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Kapitel 1-3

Zu zart besaitet?

- Karl -

 

Seit einer geschlagenen Stunde sitze ich nun schon mit meinem Partner in unserer gemeinsamen Küche zum Abendessen und suche einen Weg, ihm klarzumachen, dass ich mich bei der Berufsfeuerwehr beworben habe.

Es ist nicht das erste Mal, dass ich es in Angriff nehme und Colin und ich darüber reden. Mein letztes Antragsformular wurde mir mit den freundlichen Worten »Sehr geehrter Herr West. Vielen Dank für Ihr Interesse. Leider müssen wir Ihnen mitteilen … bla, bla, bla.« zurückgesandt. Eine weitere Absage. Und ich musste mir das Schreiben auch nicht bis zum Schluss zu Gemüte führen, da ich den Text mittlerweile in- und auswendig kenne.

Und ja, mir hätte Colins Reaktion darauf ebenso klar sein müssen wie der Text in diesem Schreiben. Aber verträumt wie ich bin, dachte ich, ein liebender Partner würde einem den Rücken stärken, selbst wenn man auf abenteuerliche Ideen kommt und diese gewissen Anlaufschwierigkeiten mit sich bringen. Falsch gedacht.

Also schiebe ich meinen, in der Zwischenzeit kalt gewordenen, Reis mit Hähnchen-Geschnetzeltem ein weiteres Mal lustlos über den Teller – mir war bereits beim Gedanken daran, Colin die Neuigkeit zu erzählen, der Appetit vergangen –, springe über meinen Schatten und platze einfach damit heraus. »Ich bewerbe mich beim Fire Department.«

Was folgt, ist das Scheppern von Besteck, das Colin mit Wucht auf den Tisch knallt, und sein höhnisches Gelächter, das die Wirkung eines Dolchstoßes auf mich hat, und zwar mitten ins Herz.

Natürlich bleibt es nicht dabei. Er kann sich einen abfälligen Kommentar nicht verkneifen. Denn sobald ihm plausible Argumente fehlen, schlägt er verbal um sich. »Hast du deinen Verstand verloren? Was soll das heißen, du willst dich bewerben? Das wievielte Mal ist es jetzt, das dritte oder vierte? Menschenskind, Karl, hältst du dich für Grisu, den Drachen? Langsam solltest du doch merken, dass sie dich nicht wollen.«

Leider Gottes bin ich, was ihn betrifft, einfach zu zart besaitet, um seine verächtlichen Worte zu ignorieren, und fühle mich wie immer in die Defensive getrieben. Ich hasse es, wenn er so ist. Nach einer bereits so lang andauernden Beziehung wie unserer müsste ich im Grunde über ein viel dickeres Fell verfügen und sollte inzwischen daran gewöhnt sein. Wieder falsch gedacht. Es tut heute noch so weh wie beim ersten Mal. Bereits da habe ich nicht verstanden, warum Colin so verletzend ist. Was ist passiert, dass er sich dermaßen verändert hat?

Ich räuspere mich und flüstere: »Wir werden sehen. Die Unterlagen sind gestern zur Post gegangen.«

Erbost springt Colin hoch und baut sich vor mir auf. »Und das sagst du mir erst jetzt? Hätten wir nicht vorher darüber reden sollen?«

Seine Körpersprache ist unmissverständlich, mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken und ich erwidere steif: »Mir war klar, dass du ausflippst.« Ich schiebe meinen Stuhl zurück und stehe ebenfalls auf, um ihm auf Augenhöhe zu begegnen, »Ich weiß auch wirklich nicht, wo dein Problem liegt.«

»Ach nein?!«, brüllt Colin mich an und ich zucke unwillkürlich zusammen. Er kommt einen Schritt auf mich zu und ich bekomme den Eindruck, er wächst um eine Handbreit über sich hinaus – wirkt bedrohlich. Sein grimmiges Gesicht nähert sich meinem und ich halte instinktiv den Atem an, bevor er meinen Oberarm packt, mich abrupt zu sich heranzieht und mit leiser, aber fester Stimme erklärt: »Du willst wissen, welches Problem ich damit habe? Du bist das Problem. Du bist einfach nur peinlich.« Sein Blick wird noch herablassender, als er mich ein Stück von sich schiebt und ihn über mich gleiten lässt. »Schau dich doch nur an! Mag ja sein, dass du körperlich in der Lage wärst, diesen Job auszuüben, aber glaubst du im Ernst, du könntest dem Druck standhalten? Du hast doch für so einen Job nicht den Mumm in den Knochen.« Seine Hände fliegen verächtlich durch die Luft, dann wendet er sich von mir ab und stapft in Richtung Wohnzimmer.

Schockiert schaue ich ihm hinterher, wie er aus der Küche verschwindet, sprachlos über seine respektlose Art mir gegenüber, und höre ihn noch rufen: »Das ist einfach nur lächerlich.«

Die Schublade unserer Flurgarderobe, in der wir Schlüssel und Geldbörsen aufbewahren, knallt zu und reißt mich aus meiner Schockstarre. Ich will Colin hinterhereilen, als er auch schon ausruft: »Solltest du mich suchen, ich bin im Blooms. Warte nicht auf mich!« Keine Sekunde später fliegt die Wohnungstür ins Schloss und schlagartig kehrt ohrenbetäubende Ruhe ein.

Erschöpft sinke ich auf den Stuhl hinter mir. »Tja, das hat dann wohl nicht so gut funktioniert.«

Mein Herz rast und mir ist flau in der Magengegend. Ich bin sauer auf Colin, weil er es beinahe tagtäglich schafft, dass ich mich klein fühle. Sauer auf seine arrogante und dominante Art und auf seine so zur Schau gestellte Überheblichkeit.

War es nicht genau das, was mich an ihm von Anfang an faszinierte, dass er immer wusste, was er wollte? Sicher, aber es hat sich was verändert. Etwas, das ich nicht greifen kann, aber permanent unter der Oberfläche lauert, um bei der erstbesten Gelegenheit durchzubrechen. Dieses Etwas vergiftet unsere Beziehung.

Oh, und ich bin sauer auf mich. Denn er hat recht, ich bin ein Weichei. Wenn ich es nicht einmal schaffe, den Menschen an meiner Seite davon zu überzeugen, dass ich einen fähigen Feuerwehrmann abgeben könnte, was kann ich dann von den zuständigen Personen erwarten, die die Vorauswahl treffen?

Nun gut, was meine Bewerbung angeht, warte ich erst einmal ab. Sollte es jedoch diesmal wieder nicht klappen, werde ich es akzeptieren. Ich will keinem Traum weiter hinterherjagen, den ich nicht verwirklichen kann.

Was die Formalien betrifft, bin ich natürlich mittlerweile schlauer. Es fängt beim Ausfüllen der Anmeldung an. Ich konnte ja nicht ahnen, dass diese bereits abgelehnt wird, sobald man sich auch nur für die falsche Schriftart oder Farbe entscheidet. Wenn sie Großbuchstaben in blauer Tinte fordern, dann sollte man sich auch strikt daran halten.

Vielleicht ist das sogar schon der erste Test und sie wollen sehen, ob man gewillt ist Anweisungen zu befolgen. Wird dem nicht entsprochen, fällt man eben sofort durchs Raster und jedes weitere Gespräch erübrigt sich von selbst.

 

Während meiner gesamten Schulzeit hatte ich Probleme, mich zu konzentrieren, vieles begriff ich nur mühsam und hatte entsprechend schlechte Noten. Deshalb blieb mir auch nur die handwerkliche Ausbildung zum Maurer im Betrieb eines Freundes meines Vaters. Für mich körperlich kein Problem, denn ich war nie ein schmächtiger Kerl und wusste auch vorher schon meine Muskeln einzusetzen. Es war nicht das, was ich mir immer erträumt hatte, aber überraschenderweise gefiel es mir nachher doch, was mit Sicherheit Archie und Leroy zu verdanken ist, und ich blieb dabei.

Auf jeden Fall fand ich dann durch Zufall und die Initiative meines damaligen Ausbilders heraus, weshalb ich mich so schwer tat: Ich leide wie so viele unter einer Lernschwäche. Nichts Dramatisches, man muss nur wissen, wie man damit umgeht. Meine später entdeckte Liebe zu Büchern, die mich zu einer Leseratte hat mutieren lassen, half mir dabei, Dinge besser zu verstehen und meinen Horizont zu erweitern. Zum Glück sind die Auswirkungen heute nicht mehr so ausgeprägt wie früher. Wenn ich genauer darüber nachdenke, fällt mir auf, dass sie mich kaum noch einschränken.

 

Ich könnte jetzt hier sitzen bleiben und mich in Selbstmitleid ergehen oder ich könnte meinen Arsch hochkriegen und mit jemandem reden, dem ich vertraue und von dem ich weiß, dass er mich nie wie den letzten Idioten behandeln würde. Hört sich seltsam an, oder? Denn das erhofft man sich doch von seinem Partner. Somit rufe ich Leroy an, der beim zweiten Klingeln in der Leitung ist.

Es ist lange her, aber ich kann mich noch genau daran erinnern, was ich vor fast neun Jahren dachte, als wir uns das erste Mal begegneten und unterhielten: Oh ja, das ist ein Mann, wie ich ihn mir erträume.

Ich gebe zu, ich stehe auf Kerle, die wissen, was sie wollen. Leroy ist einschüchternd und nett zugleich, absolut ehrlich und steht zu dem, was er sagt. Passt also perfekt in mein Beuteschema. Was mich, als ich bei Archie als Hilfskraft auf dem Bau anfing, total verunsicherte und ausbremste. Dummerweise kam ich bei Leroy nicht zum Zuge. Mag daran gelegen haben, dass ich ihm zu jung war oder ihm zu dieser Zeit bereits nur noch Cameron im Kopf herumschwirrte.

Zu Beginn fiel es mir schwer, zu verdauen, dass ich keine Chance bei ihm haben würde. Und doch fand ich beide von Anfang an wunderbar. Na ja, hat ja auch seine Zeit gebraucht, bis sie sich endlich zusammenrauften. Und ich gönne es ihnen von Herzen. Vor allem bewundere ich, dass sie nach Camerons Millionen-Erbschaft total bodenständig geblieben sind. Beide hätten es nicht nötig zu arbeiten, aber sie lieben, was sie tun, und werden es mit Sicherheit auch in Zukunft nicht aufgeben.

»Hi, Karl«, dröhnt mir Leroys Stimme ins Ohr und ich kann ein nostalgisches Seufzen gerade noch so unterdrücken.

»Hey, störe ich?«, erkundige ich mich vorsichtig. Schließlich weiß ich, dass er Cameron, der seit gut acht Jahren Besitzer des gemütlichen Cafés namens Haven ist, bei den Vorbereitungen für den nächsten Tag hilft.

»Du doch nicht. Was gibt’s?«

»Wäre es okay, wenn ich auf ein Bier vorbeikomme?«

»Natürlich. Ich stell schon mal eins kalt.«

»Super, danke«, entgegne ich erleichtert.

»Dann bis gleich. Ach, Karl, wir sind noch unten. Also klingle einfach im Café, falls wir in der Küche sind.«

»Alles klar. Bis dann.«

Wie ich mir schon dachte, sind sie noch im Haven zugange – meine zweite Baustelle. Lee, zwei Kollegen und ich renovierten damals kurz vor Weihnachten das Ladengeschäft. Wobei sich Lee und Cam näherkamen. Nach den Feiertagen und dem Jahreswechsel machten wir uns an dem Rest des Eckhauses zu schaffen und bauten das obere Apartment um, in das dann auch Leroy mit einzog.

Für mich ein glücklicher Zufall, da er seine Wohnung in der York Lane an mich weitervermittelte. Die Vermieter, Mrs. und Mr. Cox, waren froh, dass Leroy jemanden Vertrauensvollen empfehlen konnte.

 

Vor Cams Café parke ich ein und schlendere schweren Herzens zum Eingang. Klingeln ist nicht nötig, da Lee bereits erwartungsvoll in der Tür steht und mich mit hochgezogenen Augenbrauen empfängt. »Komm rein!« Er tritt zurück und ich schlüpfe an ihm vorbei.

Leroy denkt sich seinen Teil und ich mag nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen, also beginne ich mit einem unverfänglichen Thema. »Wie geht’s Max?«, erkundige ich mich nach ihrem gemeinsamen Patenkind, als ich mich zu Cam geselle, der im Gastraum an einem Tisch sitzt und den gleichen Gesichtsausdruck wie sein Mann aufgesetzt hat.

»Dem Rabauken geht es super. Hat sich wunderbar in seiner neuen Klasse eingelebt. Rhys und Grady sind heilfroh endlich die perfekte Schule für ihn gefunden zu haben.« Das freut mich wirklich zu hören, denn bisher hat es Maxwell nicht einfach gehabt. Mit seinen sieben Jahren ist er ein aufgewecktes Kerlchen, blitzgescheit, aber ein Wirbelwind vor dem Herrn. Er kann keine Sekunde auf seinem Hosenboden sitzen bleiben. Was so manches Mal die Haare seiner Daddys zu Berge stehen lässt.

Ich nehme neben Cam Platz. »Oh, das hört sich gut an. Vielleicht kommt er dort etwas zur Ruhe. Und wisst ihr schon etwas Neues von Neal?«

Sorge spiegelt sich auf ihren Gesichtern wider. »Es geht ihm immer schlechter. Er spielt es runter, tut, als ginge es ihm gut. Aber wir glauben ihm kein Wort und machen uns langsam echte Gedanken.«

»Hoffentlich können die Ärzte ihm helfen.« Sid kommt mir in den Kopf. Wie viel Sorgen muss er sich erst um seinen Mann machen? Ich kann es mir nicht mal ansatzweise vorstellen, was in ihm vorgehen muss.

Lee setzt sich neben Cameron und schaut mich auffordernd an. »Du bist doch aber nicht hier, um über Max und Neal zu reden, oder? Also, was hat er diesmal angestellt?«

Ich seufze leise. »Was gibt dir die Gewissheit, dass Colin der Grund ist, weshalb ich hier bin? Vielleicht wollte ich ja nur mal Hallo sagen.« Ein misslungenes Ausweichmanöver. Das ist mir in dem Moment klar, als ich aufschaue und in ihre eindringlich wirkenden Mienen blicke. Ich gebe mich geschlagen, lehne mich zurück, ergreife das bereits vor mir stehende Bier und proste ihnen zu. »Ihr habt wie immer recht. Slàinte mhath!«

Wir lassen die Gläser leise klirren und nehmen einen tiefen Schluck, bevor Cam das Wort ergreift: »Uns wäre es lieber, wenn dem nicht so wäre. Und das weißt du auch. Ich habe keinen Schimmer, was es diesmal ist, aber ich kann mir denken, in welche Richtung es geht. Und das gefällt mir absolut nicht. Mir ist schleierhaft, wie du es mit diesem Hirni aushältst.«

Innerlich verkrampfe ich mich und reagiere reflexartig. »Ich liebe ihn!«

Leroy rutscht unwirsch mit dem Stuhl zurück und schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch. »Das gibt ihm noch lange nicht das Recht, dich mies zu behandeln.« Er schaut mich fragend an. »Und das hat er doch, oder?«

Ich bringe kein Wort hervor und nicke nur. Schließlich bin ich hier, um mit ihnen darüber zu reden. Warum sollte ich dann so tun, als wäre alles in bester Ordnung?

»Fuck. Ich wusste es. Dieses Arschloch!«, entrüstet sich Cam, während Leroy aufgebracht auf und ab geht.

Mir hätte klar sein müssen, dass sie nicht still und leise dasitzen würden. Und ich habe ihnen noch nicht einmal erzählt, worum es diesmal geht. Wobei es letztlich kein neues Thema ist. Sie wissen von meinem Wunsch, zum Fire Department zu gehen.

Leroy bemüht sich um Ruhe, seine Kiefermuskeln zucken angespannt und die Hände sind zu Fäusten geballt, als würde er gerne auf etwas oder jemanden einschlagen. Er atmet einmal tief durch und setzt sich wieder zu uns. »Sorry, Kumpel. Also los, erzähl uns, was er diesmal von sich gegeben hat.«

Es dauert einen Moment, bis ich die richtigen Worte finde, um ihnen dann haarklein zu berichten, was abgelaufen ist. »… na ja, und dann ist er ins Blooms abgerauscht.«

Leroy und Cam tauschen einen Blick und schütteln verständnislos den Kopf, bevor Lee in die Küche verschwindet und für Getränkenachschub sorgt. Er schiebt mir ein weiteres Bier entgegen, hält es jedoch noch fest. »Du bleibst heute hier, okay?«

Mein Kopf ruckt hoch. »Was? Warum denn?«

»Blöde Frage, Kumpel.« Lee wackelt mit der Flasche vor meiner Nase herum und meint mit Bestimmtheit: »Das ist noch nicht die Letzte. Und wir werden dich sicher nicht sturzbetrunken hinters Lenkrad lassen.«

»Hey, ich bin nüchtern wie ein Priester am Sonntagmorgen!«, brumme ich.

»Ja, jetzt noch. Also, zurück zu deinem Mann.« Das letzte Wort spuckt Lee verächtlich auf den Tisch. Mir war nicht klar, wie tief seine Abneigung gegenüber Colin tatsächlich sitzt. Nun gut, sie haben nicht mit ihrer Meinung über ihn hinter dem Berg gehalten, aber so offensichtlich haben sie es noch nie gezeigt.

Und wieder befinde ich mich im Verteidigungsmodus. »Na ja, wenn ich darüber nachdenke, hat er doch gar nicht so unrecht. Ich werde es wohl nie schaffen. Es wird Zeit, mir das einzugestehen.« Ich zucke mit den Schultern. »Ich meine, mein Job auf dem Bau ist ja nicht schlecht. Macht mir Spaß und ich verdiene genug, um uns über den Monat zu bringen.«

Ich höre, wie Cam zischend einatmet, und blicke zu ihm auf.

Ein verkrampftes Lächeln huscht mir übers Gesicht und ich versuche mich in Schadensbegrenzung. »Wahrscheinlich übertreibe ich, wie immer. Vielleicht sind meine Träume wirklich unrealistisch und ich sollte mich mit dem zufriedengeben, was ich habe. Ich meine, mir geht’s doch gut, oder?« Meine Hände landen unwillkürlich auf Cams und Leroys angespannten Schultern. »Ich habe großartige Freunde. Eine wunderbare Familie. Einen Mann, den ich liebe. Und einen Job, der uns beide ernährt.«

»Ich glaube, wir sollten dir mal aufzeigen, was sich an deiner Aufzählung falsch anhört«, erwidert Cam mit einem verbissenen Gesichtsausdruck.

Lee nickt. »Ja, mein Schatz. Ich denke auch, dass es an der Zeit ist, unserem Freund hier mal die Augen zu öffnen.«

»Was soll nicht daran stimmen?«, erkundige ich mich verwirrt.

»Zwei Dinge, die mir schon seit geraumer Zeit aufstoßen. Und zwar Punkt eins: Einen Mann, den du liebst? Karl, ich habe das Gefühl – und glaub mir, mit dieser Meinung stehe ich nicht alleine – eure Beziehung ist, was das betrifft, eine Einbahnstraße. Ich meine, ja, wir geben zu, dass wir mit Colin noch nie so wirklich zurechtgekommen sind. Aber wir haben es versucht, deinetwegen. Wir haben in all den Jahren nie die Hoffnung aufgegeben, dass ihm irgendwann mal klar wird, was für ein Glück er eigentlich mit dir an seiner Seite hat. Es tut uns in der Seele weh, zu sehen, dass er dich wie Dreck behandelt und du ihn auch noch verteidigst. Findest du das nicht selbst unlogisch?« Lee schnaubt abfällig. »Und dann der zweite Punkt: Du hast einen Job, der euch beide ernährt? Herrgott, Karl! Du musst doch hören, was an dieser Aussage nicht stimmt. Wieso glaubst du, für euch beide Geld verdienen zu müssen? Zumal wir gar nicht wussten, dass Colin wieder arbeitslos ist. Wie lange geht das schon?«

»Er kann wirklich nichts dafür. Colin hat eben Pech. Seine Kollegen und Vorgesetzten machen ihm immer das Leben schwer. Ich kann ihn verstehen, dass er das auf Dauer nicht aushält.«

Plötzlich ist es an Cameron aufzuspringen und gereizt durch den Gastraum zu stapfen. »Okay, das ist mir dann auch zu hoch.« Er wirbelt zu mir herum und hockt sich vor mich. »Karl, ich stelle dir jetzt eine einzige Frage. Und ich möchte, dass du ehrlich darauf antwortest. Denk in Ruhe darüber nach, bevor du etwas sagst, okay?«

»Wegen mir.«

»Wie viele Menschen kennst du, mit denen Colin klarkommt?«

»Hm, das ist einfach«, platzt es mir heraus.

Cam legt mir seinen Zeigefinger auf den Mund. »Denk nach!«

 

Oh, und ich habe nachgedacht. Die Antwort, die mir in den Sinn kam, hat mir absolut nicht gefallen.

Trotz Leroys und Camerons nachdrücklicher Forderung, ich solle im Gästezimmer übernachten, machte ich mich nach dem zweiten Bier auf den Heimweg. Mir stand nicht der Kopf danach, weitere ihrer freundschaftlichen Meinungen über mich ergehen lassen zu müssen. Mag sich zickig anhören, aber das ist mir egal.

Vielleicht will ich es einfach auch nicht wahrhaben, dass sie voll ins Schwarze getroffen haben und ich tief in mir drin schon sehr lange weiß, dass meine Beziehung am seidenen Faden hängt.

Aber kann ich mir nichts, dir nichts eine langjährige Partnerschaft einfach so aufgeben, ohne gekämpft zu haben? Auch wenn wir in den letzten Monaten oder sogar Jahren nur noch nebeneinander her leben, hoffe ich doch noch, dass Colin mich irgendwann wieder so ansieht wie zu Beginn – mich so sieht, wie ich bin und mir das Gefühl gibt, dass ich der bin, den er will.

 

Ich komme in eine leere Wohnung zurück, was mich innerlich aufatmen lässt und mir Zeit zum Nachdenken gibt. Oder was auch immer, denn ich schnappe mir meinen E-Reader, kuschle mich nach einem Abstecher im Bad in mein Bett und versinke in einen Roman meiner Lieblingsschriftstellerin Ella Feelding.

Ein Hoch auf die Erfindung des E-Readers. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, was ich für schnippische Bemerkungen von Colin ernten würde, wenn er wüsste, dass ich Liebesromane lese.

 

~*~

 

Die Freuden eines Hundebesitzers

- Barrie -

 

Die Gassirunde mit Rufus war nicht lang, aber anstrengend und zeitintensiv, denn jeder wackelnde Grashalm ist für ihn eine riesen Herausforderung, die zum Jagen animiert. Bis ich ihn endlich so weit hatte, dass er sich auf das Wesentliche, nämlich sein Geschäft, konzentriert, sind sage und schreibe vierzig Minuten vergangen.

 

Frisch geduscht hüpfe ich, mit einem Bein bereits in meinen Shorts verheddert, durchs Bad und versuche meine Jogginghose vor kleinen, spitzen Zähnen zu retten. »Rufus, du Plagegeist, lass gefälligst meine Hose in Frieden! Und wie zum Geier bist du da überhaupt rangekommen?« Ich bekomme den Hosenbund gerade noch zu fassen, was mich um ein Haar aus dem Gleichgewicht bringt, als dieses schwanzwedelnde Welpen-Ungeheuer spielerisch knurrt, am anderen Ende euphorisch zerrt und versucht den Rückwärtsgang einzulegen. Als hätte er auch nur den Hauch einer Chance, mit seiner Beute zu entkommen.

Plötzlich hält er inne und mustert mich eindringlich mit schokoladenbraune Augen und zerknautschtem Gesicht, welches in einen Fellmantel gehüllt ist, der ihm um zehn Nummern zu groß zu sein scheint. Ich kann seine winzigen Rädchen im Kopf direkt arbeiten hören. Dieses schlaue Kerlchen heckt schon wieder etwas Neues aus.

Wir belauern uns einen Moment, bevor er aus heiterem Himmel den Wollstoff aus seiner Schnauze gleiten lässt, sodass ich Mühe habe, nicht mit dem Hintern auf den Fliesen zu landen.

»Du Aas!«, entkommt es mir überrascht. Trotz seines Alters hat er mehr Kraft, als man ihm zutrauen würde. So schnell, wie er sich nun mein Wohlfühl-Shirt schnappt, das durch seine Hosenaktion neben uns auf dem Boden liegt, kann ich gar nicht gucken.

»Du kleiner Stinker! Wirst du wohl …« Ich schmeiße meine Jogginghose aufs Sideboard und hechte ihm hinterher, um nun mein Shirt in Sicherheit zu bringen.

Für ihn ist alles ein großes, aufregendes Spiel und je heftiger ich mit ihm um die Klamottenherrschaft kämpfe, umso schneller wedelt sein Schwanz, gleich einem Propeller. Der Schlawiner hebt jeden Moment ab, wenn das so weitergeht.

Schlussendlich gebe ich auf, sinke grinsend mit blanker Heckseite auf den Toilettendeckel, zucke kurz zusammen, weil dieser wortwörtlich arschkalt ist, und amüsiere mich köstlich darüber, wie Rufus stolz erhobenen Hauptes und mit dem frisch erkämpften Diebesgut von dannen zieht.

Ich weiß, ich sollte durchgreifen und ihm seine Grenzen aufzeigen. Und ich habe wirklich ein total schlechtes Gewissen, was Rufus’ Erziehung angeht.

Aber mal im Ernst, könntet ihr einem drei Monate alten Bloodhound-Welpen auch nur das Geringste abschlagen? Seufzend schüttle ich über mich selbst den Kopf. Wenn mich jetzt jemand so sehen könnte …

Ich bin ein absoluter Softie, wenn es um mein Baby geht.

 

Nachdem ich nun mein Wohlfühl-Shirt unfreiwillig an Rufus verloren habe, degradiere ich eins meiner alten, ausgewaschenen Sweatshirts zum Nachfolger, brühe mir einen starken Kaffee auf und verziehe mich in mein Arbeitszimmer, um meinem Zweitjob nachzugehen. Zweitjob deshalb, da ich im Grunde hauptberuflich Apotheker bin.

Man könnte mich auch als zwiegespaltene Persönlichkeit bezeichnen. Tagsüber berate ich verschnupfte Gestalten oder braue in meinem kleinen Kämmerlein Salben und diverse andere Dinge zusammen, um damit kranken Menschen bei ihrer Genesung zu helfen, und nachts verschwinde ich in ein Reich voller Möglichkeiten. Und genau dahin ziehe ich mich jetzt zurück.

Es dauert immer einen Moment, bis in meinem Kopf das Tagesgeschehen verarbeitet ist und ich mich tatsächlich in meine eigene kleine Welt begeben kann. Deshalb ist diese Zeit wunderbar geeignet, um die Arbeit vom Vortag zu überfliegen oder Recherche zu betreiben.

Ich sollte vielleicht verraten, dass von diesem Teil meines Lebens keiner etwas ahnt. Nicht einmal meine Eltern.

Mich diesbezüglich zurückzuhalten, fällt mir zeitweise ziemlich schwer, da ich niemanden habe, mit dem ich über meine Ideen und Träume reden kann. Das wiederum funktioniert aber auch nur, da ich Single bin und meine Wohnung mit keinem teile. Zumindest bis vor zwei Wochen, denn da kam Rufus in mein Leben gestolpert.

Mr. Stone, ein herzensguter Geschäftsnachbar mit einem Laden für Haustierbedarf drei Häuser neben unserer Apotheke, kam eines Tages völlig aufgelöst zu uns und bat uns um Hilfe. Er müsse kurzfristig zu einem äußerst dringenden geschäftlichen Termin und benötige jemanden, der einen Nachmittag auf seinen Nachwuchs aufpasst.

Dummerweise war mir zu diesem Zeitpunkt nicht klar, dass es sich bei genanntem Nachwuchs nicht um seine Kinder handelte, sondern um drei Bloodhound-Welpen aus seiner Zucht. Somit sagte ich leichtfertig zu, überließ die Apotheke meinem Dad und machte mich mit Mr. Stone auf den Weg zu seinem Laden.

Nun ja, was soll ich sagen, der Schrecken war groß. Aber noch größer war die Liebe auf den ersten Blick, als Mini-Rufus durch das Hinterzimmer auf mich zuraste und schlitternd gegen mein Bein prallte. Der Winzling schaute zu mir auf und ich war verloren.

Der Rest ist sozusagen Geschichte. Ich nahm ihn am selben Tag mit heim. Nach einigem Hin und Her, da Mr. Stone mich erst ohne Rufus heimschicken wollte, damit ich ihn am nächsten Tag abhole, wenn zu Hause alles für ihn vorbereitet ist, sorgte er natürlich für eine Vollausstattung.

Innerhalb von zwanzig Minuten, nachdem er von seinem Termin zurückkam, war ich stolzer Besitzer eines Welpen, geeigneten Futters, Körbchen, Spielzeug, Näpfen sowie einer passenden Leine und um mehrere hundert Pfund leichter. Als Bonus legte er mit einem neckischen Grinsen noch ein Buch obendrauf: Mein neues Leben mit einem Hund.

Ich kam mir reichlich dämlich vor, als ich bei meinem Dad in der Ladentür stand.

Da mir der liebe Gott bei meiner Geburt nur zwei Arme zugestanden hatte, schleppte ich Mr. Stone als Packesel mit, der mir diverse Tüten hinterhertrug.

Mein Dad hatte nur eine kurze, wie immer wenig subtile Bemerkung auf Lager, als ich mich auf den Weg hinauf in meine Wohnung begab. »Na ja, es ist zwar nur ein Hund, aber immerhin ein Anfang. Endlich kommt mal etwas Leben in die Bude, mein Sohn.«

 

Die Erinnerung, wie ich zu meinem kleinen Liebling kam, zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht. Ich lehne mich zurück und konzentriere mich gerade auf den Bildschirm vor mir, als ich aus dem Augenwinkel sehe, wie Rufus auf leisen Sohlen ins Zimmer geschlichen kommt, sein neues Spielzeug – mein Shirt – hinter sich her schleift und dabei ein wenig ins Taumeln gerät, da sich der Stoff um seine Hinterpfoten wickelt. Einige Schritte von meinem Arbeitsplatz entfernt bleibt er stehen, pflanzt seinen knuffigen Hintern auf den Wollstoff und schaut zu mir auf, als würde er auf eine Erlaubnis warten. Ach, jetzt auf einmal.

Mir ist absolut klar, was er will. Mal sehen, wie lange er durchhält. Ich ignoriere ihn und tippe geschäftig auf meiner Tastatur herum.

Keine Minute später ertönt auch schon ein leises Fiepen, was mir einen kleinen, mitleidigen Seufzer entlockt. Wie schon erwähnt, bin ich diesem Pelzling seit dem ersten Augenblick heillos verfallen. Trotz meiner noch vor ein paar Minuten frisch gefassten Vorsätze rutsche ich mit dem Stuhl ein Stück nach hinten und deute auf den Fußraum unter dem Schreibtisch. »Na los, dann geh schon.«

Rufus’ Schwanz trommelt freudig auf den Teppich, bevor er flugs zwischen meinen Füßen hindurchsprintet, um es sich dort bequem zu machen.

Okay, ich hätte die vorherige Äußerung wohl anders formulieren sollen: Mal sehen, wie lange ich durchhalte.

Hiermit ist bewiesen, dass ich kein konsequenter Mann bin, zumindest nicht, wenn es um Rufus geht. Denn von meiner Umwelt werde ich als unnahbar, angsteinflößend und, der Gipfel der Frechheit, als arrogant beschrieben. Was mir erst letztens von meiner werten Mutter minutiös beim Frühstück aufs Butterbrot geschmiert wurde.

 

Die Unterhaltung lief folgendermaßen ab: »Schatz, es wird Zeit, dass du lernst mehr zu lächeln. Du wirst nie jemanden kennenlernen, wenn sich niemand traut, dich anzusprechen.«

»Ich weiß nicht, was du mir damit sagen willst, aber ich bin immer freundlich zu unseren Kunden«, erwiderte ich verschnupft.

Sie tätschelte mir die Schulter, zwinkerte meinem Dad zu und meinte: »Das habe ich auch nicht bestritten. Aber findest du es nicht merkwürdig, wenn dein Vater oder ich von netten jungen Frauen angesprochen werden, um etwas über dich zu erfahren?«

»Und wer hindert sie daran, mit mir zu reden?«

»Du, mein Schatz. Denn du wirkst zuweilen sehr abweisend, arrogant und furchteinflößend.« Mom hat noch nie ein Blatt vor den Mund genommen, aber das war dann doch ziemlich heftig.

Schockiert schaute ich sie an. »Wer sagt denn so was?«

»Eben diese netten jungen Dinger, die mich nach deiner Telefonnummer gefragt haben.« Sinnierend machte sie sich auf den Weg zum Herd. »Wobei mir auffällt, dass es sich tatsächlich immer nur um das weibliche Geschlecht handelt. Ob es daran liegt, dass die Männer feinfühliger sind? Oder glaubst du, sie sind einfach noch feiger als die Frauen? Du müsstest das doch beantworten können.«

Mir blieb schier der Mund offen stehen und ich musste mich erst einmal sammeln, bevor ich etwas sagen konnte. »Mom, geh einfach mal davon aus, dass wir Männer andere Wege kennen, als die Mutter eines«, das folgende Wort setzte ich mit meinen Fingern in Gänsefüßchen, »Auserwählten auszufragen. Und was die weibliche Fraktion betrifft: Dafür dass du sie nett nennst, finde ich schon irgendwie bedenklich, dass sie sich dir gegenüber so über mich äußern«, murmelte ich, bevor mir ein weiterer Punkt ihrer kleinen Ansprache klar wurde. »Meine Telefonnummer? Mom! Das ist nicht dein Ernst.«

»Hm, stimmt. Ihr Männer seid da wahrscheinlich schmerzfrei und kommt gleich zur Sache.« Sie schaufelte mir eine Portion Rühreier auf den Teller und zuckte beiläufig mit den Schultern. »Na ja, was soll ich machen?«

»Auf jeden Fall nicht meine Nummer an wildfremde Menschen verteilen«, moserte ich sie an.

»Da fällt mir ein, wann warst du eigentlich das letzte Mal aus? Bist du immer noch nicht über die Sache mit Jenny hinweg?«

»Mom!«

»Was denn? Ich werde doch wohl noch fragen dürfen? Ach, du bist immer so verspannt. Jetzt warte es doch mal ab. Vielleicht ergibt sich ja dadurch endlich mal wieder was für dich.«

»Mom, ich liebe dich, aber das geht selbst für dich zu weit.«

Mit einem fiesen Grinsen nickte sie mir zu. »Okay, dann werde ich die kleinen Zettelchen, die ich bereits in meiner Handtasche deponiert habe, wieder entsorgen.«

Ich wollte schon loswettern, als mein Dad das Wort ergriff. »Fiona, mein Herz, ich denke, du hast unseren Sohn heute genug gefoppt. Meinst du nicht?«

Erleichtert sank ich auf den Stuhl zurück und widmete mich meinem Frühstück. Meine Mutter ist, was mich angeht, unberechenbar und somit ging ich de facto davon aus, dass sie es tatsächlich in Erwägung gezogen hat, meine Handynummer an willige Frauen zu verteilen. Nicht dass ich abgeneigt wäre, eine kennenzulernen – oder auch einen netten Mann – aber dafür verzichte ich doch gerne auf die Hilfe meiner Mutter.

 

Genug Zeit mit meinem Ausflug in die Vergangenheit vertrödelt!

Zurück in der Realität spüre ich, wie Rufus wärmend auf meinen Füßen liegt und leise vor sich hin schnarcht. Somit kann ich die nächsten zwei Stunden bis zu einer weiteren Gassirunde zum Schreiben nutzen.

Ich öffne das aktuelle Dokument und verliere mich augenblicklich in meine Fantasiewelt.

 

~*~

 

Freunde und deren Ideen

- Karl -

 

Nach unserem letzten Streit, oder besser gesagt, nach Colins Ausraster, sind schon wieder zwei Wochen vergangen und alles verläuft wie gehabt – als wäre nichts gewesen. Ein klärendes Gespräch kam nicht zustande, wie immer.

Was sich seit gestern eh erübrigt, da eine weitere Absage im Briefkasten lag. Zum Glück hatte Colin den Brief nicht vor mir in die Finger bekommen und ich konnte ihn sofort verbrennen. Ja, ich bin mit dem Wisch vor die Tür, habe mir eine Zigarette angezündet und das Teil gleich mit. Ziemlich theatralisch, aber mit diesem Schreiben sind auch meine Träume in Rauch aufgegangen. Danach habe ich mir geschworen, nie wieder einen Versuch zu starten. Denn Colin hat recht, es ist einfach nur noch peinlich.

Dass Colin einfach so wieder zurück zur Tagesordnung übergeht, wird mir erst jetzt so richtig bewusst und geht mir immens gegen den Strich, keine Ahnung, warum. Vielleicht ist es tatsächlich so, wie Leroy und Cameron gesagt haben. Vielleicht war es an der Zeit, mir die Augen zu öffnen.

Nur, was soll ich jetzt mit meinem Wissen anfangen? Mein Gott, es ist ja nicht so, dass ich meine Gefühle für Colin plötzlich abschalten könnte. Wäre das so einfach, hätte ich sicher schon längst die Reißleine gezogen und meine Sachen gepackt.

Ich bin so zwiegespalten. Auf der einen Seite möchte ich, dass es zwischen uns funktioniert. Und auf der anderen habe ich das Gefühl, ich wäre der Einzige, der aktiv daran arbeitet, unsere Beziehung aufrechtzuerhalten.

Jegliche Annäherungsversuche, ob es ein Kuss mal eben zwischendurch ist oder mehr, wenn wir zu Bett gehen, werden von ihm ignoriert oder mit fadenscheinigen Begründungen abgewürgt. Einmal ist er zu müde. Weiß der Himmel wovon, denn er ist ja den ganzen Tag zu Hause. Ein andermal fühlt er sich nicht wohl. Oder er hält mir auf seine unnachahmliche Art vor, dass ich am Glimmstängel hänge und er ungern einen Aschenbecher küsst.

Alles Argumente, die ich nicht widerlegen kann und verstehe. Aber selbst als ich nicht geraucht habe, machte es keinen Unterschied, denn auch da war er meinen Verführungskünsten gegenüber immun.

Was sagt mir das? Bin ich für ihn nicht mehr attraktiv genug? Wirke ich etwa abstoßend auf ihn? Aber wenn dem so ist und er empfindet überhaupt nichts mehr für mich, warum quält er sich mit einer Partnerschaft, die im Grunde schon lange nicht mehr existent ist?

Alles Fragen, die mir seit dem Gespräch mit Leroy und Cameron durch den Kopf geistern. Es ist niederschmetternd, immer wieder aufs Neue abgewiesen zu werden, nur um dann aus heiterem Himmel Colins Verlangen ausgeliefert zu sein. Was mich dann eher abschreckt und mich wie eine Schnecke in mein Haus zurückziehen lässt, weil ich mich plötzlich benutzt fühle.

 

Ich verbringe die Arbeitstage auf diversen Baustellen und versuche gegenüber Leroy das Thema Colin zu umschiffen.

Was ihm natürlich nicht verborgen bleibt. Aber Leroy würde mich nicht drängen darüber zu reden, das weiß ich. Und doch plagt mich ein schlechtes Gewissen, denn er macht sich genau wie Cameron nur Sorgen um mich.

Kurz vor Feierabend klingelt mein Handy und informiert mich über den Eingang einer Textnachricht. Ich fische es aus den Tiefen meiner Arbeitshose und schaue nach, wer etwas von mir will.

Colin.

Das verwundert mich, denn er ist kein Mensch, der sich gerne per Messenger verständigt.

 

Alles klar, wir sehen uns heute Abend.

 

Ähm … was? Ich habe es kaum gelesen, geschweige denn mir Gedanken darüber gemacht, was er meint, da flattert auch schon die nächste Nachricht rein.

 

Sorry, war nicht für dich bestimmt.

 

Wie jetzt? Ich starre aufs Display und überlege, ob ich ihm schreiben soll, als Leroy an meine Seite tritt. »Hey, was ist los?«

Erschrocken deaktiviere ich eilig den Bildschirm, stecke mein Smartphone zurück in die Tasche und schüttle den Kopf. »Ach nichts. Ich dachte, ich hätte eine Nachricht erhalten. Hab mich wohl verhört.«

»Okay. Ich frage nur, weil du so ratlos geguckt hast.«

Ich winke ab, schnappe mir den nächsten Sack Zement mit den Worten »Alles bestens« und ignoriere seinen fragenden Blick, der mir zwei Löcher in den Hinterkopf zu brennen scheint.

Sehr weit komme ich nicht, da Lee mich sanft auf die Seite zieht, mir die Last aus den Händen nimmt, auf den Boden zurücklegt und flüstert: »Ich habe jetzt zwei Wochen nichts gesagt, aber …« Anscheinend um Worte ringend, bricht er mitten im Satz ab und schaut mich nur noch bittend an.

So viel dazu, dass er mich nicht drängen würde. Wobei ich eigentlich auch ganz froh bin, dass er es doch tut, denn wie gesagt, mein schlechtes Gewissen macht mir zu schaffen. »Was willst du von mir hören? Du kennst Colin. Es hat sich nichts geändert. Und um ehrlich zu sein, mir fehlt langsam die Kraft, um weiterzumachen. Ich bin mit meinem Latein am Ende.« Ich seufze verzagt auf. »Wenn du mir also einen Rat geben kannst, tu dir keinen Zwang an. Mittlerweile bin ich für jeden Tipp dankbar.«

Lee schaut sich um, vermutlich um zu sondieren, ob wir unter uns sind, schiebt mich ein paar Schritte in einen angrenzenden Raum und starrt mich danach einen Moment an, bevor er sich zu mir beugt und leise, aber eindringlich fragt: »Hast du schon etwas wegen deiner Bewerbung gehört?«

Übertrieben gleichgültig zucke ich mit den Schultern. »Gestern. Wieder eine Absage. Aber egal.«

»Scheiße! Das tut mir leid. Wann kannst du es noch mal versuchen?«

Leroy ist gar nicht klar, wie gut es mir tut, dass er mich genau das fragt. Aber mein Entschluss steht. »Ich weiß es nicht und will es auch gar nicht mehr wissen. Das Thema ist für mich erledigt.«

»Bist du sicher?«

»Nein. Aber ich muss nach vorne schauen. Ich glaube, es ist nicht gut, wenn ich mich weiterhin daran festbeiße.«

»Hm, okay, ist natürlich deine Entscheidung. Was Colin und dich angeht. Ich hätte da tatsächlich eine Idee. Ob die funktioniert, kann ich dir nicht versprechen. Was ich aber auf alle Fälle weiß, ist, dass du eine Auszeit brauchst. Und ich meine nicht, dass du dir ein paar Tage freinehmen sollst, um dann in deiner Bude zu versauern.«

Oh, die Vorstellung gefällt mir und ich werfe freudig ein: »Ich hatte schon darüber nachgedacht, Urlaub zu nehmen und Colin zu fragen, ob wir spontan irgendwohin fahren wollen. Vielleicht in die Highlands. Ich würde gerne mal wieder in die Natur raus, wandern. Vielleicht an die Steilküsten. Mein Fotoapparat ist schon ganz verstaubt.« Ich liebe es, zu fotografieren. Was ich schon seit Jahren nicht mehr gemacht habe, weil Colin immer etwas dagegen hatte, unnütz in der Gegend herumzulatschen.

»In diese Richtung hatte ich auch gedacht. Allerdings mit einem kleinen Unterschied. Schnapp dir deine Klamotten, die Kamera und verdufte für vierzehn Tage. Ohne Colin.«

»Wie stellst du dir das vor? Das wird er nicht mitmachen.«

»Du wolltest einen Rat? Hier hast du einen. Verschwinde sang- und klanglos für zwei Wochen von der Bildfläche. Wenn du ihm unbedingt Bescheid geben musst, dann sag es ihm nicht persönlich, sondern hinterlasse nur eine Nachricht, die er findet, wenn du schon weg bist. Wenn ihm etwas an dir liegt, wird er versuchen herauszufinden, was los ist. Verrat ihm nicht, wohin du fährst. Gib ihm einen kleinen Wink, dass du kurzfristig ein Cottage über einen guten Freund gemietet hast. Nichts weiter. Lass ihn sich ruhig ein bisschen den Kopf zerbrechen. Er kann sich ja jederzeit telefonisch bei dir melden, oder?«

»Das kann ich nicht«, flüstere ich beklommen. Das würde ein Riesentheater geben, wenn ich wieder zurückkomme.

Lees Hand drückt ermutigend meine Schulter. »Wenn du wissen willst, ob Colin noch etwas an dir liegt, tu es! Spring über deinen Schatten. Wenn möglich, heute noch.«

»Was?! Wie stellst du dir das vor? Ich wüsste ja noch nicht einmal wohin, geschweige denn …«

»Mach dir über das Wohin keine Gedanken. Ich habe da jemanden im Hinterkopf.« Lee reibt sich nachdenklich über seinen Dreitagebart und klatscht plötzlich in die Hände. »Pass auf, wir machen es folgendermaßen.« Er schaut auf seine Uhr und nickt bestätigend. »Super, es ist eh Feierabend. Du fährst jetzt heim, dann packst du alles ein, was du für zwei Wochen benötigst. Wir treffen uns in Portobello. Ich sage gleich Ellen und Duncan Bescheid und versuche die Kings anzurufen.«

»Was? Ich kann doch nicht einfach der Arbeit fernbleiben, ohne es vorher mit Archie besprochen zu haben. Und wer sind jetzt wieder die Kings?«

»Mit Archie rede ich. Das ist kein Problem. Und die Kings sind alte Bekannte von Duncan. Sie betreiben die ortsansässige Apotheke seit beinahe 140 Jahren und besitzen ein Cottage in Glendale, das sie auch gerne an gute Freunde vermieten. Cam und ich waren vor ein paar Jahren dort. Wir haben dir davon erzählt. Weißt du noch, wie Cam dich mit seinen total schrägen Urlaubsbildern gemartert hat?«

Die Erinnerung daran, wie stolz Cameron seine Bilder präsentierte, bringt mich zum Grinsen. Der arme Kerl hat wirklich kein gutes Händchen, wenn es ums Fotografieren geht. Entweder fehlte immer ein Teil von Lee wie Kopf oder Füße oder die Fotos waren so verwackelt und falsch belichtet, dass ich dachte, ich bräuchte eine Brille. »Stimmt, kann mich dunkel dran erinnern.«

Lee lacht auf. »Ja, dunkel ist eine gute Umschreibung seiner Laune, die er bekommt, wenn ich ihn auf dieses Talent anspreche.«

»Aber meinst du nicht auch, es wäre zu kurzfristig?«

»Darum sollst du erst mal zu Duncan fahren. Wenn die Kings das Cottage nicht gleich zur Verfügung stellen können, bleibst du ein paar Tage im Cav-House.«

Das Cav-House ist eine Pension, die von Ellen und Duncan geführt wird, deren Name sich von Cavanaugh ableitet, dem Familienname der beiden.

Irgendwie wird mir Lees Idee immer sympathischer. Selbst wenn ich das Cottage der Kings nicht anmieten kann, würde ich mich freuen ein paar Tage in Portobello abzutauchen.

Drew, Ellens Tochter, besitzt die wundervolle Gabe, mir allein durch ihre Anwesenheit den Tag zu versüßen. Das Mädel ist vierzehn, mitten in der Pubertät und raubt ihren Eltern regelmäßig den Verstand. Ich liebe diese Draufgängerin.

Ich straffe meinen Rücken und atme tief ein und wieder aus. »Also gut. Wenn ich mich nicht irre, will Colin heute Abend noch weg. Ich weiß aber nicht, wann. Könnte demnach etwas später werden. Meinst du, das wäre für Ellen okay?«

»Na, sag mal. Natürlich.«

»Abgemacht.« Ich bin ganz aufgeregt und falle Lee ohne nachzudenken in die Arme.

Ihm entkommt ein überraschtes »Uff«, bevor er mich wieder auf meine zwei Füße zurückstellt und mir freundschaftlich den Oberarm tätschelt. »Ich kann dir nicht sagen, dass alles wieder in Ordnung kommt. Aber ich kann dir versprechen, du bist nicht allein. Ich hoffe, du weißt das.«

»Ja, schon. Aber meine Beziehung ist nun wirklich keine Sache, worüber ihr euch Gedanken machen solltet. Findest du nicht?«

Lee verstrubbelt mir mein Haar und schnaubt belustigt. »Du hast es nach all den Jahren immer noch nicht begriffen, oder? Du gehörst zur Familie. Und da ist es doch völlig normal, dass sich alle Sorgen um dich machen. Aber gut, lass uns nicht weiter darüber philosophieren, ob du das jetzt okay findest oder nicht. Es ist, wie es ist. Du wirst wohl mit uns leben müssen.«

Sicher, ich wusste immer, dass ich auf sie zählen kann. Aber wie gesagt, bisher bin ich davon ausgegangen, dass ich meine Probleme mit Colin selbst lösen sollte. Was ich ja auch vorhabe. Im Grunde zeigt mir Lee nur eine Möglichkeit auf, wie ich Zeit für mich bekomme, um über mein Leben nachzudenken und vielleicht wieder zu mir selbst zu finden. Denn eine Erkenntnis nimmt von Tag zu Tag mehr Form an: Seit ich mit Colin zusammen bin, habe ich mich immer mehr verloren.

 

~*~

ENDE DER LESEPROBE

 

 

»Friendships 4«

© 2016 Nele Betra

 

Impressum

Texte: Nele Betra
Bildmaterialien: shotterstock / Nele Betra
Lektorat: Brigitte Melchers / Bernd Frielingsdorf
Tag der Veröffentlichung: 02.10.2016

Alle Rechte vorbehalten

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