Freunde, die keiner braucht
- Colin -
»Das darf alles nicht wahr sein!«, fluche ich lautstark vor mich hin. Was niemanden stören wird, denn ich sitze allein im Auto.
Nur der Gedanke daran, warum ich mich mitten in der Nacht, nach bereits fünf Stunden Anfahrt, unverrichteter Dinge wieder auf dem Rückweg von Glendale nach Edinburgh befinde, bringt vor Zorn mein Blut in den Adern zum Kochen.
Alles nur, weil der liebe Karl meinte, mal eben für zwei Wochen zu verschwinden. Keine Ahnung, was der Scheiß überhaupt sollte. Da lässt er mich ohne Geld, ohne ein Wort zurück und reagiert dann auch noch wie ein hysterisches Weib, als ich ihm sagte, ich würde zu ihm kommen. Ich war schon sauer genug, dass ich seinen Aufenthaltsort bei Leroy und Cameron erfragen musste. Ich kam mir wie der letzte Vollhonk vor.
Seit fast zwei Wochen sehe und höre ich nichts von ihm. Auf meine Nachricht meldet er sich gar nicht erst, sondern ignoriert mich einfach. Und dann aus heiterem Himmel habe ich ihn während der Fahrt am Telefon. Er dachte doch tatsächlich, ich würde seine Worte ernst nehmen, als er forderte, ich solle nicht nach Glendale kommen, stattdessen sofort zurückfahren, um meine Sachen zu packen und auszuziehen.
Was glaubt er eigentlich? Da leihe ich mir diese Schrottkarre von dem Idioten Ted, was mich sonst was kosten wird, und Karl denkt wirklich, ich würde wieder umdrehen?
Okay, was ich ja nun auch gemacht habe, verdammt! Ich war so perplex, als plötzlich dieser Heini in der Tür stand, dass ich erst gar nicht wusste, was ich sagen sollte. »Dieser Wichser!«, brülle ich und prügele wiederholt auf das Lenkrad vor mir ein. »Ich hätte ihm eine aufs Maul geben sollen und gut. Aber nein, ich Idiot ziehe den Schwanz ein und mache mich doch tatsächlich auf den Heimweg. Als wäre ich irgendein dummes Schaf.«
Am Horizont kündigt sich bereits der neue Tag an, als ich endlich zu Hause ankomme. Meine Wut ist noch genauso heftig wie bei der Abfahrt in Glendale und trotzdem bin ich total erledigt. Bevor ich mir Gedanken darüber mache, wie es weitergeht, brauche ich eine Mütze voll Schlaf.
Also genehmige ich mir das letzte Bier, was ich noch im Kühlschrank finde. Darauf folgt ein kaltes Stück Pizza aus einem speckigen Karton vom Couchtisch, den ich dringend mal leer räumen sollte. Anschließend gleite ich samt Klamotten aufs Bett, um augenblicklich in einen traumlosen Schlaf zu fallen.
Irgendwann – keine Ahnung, wie spät es ist – weckt mich die Sonne, die unbarmherzig durchs Schlafzimmerfenster knallt, als hätte sie nur darauf gewartet, mir eins auszuwischen. Ich schwitze wie ein Schwein und bekomme meine Augen kaum auf. Fühle mich erschlagen, stinke wie ein Iltis und habe das Gefühl, etwas Pelziges wäre in meinem Mund verendet. Mühsam rolle ich mich aus dem Bett und taumle ins Bad, während ich mich meiner Sachen vom Vortag entledige.
Unter der Dusche werde ich langsam klarer im Kopf und meine Gedanken kreisen sofort um Karl. Was nur eins zur Folge hat: Ich bin schlagartig hellwach und stinksauer. Wutentbrannt stelle ich das Wasser ab, um dann nackt, wie Gott mich schuf, und triefend nass vor dem Badzimmerspiegel zu stehen, der mir eines ganz klar vor Augen führt: Ich sehe scheiße aus.
Die Erkenntnis lässt meine Wut verpuffen und ich frage mich, wann ich mich eigentlich das letzte Mal bewusst angesehen habe. Muss echt lange her sein. Denn der Kerl, den ich da vor mir sehe, bin nicht ich. Der Typ da drin sieht aus wie Gevatter Tod auf Urlaub. Rot unterlaufene, geschwollene Augen blicken mich entsetzt an. Die kalkweiße Wand hinter ihm macht einen wesentlich gesünderen Eindruck als sein Gesicht. Aufgesprungene Lippen zeugen von Dehydrierung. Strähnige Haare hängen ihm um einiges zu lang über die Ohren. Sein Körper lässt nur noch erahnen, dass er mal attraktiv war. Muskeln sind so gut wie keine zu finden, dafür ein Bauchansatz. Okay, Letzteres übertreibe ich vielleicht auch ein klein wenig.
Ich stütze mich erschöpft mit beiden Händen am Waschbeckenrand ab und nicke meinem Spiegelbild zu. »Und da wunderst du dich, dass dein Mann dich sitzen lässt?«
Angewidert wende ich mich ab, putze mir die Zähne und verschwinde ins Schlafzimmer, um mich anzuziehen. In der Küche schmeiße ich die Kaffeemaschine an und warte, bis sie lauthals gurgelt, als würde sie jeden Moment das Zeitliche segnen. Mit Sicherheit macht sie es nicht mehr lange und irgendwie bekomme ich Mitleid mit ihr. Ob sie sich so fühlt wie ich mich gerade – wertlos, allein?
Mit einer dampfenden Tasse des schwarzen Morgentrunks sinke ich auf einen der Küchenstühle und verfalle in dumpfes Brüten.
Karl will also, dass ich ausziehe. Jetzt, nachdem ich etwas Abstand zum gestrigen Abend gewonnen habe, muss ich gestehen, es imponiert mir, dass er am Ende unseres Telefonats überhaupt so aus sich rausgekommen ist. Denn so kenne ich ihn nicht. Er ist schon immer ein sanftmütiger Mann gewesen.
Ich schnaube abfällig. Ob über seine Forderung, ich soll gefälligst aus seinem Leben verschwinden, oder über mich selbst, weiß ich nicht so genau. Nur was bleibt mir noch? Welche Möglichkeiten hätte ich? Wenn ich hierbliebe, würde ich mich sicher nur zum Idioten machen, das wäre das Letzte. Die Genugtuung will ich ihm auf keinen Fall gönnen. Aber wo soll ich so schnell hin? Ich bin der traurige Rest einer total kaputten Familie. Da gibt es niemanden mehr. Ein fehlgeleiteter Gedanke, der in eine Richtung schwenkt, die ich nicht zulassen darf.
»Ted!«, fällt mir ein. Er ist der größte Trottel, den ich je kennengelernt habe, aber er hat mir sein Auto geliehen, damit ich zu Karl fahren konnte. Vielleicht kann ich ihn um einen weiteren Gefallen bitten.
Ich schaue auf die Küchenuhr – gleich halb zwölf. Wenn ich Glück habe, ist er schon wach. Seine Nummer befindet sich im Kurzwahlspeicher und somit klingelt es bereits.
»Was’n los?«, höre ich ihn nuscheln. Im Hintergrund lallt eine männliche Stimme, Ted soll die Klappe halten, es wäre noch zu früh, um aufzustehen.
Mit mehr Coolness, als ich eigentlich im Moment besitze, melde ich mich. »Hi, Ted. Ich bin’s.« Na bitte, klang gar nicht so verzweifelt, wie ich dachte.
»Ach du Scheiße, Colin? Sag nicht, du hast mein Auto geschrottet.« So wie er sich anhört, muss er heute Nacht einiges getankt haben. Und was sein Auto angeht, das kann selbst durch eine Frontalumarmung mit einer Hauswand nicht schrottiger aussehen.
Ich ahne nichts Gutes, versuche trotzdem mein Glück. »Hör mal! Kannst du mir einen Gefallen tun?«
»Frag mich in sechs Stunden noch mal. Bis später, Süßer.«
»Hey, warte! Leg bitte nicht auf.« Okay, das klang jetzt verzweifelt.
Stille.
»Ted?«
Mir fällt ein Stein vom Herzen, als er genervt fragt: »Herrgott, was ist denn?«
»Ich brauche eine Bleibe.« Kurz und schmerzlos. Das sollte selbst Ted in seinem Zustand begreifen.
Was er wohl auch tut, denn plötzlich höre ich ihn lauthals lachen.
Ich bette meine Stirn auf den Handballen und schließe resigniert die Augen, während ich Ted dabei zuhöre, wie er seinem One-Night-Stand den neusten Tratsch mitteilt.
Natürlich musste ich ihm gestern erklären, warum er mir dringend seine Karre ausleihen soll. Weshalb ich nicht umhinkam, ihm von Karls Verschwinden zu berichten. Was ihn schon sehr amüsierte. Ich sag’s ja: Idiot.
Ein frustriertes Seufzen rutscht mir unwillkürlich heraus, reiße mich aber sofort wieder zusammen. Das kann ich jetzt echt nicht gebrauchen. Aber verdammt, es war ein Fehler. Ich hätte ihn nicht anrufen sollen. »Ted, vergiss es einfach, okay?«
»Ach komm schon, war nicht so gemeint«, lenkt er halbherzig ein, während ich den anderen Kerl noch vor sich hin feixen höre. »Also hat Karl dich jetzt tatsächlich abserviert? Der süße, sensible Karl, den du doch so wunderbar unter Kontrolle hast.« Seine Stimme trieft vor Häme und macht mich wütend.
»Ted, du bist ein Arschloch!«
»Tja, das höre ich nicht zum ersten Mal.« Ein weiteres Lachen, dann wird er plötzlich ernst und klingt beinah komplett nüchtern. »Danke, dass du mir den Morgen versüßt hast, aber mit einer Bleibe kann ich leider nicht dienen. Außer …«
»Nur in deinen Träumen, Blödmann! Und das weißt du auch.«
»Stell dich nicht so an. Du könntest ein paar Tage bei mir unterkommen. Und was ist schon dabei, der Sache etwas Würze zu verleihen? Ich weiß, du bist pleite. Und na ja … wie sagt man so schön? Eine Hand wäscht die andere?«
Ich kann nicht glauben, dass Ted wirklich so eiskalt ist, mir vorzuschlagen, ich solle mich prostituieren. Seit Jahren versucht er mich ins Bett zu kriegen. Nun scheint er seine Chance zu wittern.
Aber nicht mit mir. Lieber penne ich unter der Brücke, als meinen Schwanz in seinen fetten Arsch zu schieben. »Hör gut zu, du Wichser! Lass dir die Rosette von irgendwelchen Mackern versilbern, denen es egal ist, ob in deinem Oberstübchen ein Licht brennt oder nicht. Ich dachte, wir wären Freunde. Aber da habe ich mich wohl geirrt. Ich bringe dir nachher dein Auto rum und werfe den Schlüssel in deinen Postkasten. Danke noch mal dafür. Aber das war’s dann auch, okay?« Ich rede mich dermaßen in Rage, dass ich vor Wut zittere und ich mich zurückhalten muss, das Handy an die Wand zu donnern.
»Freunde? Ich weiß ja nicht, was du so kiffst, mein Freund, aber schau dich doch mal um! Denkst du wirklich, irgendwer sieht mehr in dir als einen Saufkumpan, der dann und wann mal eine Runde spendiert? Ja, okay, wäre nett gewesen, wenn wir mal gefickt hätten, aber gut, dann eben nicht. Ist ja nicht so, als hätte ich keine Wa–«
Den Rest muss ich mir nicht geben, weshalb ich ihn einfach wegdrücke und fuchsteufelswild mit der flachen Hand auf den Tisch schlage. Im Grunde wusste ich es doch vorher, wie das Telefonat enden wird, wollte es jedoch nicht wahrhaben.
Und was jetzt? Ich hätte noch eine Idee, aber das ist dann wahrscheinlich selbst für mich zu dreist. Soll ich tatsächlich einen von Karls Freunden anrufen? Klar, wir kennen uns schon ewig, aber so wirklich warm geworden bin ich mit keinem aus seinem Freundeskreis. Ich war eher das Anhängsel, der, den man notgedrungen duldet. Nur leider bleibt mir nichts anderes übrig, als es zu wagen.
Ich hole mehrmals tief Luft, um mich zu beruhigen, und wähle die Nummer vom Cav-House, als mir klar wird, dass ich Duncans Handynummer nie bekommen habe. Oder wollte ich sie schlicht und ergreifend nicht? Irrelevant.
»Pension Cavanaugh. Sie sprechen mit Ellen. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Hi Ellen, ist Duncan in der Nähe?«
»Ähm … Wer spricht denn da?«
Scheiße, sie wird mich natürlich nicht an der Stimme erkennen. Wir haben bisher noch nie miteinander telefoniert. Und überhaupt, ich habe mit ihr in all den Jahren vielleicht drei Worte gewechselt. »Sorry, ich bin’s, Colin.«
»Oh, hallo.«
»Könnte ich mit Duncan sprechen?«
»Warum?«
»Ich wollte ihn etwas fragen.« Am liebsten würde ich sofort wieder auflegen.
»Er ist mit Drew unterwegs. Allerdings kannst du mich auch fragen.«
Ihre eisige Stimme verursacht mir eine unangenehme Gänsehaut. »Ich brauche Hilfe.«
»Aha.«
Gott, geht es eigentlich noch einsilbiger? »Ellen, bitte, ich glaube, ich sollte doch lieber mit Duncan reden.« Ich hasse es, betteln zu müssen.
Einen Moment herrscht Ruhe in der Leitung und ich nehme bereits an, Ellen hätte aufgelegt, als sie in einem strengen Tonfall sagt: »Wir wissen von Lee, dass du gestern bei ihnen warst, um herauszufinden, wo Karl sich aufhält. Er meinte, du wärst gleich nach Glendale gefahren. Dass du jetzt mit mir sprichst, kann nur eins bedeuten, Karl ist endlich zu Verstand gekommen. Wenn du also unsere Hilfe willst, wirst du dich schon persönlich zu uns bemühen müssen. Duncan wird gegen eins wieder zurück sein. Wir haben für den Nachmittag noch einige Termine, die wir jedoch nicht verschieben können. Dir bleiben dreißig Minuten, uns zu erklären, warum ausgerechnet wir dich unterstützen sollten. Wenn es dir ernst ist, sei um eins hier. Bist du es nicht, brauchst du auch nicht noch mal anrufen.«
Ich muss hart schlucken, denn ihre kleine Ansprache kratzt gewaltig an meinem Ego. So kenne ich Ellen nicht. Nun gut, ich kenne sie eher gar nicht.
In mir streiten die Gefühle. Normalerweise lasse ich nicht so mit mir reden, weshalb ich angepisst bin und ihr am liebsten meine Meinung geigen würde. Andererseits muss ich wohl oder übel in den sauren Apfel beißen, da ich sonst nicht weiß, wohin ich soll. »Ich werde da sein.«
»Gut.« Damit beendet sie prompt unsere Unterhaltung und lässt mich sprachlos zurück.
Ich bin so perplex, dass ich für einige Sekunden, vielleicht auch länger, mein Handy anstarre, bis mir die Uhrzeit auffällt, die mir riesengroß vom Display entgegenprangt und mich zu verhöhnen scheint. »Scheiße!«
Ich springe auf, renne wie ein Irrer durch die Wohnung in den Flur, werfe mir meine Jacke über, stecke Geldbeutel und Hausschlüssel in die Hosentasche und schnappe mir Teds Autoschlüssel vom Garderobenschrank. Wenn ich pünktlich in Portobello sein will, sollte ich den Finger ziehen. Zuvor muss ich noch das Auto zurückbringen, was mich ungefähr zwanzig Minuten kostet. Dann mit den Öffentlichen zum Cav-House rausfahren, mit denen ich sicher eine halbe Stunde unterwegs bin, wenn alles klappt.
Gott, ich pfeife aus dem letzten Loch, als ich im Laufschritt in die James Street einbiege. Noch ein paar Meter, dann bin ich am Ziel. Ich muss wirklich etwas für meine Kondition tun.
Ein Blick auf meine Uhr verrät mir, dass ich es gerade so geschafft habe. Um nicht wie ein schnaufendes Walross im Foyer reinzuplatzen, beuge ich mich vor, stütze mich einen Moment atemlos auf meinen Knien ab und ringe um jedes Quäntchen Sauerstoff. Am Straßenrand fallen Autotüren zu, was mich dazu bringt, neugierig aufzuschauen.
Duncan und Drew holen vollgepackte Einkaufskörbe aus dem Kofferraum, als Drew mich sieht. »Was will der Penner hier?«
»Drew!«, maßregelt Duncan seine Tochter.
»Ist doch wahr«, mault sie zurück.
Mich trifft Duncans neugieriger Blick, bevor er mich wortlos grüßt und Drew noch eine Packung Küchentücher in die Hand drückt. »Geh schon mal vor. Clara müsste in der Küche sein.«
»Du wirst ihn doch nicht reinlassen, oder?«, raunt sie ihrem Dad zu, als sie wütend an mir vorbeistapft, um ins Haus zu verschwinden. Das Flüstern hätte sie sich sparen können.
Den Kofferraum schließend liegt Duncans Blick weiterhin auf mir. Und ich habe das Gefühl, von Sekunde zu Sekunde kleiner zu werden. Ohne ein Wort seinerseits ist mir klar, was er über mich denkt. Das glaube ich zumindest so lange, bis er vor mir steht, die Kiste mit den Einkäufen abstellt, mir seine Hand reicht und sagt: »Entschuldige.«
Überrascht schaue ich auf und sehe eine Ernsthaftigkeit, die ich nicht erwartet habe. Ich ergreife seine Hand und zucke mit den Schultern. »Nicht nötig. Kann ich mit dir reden?«
»Ellen hat mich vorhin angerufen und mir gesagt, dass du herkommst. Leider haben wir es nicht eher geschafft, hier zu sein. Ich hatte meine liebe Not, Drew aus der Technikabteilung zu locken. Ich sag dir, das Mädchen ist ein Technikfreak. Wobei mir das mehr Spaß macht, als von ihr in die Kosmetikabteilung geschleift zu werden.« Er deutet in Richtung Eingang. »Aber komm doch erst mal rein. Am besten du setzt dich einen Moment in den Frühstücksraum. Der Kaffeeautomat sollte eingeschaltet sein. Bedien dich ruhig. Ich helfe schnell dabei, die Lebensmittel zu verstauen. Ellen und ich kommen dann gleich zu dir, okay?«
Ohne darüber nachzudenken, frage ich: »Kann ich dir helfen?«
Irritiert wandern Duncans Augenbrauen in die Höhe. »Ähm, ja klar. Wenn du noch die zwei Taschen von der Rückbank holen könntest?«
Merkwürdig motiviert eile ich zu seinem Auto und hieve die schweren Beutel hervor, um ihm anschließend ins Hausinnere zu folgen.
Im Foyer sehe ich Ellen hinter der Rezeption stehen, die gerade in ein Gespräch mit Hausgästen vertieft ist. Ihr abweisender Blick huscht kurz über deren Schultern zu mir herüber und ich probiere mich in einem höflichen Lächeln, das womöglich eher maskenhaft und unsicher wirkt. Mir ist nie aufgefallen, wie einschüchternd diese kleine Person sein kann.
»Komm, ich zeig dir, wo du sie abstellen kannst. Warst du schon mal in unserer Küche?« Duncan hört sich so unbeschwert an, als wäre ich rein zufällig hier und er würde sich über meinen Besuch freuen.
»Ich glaube nicht.« War ich wirklich noch nie, denn ich wurde bisher nicht gefragt.
»Na dann, mir nach!«
Wir durchqueren den Gastraum und gelangen an eine Schwingtür, hinter der ein aufgeregtes Gespräch in Gange zu sein scheint, welches abrupt abbricht, als Duncan rücklings durch die Tür schlüpft.
Ich trete ebenfalls ein und sehe mich drei wütenden Augenpaaren gegenüber, deren Besitzer mich offensichtlich liebend gern erdolchen würden.
John, Duncans in die Jahre gekommener Haustechniker, dessen Frau Clara und Drew stehen wie eine Einheit mit vor der Brust verschränkten Armen neben dem offen stehenden Kühlschrank.
Mir bleibt aber auch keine Peinlichkeit erspart. Ich räuspere mich umständlich und blicke hilfesuchend zu Duncan, der so tut, als wäre alles in bester Ordnung und mich anlächelt. »Stell die Taschen einfach irgendwohin. Und danke.«
Kommentarlos entledige ich mich meiner Last und verschwinde rückwärts aus der Küche. Ich denke, ich gehe recht in der Annahme, dass mir jetzt das größte Tranchiermesser im Haus zwischen den Schultern stecken würde, hätte ich ihnen den Rücken zugedreht. Mit einem eisigen Schaudern schaue ich mich im Gastraum um und überlege, ob es nicht doch besser wäre, das Weite zu suchen.
~*~
Wahrheiten
- Colin -
Für einen leisen Abgang ist es nun zu spät, denn Ellen kommt geradewegs aus der Lobby auf mich zu, um dann an mir vorbei zum Kaffeeautomaten zu gehen. »Wo ist mein Mann?«
Ich deute mit dem Daumen hinter mich. »In der Küche. Er wollte noch beim Aufräumen helfen.« Keine Ahnung warum, aber ich habe das Bedürfnis, Ellens Wohlwollen zu erlangen und stammele: »Hör mal …«
Sie wendet sich mir ruckartig zu und hebt Einhalt gebietend ihre Hand. »Sag nichts!«
Mein Mund klappt von selbst wieder zu und ich stehe wie ein Trottel mitten im Gastraum – immer noch unschlüssig, ob es eine gute Idee war herzukommen.
Unwirsch schiebt Ellen einige verirrte Locken ihres blonden Haares mit den Fingern hinters Ohr und atmet hörbar ein und aus, als müsse sie sich beruhigen, bevor sie zwei Tassen ergreift. »Wenn ich mich nicht irre, magst du ihn schwarz.« Keine Frage, sondern eine Feststellung.
»Ja, danke.« Sie weiß wirklich, wie ich meinen Kaffee trinke? Das wundert mich.
Während der Automat seine Arbeit erledigt, deutet Ellen auf einen Tisch in der Ecke. »Setz dich!«
»Danke«, wiederhole ich mich.
Eine dampfende Tasse landet mit Nachdruck vor mir auf dem Tisch. Ellen setzt sich zu mir, sagt jedoch kein einziges Wort. Ich fühle mich fehl am Platz. Die Anspannung zwischen uns steigt ins Unermessliche und vermutlich fehlt nur ein kleiner Funke, ein minimal falsch geäußertes Wort und Ellen würde aus ihrem Anzug springen.
Die Küchentür fliegt auf und Drew stapft wutentbrannt mit den Worten »Das kann nicht euer Ernst sein!« davon.
Duncan folgt ihr auf dem Fuße und ruft ihr hinterher: »Schatz, komm mal runter und denk über meine Worte nach! Oh, und schau doch bitte, wo sich Jamie rumtreibt.«
Von Drew sind nur noch unverständliche Kommentare zu hören, was Duncan zum Grinsen bringt, der sich ebenfalls einen Kaffee holt und sich dann zu uns an den Tisch setzt. Seine Anwesenheit lässt Ellen augenblicklich entspannter wirken.
Er schaut fragend zu seiner Frau, die ihm nur kurz zunickt.
»Okay, dann lass mal hören«, werde ich nun von ihm aufgefordert.
Meine Hände schließen sich unwillkürlich um die heiße Tasse und ich sinke in den Stuhl zurück. »Ich brauche eine Bleibe.« Damit ist doch alles gesagt, oder?
Ellen beugt sich vor. »Das wissen wir schon. Sonst wärst du sicher nicht hier.«
»Ja, na ja, Karl hat mich rausgeschmissen. Und ich weiß nicht, wohin ich soll.« Es hilft wohl nichts. Ich muss ehrlich sein. Ellen macht nicht den Anschein, als würde sie mir auch nur einen winzigen Spielraum zugestehen. »Ich habe bereits einen Kumpel gefragt, aber er kann mir leider nicht helfen.«
»Einen Kumpel«, wiederholt Ellen, als müsse sie die Worte erst auf der Zunge zergehen lassen, um sie zu verstehen. »Du meinst, einen deiner Saufkumpanen? Und du hast echt gedacht, auch nur einer von denen würde dir zur Rettung eilen?« Sie schnaubt abfällig. »Ich habe ja schon von Anfang an vermutet, dass du ein wenig naiv bist, aber das …« Kopfschüttelnd lehnt sie sich wieder zurück und funkelt mich wütend an.
Ich springe vom Stuhl auf. Ellens selbstgerechte Art ertrage ich nicht länger. »Okay, Leute. Danke für den Kaffee, aber ich glaube, ich gehe besser.«
Duncans überraschend herrische Stimme lässt mich innehalten. »Setz dich und erzähl uns einfach, wie du dir das vorstellst.«
Was will er denn hören? »Ich habe keine Ahnung. Es ist ja nur vorübergehend. Und vielleicht kriegt sich Karl auch wieder ein.«
Ellen wendet sich an Duncan. »Okay, Schatz, ich weiß, wir hatten uns geeinigt neutral zu bleiben, aber das kann ich nicht. Tut mir leid.« Daraufhin funkelt sie mich abermals zornig an, ehe sie aufgebracht loswettert: »Ist dir eigentlich je in den Sinn gekommen, was du Karl mit deiner ekelhaften Art angetan hast? Glaubst du wirklich, du hast das Recht, einen anderen Menschen, im Speziellen deinen Partner, den du lieben solltest, wie Dreck zu behandeln? Hast du dir je überlegt, was Karl alles für dich getan hat? Und ich rede hier nicht nur davon, dass er euch beide finanziell über Wasser gehalten hat. Ich rede davon, dass er sich in den letzten … lass mich nachdenken … in den letzten drei Jahren immer mehr in sich selbst zurückgezogen hat, weil er unterschwellig Angst hatte, er würde dir peinlich sein? Ist dir je aufgefallen, wie wenig Karl er selbst war, wenn du in seiner Nähe warst?«
Duncans umfasst Ellens Hand. »Schatz, beruhig dich. Das bringt doch jetzt nichts.«
»Das bringt nichts?!« Sie schaut erst zu mir, dann zu ihrem Mann. »Da magst du recht haben. Aber vielleicht wird es einfach mal Zeit, dass jemand diesem«, sie pikst mir unerbittlich mit dem Finger in die Schulter, »blinden, egoistischen Hornochsen die Augen öffnet.«
Wut steigt in mir hoch. Ich koche innerlich. »Ich bin nicht hier, um mir von dir eine Gardinenpredigt anzuhören. Im Grunde geht es euch auch nicht wirklich etwas an, was zwischen Karl und mir läuft.« Ellens Blick zeigt mir, dass ich hätte lieber die Klappe halten sollen.
»Es geht uns nichts an?! Hast du jetzt komplett den Verstand verloren? Natürlich geht es uns etwas an. Wir sind eine Familie.« Wieder fährt sie sich unwirsch durchs Haar, beinahe verzweifelt, bevor sie flüstert: »Wir haben viel zu lange den Mund gehalten.«
Mir entkommt ein abfälliges Schnauben. »Familie? Ist das dein Ernst? Wann hat mich denn je einer von euch wirklich zu eurer Familie gezählt? Ich war doch nur ein geduldeter Gast, wenn ich mit Karl bei euch war. Ihr habt mich nie so akzeptiert wie ihn.«
»Und das wundert dich?«, werde ich von Duncan in einem sehr ruhigen Tonfall gefragt, während Ellen mich entsetzt anstarrt.
Seine Abgeklärtheit bringt mich gleich noch mehr auf die Palme und ich brülle: »Sollte es nicht?«
»Nein«, entgegnet mir Duncan leise, bevor er scheinbar hilflos den Kopf schüttelt und fortfährt: »Jeder Einzelne von uns hat versucht, dich so zu akzeptieren, wie du bist, auch wenn es uns schwerfiel. Du warst Karls Partner, Colin. Somit einer von uns. Derjenige, der nicht gewillt war, sich einzubringen, warst du. Anfangs nahmen wir an, dass es nur daran lag, weil du uns nicht kanntest. Aber die Jahre vergingen und du hast dich selbst immer mehr ausgegrenzt.«
Natürlich habe ich das, weil ich mich in ihrer Gesellschaft nie richtig wohlgefühlt habe. »Willst du mir etwa sagen, ich wäre an allem schuld? Fein, alles klar.« Ich stelle mit zittrigen Händen langsam die Tasse auf den Tisch, da ich kurz davor bin, sie gegen die Wand zu feuern, und erhebe mich erneut, um mit zusammengebissenen Zähnen hervorzuquetschen: »Es war ein Fehler herzukommen. Entschuldigt.«
Ellen stellt sich mir plötzlich in den Weg. Ihre Hände in die Hüften gestemmt und mit mutig vorgestecktem Kinn. »Du gehst nirgendwo hin! Jetzt bist du einmal hier und wir werden die Sache ein für allemal aus der Welt schaffen.« Sie schaut sich im Gastraum um und ruft: »Clara?«
Keine Sekunde später eilt die ältere Dame aus der Küche zu uns. »Ja, mein Engel?«
Mit den Händen in der Luft herumwedelnd verkündet Ellen: »Das hier wird doch länger dauern als erwartet. Wir haben eigentlich noch einen Termin im Reisebüro. Du weißt schon. Könnt ihr das für uns übernehmen? Und wenn es euch nichts ausmacht, wäre es sehr lieb, wenn ihr Drew und Jamie mitnehmt. Sie wollten zum Festival in die Stadt.«
»Meinst du das Reisebüro in der High Street?«
»Ja, genau. Mr. McFinnigan erwartet uns dort gegen zwei.«
»Passt ja hervorragend, das Festival ist doch auf der Royal Mile. Macht euch keine Gedanken. Wenn wir bei McFinnigan fertig sind, sammeln wir die zwei wieder ein. In Ordnung?«
»Danke, das wäre wunderbar.«
Clara nickt Duncan zu, funkelt mich an und verschwindet in die Küche.
»Und jetzt zurück zu dir.« Ich will schon Luft holen, um zu protestieren, als sie mich anlächelt und mir somit den Wind aus den Segeln nimmt. »Setz dich bitte wieder hin.«
Mir verschlägt es die Sprache und ich sacke verdattert auf meinen Stuhl.
Duncan schnappt sich meine Tasse. »Auch noch einen Kaffee?«
Mir war gar nicht klar, dass ich ihn bereits ausgetrunken hatte. »Ähm, ja gern.«
Ellen setzt sich zu mir und faltet beherrscht ihre Hände vor sich auf der Tischdecke. »Vorab fürs Protokoll: Du kannst natürlich hierbleiben.«
Mir fällt ein Stein vom Herzen. Bin aber doch gespannt, was jetzt nachkommt, denn Ellen ist mit Sicherheit noch nicht fertig. Ich verkneife mir einen Kommentar und warte.
Duncan serviert uns die Getränke und gesellt sich mir gegenüber an Ellens Seite. »Es ist, denke ich, schon lange überfällig, dass wir uns aussprechen. Allerdings ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Wir sind alle viel zu aufgebracht. Ich würde vorschlagen, wir holen das in den nächsten Tagen nach, wenn sich die Gemüter etwas abgekühlt haben. Und vielleicht gibt uns das eine Chance, den jeweils anderen besser zu verstehen.«
Tja, wer hätte das gedacht? Klar, ich bin hier, weil ich auf ihre Hilfe gehofft habe. Aber um ehrlich zu sein, hatte ich nicht wirklich damit gerechnet. Gott ja, ich bin heilfroh, dass sie mich trotz unserer Differenzen – welche das auch immer sein mögen – aufnehmen. Und doch kann ich nicht anders, als mein Glück überzustrapazieren, indem ich frage: »Wieso macht ihr das? Also, wieso helft ihr mir? Ich meine, versteht mich nicht falsch, ich stehe in eurer Schuld. Keine Ahnung, wie …« Ich verfalle ins Stammeln, weil mir Duncans Worte einiges zu denken gegeben haben. Na gut, Ellens auch. Ist es wahr, dass ich mich aus allem rausgehalten habe und ihnen damit das Gefühl gab, mir würde alles am Arsch vorbeigehen? Okay, es stimmt, ich hatte nie große Lust, zu irgendwelchen Treffen mitzugehen.
Denk nach, Colin Turner! Du bist kein dummer Junge, wie dein Dad immer behauptet hat. Werd endlich wach! Die Stimme meiner Großmutter hallt durch meinen Kopf und ich zucke wie bei einem Stromstoß heftig zusammen. Mein Gott, bitte nicht. Nicht jetzt. Das ist mir seit Jahren nicht passiert. Ich mustere Ellen und Duncan. Haben sie etwas bemerkt?
Scheinbar nicht, denn sie sitzen wie zuvor am Tisch, ohne meine Reaktion wahrgenommen zu haben, als Ellen das Wort ergreift. »Warum jetzt? Ganz einfach. Weil wir trotz allem immer noch der Meinung sind, dass du zu uns gehörst. Und wir lassen keine Familienmitglieder im Stich, auch wenn sie sich idiotisch verhalten.« Sie hebt ihre Hand und stoppt sich damit selbst im Redefluss. Ellen atmet einmal tief durch und nickt, eher zu sich als zu uns. Sie lehnt sich zurück und betrachtet mich einen Moment. »Okay, also Duncan hat recht. Wir müssen reden. Und das werden wir auch.« Sie räuspert sich und kommt mir plötzlich verlegen vor. Dann deutet sie auf sich und ihren Mann. »Wir wissen, dass du pleite bist und keinen Job hast. Wir möchten dir ein Angebot unterbreiten.« Ihr Blick wandert wie von selbst zu ihrem Mann, der versucht, ihr mit einem Lächeln Mut zu machen. Dann schaut sie mich traurig an. »Du weißt, dass mein Bruder krank ist, oder?«
Was für ein merkwürdiger Themenwechsel. »Ja, und das tut mir wirklich leid.«
»Er ist ein sturer Hund und will sich von uns nicht helfen lassen. Na ja, Duncan und ich haben uns gedacht, da du nun schon mal hier bist, wäre es vielleicht eine gute Idee, wenn wir dich sozusagen reinschmuggeln. Wir alle würden gerne sehen, wenn Neal kürzertritt. Aber das verweigert er vehement. Er hört nicht einmal auf Sid. Wir könnten ihm sagen, dass du deine Unterkunft und Verpflegung abarbeitest, indem du John unterstützt und wenn sich die Möglichkeit ergibt, auch Neal. Offiziell natürlich in erster Linie John. Vielleicht kriegen wir ihn auf diesem Weg dazu, sich mehr Zeit für sich und Sidney zu nehmen.«
»Ich weiß doch gar nicht, wie lange ich bleibe«, wende ich ein.
Ellen schenkt mir einen mitfühlenden Blick. »Hör zu, ich hasse, was du mit Karl gemacht hast, das leugne ich nicht. Meine Worte von eben waren deutlich genug. Aber glaub mir, wenn ich dir sage, dass du dir etwas vormachst, solltest du tatsächlich denken, Karl würde zu dir zurückkommen.«
»Weshalb bist du dir da so sicher?«
»Weil du es vermasselt hast, und zwar auf ganzer Linie«, bekomme ich von Duncan unumwunden zur Antwort.
Ich habe jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder ich halte einfach meine Klappe und nehme ihr Angebot an, womit ich immer noch in Karls Nähe wäre und versuchen könnte ihn umzustimmen. Oder ich verschwinde, wohin auch immer, und lasse alles hinter mir. »Okay, wann kann ich kommen?«
»Wann immer du willst.«
»Danke. Karl kommt in zwei Tagen zurück. Ich würde gerne noch mit ihm reden. Ich gebe euch kurz vorher Bescheid, wann ich herkomme.«
Duncan nickt mir zu. »Kein Problem. Wir sind hier. Sobald du dich eingerichtet hast, zeige ich dir deinen Aufgabenbereich. Aber ich bitte dich noch mal inständig, Neal gegenüber kein Wörtchen darüber fallen zu lassen.«
Ein Seufzer von Ellen lässt mich zu ihr blicken. »Ich liebe meinen Bruder, aber im Augenblick bringt er mich zur Weißglut mit seiner Sturheit.«
»Schatz, wir werden alles versuchen, was wir können. Ich hab’s dir versprochen.«
~*~
Alte Bekannte = Freunde?
- Neal -
Montagmorgen. Ich sitze mit einer Tasse Kaffee in meinem Büro im Cav-House und starre blicklos auf den Bildschirm vor mir.
Es sollte ein Tag wie jeder andere sein. So dachte ich jedenfalls. Und dann passiert es wieder. Nicht das erste Mal. Nur, dass es jedes verdammte Mal an Heftigkeit zunimmt.
Angst! Abgrundtiefe, erdrückende, alles verschlingende Angst!
Ein Gefühl, das mich permanent versucht zu überwältigen. Aber ich werde es nicht zulassen. Zumindest kämpfe ich seit Wochen dagegen an, auch wenn es immer schwerer für mich wird, nicht nachzugeben.
Ständig gehen mir hundert Dinge durch den Kopf, die ich so bald als möglich erledigen will – so lange ich noch fähig dazu bin. Und doch werde ich beherrscht von nur einem Gedanken: Was wird aus Sidney, wenn ich nicht mehr da bin?
Ich fühle mich so machtlos und doch weiß ich, es ist unausweichlich. Lymphdrüsenkrebs ist eine Diagnose, die gleichbedeutend mit einem Todesurteil ist. Zumal laut meinem Arzt eine Heilung so gut wie aussichtslos scheint. Ja, absolut mutmachend. Aber was soll er sonst sagen?
Ich kann nicht einmal annähernd erklären, wie gelähmt ich mich fühle. Meine Freunde und Familie sind in Panik verfallen und schwirren ständig um mich herum. Das macht mich wahnsinnig. Im Grunde will ich es nur noch verdrängen und so tun, als hätte es den Befund nie gegeben.
Oh, mir ist klar, dass das eine äußerst dumme Idee ist, niemandem zur Last fallen, sie aus meinen Gedanken und Handlungen aussperren zu wollen. Mein Mann wird noch genug Seelenschmerz erfahren, wenn es so weit ist. Also warum jetzt schon damit anfangen?
Ich habe ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass ich alle weiteren Termine allein wahrnehmen werde. Eine Diskussion habe ich nicht zugelassen. Seine Miene war deutlich genug, sodass ich die unterdrückte Wut und Besorgnis sehen konnte. Nach all den Jahren kann er mir nichts mehr vormachen. Tja, kann ich es dann überhaupt? Oder durchschaut er mich ebenso leicht?
Warum kann er nicht verstehen, dass es aussichtslos ist? Warum begreift er nicht, dass es mir wichtig ist, die letzten Tage mit meinem Liebsten unbeschwert genießen zu können?
Warum? Vielleicht, weil er ebenso viel Angst hat wie ich? Sidney ist mein Leben, mein Retter, mein Held. Er will mich beschützen, das hat er immer getan.
Seit dem ersten Tag hat sich nichts an meinen Gefühlen für ihn geändert. Sie sind eher mit den Jahren intensiver geworden. Es ist, als würde mir jemand das Herz rausreißen, wenn ich nur daran denke, ihn verlassen zu müssen, allein zurückzulassen. Ich will so nicht fühlen, wenn wir zusammen sind. Es ist schrecklich und doch unabänderlich. Es wird passieren.
Und genau aus diesem Grund will ich es nicht akzeptieren. Widersprüchlich? Mit Sicherheit. Vielleicht kann nur jemand meine irrationalen Gedankengänge verstehen, der sich in der gleichen Situation befindet wie ich. Was ich nicht einmal meinem ärgsten Feind wünschen würde.
Ja gut, es ist egoistisch von mir, so zu denken. Und ich gebe zu, mir würde es an Sids Stelle nicht anders gehen. »Ach, verdammte Scheiße! Warum nur?«, fluche ich leise vor mich hin und sinke enttäuscht in den Stuhl zurück.
Enttäuscht. Ein Wort, das nicht einmal ansatzweise auszudrücken vermag, was ich empfinde. Ich bin zornig auf das Leben und die Welt. Mir will einfach nicht in den Kopf, was ich verbrochen haben könnte, um dieses Schicksal zu verdienen.
Dass ich seit dem Tag der Diagnosestellung keinen Kontakt mehr zu Dr. Sheldrake hatte, weiß Sid nicht. Die letzte Information – den Termin zur Beratung über meine Behandlung – gab ich ihm vor ein paar Tagen. Natürlich habe ich sie mir aus den Fingern gesaugt. Ohne wäre er misstrauisch geworden und hätte mich nur noch mehr bedrängt.
Es ist nicht so, als bekäme ich kein schlechtes Gewissen. Aber das ist ein kleiner Preis, den ich gerne zahle, um Sid zu schonen.
Die Bürotür fliegt auf und ich zucke erschrocken zusammen, sodass ich mir um ein Haar das Hemd mit meinem Kaffee eingesaut hätte.
»Ah, wie ich sehe, hast du bereits deine morgendliche Droge. Dann kann es ja losgehen.«
Ich starre Colin sprachlos an. Was will der denn hier? Und was soll losgehen?
Er legt seinen Kopf auf die Seite und mustert mich mit gerunzelter Stirn. »Sag bloß, Ellen hat nichts gesagt.«
»Was soll sie mir nicht gesagt haben?« Mein Gott, ich will doch nur meine Ruhe. Und jetzt steht der größte Blödmann, der mir in letzter Zeit über den Weg gelaufen ist, in meinem Büro und quatscht kryptisches Zeug.
»Dass du mir unter die Arme greifen sollst.« Mit einem Lächeln zieht Colin einen Stuhl aus der Ecke zu mir an den Schreibtisch heran und setzt sich an meine Seite. Er wirkt aufgedreht. Was absolut untypisch für ihn ist.
»Und was soll das bedeuten? Was suchst du eigentlich hier? Ist dein Bier zu Hause ausgegangen?« Die schnippische Frage kann ich mir nicht verkneifen. Ich mag ihn nicht besonders. Seine sonst so herablassende Art hat mich von Anfang an genervt. Als ich dann noch mitbekommen habe, wie er sich Karl gegenüber verhält, war er sofort bei mir unten durch.
Sein Blick verdunkelt sich für einen Moment, bevor er lässig mit den Schultern zuckt und flüstert: »Das muss ich mir wohl sagen lassen.«
»Musst du wohl. Also?«
»Hat dein Mann dir nichts erzählt?«, erkundigt sich Colin verwundert.
Hat er? Ich bin mir nicht sicher. Oh je, in den letzten Tagen habe ich mich mit Sidney nicht großartig unterhalten. Am Wochenende hatte er entweder Dienst und war auf dem Revier oder anderweitig beschäftigt. Vielleicht hat er mir auch gesagt, wohin er gehen wollte, und ich habe ihm nur nicht richtig zugehört. Denn wenn wir ins Gespräch kamen, ging es stets um meine Gesundheit. Das konnte ich nicht ertragen. Dementsprechend ging ich ihm aus dem Weg.
Scheiße! Was habe ich nur getan? Anstatt Sid zu beschützen, kehre ich ihm den Rücken. Ich bin so ein Idiot.
Die plötzliche Erkenntnis verknotet meinen Magen und mir wird schlagartig speiübel. Ich knalle die Kaffeetasse vor mir auf den Schreibtisch, springe auf und eile mit der Hand vor den Mund gepresst aus dem Büro durch den angrenzenden Flur zur Toilette. Die Tür fliegt hinter mir krachend ins Schloss und ich schaffe es gerade noch, den Klodeckel zu öffnen, bevor ich auf die Knie falle, um mein komplettes Frühstück von mir zu geben.
Der andauernde Würgereiz lässt meine Innereien verkrampfen. Meine Augen brennen und tränen vor Anstrengung. Kalter Schweiß tränkt mein Hemd, bringt mich zum Frösteln, weshalb ich am ganzen Körper wie Espenlaub zittere und zu einer höheren Macht bete, es endlich enden zu lassen. Keine Ahnung, wie lange ich mit dem Kopf über dem Becken gebeugt am Boden sitze und mich schubweise Krämpfe schütteln, bis nur noch Galle in mir aufsteigt, da nichts mehr da ist, was ich hervorbringen könnte.
»Kann ich dir helfen?«, höre ich Colin leise fragen.
Ich fahre herum und blicke ihn beschämt an, während anstatt Galle Wut in mir aufsteigt und ich mir mit dem Handrücken über den Mund wische.
Unsicher steht er in der Tür und wartet. Nicht einmal Sidney will ich in der Nähe wissen, wenn es mich wieder erwischt. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob es diesmal an meiner Gesundheit liegt oder tatsächlich an der erschütternden Erkenntnis, wie ich mich meinem Mann gegenüber verhalte. »Die Tür war zu. Was willst du?«, motze ich Colin mit rauer Stimme an. Meine Kehle brennt wie Feuer.
»Dir geht’s nicht gut. Glaubst du wirklich, ich bin so ein elendiger Egoist und bleibe ruhig im Büro hocken, trinke meinen Kaffee und warte, bis du wieder auf der Bildfläche erscheinst?« Er kommt zu mir rüber, greift mir unter die Arme, zieht mich hoch, schließt den Toilettendeckel und parkt meinen Hintern darauf, bevor er die Spülung betätigt. Wenn ich sagen würde, sein Verhalten erstaunt mich, wäre es die Untertreibung des Jahres. Also blinzele ich ihn nur verwundert an. Was er mit einem Lächeln quittiert.
Colin schnappt sich ein frisches Handtuch, befeuchtet es und tupft mir vorsichtig das Gesicht ab. Habe ich mich jemals so hilflos gefühlt? Ja, einmal. In einem anderen Leben. Vor vielen Jahren, als ich in San Francisco von meinem damaligen Partner zusammengeschlagen und blutüberströmt in unserem Apartment zurückgelassen wurde. Ich schüttle die üblen Gedanken ab, nehme Colin das Handtuch aus der Hand und krächze: »Danke.«
»Gerne. Wenn es wieder geht, lass ich dich einen Moment allein. Soll ich jemanden anrufen? Deinen Arzt zum Beispiel oder Sidney? Ellen ist mit Drew unterwegs und Duncan …«
»Nein, niemanden!«, fahre ich ihm allzu heftig über den Mund. »Mir geht’s gut«, wiegle ich leise ab und erhebe mich trotz wackliger Beine, um zum Waschbecken zu taumeln.
»Wie du willst.« Colin zeigt auf die Tür. »Ich bin gleich da draußen. Wenn du Hilfe brauchst, ruf mich.« Dann wendet er sich ab und schließt lautlos die Tür hinter sich.
Seit wann ist der Kerl so nett?
Nachdem ich mich wieder halbwegs vorzeigbar hergerichtet habe, verlasse ich das Bad und finde Colin tatsächlich im Flur an der Wand gelehnt vor. Schweigend mustere ich ihn eine Sekunde. Seltsam. Warum habe ich bei ihm nicht das Gefühl, er würde mich als Todgeweihten sehen, sondern den Menschen, der ich immer war? Er ist zwar fürsorglich, was mich bereits überrumpelt hat, aber Colin versucht nicht, mich übermäßig bemuttern zu wollen. Das ist auf eine merkwürdige Weise erfrischend und ich fühle mich in seiner Gegenwart gleich viel entspannter.
Colin stößt sich von der Wand ab und deutet auf die Bürotür. »Dann kann’s ja losgehen, oder?«
Ich folge ihm. »Wenn du mir vorher erklärst, was das soll. Und was machst du überhaupt hier?«
Wir setzen uns erneut an meinen Schreibtisch und ich sehe ihn fragend an.
»Karl hat mich vor die Tür gesetzt«, beginnt Colin, lehnt sich zurück und fährt sogleich fort. »Da ich nicht wusste, wohin ich sollte, habe ich Duncan und Ellen gefragt, ob ich bei ihnen eine Zeit lang unterkommen könnte.« Mit einem verschmitzten Grinsen, was eher verlegen wirkt, wedelt er unbestimmt mit der Hand herum. »Und na ja, sie haben mir den Kopf zurechtgerückt und verlangt, dass ich mich einbringen muss, wenn ich hierbleiben will.« Dann schaut er mich flehend an. »Du tust mir einen riesigen Gefallen, wenn du einfach mitspielen würdest und mir ein paar Dinge zeigst, die ich für dich erledigen kann. Mir ist egal, was es ist. Meinetwegen auch irgendwelche Besorgungen.«
»Und das soll ich jetzt mal eben so glauben? Ich kenne meine Schwester und meinen Schwager, die zwei versuchen, dich mir unterzujubeln, damit ich kürzertrete. Verdammt, sie können es einfach nicht lassen, oder? Es regt mich auf, dass sie wirklich der Meinung sind, ich würde ihr Vorhaben nicht durchschauen. Sehe ich eigentlich so dämlich aus?« Colin lacht und ich schaue ihn erstaunt an. »Was ist jetzt so lustig?«
»Du. Ich wusste, dass du das sagen würdest. Und ja, du hast recht. Was soll ich dir irgendeinen Schwachsinn auftischen? Natürlich bin ich hier, um dich zu unterstützen. Ich meine, ist es so abwegig, dass sie sich Sorgen um dich machen? Und mal ehrlich, glaubst du, wenn du sie nicht an deinem Leben teilhaben lässt, würden sie es einfach so hinnehmen und zur Tagesordnung übergehen? So blöd kannst selbst du nicht sein, oder?« Colin zuckt mit den Schultern. »Sorry, wenn ich dir das mal so unverblümt an den Kopf knalle. Aber es ist die Wahrheit.« Er nimmt einen tiefen Schluck von seinem mittlerweile kalten Getränk und schnippt mit den Fingern, als hätte er eine Idee. »Sieh’s mal so, wenn du so tust, als würdest du ihre Finte schlucken, hast du deine Ruhe und ich kann ohne schlechtes Gewissen hierbleiben. Es wäre im Grunde eine Win-win-Situation, nicht wahr?«
Seine ehrliche Art gefällt mir. Erschreckend, wie sympathisch er mir plötzlich ist. Was sicher daran liegt, dass er der Einzige ist, der den Schneid besitzt, Tacheles mit mir zu reden – ungeniert auf den Punkt kommt, ohne stundenlang um den heißen Brei herumzuquatschen.
Ich wäge meine Möglichkeiten ab und gebe mich praktisch geschlagen. »Da ist was Wahres dran.«
»Na also, war doch gar nicht so schwer.«
Ich nicke und mir kommt dabei noch ein anderer Gedanke. Irgendwer muss ja über kurz oder lang meine Arbeit übernehmen. Wenn sich Colin nicht allzu stümperhaft anstellt, sollte das kein Problem für ihn darstellen. Also, was soll’s!
Zwei Stunden später sitzen wir wie kichernde Teenies am Rechner und ich fühle mich so relaxt wie schon lange nicht mehr. Der Kerl kann so amüsant sein. Warum ist mir das vorher nie aufgefallen?
Nachdem ich ihm einen groben Überblick über die Verwaltung und das Onlineportal der Pension verschafft habe, sind wir in ein erstaunlich privates und tiefgründiges Gespräch verfallen. Ich glaube, es ist das erste Mal, dass wir uns überhaupt so ungezwungen unterhalten und er mir eine Chance gibt, ihn besser kennenzulernen.
Kann es tatsächlich möglich sein, dass Colin nur den Fiesling gespielt hat? Aber warum, um Gottes willen? Vielleicht sollte ich ihn einfach fragen? Was kann schlimmstenfalls schon passieren? Ich will ihn gerade darauf ansprechen, als mein Handy auf dem Tisch leise vor sich hin brummt und die Vibrationen es Stück für Stück in Richtung Abgrund treiben. Ein Blick aufs Display genügt und ich weiß, wer am anderen Ende ist. Ein Mann, den ich seit Tagen abwimmele. Der allerdings die Hoffnung, ich würde endlich ans Telefon gehen, nicht aufzugeben scheint.
Colin ist gerade damit beschäftigt, durch unsere Homepage zu surfen, als er mir einen kurzen Blick von der Seite zuwirft, um dann demonstrativ auf das sich windende Smartphon zu schauen. »Willst du nicht rangehen?«
Bevor es über die Tischkante fällt, greife ich zu und weise das Gespräch wie immer ab. »Nein, ist nicht wichtig.«
»Soso, ein Anruf von deinem Arzt ist nicht wichtig. Interessant.«
Scheiße! »Das geht …«
»… mich nicht’s an. Schon klar«, beendet Colin den Satz, in keiner Weise vorwurfsvoll oder beleidigt.
»Ich habe meine Gründe.« Wieso glaube ich, mich ihm gegenüber rechtfertigen zu müssen?
»Wenn du es sagst.«
»Ja.«
»Wie lange hast du schon deine Gründe?« Er fragt mich, als würden wir uns für die nächste Sorte Chips zum Fernsehen entscheiden müssen. Merkwürdiger Kerl. Jeder andere wäre ausgeflippt. Sid würde mir die Hölle auf Erden bereiten, wenn er mitbekommen hätte, dass ich Sheldrake ignoriere.
»’ne Weile. Lass uns weitermachen, okay? Es ist bald Mittag.«
»Alles klar, Boss.«
Wie, das war’s? Keine weiteren Fragen? Ich sag’s ja, komischer Kauz. Und bevor ich es verhindern kann, sprudeln mir die nächsten Worte einfach so heraus. »Was soll es schon bringen, meine Zeit mit sinnlosen Sitzungen und weiteren Untersuchungen zu vergeuden? Es ändert doch eh nichts mehr an der Tatsache, dass meine Tage gezählt sind.« Habe ich das jetzt wirklich laut gesagt? Verdammt!
Colins Hände halten über der Tastatur inne und er blickt mich eindringlich an, bevor er sich zurücklehnt und die Arme vor seiner Brust kreuzt. Er wirkt wie ein Mann, der seinem kleinen Bruder damit zeigen will, für wie dumm er ihn gerade hält.
»Was?«, fahr ich ihn angriffslustig an.
»Das musst du mir erklären!«, entgegnet er total gelassen, was mich zur Weißglut bringt.
»Ist es nicht eindeutig?«
»Nö. Du willst mir also allen Ernstes weismachen, dass du einfach aufgibst? Und was heißt keine weitere Untersuchung?«
»Mir egal, wie du das nennst. Ich will es nicht und fertig.« Wütend füge ich leise hinzu: »Wenn du mit der gleichen Diagnose nach Hause gehst, können wir uns gerne noch mal darüber unterhalten.«
»Untersuchung?«, hakt Colin stur nach.
»Ja, es sollte noch eine Biopsie durchgeführt werden, aber wem sollte das helfen?« In dem Moment, wo ich es ausspreche, wird mir klar, dass ich einen gewaltigen Fehler gemacht habe, ihm überhaupt davon zu erzählen.
»Das kann ja wohl nicht wahr sein!«, fährt er mich aufgebracht an. »Weißt du, was du bist?«
»Ein Idiot? Tja, das ist nichts Neues.«
»Nein, kein Idiot. Ein egoistisches Arschloch.«
Einen Moment funkele ich ihn wütend an, kurz davor, ihm eine auf die Zwölf zu geben. Aber so weit kommt es noch, dass ich mich von ihm provozieren lasse. »Damit muss ich wohl leben, oder? Aber gut, das ist ja dann nicht mehr allzu lange.«
»Neal!«, brüllt er mich überraschend an und ich zucke zusammen, als er erbost aufspringt im Büro auf und ab läuft. »Du bist zynisch, versinkst in Selbstmitleid und verspielst deine Chance, etwas daran zu ändern, wenn du dich weigerst mit deinem Arzt zu reden. Willst du das? Und wie kann man eine Untersuchung verweigern?«
»Was soll es bringen? Nur zur Info: Lymphdrüsenkrebs ist tödlich.«
»Selbstgerechter Blödmann«, murmelt Colin vor sich hin, bevor er sich zornig zu mir umdreht. »Woher willst du denn wissen, dass es wirklich Krebs ist?«
»Die Blutuntersuchung hat es doch schon bestätigt. Dr. Sheldrake war nicht sehr subtil mit seiner Aussage.« In dem Versuch, ihn zu beruhigen, zucke ich leichthin mit den Schultern und sage: »Hey, sieh es einfach ein, es ist, wie es ist. Und immer noch meine Entscheidung, oder nicht?« Das sind genau die Worte, die ich mir selbst seit zwei Wochen immer wieder vorbete.
Colin baut sich vor mir auf. »Nein!« So vehement habe ich ihn noch nie erlebt. Bisher kenne ich ihn nur herablassend und desinteressiert, wenn es um einen von uns ging.
»Was willst du dagegen unternehmen?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Soll das eine Herausforderung sein?«
»Wie war das? Mir egal, wie du das nennst«, kontert er mit meinen eigenen Worten.
Ich winke lässig ab. »Mach, was du willst.« Innerlich fühle ich mich jedoch herausgefordert und überlege, wie ich den Vorwurf, ich würde in Selbstmitleid versinken, entkräften kann. Keine Ahnung, ob Colin bewusst ist, dass er meinen Kampfgeist anstachelt, aber ich muss zugeben, er hat Erfolg damit. Vielleicht hat er gar nicht so unrecht. Vielleicht sollte ich Dr. Sheldrake doch zurückrufen. Colin hat mit seiner Reaktion Zweifel in mir gesät. Aber damit kann ich mich jetzt nicht auseinandersetzen. Ich muss erst darüber nachdenken.
Mit einem »Das tue ich eh« setzt er sich zurück auf seinen Stuhl und wir gehen wieder an die Arbeit. Er scheint mit seinen Gedanken zwar immer noch beim Thema zu sein, hält sich jedoch zurück, weiterhin darauf herumzureiten. Worüber ich ziemlich froh bin. Es dauert einen Moment, bis er so locker wie zuvor ist und wir uns ungezwungen unterhalten können.
Als ich das nächste Mal auf die Uhr schaue, ist es bereits zwei durch. Wow, die Zeit ist nur so verflogen. Ich strecke meine müden Knochen, bis sie ein knackendes Geräusch von sich geben, als würden sie mir bestätigen wollen, dass sie sich allesamt wieder an ihren angestammten Plätzen eingefunden haben, und gähne herzhaft. »Mittagessen haben wir verpasst. Was hältst du davon, wenn wir uns Pizza bestellen? Geht auf mich.« Ich hebe die Kaffeetasse vom Morgen an und blicke angeekelt hinein. »Der ist jetzt ungenießbar. Gib mir deine, ich besorge uns frischen.«
Colin reicht mir ohne aufzublicken seine und nickt. »Gute Idee. Ich mach hier mal so lange weiter.«
Auf dem Weg hinunter in die Küche fällt mir auf, dass sich den ganzen Vormittag niemand hat bei mir blicken lassen. Was sehr seltsam ist, denn sonst kommt wenigstens Clara oder Ellen auf ein Schwätzchen vorbei. Ich schnaube vor mich hin und schüttle den Kopf. Da sie mir Colin aufs Auge gedrückt haben, werden sie sich hüten in meine Nähe zu kommen. Ihnen ist vermutlich klar, dass ich nicht sonderlich erfreut über ihre Aktion bin.
Obwohl ich zugeben muss Colins Gesellschaft die letzten Stunden sehr genossen zu haben – trotz des kleinen Intermezzos.
Mit unseren Pötten bewaffnet steige ich die Treppe zur Lobby hinunter und nicke einigen Gästen freundlich zu, die offenbar soeben von einem Ausflug zurückgekehrt sind und ziemlich erledigt ins Obergeschoss an mir vorbei hinaufschleichen.
»Mrs. Cooper, wie hat’s Ihnen gefallen?«, erkundige ich mich etwas lauter bei einer kleinen, hutzligen amerikanischen Oma mit Hörproblemen, die als Letzte mühsam, aber stur wie ein Maulesel jede Stufe erklimmt und mir seit ihrer Ankunft vor einer Woche sehr ans Herz gewachsen ist. Die Frau ist erstaunlich. Mit ihren fünfundneunzig Jahren plagen sie zwar einige körperliche Einschränkungen, die auf ihr Alter zurückzuführen sind, jedoch hat sie noch gewaltig Pfeffer im Hintern, wenn es darum geht, ihren Willen durchzusetzen. Soweit ich weiß, kommt sie aus Providence und unterrichtete dort jahrelang Wirtschaftswissenschaften an der Brown University. Ihr Traum war es, irgendwann einmal Edinburgh und Schottland im Allgemeinen mit ihren eigenen Augen sehen können, weil ihre Familie ursprünglich von dort stammte.
Aus persönlichen Gründen hatte es bisher nie geklappt, erzählte sie mir mit dem typisch harten amerikanischen Dialekt. Dann starb ihr Mann vor einigen Jahren und ihre Kinder und Enkel hielten sie davon ab, ihren Traum zu verwirklichen. Sie war ihnen nicht böse, schließlich macht sich ihre Familie Sorgen um sie. Mit einem verschmitzten Grinsen beichtete sie mir hinter vorgehaltener Hand, sie hätte sich klammheimlich vom Acker gemacht und wäre einfach hergeflogen. Natürlich nicht, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Aber nun sei sie hier und wäre sehr glücklich darüber, sich getraut zu haben.
Sie sieht zu mir auf und lächelt mich freudestrahlend an, bevor sie zwei Stufen über mir stehen bleibt, um auf Augenhöhe zu sein. Ihre zierliche, runzelige Hand tätschelt meine Wange. »Neal, mein Guter, es war fantastisch. Und ich kann Ihnen sagen, der Reiseleiter ist eine Wohltat für meine Augen gewesen.«
Mir entkommt ein Lachen. »Soso, haben Sie dann überhaupt etwas von Edinburgh gesehen?«
»Aber natürlich. Ich bin zwar nicht mehr die Jüngste, was ich in Bezug auf den nett anzuschauenden Herren schade finde, aber ich kann mich immer noch auf mehr als eine Sache konzentrieren.«
»Da bin ich aber froh. Und was haben Sie heute Nachmittag noch geplant?«
Mrs. Cooper seufzt theatralisch und flüstert mir verschwörerisch zu: »Ich werde mich wohl oder übel bei meiner Familie melden müssen, was sicher eine Weile dauert. Denn ich muss gut Wetter machen, da sie garantiert immer noch sauer auf mich sind.«
»Na dann, viel Glück!«, wünsche ich ihr lachend.
Woraufhin sie kleinlaut murmelt: »Das werde ich brauchen.«
Ich will mich gerade verabschieden, als sie mich mit einem ernsten Blick mustert. »Neal, mein Junge, darf ich fragen, wie es Ihnen geht?«
»Mir? Bestens, danke der Nachfrage.«
Mrs. Cooper schaut sich um. Mittlerweile sind wir unter uns, denn die anderen Gäste sind bereits in ihre Zimmer verschwunden. »Darf ich Ihnen einen Rat geben?« Sie zwinkert mich kokett an, was mich zum Schmunzeln bringt, und flüstert: »So als alte Frau habe ich ja ein bisschen Erfahrung, wissen Sie.«
»Mrs. Cooper, Sie dürfen mir fast alles sagen.« Der Witz ist, dass meine Worte absolut ernst gemeint sind.
Sie tätschelt meine Schulter, lässt ihre Hand dort liegen und drückt tröstend zu. »Ich habe so den Eindruck, ich bin nicht die Einzige, die vor etwas davonläuft.«
Mir versagt die Stimme und ich schlucke schwer. Was ist heute nur los? Habe ich etwas verpasst? Ist heute der Wir-reden-Neal-ins-Gewissen-Tag?
»Tja, das dachte ich mir schon. Wissen Sie, ich habe die Erfahrung gemacht, dass egal, was auch passiert, es nichts Wundervolleres gibt, als jemanden an seiner Seite zu haben. Wie Sie wissen, habe ich mit meinem Mann fast siebzig Jahre meines Lebens verbracht.«
Eine unfassbar lange Zeit, schießt es mir durch den Kopf.
Offenbar über meinen erstaunten Gesichtsausdruck amüsiert kichert sie leise. »Oh, habe ich Ihnen das nicht erzählt? Hm, ich dachte doch. Na ja, macht nichts. Jedenfalls, was ich sagen wollte. Es gab in all der Zeit nicht immer nur Sonnenschein, das können Sie mir glauben. Aber wenn es hart auf hart kam, waren wir füreinander da. Ich weiß ja nicht, was bei Ihnen gerade im Argen liegt, aber geben Sie sich einen Ruck und lassen Sie sich von Ihrem Liebsten unterstützen. Denn sind wir mal ehrlich, was für Möglichkeiten bleiben ihm denn, außer für Sie da zu sein? Und wenn Sie ihm das nehmen …«
Mir schießen Tränen in die Augen und ich versuche sie mit einem Blinzeln zu unterdrücken.
»Ich sehe, Sie verstehen mich. Und wissen Sie was?«
»Was?« Meine Stimme bricht mir peinlicherweise weg.
»Ihr Mann.« Sie deutet unbestimmt die Treppe hinunter. »Dieses Schnuckelchen, das Sie letzte Woche Donnerstagabend abgeholt hat, war doch Ihr Mann, oder nicht?«
Trotz meiner zugeschnürten Kehle muss ich über ihre Worte grinsen und überlege einen Moment. Letzte Woche? »Ja, das war Sidney.«
»Wunderbar. Also, ich kann Ihnen versichern, der Reiseleiter ist gegen ihren Sidney eine kleine, graue Maus gewesen. Was für eine Augenweide Ihr Mann doch ist. Und ich denke, er ist nicht nur ein optischer Genuss. Er machte mir Ihnen gegenüber einen sehr beschützenden und liebevollen Eindruck.«
Die Frau hat echt Nerven. Ich räuspere mich und nicke. »So war er schon immer.«
»Ich habe ja nicht sehr viel mitbekommen, aber eins ist mal klar. Das, was ich gesehen habe, lässt mich darauf tippen, dass er Sie über alle Maßen liebt. So, wie er Sie ansieht und wie er sich in Ihrer Nähe gibt. Werfen Sie das nicht weg.«
Sprachlos stehe ich der quirligen, grauhaarigen Dame gegenüber, bevor sie ihren lilafarbenen Schal vom Hals zupft, die riesige orangene Handtasche schultert und verwegen mit den Augenbrauen wackelt. »So, ich werde mich jetzt mal dem Unausweichlichen stellen. Und Sie gehen und holen sich einen frischen Kaffee. Das hatten Sie doch gerade vor, oder?«
Ich lächle sie an und hebe demonstrativ die Tassen in meinen Händen hoch. »Wie haben Sie das nur erraten?«
Mrs. Cooper kichert wieder und boxt mir liebvoll auf den Arm. »Schlaumeier!«
Sie wünscht mir noch einen schönen Nachmittag und ich verschwinde zum Kaffeeautomaten. Nicht dass Colin noch eine Vermisstenanzeige aufgibt.
*** Ende der Leseprobe ***
»Second Chance«
© 2016 Nele Betra
Texte: Nele Betra
Bildmaterialien: Bilder: shutterstock Covererstellung: Nele Betra
Lektorat: Brigitte Melchers / Bernd Frielingsdorf
Tag der Veröffentlichung: 11.12.2016
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