehmen niemanden, der sich je übervorteilt gefühlt hat.

Nachdem ich vor einigen Jahren die Leitung übernahm, streckte ich meine Fühler aus, um einen weiteren Geschäftsbereich abzudecken, indem ich ein Transportunternehmen ins Boot holte – nicht nur im übertragenen Sinne. Denn es ist auf Verschiffung spezialisiert. Wir kauften es auf, gliederten es als Tochterfirma ein und exportieren seitdem weltweit.

 

»Hat sie gesagt, wann die Beisetzung ist?«, frage ich nun vorsichtig nach.

Mark schaut mich eindringlich an. »Mrs. Davis setzte mich nur in Kenntnis, dass ab sofort ihr Sohn die Leitung übernimmt. Natürlich war sie sehr aufgewühlt, aber ich hatte das Gefühl, es ging um mehr, als sie mir gesagt hat.« Mark fährt sich aufgebracht durchs Haar. »Ich weiß, du hast deine Gründe, auf Abstand zu bleiben, aber ich finde, es wird Zeit, dass du aufhörst dich zu verstecken.«

Wie immer hat er recht und ich nicke ihm zu, als ich mit einem extrem mulmigen Gefühl ins Vorzimmer gehe. »Elisa, vergessen Sie den Expressdienst.«

Sie schaut mich verwirrt an. »Soll ich es nun doch auf dem regulären Postweg verschicken?«

»Nein. Wie ich soeben erfahren habe, ist Mr. Davis gestern verstorben.«

»Oh Gott. Das tut mir so leid«, flüstert sie ergriffen.

»Ich werde heute noch nach Revelstoke fliegen. Wären Sie so nett und suchen mir die kompletten Unterlagen zusammen? Ich habe zwar keine Ahnung, ob ich sie benötigen werde, aber es ist sicher nicht verkehrt, sie dabeizuhaben.«

»Selbstverständlich. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«

»Ja, geben Sie bitte Fred Bescheid, dass er den Heli startklar macht und heute Mittag zum Abflug bereitstehen möchte. Ich denke, bis dahin sollte ich es schaffen, zurück zu sein.«

Elisa greift prompt zum Telefon. »Wird sofort erledigt. Wie lange, denken Sie, werden Sie dortbleiben?«

»Kann ich noch nicht sagen.« Könnte durchaus passieren, dass ich schneller zurück bin, als mir lieb ist, schießt es mir durch den Kopf. Allerdings schlucke ich diesen Kommentar herunter. Sie würde ihn sowieso nicht verstehen.

»Dann buche ich Ihnen gleich noch ein Zimmer, wenn es Ihnen recht ist.«

»Danke, Elisa.«

»Ich schicke Ihnen die Reservierungsdaten auf Ihr Handy, sobald die Bestätigung vorliegt.«

»Sehr gut. Was würde ich nur ohne Sie machen?« Das ist mein voller Ernst. Elisa ist nicht nur meine rechte Hand, sie ist auch eine sehr gute Freundin.

In ihre traurige Miene schleicht sich ein kleines Lächeln. »Sie hätten jemanden anderen, der sich um Sie kümmert. Jetzt fahren Sie heim und klären, was zu klären ist. Wenn Sie in Revelstoke sind, richten Sie bitte Mrs. Davis mein aufrichtiges Beileid aus? Ich würde Charlotte ja selbst anrufen, aber ich denke, sie hat im Moment genug um die Ohren«, sagt Elisa mehr zu sich selbst.

Mir war gar nicht klar, dass die beide sich so gut kennen. Ich bleibe noch einen Moment verwirrt stehen und beobachte, wie sie sich in ihre Arbeit stürzt und mich schon gar nicht mehr wahrzunehmen scheint.

Zurück im Büro, frage ich Mark, der mit dem Rücken zu mir an der Fensterfront steht: »Sag mal, Elisa und Charlotte?«

Er wendet sich mir zu. Mittlerweile macht er einen halbwegs gefassten Eindruck, als er mich mit einer Denkerfalte auf der Stirn ansieht. »Was meinst du?«

»Ich wusste gar nicht, dass sich die zwei näher kennen«, merke ich an, während ich auf meinem Schreibtisch dringend zu erledigende Dinge auf einen Stapel ordne. Bevor ich nach Hause fahre, um meine Koffer zu packen, muss ich noch einiges für die Zeit meiner Abwesenheit klären.

»Henry, wir stehen seit Monaten mit den Davis in Kontakt.«

Es hört sich an wie ein Vorwurf, weshalb ich ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue bedenke.

Er hebt besänftigend seine Hände. »Du weißt, was ich meine. Du warst es doch, der mir angeboten hat, Elisa mit ins Boot zu holen. Ich denke, da ist es wohl normal, dass Sie sich kennenlernen. Zumal sie im gleichen Alter sind und sich vom ersten Augenblick an sehr gut verstanden haben.«

»Hat sie mir gar nicht erzählt«, murmele ich.

»Und das wundert dich?« Wäre Mark nicht mein Freund, hätte ich ihn jetzt vor die Tür gesetzt. Aber ist es nicht gerade das, was ich an ihm schätze? Er kennt mich noch als den schlaksigen und pickeligen Teenager, der ich mal war, und hat nie mit seiner Meinung hinterm Berg gehalten. Ich kann wohl kaum erwarten, dass er jetzt damit anfängt.

Mark nimmt auf einem der Besucherstühle vor mir Platz. »Elisa sagt zwar nichts, wenn es um dich geht, aber ich könnte schwören, dass sie mindestens eine Ahnung hat, warum du dich aus den Verhandlungen rausgehalten hast. Ich meine, die Verfahrensweise war absolut unüblich für dich.«

Ich winke ab. »Sei’s drum. Darüber muss ich mir Gedanken machen, wenn ich wieder zurück bin. Ich glaube, es wird Zeit für ein Gespräch.«

Erbost schlägt Mark auf die Tischplatte, was mich überrascht zusammenzucken lässt. »Verdammt, Henry, du willst ihr doch keinen Ärger machen, oder?«

Mit einer gereizten Miene lehne ich mich zurück und sage in meinem für andere sehr geschäftsmäßigen Tonfall: »Erstens ist das eine Sache zwischen mir und Elisa. Geht dich somit nichts an. Und zweitens, was hältst du nur von mir? Natürlich werde ich ihr keinen Ärger bereiten. Ich sagte nur, dass es an der Zeit ist, ein klärendes Gespräch zu führen. Und damit meinte ich ein privates.« Irgendwie platzt es einfach so aus mir heraus. Denn bis vor zwei Sekunden war mir nicht einmal klar, dass ich das tatsächlich will.

Mark atmet erleichtert auf. »Gott sei Dank.« Dann scheint ihm der Sinn meiner Worte klar zu werden, denn er sieht mich entgeistert an. »Verstehe ich dich richtig? Du willst es ihr sagen?«

Seine Frage lässt sofort Zweifel in mir aufsteigen. »Meinst du, ich sollte es nicht tun?«

»Es ist nicht an mir, das zu entscheiden, mein Freund«, versucht sich Mark aus der Affäre zu ziehen.

»Das war keine Antwort. Ich will eine ehrliche Meinung von meinem besten Freund. Vergiss für den Augenblick mal unsere geschäftliche Verbindung und sag mir, was du denkst.«

Er zögert und ich sehe Mark an, wie schwer es ihm fällt, die passenden Worte zu finden. Herrje, wenn er so schaut … Vielleicht hätte ich ihn nicht fragen sollen, denn er macht gerade den Eindruck, als würde er auf eine sehr ausführliche Antwort hinsteuern, die mir nicht gefallen wird. Mein Magen zieht sich zusammen. Und doch war es von mir nicht nur leichtfertig dahergesagt. Mir ist seine Sichtweise wirklich wichtig.

Mark nickt, eher zu sich selbst, als hätte er eine Entscheidung getroffen, bevor er sich vorbeugt, die Unterarme auf seine Knie stützt und leise sagt: »Okay, dann hör gut zu. Du weißt, ich habe Mia geliebt wie eine Schwester. Selbst nach fünf Jahren trauere ich immer noch um sie, als wäre ihr tragischer Unfall erst gestern gewesen. Weshalb ich mir sehr gut vorstellen kann, wie es in dir aussieht.

Wahrscheinlich kann ich jedoch nicht mal erahnen, wie viel Kraft es dich gekostet haben muss, zur selben Zeit mit Mias Tod, eurer fünfjährigen Tochter und der Übernahme von Triple-T klarzukommen.

Du warst immer ein harter Hund. Und ich bewundere dich für dein Durchhaltevermögen und dafür, dass du so ein viel besserer Vater für Avery bist, als dein Dad es je für dich war.« Er lässt seine Worte kurz im Raum stehen. Dann sieht er mich beschwörend an und ich ahne, was als Nächstes kommt. Es ist nicht das erste Mal, dass Mark mir ins Gewissen redet. »Aber Henry, deine Frau ist nun schon so lange nicht mehr hier und ich bin der Meinung, dass du ein Anrecht auf ein privates Glück hast. Und dazu gehört, dass du dich nicht vor den wichtigsten Menschen in deinem Leben verstecken solltest. Für dich zählt Elisa dazu, das weiß ich. Also sag es ihr.«

»Und du glaubst wirklich, sie hätte kein Problem damit?«

»Womit denn? Dass du seit fünf Jahren wie ein Priester im Zölibat lebst, um für Triple-T und deine Tochter da zu sein? Dass du dich zwei Mal im Leben unsterblich verliebt hast? Macht es einen Unterschied, ob Mann oder Frau? Nein, natürlich nicht. Du hast dich für Mia entschieden, sie geheiratet und bis zu ihrem letzten Atemzug glücklich gemacht. Das ist alles, was zählt. Aber wenn auch nur noch ein kleiner Funken von dem übrig ist, was du für Carter empfunden hast, dann solltest du mit offenen Karten spielen und endlich deinen Arsch hochkriegen. Glaub mir, Elisa wäre da ein guter Anfang.«

»Wow«, ist alles, was ich in der Lage bin zu sagen.

»Du hast gefragt.«

»Tja, das habe ich wohl. Nun gut, dann werde ich nach meiner Rückkehr mit Elisa reden. Ich bin es ihr schuldig, denke ich.«

»Bist du.«

»Eine andere Frage. Könntest du dir vorstellen, in den nächsten Tagen hier die Stellung für mich zu halten?« Wieder eine spontane Idee. Scheinbar werde ich auf meine alten Tage unvorsichtig.

Mark fällt aus allen Wolken. »Du willst, dass ich …?«

»Ach, komm schon. Du weißt bald mehr über meine Firma als ich selbst. Wer wäre besser geeignet?« Er ist zwar Anwalt, aber im Grunde seit dem Tag, als ich Vaters Position übernahm, an meiner Seite. Er verbringt mehr Zeit mit mir und den Geschäften von Triple-T als ein Vize-CEO, den ich schon längst hätte einstellen sollen.

»Okay«, gibt Mark skeptisch zurück.

»Wunderbar. Dann ist das abgemacht. Und ich bin ja nicht aus der Welt. Im Moment stand auch nur die Sache mit Davis an. Weshalb es kein Problem für dich sein sollte.«

Mark nickt. »Ruf mich an, wenn du gelandet bist.« Dann steht er auf und geht zur Tür. »Oh, wann kommt Avery zurück?«

»Am Freitag. Bis dahin müsste ich lange wieder hier sein.«

»Gut, wenn Ivy verhindert sein sollte, gib mir Bescheid. Ich kann sie auch in Empfang nehmen.« Ivy ist Averys Nanny, steckt in den nächsten Tagen jedoch im Klausurstress.

Es ist eine Erleichterung, dass er das sagt. »Danke, Mark – für alles.«

»Nichts zu danken. Wir hören uns.«

Dann ist er weg und ich bleibe mit einem bleischweren Gewicht zurück, das mich schier zu erdrücken droht.

 

Ein Tag, den sich keiner wünscht

- Carter -

 

Mein Leben war bisher immer ziemlich unkompliziert. Na ja, bis auf ein paar wenige Ausnahmen. Aber im Großen und Ganzen wusste ich, was auf mich zukam und hatte nie ein Problem damit.

Ich hegte absolut keine Ambitionen, Revelstoke zu verlassen. Meine Eltern betrieben in dritter Generation das Holzfällerhandwerk, somit lag es in meinen Genen, den gleichen Weg wie mein Dad einzuschlagen. Und ich kann nicht behaupten, es je bereut zu haben. Natürlich stand fest, dass ich irgendwann einmal die Leitung der Firma übernehme. Aber hey, es war nie die Rede davon, es sofort zu tun. Nur jetzt hat sich schlagartig alles geändert.

Ich liege im Bett und starre an die Decke meines ehemaligen Kinderzimmers im Hause meiner Eltern. Die Wintersonne bahnt sich einen Weg durch einen schmalen Spalt zwischen den geschlossenen Vorhängen hindurch und beißt mir gnadenlos in die Augen.

Ich bin hundemüde. Dennoch fand ich heute Nacht keinen Schlaf.

Dass mein Dad von uns gegangen ist, kann ich immer noch nicht glauben. Es fühlt sich einfach so unwirklich, so falsch an. Der Schock sitzt mir in den Knochen, seit mich Mom vom Krankenhaus anrief.

Sicher wäre es auch in dreißig Jahren ein Schock für mich gewesen, ihn zu verlieren, aber dann hätte ich mich früher oder später mit dem Gedanken abfinden können, dass es Zeit für ihn war zu gehen. Ich meine, Himmel, er ist letzten Monat erst sechzig Jahre alt geworden! Er war immer ein Energiebündel. Krankheiten kannte er nicht. Bis auf eine Grippe oder Erkältung, die uns alle dann und wann ereilt, war er fit und hatte keinesfalls vor, sich in absehbarer Zeit zur Ruhe zu setzen.

Die Decke bis zu den Ohren hochgezogen drücke ich mich tiefer in die Kissen und versuche ein Schluchzen zu unterdrücken.

Der Gedanke, meinen Dad nie wieder lachen zu hören, nie wieder seine rauchige Stimme über etwas murren zu hören, nie wieder seinen stolzen Blick auf mir zu spüren, schnürt mir die Kehle zu. Und wäre da nicht Mom, die mich jetzt mehr als jeden anderen sonst auf dieser Welt braucht, würde ich wie ein Dreijähriger heulend zusammenbrechen. Nein, das kann ich mir nicht leisten. Ich muss für sie da sein. Wenn das bedeutet, dass ich wieder einmal meine Gefühle tief in mir drin vergraben muss, dann werde ich das tun.

Ein leises Klopfen reißt mich aus meinen Gedanken. »Schatz?«, höre ich meine Mutter mit brüchiger Stimme wispern.

Ich erstarre für eine Sekunde. Doch dann fällt mir ein, dass ich gestern Nacht nicht wie sonst nackt ins Bett gegangen bin, sondern mir Boxershorts und ein ausgeleiertes T-Shirt übergeworfen hatte. »Komm rein, Mom.«

Mit einem leisen Quietschen öffnet sie die Tür. Ich sehe ihr an, dass sie genauso viel Schlaf bekommen hat wie ich. »Ich habe Frühstück gemacht. Magst du runterkommen?«

Ich setze mich auf und klopfe einladend auf den Platz neben mir. Unsicher blickt sie mich mit glasigen Augen an und schluckt schwer, kommt dann aber mit hängenden Schultern auf mich zu und setzt sich bedächtig auf die Bettkante.

Herrje, ich bin ihr Sohn, denke ich, als ich behutsam ihr Handgelenk umfasse und sie sanft neben mir aufs Bett ziehe. Für den Moment verspannt sie sich, scheint irritiert zu sein.

Als ich jedoch meine Arme um sie schlinge und sie an meine Brust ziehe, seufzt sie kellertief auf und kuschelt sich mit dem Gesicht in meine Halsbeuge.

Es ist lange her, dass wir so zusammen auf dem Bett gelegen haben. Früher waren die Rollen vertauscht. Damals war sie diejenige, die gegen das Kopfende lehnte und mich in den Arm nahm.

Nun ja, wie gesagt, das ist lange her und ich bin zwischenzeitig in die Höhe geschossen und überrage sie um mindestens anderthalb Köpfe.

Es spielt auch keine Rolle, denn ich weiß, dass sie jetzt meine Nähe braucht … oder ich ihre.

Ohne ein Wort liegen wir aneinandergekuschelt und schenken uns auf eine Art Trost, die es nur zwischen Mutter und Sohn geben kann.

 

Irgendwie muss uns der Schlaf übermannt haben, denn ich schrecke hoch, als ein lautes Klingeln zu mir durchdringt. Mom schaut mich blinzelnd an. »Was war das?«, fragt sie mich verwirrt.

Liebevoll streiche ihr einige verirrte Locken hinters Ohr. »Ich glaube, die Türklingel. Erwartest du Besuch?«

Schwerfällig rappelt sie sich auf und schüttelt den Kopf. »Nein.«

Sie ist nicht fähig einen klaren Gedanken zu fassen, das sehe ich ihr an und kann es nachvollziehen. Schließlich hat sie erst vor Stunden die Liebe ihres Lebens verloren. Ich springe aus dem Bett, klaube meine Hose vom Boden und schlüpfe hinein. »Bleib hier. Ich gehe nachsehen.«

Mit rot unterlaufenen Augen sieht sie mich an, als würde sie fragen wollen: Warum muss uns das passieren?

Ich könnte ihr keine Antwort darauf geben, selbst wenn ich sie kennen würde. Es bricht mir das Herz, sie so zu sehen. Sie wirkt so klein und zerbrechlich. Meine starke Mom, die es jederzeit mit dem Rest der Welt aufgenommen hat, wenn es um einen ihrer Lieben ging, hat all ihre Kraft verloren.

Ein weiteres Läuten.

Nach einer kurzen Umarmung und einem Kuss auf ihre Stirn schiebe ich Mom nun doch vor mir her in den Flur bis zu ihrer offen stehenden Schlafzimmertür. »Du musst nicht mit runterkommen. Ich wimmle jeden ab, der da vor der Tür steht. Zieh dich doch solange an. Sobald wir wieder allein sind, sage ich dir Bescheid und wir frühstücken, in Ordnung?«

Mit angstgeweiteten Augen sieht sie mich fast flehentlich an. Und erst jetzt sehe ich, dass das Ehebett noch so unberührt aussieht wie am Tag zuvor. Ich weiß, dass sie es noch nicht gemacht haben kann, da sie die Angewohnheit hat, es vorher mindestens zwei Stunden bei offenem Fenster zu lüften. Mein Blick wandert zwischen Mom und ihrem Schlafzimmer hin und her. Und plötzlich fällt bei mir der Groschen. »Mom, wo hast du heute Nacht geschlafen?«

Sie räuspert sich und eine Träne läuft ihr über die Wange. »Ich konnte es nicht. Du denkst sicher, ich bin dumm.« Ihre Stimme versagt.

Wieder geht die Türglocke. Ich werde langsam sauer. Meine Mutter braucht mich jetzt, verdammt noch mal! Wer auch immer da draußen steht, soll gefälligst abhauen.

Ich ziehe sie zurück in meine Arme und vergrabe mein Gesicht in ihr verwuscheltes Haar. »Um Gottes willen, sag doch so was nicht! Ich habe nicht nachgedacht.«

Ehe ich mich von ihre löse, schließe ich ganz beiläufig die Schlafzimmertür. »Gut, dann geh doch schon mal ins Esszimmer.«

»Okay.«

Wir erreichen das Erdgeschoss und ich sehe durch das Flurfenster einen schwarzen SUV auf dem Hof stehen, der mir gänzlich unbekannt vorkommt. Revelstoke ist eine kleine Gemeinde. Hier kennt jeder jeden und weiß, welches Auto zu wem gehört. Es muss also jemand von auswärts sein. »Mom, habt ihr irgendwelche geschäftlichen Termine für heute vereinbart?«, rufe ich.

»Nein, nicht dass ich wüste«, höre ich sie müde antworten. »Oder … hm, da fällt mir eigentlich nur einer ein«, sinniert Mom leise vor sich hin, sodass ich meine Ohren spitzen muss, um sie zu verstehen. »Obwohl, wir hatten keinen Termin. Und wenn, kann ich mir nicht vorstellen, dass jemand aus Vancouver herkommen würde. Ich hatte dort gestern bereits wegen deinem Vater Bescheid gegeben. Also nein.«

Merkwürdig. Vancouver? Was hat mein Dad mit Vancouver zu tun? Ich wüsste nicht, dass er dort geschäftliche Beziehungen pflegte.

Ich fahre sicherheitshalber durch mein Haar und versuche mich vor dem Garderobenspiegel halbwegs herzurichten. Es ist zwecklos. Ich sehe aus wie das Leiden Christi. Mein T-Shirt ist zerknautscht vom Bett. Mein Gesicht wirkt mit den Augenringen eingefallen. Es macht also keinen Unterschied, ob mir die Haare vom Kopf abstehen oder nicht.

So stehe ich vor dem Spiegel und mustere mich kurz, als es aufs Neue klingelt. Manche Menschen sind einfach penetrant, denke ich, als ich die Haustür mit Schwung öffne, um dem Fremden meine Meinung zu geigen.

Schlagartig bleibt mir die Stimme weg und das Herz im Leib stehen. Was will ER hier?

Kein einziges Wort zur Begrüßung.

Stille.

Bleierne Stille.

Wir sehen uns nur an.

Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis ich zu Atem komme, mein Herz seine Arbeit wieder aufnimmt und meine Gehirnzellen mit Sauerstoff versorgt werden. »Was willst du?!«, ist alles, was ich hervorbringen kann. Ja, es klingt unfreundlich. Und ich kann nicht behaupten, dass es nicht so gemeint war.

»Hallo, Carter.« Seine mir immer noch so vertraute Stimme und sein Blick gehen mir durch Mark und Bein. Das konnte er schon immer gut.

Ich bin verunsichert. Durch den Verlust meines Vaters, den Zustand meiner Mom … durch ihn. Ich fühle mich hilflos. Bin ein emotionales Wrack, weil ich Mom ihren Kummer nicht abnehmen kann. All das und noch viel mehr verunsichert mich nicht nur, es macht mich auch wütend.

Wir hatten seit Jahren keinen Kontakt und er ist bestimmt der Letzte, den ich hier erwartet hätte.

Aber hier und jetzt ist nicht der richtige Moment, um mir darüber Gedanken zu machen, was Henry vor der Tür meines Elternhauses zu suchen hat. »Ich weiß nicht, was du hier verloren hast. Aber heute ist kein guter Zeitpunkt. Verschwinde!«

Ich bin drauf und dran, die Tür vor seiner Nase zuzuschlagen, als er die Hand ausstreckt und mich daran hindert. Wütend schau ich zu ihm auf und sehe, wie er heftig blinzelt, als würde er gegen Tränen ankämpfen.

Irritiert mustere ich ihn noch einen Moment, als er das Wort ergreift. »Es tut mir so leid.«

Was? Woher weiß Henry von meinem Dad?

Scheinbar begreift er meine unausgesprochene Frage. »Deine Mom hat uns gestern angerufen. Carter, es …« Er lässt seinen Kopf hängen und zieht seine Hand zurück.

Ich bin so perplex, dass ich immer noch dastehe und ihn anstarre, als er sich räuspert und leise weiterspricht: »Carter, es tut mir so leid. Ich weiß, wie sehr du deinen Dad geliebt hast.«

Mein Kopf ist wie leer gefegt. Ich bin nicht imstande einen klaren Gedanken zu fassen. Es wird mir einfach alles zu viel.

»Schatz? Wer ist denn da?«, höre ich Mom hinter mir leise fragen.

Über meine Schulter hinweg schaue ich zu ihr und sehe sie wie ein Häufchen Elend im Flur stehen. Ich trete einen Schritt zurück und gebe den Blick auf Henry frei. Ihre Augen werden riesengroß. Diesmal spielt Angst keine Rolle, wohl eher Überraschung. »Mr. Tremb-« Mom stockt. »Henry?«

Es wundert mich nicht, dass sie ihn Henry nennt, schließlich kennt sie ihn bereits viele Jahre. Was mich wundert, ist ihr unruhiger Blick, der zwischen ihm und mir hin und her irrt. Als hätte sie vor irgendetwas Panik.

Mom starrt ihn weiterhin stumm wie ein Reh im Scheinwerferlicht an, als Henry sagt: »Mrs. Davis, ähm … Charlotte, ich wollte euch mein aufrichtiges Beileid bekunden und fragen, ob ich irgendwie helfen kann.«

Erschrocken blicke ich zu ihm, während ihm zusehends unwohler wird. Wären die Umstände seines Besuchs anderer Natur, würde mir seine Verlegenheit Genugtuung geben. Aber ich habe wirklich genug Dinge im Kopf, als mir darüber Gedanken zu machen, wie Henry sich fühlt und warum das der Fall ist. Was mir jedoch Kopfschmerzen bereitet, ist Moms Reaktion auf ihn. Denn sie eilt an mir vorbei und reicht ihm die Hand. »Das ist wirklich nett von dir.« Ihre Stimme zittert. »Ich hätte nicht damit gerechnet, dass du hier auftauchst.«

Ein weiterer Schock: Henry läuft bis zu den Ohren rot an und muss sich räuspern, um ein vernünftiges Wort herauszubekommen. »Mark hat mir gestern sofort Bescheid gegeben.« Die Hand meiner Mutter verschwindet fast vollständig zwischen seinen, als er leise fortfährt: »Es tut mir so leid.«

Mom seufzt und nickt wortlos, bevor sie sich behutsam aus seinem Griff löst und zu mir umdreht. »Ich fände es nett, wenn Henry mit uns frühstückt. Meinst du, das ginge in Ordnung?«

Wie könnte ich meiner Mutter in diesem Moment auch nur irgendetwas abschlagen? Ich bin erwachsen und werde wohl oder übel auch das ertragen, wenn es ihr wichtig ist. »Natürlich.«

Auf den Weg ins Esszimmer bleibt sie vor mir stehen, schaut zu mir auf und streicht mir über den Arm. »Danke, mein Schatz.« Dann schleicht sie den Flur entlang, ohne einen weiteren Blick zurückzuwerfen. Womit es nun meine Aufgabe ist, mich mit Henry auseinanderzusetzen. »Komm rein«, fordere ich ihn schroff auf.

Er zögert einen Moment, scheint sich dann aber doch zu überwinden und tritt ein.

Ich schließe die Tür hinter ihm und gehe meiner Mutter nach. Soll er doch zusehen, wo er seinen teuren Mantel, von Armani oder weiß der Geier von wem, hinhängt.

Erschöpft sinke ich neben Mom auf einen Stuhl. Sie gießt mir einen Kaffee ein und ich nehme Henry nur aus den Augenwinkeln wahr. Ich kann beim besten Willen nicht über ihn nachdenken. Also versuche ich ihn auszublenden, so gut es eben geht.

»Wo bist du untergebracht?«, fragt Mom Henry, der mir gegenüber am Tisch Platz genommen hat.

»Elisa hat mich ins Sutton einquartiert.« Er nippt vorsichtig an der dampfenden Tasse, die ihm Mom zuvor serviert hat, und mustert mich über den Rand hinweg.

Ja, ich kann ihn wohl doch nicht ignorieren, denke ich, und konzentriere mich umgehend darauf, mir ein Buttertoast zu belegen.

Ein müdes Lächeln erscheint auf dem Gesicht meiner Mutter. »Sehr gute Wahl. Das beste Hotel am Platze.«

»Da fällt mir ein, ich soll dich von Elisa grüßen. Sie lässt sich entschuldigen, dass sie sich noch nicht gemeldet hat. Aber sie wollte sich nicht aufdrängen.«

»Oh, das ist aber nett. Na ja, ich kann sie schon verstehen. Es ist eben nicht leicht.« Irgendwie schwingt ein Hauch von Vorwurf mit.

Wer ist Elisa? Und was zum Henker geht hier vor sich? Fragen, die ich meiner Mom jetzt jedoch nicht stellen mag. Wenn es sie für ein paar Minuten von ihrer Trauer ablenkt, dann soll sie eben mit Henry Konversation betreiben, auch wenn ich keinen blassen Schimmer habe, warum er überhaupt hier ist und in welcher Verbindung er zu Mom und Dad steht.

Bis eben bin ich davon ausgegangen, dass sie Henry genau wie ich vor Jahren das letzte Mal gesehen hat.

Stillschweigend lehne ich mich zurück und esse mein Brot, während ich ihnen zuhöre.

»Ja, es ist sicher nicht einfach«, bestätigt Henry Moms Kommentar. »Ich werde sie aber nachher anrufen und ihr ausrichten, dass du dich über ihren Anruf freuen würdest. Natürlich nur, wenn es dir recht ist.«

Mom wirft mir einen kurzen Blick zu und wendet sich an Henry: »Das ist wirklich lieb von dir. Aber ich glaube, ich rufe sie einfach selber an. Sie ist doch sicher im Büro, oder?«

»Ganz bestimmt.«

Mom knabbert an einer trockenen Toastscheibe herum, während Henry weiter an seiner Tasse nippt. Unangenehmes Schweigen breitet sich aus.

»Ich meinte es vorhin ernst. Solltet ihr bei irgendetwas Hilfe brauchen, wäre ich gerne für euch da«, unterbricht Henry die Stille.

»Wir haben heute einen Termin im Bestattungsinstitut, danach werden wir uns überlegen, wie und wo wir die Trauerfeier abhalten. Ich denke, damit kommen wir schon allein zurecht, oder, mein Schatz?«, fragt mich Mom.

»Sicher«, entgegne ich reserviert. Ich habe Angst, mir würden viel mehr Worte über die Lippen rutschen, sollte ich auch nur eine unnötige Silbe zu viel von mir geben. Diese Worte würden aber in keiner Weise etwas mit meinem Dad und seiner Trauerfeier zu tun haben. Das wäre so unpassend, als würde ich beginnen übers Geschäft zu reden.

Ich sehe Henry sein wachsendes Unbehagen an, als er langsam die Tasse auf den Tisch stellt und sagt: »Gut, dann mach ich mich auf den Weg.« An meine Mutter gewandt: »Du hast meine Nummer. Bitte sag Bescheid, wenn ich etwas für euch tun kann.« Dann schiebt er den Stuhl von sich und steht auf. Mir fehlt die Kraft, es ihm gleichzutun, weshalb ich einfach sitzenbleibe.

Mom will sich gerade erheben, als Henry ihr eine Hand auf die Schulter legt. »Mach dir bitte keine Mühe. Ich finde hinaus. Und danke für den Kaffee.«

Ich nicke ihm schroff zu und Mom sagt: »Vielen Dank, dass du gekommen bist. Wirst du zur Beisetzung auch da sein?«

»Wenn ich kommen darf?«, fragt Henry und wirft mir einen vorsichtigen Blick zu.

Ich zucke nur uninteressiert mit den Schultern, ehe Mom für uns beide antwortet: »Selbstverständlich. Wir sind froh, dass du hier bist, nicht wahr, Carter?«

Ihre Frage ignoriere ich.

Dann endlich kann ich wieder atmen, denn ich höre die Haustür zufallen. Die fünf Minuten, die Henry hier war, reichten aus, um mich in den Wahnsinn zu treiben. Was bezweckt meine Mutter damit? Ich verstehe es einfach nicht.

»Schatz?«

»Hm?«

»Ich muss dir etwas sagen.«

Nun gut, wenn sie von selbst anfängt. »Geht es um Henry?«

»Ja. Ich hatte wirklich nicht damit gerechnet, dass er hier auftaucht.«

Ich lache freudlos auf. »Tja, da sind wir schon zu zweit.«

Mom zupft an ihrem Toast und steckt sich ein kleines Stück in den Mund, als würde sie so Zeit gewinnen wollen.

»Du und Dad habt mit Triple-T ein Geschäft abgeschlossen. Oder liege ich da falsch?«

Sie verzieht das Gesicht. »So in etwa.«

»Was bedeutet: in etwa?«

»Na ja, weißt du, die Firma lief immer schlechter und Dad und ich haben lange darüber nachgedacht, wie wir den drohenden Konkurs abwenden können. Dad fiel nur noch Triple-T ein. Ich weiß, dass du mit Henry ein Problem hast. Mir ist zwar nicht ganz klar, worum es dabei geht, aber es muss einen Grund geben, warum ihr keinen Kontakt mehr hattet und er alle Verhandlungen über seinen Anwalt hat laufen lassen.«

»Konkurs?« Das Wort allein lässt mich schon zusammenzucken.

»Henry ist seit ein paar Tagen Miteigentümer.«

»Er hat sich eingekauft?« Ich kann es nicht glauben.

»Ja, er war unsere letzte Chance.«

Um Himmels willen! Das bedeutet, Henry und ich sind Partner. Ich atme tief durch und versuche mich zu beruhigen, um Mom nicht noch mehr aufzuregen. »Warum habt ihr mir nichts gesagt?«

»Wir wollten dich nicht beunruhigen.«

»Ach, Mom«, seufze ich.

»Es tut mir leid, dass ich dich vor vollendete Tatsachen stelle. So hatten wir es nicht geplant. Wir wollten dir in ein paar Tagen die guten Neuigkeiten erzählen. Aber …« Moms Stimme bricht weg und Tränen laufen über ihr Gesicht.

Ich rutsche mit meinem Stuhl an ihre Seite, nehme ihr die misshandelte Scheibe Toast aus den Fingern und umfasse ihre Hände. »Hör zu. Sicher bin ich überrascht und bestimmt nicht begeistert, dass er hier aufgetaucht ist. Aber lass uns doch später in Ruhe über alles reden, okay?«

»In Ordnung. Und du bist nicht sauer?«, flüstert sie.

»Nein«, wispere ich, ehe ich ihr einen Kuss auf die Wange gebe und aufstehe.

Natürlich bin ich sauer. Aber das werde ich ihr sicher nicht unter die Nase reiben. Und wenn ich genauer darüber nachdenke, kann ich meine Eltern auch verstehen. Sie wollten die Firma retten.

Wenn wir alles überstanden haben, werde ich mir die Details genauer anschauen und entscheiden, wie ich in dieser Sache weiter verfahre.

Nachdem wir den Tisch abgeräumt und das Geschirr gespült haben, kultivieren wir uns, um den Termin bei Mr. Murphy, dem Bestatter, wahrzunehmen.

Während der Fahrt und dem Gespräch wegen Dads Beisetzung spukt mir Henry im Kopf herum. Allerdings verdränge ich es und konzentriere mich auf das, was im Augenblick Priorität hat.

 

Am Nachmittag kehren wir total erschlagen zurück. Wir haben alles organisiert und müssen nur noch den Termin für Dads Beisetzung und Trauerfeier bekannt geben.

Henry war nur der erste Kondolenzbesuch. Bis in die späten Abendstunden ging es zu wie im Taubenschlag. Sämtliche Nachbarn kommen auf einen Sprung vorbei, um ihr Beileid auszusprechen, Hilfe anzubieten und Mom zu versichern, dass sie zur Beisetzung selbstverständlich ebenfalls zugegen sein werden.

Mom nimmt alles erstaunlich gefasst und empfängt jeden mit einem Lächeln. Ich weiß natürlich, dass es in ihr anders aussieht. Es kostet sie unwahrscheinlich viel Kraft, sie steht aber den ersten Tag durch, ohne zusammenzubrechen. Wofür ich sie nur noch mehr bewundere. Ich selbst stand einige Male kurz davor abzuhauen, weil es mir drohte zu viel zu werden.

Als es endlich ruhiger wird, sitze ich mit meiner Mutter im Wohnzimmer und genieße für einen Moment die Stille.

»Danke, dass du heute für mich da warst«, murmelt Mom, ehe sie von einem herzhaften Gähnen übermannt wird. Natürlich, sie muss fix und fertig sein. Schließlich hat sie letzte Nacht kein Auge zu bekommen und der Tag war anstrengend.

»Na, sag mal, das ist doch selbstverständlich. Aber du bist müde, willst du nicht ins Bett gehen und versuchen zu schlafen?« Und dann fällt mir die Szene von heute früh wieder ein, als wir vor ihrem Schlafzimmer standen und sie sich nicht überwinden konnte hineinzugehen. Sie wird aus Rücksicht nichts sagen und wartet lieber, bis ich von allein auf mein Zimmer gehe, um sich dann wieder auf dem Sofa schlafen zu legen. Sie könnte auch eins der Gästezimmer benutzen, aber das scheint sie auch nicht zu wollen. Wenn ich ehrlich bin, ich auch nicht. Und ich kann nicht einmal plausibel erklären, warum das der Fall ist. Es fühlt sich einfach nur falsch an, denn wir sind keine Gäste. Wir sind eine Familie und dieses Haus ist unser Heim. Irrational? Mag sein. Aber so ist es nun mal.

Ich lasse meinen Blick durch den Raum gleiten. »Ich werde hier unten schlafen. Du nimmst mein Bett.« Sie will gerade protestieren, als ich einhaltgebietend die Hand hebe. »Keine Diskussion, Mom!«

An jedem anderen Tag hätte sie sich nicht so einfach herumkommandieren lassen. Aber heute ist kein normaler Tag, weshalb ich froh bin, als sie mir ein dankbares Lächeln schenkt und sagt: »Habe ich dir schon mal gesagt, dass ich dich liebe?«

Mir schießen sofort die Tränen in die Augen und ich sehe verlegen zur Seite, ehe ich murmele: »Das weiß ich doch. Ich liebe dich auch, Mom.«

»Gut. Ich bin mir nicht sicher, ob Dad und ich dir das oft genug gesagt haben«, sinniert sie leise vor sich hin. Mom steht nun vor mir und legt ihre Hand an meine Wange. »Schlaf gut.«

»Du auch.«

 

Mitten in der Nacht schrecke ich aus einem schrecklichen Traum hoch. Mein Herz rast. Das T-Shirt klebt mir am Leib und ich höre mein Blut in den Ohren rauschen. Ich setze mich auf und versuche mich zu beruhigen. Es ist lange her, dass ich diesen Traum hatte. Um genau zu sein, sieben Jahre.

Ich beuge mich vor und lege mir meine Hände schützend über den Kopf. Verdammte Scheiße! Warum ausgerechnet jetzt? Eindeutig eine Suggestivfrage.

Henrys Auftauchen hat all die Erinnerungen an die Oberfläche geschwemmt, gegen die ich mich bisher halbwegs erfolgreich gewehrt habe. Vielleicht bin ich aber auch nur noch dünnhäutiger durch Dads Verlust, als es sonst der Fall ist. Aber egal, was der Grund ist, das Ergebnis zählt. Und das stimmt mich nicht glücklich. Denn ich hatte angenommen, endlich über Henry hinweg zu sein.

Ich lehne mich zurück und blicke in die Dunkelheit. Man könnte auch sagen, ich blicke in die Vergangenheit.

 

*

 

Henry und ich kennen uns seit Kindertagen. Meine Eltern pflegten engen Kontakt zu seinen Großeltern, die er regelmäßig besuchte.

Bereits damals lebte Henry in Vancouver. Sein Vater verließ Revelstoke viele Jahre zuvor, um Tremblay Timber Trading Inc. aus dem Boden zu stampfen. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten und die Tremblays stanken nur so vor Geld. Nicht dass ich neidisch wäre oder dergleichen, jedoch änderte dieser Umstand alles.

Henry wurde von Kindesbein an darauf gedrillt, als der zukünftige CEO von Triple-T seinen Mann zu stehen. Was nicht nur bedeutete, dass er die privilegiertesten Schulen besuchen durfte und sich somit seine Aufenthalte in Revelstoke auf ein Minimum reduzierten, sondern sein Vater verbot obendrein jeglichen Umgang unter seinem Stand.

Es hat mich nicht wirklich gewundert, als ich von Henry erfuhr, dass seine Mutter eines Tages mit gepackten Koffern im herrschaftlichen Haus auf Vancouver Island saß und auf ein Taxi wartete. Allerdings brach es mir das Herz, Henry so zu sehen. Er vermisste sein Mom, die sich nur gelegentlich mit ihm in Vancouver traf. Er erzählte mir zwar nie, warum sie sich von ihm dermaßen zurückzog, denn schließlich war sie seine Mutter, aber ich ging davon aus, dass auch hier sein Vater die Finger im Spiel hatte und sie auf irgendeine Weise unter Druck setzte. Mrs. Tremblay starb zwei Jahre, nachdem sie ihre Familie verließ. Da muss sie Mitte dreißig gewesen sein. Woran, weiß ich nicht. Henry verlor danach nie wieder ein Wort über sie.

Ich kann bis heute nicht verstehen, wie jemand wegen seines Erfolgs vergessen kann, woher er ursprünglich gekommen ist. Wenn ich an Henrys Vater denke, habe ich immer das Bild einer Assel vor Augen, die unter einem modrigen Stein hervorkriecht.

Da Henry und ich seine Zeit in Revelstoke miteinander verbrachten, war es unvermeidlich, dass ich seinem Vater früher oder später über den Weg lief. An die erste Begegnung mit Mr. Tremblay erinnere ich mich, als wäre es gestern gewesen, wie er mich mit einer abschätzigen Miene ansah, dann auf mich deutete, als wäre ich hier die Assel, und Henry fragte: »Ist das dein Ernst?« Da muss Henry zehn gewesen sein. Zum Glück kam uns seine Großmutter zu Hilfe.

Was sie Tremblay senior damals sagte, weiß ich nicht mehr. Vielleicht habe ich es auch einfach nicht gehört. Ich weiß nur, dass es von diesem Zeitpunkt an schwierig wurde, mit Henry Kontakt zu halten. Sobald er zurück nach Hause musste, hörten wir so gut wie nichts voneinander.

Irgendwann einmal meinte er, wenn seine Großeltern nicht darauf drängen würden, ihn zu sehen, hätte sein Vater selbst diese wenigen Stippvisiten längst abgeschafft.

Tja, das ist jetzt fünfundzwanzig Jahre her. Ich war jung, dumm und bereits mit sieben bis über beide Ohren in Henry verliebt. Natürlich begriff ich das erst viel später. Aber rückblickend kann ich sagen, dass ich für ihn damals alles getan hätte und glücklich war, sobald ich ihn auch nur zu Gesicht bekam.

In den darauffolgenden Jahren gab es für mich nur wenige Highlights. Eins davon war, wenn ich von den Tremblays erfuhr, dass Henry über den Sommer nach Revelstoke kam. Das brachte mich über den Rest der Zeit, bis er endlich wieder hier war.

Würde man mich jetzt fragen, was ich im Herbst, Winter oder Frühjahr getan habe, ich könnte es nicht einmal mit Bestimmtheit sagen. Es fühlte sich für mich immer wie ein Marathonlauf an. Oder nein, wie die Wanderung durch einen endlos langen Tunnel, sämtlicher Sinne beraubt, bis endlich der Sommer kam, Licht in die Dunkelheit brachte und mir langsam etwas Leben einhauchte.

Meine Mom sagte mal zu mir: »Carter, mein Schatz, du wirkst, als wärst du nur körperlich anwesend. Was ist denn los? Irgendwie habe ich den Eindruck, du bist nur bei der Sache, wenn dein Freund in der Stadt ist.«

Ich habe ihr nie gesagt, wie nahe sie der Wahrheit tatsächlich gekommen ist. Denn ja, ich fühlte mich nur vollständig, wenn ich mich in Henrys Nähe aufhielt.

Im Alter von sechzehn – Henry war damals neunzehn – geschah der erste ernst zu nehmende Zwischenfall, der uns beinahe die Freundschaft gekostet hätte.

 

Es wurde von Jahr zu Jahr schwieriger für mich, Abstand zu halten. Ich wollte mehr als Freundschaft. Nur war ich mir nicht sicher, wie Henry auf einen Annäherungsversuch reagieren würde. Ich hatte Angst davor, dass er mir eine reinhaute oder schlimmstenfalls die Freundschaft kündigte. Mir war auch klar, dass selbst wenn er auch nur einen Funken meiner Gefühle erwidern würde, unser Altersunterschied ein Problem für ihn wäre. Drei Jahre erscheinen in diesem Alter fast unüberwindlich. Na ja, und dann gab es da noch einen nicht ganz so unwichtigen Fakt. Ich ging davon aus, er würde auf Mädchen stehen.

Es war nicht so, dass er mit seinen Eroberungen angab. Das bei Weitem nicht. Aber er ließ hier und da durchblicken, dass es da jemanden gab, den er sehr mochte. Ich ging davon aus, dass es sich um ein Mädchen auf seiner Schule handelte, obwohl er nie einen Namen nannte. Man könnte sagen, es war eine verwirrende Zeit für mich. Ich schwebte ständig zwischen Himmel und Hölle.

Schließlich fasste ich mir ein Herz und setzte alles auf eine Karte. Ich war naiv genug zu hoffen, es würde irgendwie gut gehen.

Wir waren vormittags in den umliegenden Wäldern unterwegs und besuchten die Holzfällercamps. Uns zog es schon immer dorthin und wir empfanden die Ausflüge als kleine Abenteuer. Denn wenn Henrys Vater davon erfahren hätte, wäre die Hölle los gewesen. Er hätte solch einen gefährlichen Spaß nie erlaubt.

Jedenfalls kühlten wir uns später, nur mit Shorts bekleidet, von der Nachmittagshitze im Three Valley Lake ab.

Nachdem wir wie die Verrückten durch das erfrischende Nass getobt waren, lagen wir erschöpft nebeneinander im tiefen Gras am Uferrand. Die Gegend war unbewohnt und Touristen verirrten sich nur gelegentlich hierher. Somit waren wir allein und genossen die Einsamkeit. Henry wirkte unbeschwert. Was immer seltener der Fall zu sein schien.

Ich hatte das Gefühl, es wäre genau der richtige Moment. Weshalb ich mich auf die Seite drehte, auf den Unterarm abstützte und seinen Anblick in mich aufnahm. Auf seiner Haut glitzerten unzählige Wassertropfen in der Sonne. Natürlich bewunderte ich seinen Körper, der mich anlockte wie Sirenengesang im Nebel. Aber es war im Grunde schon immer das Gesamtpaket gewesen, weshalb ich so verrückt nach ihm war.

Henry schien mit seinen Gedanken weit weg zu sein und bemerkte nicht, dass ich ihn musterte. Ich nahm all meinen Mut zusammen und fuhr mit den Fingerspitzen über seine Schulter. Erschrocken erstarrte er und schaute mich entgeistert an.

Unsicher zog ich meine Hand zurück und wartete. Ich rechnete damit, von ihm verbal in Grund und Boden gestampft zu werden.

Was dann geschah, werde ich den Rest meines Lebens nicht vergessen.

Wortlos wandte er sich mir zu, legte seine kühle Hand in meinen Nacken und küsste mich. Einfach so. Ohne Vorwarnung.

Trotzdem ich darauf gehofft hatte, konnte ich es nicht fassen. Seine Zunge glitt über meine Lippen und neckte meine Mundwinkel, als würde er um Einlass bitten. In meiner Unbedarftheit riss ich meinen Mund weit auf. Gott ja, ich war unerfahren. Wobei unerfahren enorm untertrieben ist, denn ich hatte null Komma null Erfahrung, wenn es ums Küssen ging. Erstens hatte es sich nie ergeben und zweitens, selbst wenn, hätte ich die Möglichkeit nicht ergriffen, denn ich wollte immer nur Henry.

Es war einfach nur peinlich und ich wäre am liebsten im Erdboden versunken, als Henry seine Bemühungen einstellte und mich mit zuckenden Mundwinkeln ansah.

Ich wollte bereits das Weite suchen, als er mich bei den Oberarmen packte und rücklings ins Gras drückte. Er ragte über mir auf und flüsterte zärtlich: »Halt still, Dummkopf.«

Dann brannten mir die Sicherungen durch, als er seine Lippen ein weiteres Mal auf meine legte. Diesmal stellte ich mich nicht so dämlich an, sondern folgte seinem Beispiel, ließ mich von ihm leiten. Ich spiegelte sozusagen seine Bewegungen. Es dauerte nicht lange, bis mir klar wurde, worauf es ankam.

Es war ein berauschendes Gefühl, seinen Geschmack auf meiner Zunge zu haben; seine Wärme, die mich von oben bis unten einhüllte, zu spüren; seine starken Hände auf meiner glühenden Haut zu fühlen. Er setzte mich in Brand. Nur diese Berührungen weckten in mir ein Verlangen, das ich mir bis dahin nicht einmal ansatzweise hätte vorstellen können.

Mein langersehnter Traum wurde Wirklichkeit und ich wähnte mich im siebten Himmel. Meine Hände entwickelten ein Eigenleben und wanderten um Henrys Seiten, legten sich auf seine tanzende Rückenmuskulatur. Er fühlte sich so warm und lebendig an. Ich hätte Stunden, Tage, Wochen so zubringen können.

Aber wie schon gesagt, es war ein langersehnter Traum von mir. Und bekanntlich haben Träume die unangenehme Eigenschaft, wie Seifenblasen zu zerplatzen.

Dieser tat es in dem Moment, als Henry mit entsetzter Miene aufsprang und sich von mir abwandte.

Ich lag einfach im Gras, als hätte mich der Schlag getroffen, und mein Magen revoltierte, da ich nicht wusste, wie ich mich nun verhalten sollte und warum er so plötzlich dermaßen aufgebracht reagierte. In der einen Sekunde machte er sich über meinen Mund her, als gäbe es kein Morgen, und in der nächsten gab er mir das Gefühl, von mir angewidert zu sein.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er sich wieder zu mir umdrehte. Seinen Blick werde ich ebenfalls nie vergessen. Er sah aus, als würde seine Welt zusammenbrechen, ehe er sagte: »Das war ein Fehler und wird nie wieder passieren.«

Ich sprang auf, wollte ihn schütteln, bis er zur Vernunft käme. Aber ich war sechzehn, was außer nachzugeben hätte ich denn tun sollen? Also verschloss ich meine verletzten Gefühle tief in mir.

Um die Situation zu retten, wappnete ich mich mit einem aufgesetzten Grinsen, winkte lässig ab und sagte: »Lass uns abhauen, sonst hetzen sie uns noch die Bluthunde auf den Hals.«

Meine Reaktion schien Henry nicht so recht zu passen, denn er schaute mich einen Moment entsetzt an, ehe er sich wieder im Griff hatte.

Wir redeten viele Jahre nicht darüber. Erst als es zu diesem zweiten, alles vernichtenden Zwischenfall kam.

 

*

 

Ich will und kann nicht daran zurückdenken. Es würde mich abermals in eine emotionale Abwärtsspirale zwingen, aus der ich das letzte Mal Monate gebraucht habe herauszufinden.

Mit einem resignierten Seufzer stemme ich mich hoch und schlurfe in die Küche, schalte das kleine Licht unterm Schrank ein und hole mir ein Glas Wasser. Ein Blick auf die Uhr an der Mikrowelle sagt mir, es ist erst zwei. Verdammt!

Hellwach, wie ich jetzt bin, brauche ich an Schlaf nicht mehr zu denken. Zurück im Wohnzimmer schalte ich den Fernseher ein, regele die Lautstärke auf ein Minimum und sehe mir irgendeine Talkshow an. Im Grunde ist mir egal, was läuft, denn ob ich will oder nicht, meine Gedanken driften erneut zu Henry.

Mir ist nicht entgangen, dass er immer noch ein gut aussehender Mann ist. Die Jahre haben ihm einige Fältchen beschert, die ihm jedoch eher etwas Interessantes verleihen. Ob er mittlerweile wieder in einer Beziehung lebt?

Natürlich weiß ich, dass seine Frau vor fünf Jahren bei einem Absturz mit dem firmeneigenen Helikopter ums Leben kam. Schließlich stand es in allen Zeitungen. Ich hätte es nicht übersehen können, selbst wenn ich gewollt hätte.

Auch wenn wir keinerlei Kontakt mehr hatten und unsere Freundschaft Jahre zuvor ein jähes Ende nahm, kam ich nicht umhin Mitgefühl für ihn zu empfinden. Es hat mich alles gekostet, ihn nicht anzurufen oder plötzlich in Vancouver aufzuschlagen. Allerdings hat mich unser letztes Gespräch davon abgehalten, mir von ihm ein weiteres Mal mein Herz brechen zu lassen.

Wie es ihm wohl danach ergangen ist? Was ist mit seiner Tochter? Ich habe sie genau wie seine Frau Mia nie kennengelernt. Und doch müssen die zwei etwas Besonderes für Henry sein.

»Wie ich sehe, kannst du auch nicht schlafen«, reißt mich Mom aus meinen Gedanken.

Sie sieht schrecklich aus. Dennoch bin ich froh, dass sie hier ist und mich von diesem Pfad der Selbstgeißelung runterholt. Ich schiebe die Bettdecke zur Seite und schmeiße das Kopfkissen auf den Sessel, bevor ich aufstehe. »Komm, setz dich doch. Weißt du, worauf ich jetzt Lust hätte?«

Ein schiefes Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht. »Ich habe da so eine Ahnung.«

»Sehr gut. Du bleibst hier. Ich kümmer mich darum«, triumphiere ich und schlendere erneut in die Küche, um die Zutaten für Pancakes zusammenzusuchen.

 

Manchmal sehe ich den Wald vor lauter Bäume nicht

- Henry -

 

Drei Tage halte ich mich nun schon in Revelstoke auf. Drei sehr lange Tage, in denen ich darauf hoffe, doch noch irgendein geartetes Lebenszeichen von Carter zu erhalten.

Aber außer Charlottes Mitteilung, dass Williams Beisetzung morgen stattfindet und sie sich entschieden haben, die Trauerfeier in ihrem Haus auszurichten, höre ich nichts von ihnen. Hätte ich mir eigentlich auch denken können.

Meine freie Zeit verbringe ich damit, Avery telefonisch auf den Keks zu gehen. Na ja, ich vermisse sie eben. Eine Woche ohne sie ist für mich der absolute Horror.

Nachdem ich sie heute von ihrem Camp-Betreuer das dritte Mal aus den fragwürdigsten Gründen ans Telefon rufen ließ, hörte sie sich leicht genervt an, als sie sagte: »Daddy, ich hab dich wirklich lieb. Aber könntest du aufhören, so peinlich zu sein?«

Nach zähen Verhandlungen – Avery kommt ganz nach ihrer Mom – habe ich ihr zähneknirschend versprechen müssen, erst in zwei Tagen wieder anzurufen.

Da ich endlich mal genügend Zeit mitbringe, nutze ich diese für ausgedehnte Besuche bei meinen Großeltern. Was wirklich lange überfällig war. Bisher vermied ich, so gut es eben ging, nach Revelstoke zu reisen. Wenn, dann schickte ich ihnen den Heli und ließ sie zu uns nach Hause auf Vancouver Island holen. Allerdings wurde es in den vergangenen Monaten immer schwieriger, da sie nun einmal nicht mehr die Jüngsten sind.

Mark hat bei Triple-T alles im Griff, was mich nicht überrascht. Er ist nicht nur mein bester Freund und Anwalt der Firma, er ist ein äußerst fähiger Mann bei allem, was er anpackt. Hätte ich Zweifel gehabt, wäre ich nicht im Traum auf die Idee gekommen, ihn darum zu bitten, mich zu vertreten. Ich sollte ihn wohl endlich davon überzeugen, seine Kanzlei aufzugeben, um vollends ein Teil von Triple-T zu werden. Nun gut, damit liege ich ihm schon seit Ewigkeiten in den Ohren. Bisher hat er sich jedoch standhaft geweigert. Tja, wie sagt man so schön? Steter Tropfen höhlt den Stein. Ich gebe nicht auf. Irgendwann wird auch er einknicken. Ich muss nur noch herausfinden, womit ich ihn ködern kann.

 

Natürlich fiel es mir schwer, über meinen Schatten zu springen und bei den Davis aufzukreuzen. Als Carter die Tür öffnete, dachte ich, mir bleibt das Herz im Leibe stehen. Er hat sich kein Stück verändert, sieht noch genauso hinreißend aus wie vor sieben Jahren.

Auch wenn ich damit gerechnet habe, dass er im Haus seiner Eltern ist, war es dennoch ein Schock, ihn zu sehen. Sein abweisender Blick hätte nicht aussagekräftiger sein können. Es behagte ihm keinesfalls, dass ich da war.

Und mir ist noch etwas im Laufe unseres Gespräches klar geworden: Er hat keinen Schimmer, dass Triple-T die Hälfte seiner Firma aufgekauft hat.

Ich muss zugeben, das hat mich dann doch verwundert. Denn ich ging davon aus, dass William und Charlotte vorab mit Carter gesprochen hätten.

Wenn ich an seiner Stelle wäre, würde ich wahrscheinlich ausrasten, sollte ich vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Und das wird er, denn die Verträge sind zwar noch warm, aber rechtskräftig. Selbst wenn er wollte, könnte er nicht aussteigen. Um mich wieder auszubezahlen, fehlt der Firma das Geld. Es ist nicht so, dass ich mich in die Geschäfte einmischen würde. Natürlich haben Mark und ich ein Auge darauf, denn immerhin steckt ein Haufen Geld von mir in diesem Unternehmen.

Ich muss schauen, inwieweit Carter gewillt ist, eine geschäftliche Unterredung mit mir zu führen. Ein Punkt, den ich in all meinen Überlegungen, die ich nach Williams Hilferuf anstellte, nicht mit einbezog. Mir war nur wichtig, dass ihre Firma eine reelle Überlebenschance erhält. Dass sie automatisch in Carters Hände übergeht, hatte ich wohl verdrängt. Das bilde ich mir zumindest ein. Ja okay, ich glaube es mir ja selbst nicht.

Um meine Gedanken nicht weiter Achterbahn fahren zu lassen, ziehe ich mich warm an und verschwinde nach draußen. Vielleicht bekomme ich den Kopf frei, wenn ich ein paar Stunden durch den Wald marschiere. Es ist lange her, als ich das letzte Mal Zeit dafür fand.

 

Ich stapfe bereits zwei Stunden schnaufend durch den Schnee und genieße die winterliche Ruhe, während die Kälte mir tatsächlich mein Hirn frei bläst, als mein Handy klingelt und ich mich erschrecke. Sicher, ich hatte es natürlich in die Jackentasche gesteckt, aber mit keiner Silbe mehr daran gedacht. Was mir wieder einmal beweist, dass ich kein geborener Geschäftsmann bin, denn jeder andere in meiner Position hätte alle drei Minuten einen Blick darauf geworfen. Zumal er oder sie nicht im Wald spazieren gehen würde, sondern mit dem Laptop im Hotel gesessen und Arbeiten erledigt hätte. Nur leider kann man sich nicht immer aussuchen, was einem das Leben bereithält.

Nachdem ich einen Handschuh ausgezogen habe, entsperre ich das Display und sehe Marks Konterfei aufleuchten. »Hey, alles in Ordnung da drüben?«

»Selber hey. Ja klar, was dachtest du denn? Außerdem bin ich ja nicht allein. Elisa ist auch noch da. Sie hat alles unter Kontrolle und unterstützt mich, wo sie nur kann.«

»War auch nur eine höfliche Frage. Ich muss zugeben, nachdem du mir jetzt bestätigst, was ich mir eigentlich schon dachte, fühle ich mich ein wenig überflüssig. Ich könnte doch in den Ruhestand gehen und du übernimmst den Laden, was meinst du?«, flachse ich.

»Fang nicht schon wieder damit an, Henry. Du bist schlimmer als eine Zecke, die sich festgebissen hat.«

»Du weißt, dass es mir ernst damit ist, oder? Also nicht mit dem Ruhestand, sondern dass du zu uns kommst.«

Mark stöhnt verzweifelt auf. »Na ja, ich würde lügen, wenn ich jetzt sagen würde, es wäre kein interessantes Angebot.«

Ich reiße überrascht die Augen auf und bleibe mitten in der Pampa wie angewurzelt stehen. »Heißt das, du überlegst es dir?«

»Das soll nur heißen, dass ich nicht mehr gänzlich abgeneigt bin.«

»Guter Gott, bist du ein zäher Verhandlungspartner!«

»Ist das nicht einer der Gründe, warum du mich unbedingt unter Vertrag nehmen willst?«

»Hm, stimmt.« Ich kann mir ein dämliches Grinsen nicht verkneifen. Aber zum Glück befinde ich mich fernab jeglicher Zivilisation und niemand sieht mich.

»Lass uns darüber reden, wenn du wieder zurück bist. Weshalb ich eigentlich anrufe. Ich platze vor Neugier. Wie ist es gelaufen? Da du noch in Revelstoke bist, kann es nicht allzu schlimm gewesen sein.«

»Am Tag nach meiner Ankunft bin ich zu Charlotte gefahren. Ich hätte wissen müssen, dass Carter sie nicht allein lässt.«

»Er war also da. Und …?«, hakt Mark leise nach.

»Charlotte war sehr nett.«

»Henry!«

Ich fahre mir unwirsch durchs Haar und entgegne im gleichen Tonfall: »Mark!«

»Dieses Spiel wirst du jetzt nicht spielen. Erzähl schon, verdammt!«

»Na ja, Carter war nicht so nett wie seine Mutter.«

»Soll heißen?«

»Menschenskind, es war doch klar, dass er mir nicht um den Hals fällt, nach dem, was ich ihm damals angetan habe. Soll heißen, ich kann froh sein, dass er mich nicht vom Hof gejagt hat. Was er wahrscheinlich getan hätte, wäre seine Mutter nicht anwesend gewesen. Wobei mir gerade etwas einfällt. Liege ich richtig in der Annahme, dass Carter keine Ahnung davon hat, dass Triple-T Miteigentümer seiner zukünftigen Firma ist?«

»Hm. Kann ich dir nicht mit Bestimmtheit sagen. Als ich mit Elisa wegen der Begehung des Sägewerks und der Verhandlungen in Revelstoke war, ist er mir nicht über die Füße gelaufen. Ich nahm jedoch an, dass Charlotte und William mit ihm darüber gesprochen hätten, denn es ist wohl schon lange klar, dass er den Platz seines Vaters übernimmt.«

»Tja, so wie es aussieht, hat er keinen blassen Schimmer davon.«

»Mist. Das wird Ärger geben.«

»Denke ich auch.«

»Du hast es also nicht angesprochen?«, will Mark wissen.

Ich schnaube abfällig. »Na sag mal! Glaubst du ernsthaft, ich wäre so unsensibel? Die zwei haben im Moment andere Sorgen.« Ich mache eine kleine Pause. Mark liegt nicht gänzlich falsch. Ich hatte tatsächlich darüber nachgedacht, es anzusprechen, mich dann aus ersichtlichen Gründen zurückgehalten. »Um ehrlich zu sein, wollte ich bis nach der Beisetzung warten. Die übrigens morgen ist. Ich weiß nicht, ob Charlotte Elisa Bescheid gegeben hat. Könntest du das für mich in Erfahrung bringen? Und wenn Elisa morgen herkommen möchte, sag ihr bitte, sie soll Fred anrufen. Er kann sie herfliegen, auf Firmenkosten selbstverständlich.«

»Kann ich machen.«

»Oh, das gilt natürlich auch für dich, falls du Elisa begleiten möchtest. Sorry, mir wird gerade eben erst so richtig bewusst, dass ihr sehr engen Kontakt in den letzten Monaten mit William und Charlotte hattet.«

»Ist schon in Ordnung, Henry. Ich weiß, dass du es nicht böse meinst. Du warst nur mit den Gedanken woanders. Aber wenn es für dich okay geht, würde ich das Angebot gerne annehmen.«

»Gut, dann mach das. Sag Elisa, sie soll euch Zimmer in meinem Hotel buchen, ebenfalls auf Firmenkosten.«

»Danke, das ist nett.«

»Gut, dann sehen wir uns morgen. Und Mark …«

»Ja?«

»Danke für alles.«

»Blödsinn. Bis morgen. Oh, wo treibst du dich eigentlich rum?«, setzt Mark noch nach.

»Warum fragst du?«

»Du hast dich vorhin angehört, als hättest du einen Marathon hinter dir.«

»Ich genieße meine freie Zeit und spaziere durch mein altes Revier.«

»Ah, das erklärt es. Dann sehen wir uns morgen. Bye!«

»Bye!«

Ich verstaue das Handy in meiner Jackentasche und streife den Handschuh über, während mir das Gespräch noch einmal durch den Kopf geht.

Zwei zentnerschwere Steine fallen mir vom Herzen. Der erste ist wegen Mark. Es sieht dann wohl doch so aus, dass er es sich nun überlegt und in absehbarer Zeit seinen Platz bei Triple-T einnimmt. Und der zweite ist wegen Williams Beisetzung. Ich nahm an, ich würde dort allein erscheinen müssen, was leichtes Unbehagen in mir aufsteigen ließ. Aber nun bin ich froh, dass ich Elisa und Mark an meiner Seite haben werde.

Manchmal sehe ich aber auch den Wald vor lauter Bäumen nicht. Ich hätte wirklich eher darauf kommen müssen, dass es sie ebenfalls betrifft.

 

*** Ende der Leseprobe ***

Impressum

Texte: Nele Betra
Bildmaterialien: shutterstock
Lektorat: Brigitte Melchers / Bernd Frielingsdorf
Tag der Veröffentlichung: 16.03.2017

Alle Rechte vorbehalten

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