*Leseprobe*
Passion or Love
(Friendships 3)
GayRomance
von
Nele Betra
Impressum
1. Ausgabe
Text: Nele Betra
Im Hangelstein 41, 73730 Esslingen
nele.betra@web.de
Cover: Nele Betra
Fotos: shutterstock
Korrektorat: Bernd Frielingsdorf
Copyright Esslingen am Neckar August 2016 Nele Betra
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Vervielfältigung und Veröffentlichung sind nicht gestattet oder bedürfen meiner ausdrücklichen Zustimmung.
Die Illustrationen auf dem Einband bzw. Titelseite werden nur für darstellerische Zwecke genutzt. Jede abgebildete Person ist ein Model.
~*~
Nicht wirklich mein Zuhause
- Cameron -
Ein weiterer Tag ohne besondere Vorkommnisse geht ins Land. Das Einzige, was mich in den letzten Monaten halbwegs vom trübsinnigen Tagein-Tagaus ablenkt, ist mein Besuch im Haven.
Erschöpft steige ich aus meinem klapprigen Mondeo und ziehe bibbernd die Jacke enger um mich. Edinburgh im Herbst bedeutet Temperaturen unter zehn Grad. Allerdings fühlt es sich viel kälter an, da wir seit Tagen mit Nieselregen beglückt werden, der sich innerhalb von Sekunden durch sämtliche Kleiderschichten arbeitet.
Mit gesenktem Kopf eile ich über die Straße und nähere mich meinem zweiten Zuhause. Na ja, nicht wirklich mein Zuhause, aber fast.
Ich bin schon lange ein begeisterter Stammgast dieser … Wie soll ich sagen? Institution trifft es wahrscheinlich am ehesten. Das Haven ist optisch einfach nur zum Wegrennen – eine Beleidigung fürs Auge. Da das Eckhaus, in dem sich der kleine Laden befindet, anscheinend seit dessen Errichtung keine Farbe, geschweige denn Instandhaltungsmaßnahmen gesehen hat, wirkt es schäbig und nicht besonders einladend. Aber wenn man sich überwindet und es tatsächlich wagt einzutreten, ist es, als wäre man plötzlich in einer völlig anderen Welt.
Die Besitzer, Artair und Una Tulach, betreiben ihr Geschäft bereits über dreißig Jahre mit Herz und Seele. Anfangs als reine Bäckerei gegründet, wandelte es sich im Laufe der Zeit immer mehr zu einem Café, in dem nicht nur Gebäck und Getränke serviert werden, sondern auch kleine typisch schottische Gerichte. Wobei klein hier nicht unbedingt der Wahrheit entspricht. Eins ist jedoch amtlich: Egal für was man sich entscheidet, die Preise sind moderat, es ist einfach nur lecker und verführt zu mehr. Sich einmal von den Tulachs bewirten lassen, kann zur Wiederholungstat anstiften und macht nicht selten süchtig.
Una und Artair sind extrem liebenswerte Menschen, die Ruhe und Gelassenheit im Überfluss ausstrahlen. Was aber nicht die einzigen Gründe sind, um hier einzukehren. Jeder, der sich auf sie und ihre kulinarischen Genüsse einlässt, wird von ihnen behandelt wie ein Familienmitglied.
Und ich habe mich darauf eingelassen. Daher auch das Gefühl, nach Hause zu kommen, sowie ich die Schwelle überschreite und eintrete.
»Cameron, mein Junge …«, begrüßt mich Una herzlich, als ich die Tür hinter mir schließe. Sie lässt ihren Blick über mich gleiten und sagt besorgt: »Du siehst schlecht aus. Setz dich schon mal. Bin gleich bei dir.«
Ich nicke ihr zu und verschwinde in den Gastraum, der mich selbst jetzt durch seine chaotische Zusammenstellung von unterschiedlichen Tischen und gefühlt hundert verschiedenen Sitzmöglichkeiten zum Schmunzeln bringt, um an meinem angestammten Tisch Platz zu nehmen.
Heute ist es ruhig, verglichen zu den anderen Tagen. Was mich etwas stutzig macht. Leises, unverständliches Stimmengewirr der Laufkundschaft, die Una an der Ladentheke bedient, wabert durchs Café und bringt den wunderbaren Duft von Frischgebackenem mit. Alles hier kommt mir mittlerweile so normal vor, gibt mir ein heimeliges Gefühl. Ein junges Pärchen mit einem kleinen blonden Jungen sitzt am Fenster und albert herum – sie sehen glücklich aus. Und mir wird klar, wie sehr es mir abgeht, aus einer Null-Acht-Fünfzehn-Familie zu stammen.
Unas Hand auf meiner Schulter zerrt mich aus meinen wehmütigen Gedanken, die im Grunde total untypisch für mich sind. »Und? Wie geht es dir?«
Ich schaue zu ihr auf und blicke in ihr gutmütiges Gesicht, was mir ein aufmunterndes Lächeln schenkt. Gott, ob sie wohl ahnt, wie sehr mir genau dieses Lächeln unter die Haut geht, ihre einfache Berührung mich innerlich wärmt und zu einem Zehnjährigen mutieren lässt, der sich am liebsten in ihre Arme kuscheln würde, nur um von ihr gehalten zu werden?
Ich muss zugeben, diese Empfindungen erschrecken mich.
Una runzelt die Stirn, zieht einen Stuhl hervor und setzt sich zu mir. Nachdem sie ihre Hand von meiner Schulter auf meinem Unterarm legt, mustert sie mich, als würde sie erwarten, dass ich ihr mein Herz ausschütte. Mit zusammengepressten Lippen und so etwas wie einem Lächeln, das mit Sicherheit gezwungen wirkt, räuspere ich mich und schlucke einen fetten Kloß herunter. »Mir geht’s gut.« Ich blicke in Richtung Verkaufsraum. »Was macht Artair? Geht’s seinem Rücken besser?«
Sie tätschelt meinen Arm und nickt wissend, als wäre ihr klar, dass ich nicht über mich reden will. »Oh, um Welten besser. Du bist ein Segen. Nicht nur für ihn, mein Junge. Es hat nicht viel gefehlt und ich hätte ihn erwürgt. Dieser sture Hund wäre doch nie im Leben auf die Idee gekommen, sich ärztliche Hilfe zu suchen. Eher wäre er auf einem Schreibtischstuhl quer durch die Backstube gefegt, nur um nicht zugeben zu müssen, dass es ihm schlecht geht. Aber dann jammern!« Una schüttelt genervt ihren Kopf. »Männer, sag ich nur.«
Das bringt mich zum Lachen. »Hey, du sprichst gerade mit einem.«
»Ausnahmen bestätigen die Regel.«
»Na gut, damit kann ich leben.«
»Wunderbar.« Una seufzt, als würde sie die Last der ganzen Welt auf ihren Schultern tragen, und erhebt sich schwerfällig von ihrem Platz. »Nun gut. Du willst nicht reden, dann sag mir, was du essen magst.«
»Ich glaube, heute ist mir mal nach einem ganz simplen Burger.« Das beschert mir einen sanften Hieb auf den Rücken, bevor sie sich zu mir vorbeugt und zwinkert.
»Lass das nur nicht Artair hören, der macht dich trotz seiner Rückenprobleme einen Kopf kürzer.« Sie dreht sich um und ich höre sie flüstern: »… simpler Burger, tze …«
Sie hat recht. Artairs Burger sind alles andere als einfach. Aber ich mag es, wenn ich sie ein wenig aufziehen kann.
»Oh, und ein Bier wäre super«, rufe ich Una hinterher.
»Das darf dann auch simpel sein, oder?«, kommt es schlagfertig von ihr zurück. Sie ist bestimmt schon Mitte sechzig, und doch kann ich mir gut vorstellen, wie sie als junge Frau war. Hübsch, resolut und definitiv nicht auf den Mund gefallen.
Ich stütze meine Ellenbogen auf den Tisch und fahre mir müde übers Gesicht, als mein Handy leise vor sich hin summt. Ach komm schon, nicht jetzt!
Es klingelt noch zweimal, bis es endlich Ruhe gibt. Nachschauen, wer es war, würde mir im Moment nicht im Traum einfallen. Ich will hier nur sitzen und meinen Feierabend genießen. Ja, genau. Das ist absolut das Richtige, um auf andere Gedanken zu kommen. Von wegen!
Keine zwei Minuten später kehrt Una mit einer großen dampfenden Tasse zurück, stellt sie mir vor die Nase und setzt sich ein weiteres Mal zu mir.
»Hatte ich nicht Bier bestellt?«
»Erst der Tee. Du siehst aus, als würde er dir guttun.«
»Danke«. Tja, so einfach wird sie mich wohl nicht vom Haken lassen, denke ich, lege meine Hände um den heißen Becher und starre in das aromatisch duftende Getränk.
»Mich zu ignorieren hilft nicht, das weißt du doch«, flüstert Una, verschränkt ihre Arme vor sich auf dem Tisch und beugt sich zu mir. »Also, was ist los?«
»Nichts. Und ich denke, das ist auch einzig und allein der Grund, warum ich so mies drauf bin.«
»Aha.«
Unsere Blicke treffen sich und Una bedeutet mir mit einer aufmunternden Geste weiterzureden.
»Es ist diese ständige Monotonie. Ich komme mir vor wie ein Hamster im Laufrad. Oder wie der Typ im Film Und täglich grüßt das Murmeltier.« Ich nippe vorsichtig am Tee und zucke mit den Achseln. »Weißt du, welchen ich meine? Der Film mit Bill Murray, wo er in einer Zeitschleife festsitzt und ein und denselben Tag immer und immer wieder erlebt. Egal, was er tut, es ändert sich nichts, jedenfalls nicht wirklich.«
Als ich aufschaue, blicke ich in ein Gesicht voller Fragezeichen. Anscheinend hat sie keine Ahnung, wovon ich rede. »Na ja, ist ja auch egal. Der Punkt ist der: Ich kann mich drehen und wenden, es wird sich nichts mehr ändern. Ich werde wohl für den Rest meines Lebens ein Physiotherapeut mit Singleanwandlungen bleiben.« Was ja im Grunde auch nur meine eigene Schuld ist. Schließlich habe ich mich für diesen Beruf entschieden und für das Singledasein. Ich schüttle meinen Gedanken ab, trinke einen weiteren Schluck Tee – diesmal einen etwas größeren. »Ich sehe mich schon im Feinripp, mit fettigem Haar, ein oder zwei fehlenden Zähnen und einer Dose Bier in der Hand auf meiner Couch sitzen, um mir in der Glotze schwachsinnige Soaps reinzuziehen.« Bereits die Vorstellung lässt mich angewidert schaudern.
»Hm, ich kenne zwar den Film nicht und weiß nicht, was jetzt ein Murmeltier damit zu tun hat, aber ich kann dich gut verstehen. Na ja, wobei ich nicht denke, dass du der Typ für Feinripp bist,« versucht Una mich mit einem Grinsen aufzumuntern. »Du bist schließlich nicht vom Bau, oder?« Ein weiteres Zwinkern folgt.
Sie kann sich das also vorstellen. Tatsächlich? Das geht mir nicht in den Kopf, wo sie doch hier in ihrem kleinen Reich so glücklich und ausgeglichen wirkt. Das sage ich ihr auch und erreiche nur, dass Una mich eindringlich mustert, als würde sie darüber nachdenken, was sie darauf erwidern soll.
Sie blickt sich im Gastraum um, der nun bis auf ein älteres Pärchen an einem der hinteren Tische wie leer gefegt ist, und scheint einen Entschluss zu fassen, ehe sie sich mir wieder zuwendet und sagt: »Du bist gut. Glaubst du, das war schon immer so? Bevor Artair und ich vor über dreißig Jahren herkamen, steckten wir auch in so einer Krise. Wir waren unzufrieden, obwohl wir es nicht sein mussten. Schließlich hatten wir alles. Ein Dach über dem Kopf, Gesundheit und Arbeit. Auch wenn Letzteres nicht unbedingt unseren Vorstellungen entsprach, ging es uns finanziell nicht schlecht. Unsere Familien sind seit Generationen Viehzüchter. Schafe und Rinder können zuweilen sehr gesprächig und amüsant sein, ersetzen allerdings nicht den Kontakt mit intelligenten Lebewesen.« Una kichert in sich hinein und grinst mich unverschämt an, bevor sie verschwörerisch flüstert: »Obwohl ich mir bei einigen unserer Kunden nicht sicher bin, ob die sich nicht besser mit Rindviechern unterhalten sollten – sozusagen mit ihresgleichen.« Etwas beschämt wegen ihres abwertenden Kommentars rutscht Una auf ihrem Stuhl herum, bis sie ihre Schultern strafft und mich wieder entschlossen ansieht. »Uns fehlte die Herausforderung. Ein Grund, jeden Morgen vor Sonnenaufgang aufzustehen, verstehst du. Wir lebten nur noch nebeneinander her und vergeudeten unsere Zeit mit Nichts.«
»Wie kam es, dass ihr ausgerechnet nach Edinburgh übergesiedelt seid?«
»Dazu solltest du vielleicht wissen, woher wir ursprünglich kommen. Die Highlands sind auch heute noch unsere Heimat, aber man kann leider nicht behaupten, dass Laggan, das Dorf, aus dem Artair und ich stammen, eine Metropole ist. Die nächst größere Ortschaft Dalwhinnie liegt etwa zehn Meilen entfernt. Dort gibt es nur eine Destillerie. Meinetwegen nenn es Schicksal oder was auch immer. Wir wären wahrscheinlich an den Nordpool gezogen, wenn sich die Möglichkeit dazu ergeben hätte, nur um aus unserem langweiligen Leben auszubrechen.« Una lacht leise. »Als wir hörten, dass ein weitläufiger Verwandter meiner Mutter einen Pächter für sein Ladengeschäft in Edinburgh suchte, war die Entscheidung so gut wie gefallen. Artair wollte immer als Bäcker arbeiten. Ich glaube, keine zwei Minuten, nachdem wir die Neuigkeit erfuhren, wussten wir, wie unsere Zukunft aussehen soll. Wir hatten endlich einen Plan. Wir nahmen Kontakt mit meinem Onkel auf, der um vier Ecken mit mir verwandt war, und zogen einige Wochen später hierher.« Una drückte liebevoll meine Hand. »Weißt du, mein Junge, manchmal ist es nötig, im Leben einen harten Schnitt zu machen, um es wieder lebenswert nennen zu können. Du bist noch jung. Sei mutig! Öffne die Augen und schau, was sich dir für Chancen bieten. Und wenn du eine siehst, die dir gefällt, dann hadere nicht lange, sondern ergreif sie einfach. Was soll schon passieren? Schlimmstenfalls hast du mit Rosinen gehandelt. Na und! Davon geht die Welt nicht unter und du bist auch kein Versager, nur weil vielleicht mal etwas schiefgeht. Zumindest brauchst du dir nie vorzuwerfen, dass du es nicht versucht hättest. Und genau das ist es, was Würze in den Alltag bringt.«
»Habt ihr es je bereut, hier zu sein?«
Una schnaubt abfällig, bevor sie lacht und sagt: »Oh, natürlich. Was glaubst du denn? Es gibt so viele Dinge, die einem Kopfzerbrechen bereiten können – ob es das Geschäft ist, die Familie und wichtiger als alles andere: der Partner. Wir sind nicht mit einer rosaroten Brille bewaffnet hergekommen. So blauäugig waren wir nicht. Es hat auch schon mal Kraft gekostet. Aber es hat sich jedes Mal gelohnt durchzuhalten.« Sie deutet auf sich und die Umgebung. »Schau dich um und sag mir, was du siehst!«
Ich komme ihrer Aufforderung nach und blicke mich um. Was sehe ich? Tja, Wirrwarr. »Schwer zu sagen«, entgegne ich in Gedanken und wende mich ihr wieder zu. »Das Haven ist eigensinnig, würde ich behaupten. Ihr habt hier einen kleinen Rückzugspunkt für Gestrandete geschaffen. Hört sich vielleicht blöd an, aber anders kann ich es nicht ausdrücken.«
Una strahlt über das ganze Gesicht und greift sich ergriffen an die Brust. »Das hast du wundervoll gesagt. Denn genau das war immer unser Plan. Wir wollten nie ein Feinkostgeschäft aufbauen oder ein Gourmetrestaurant. Dafür sind wir nun wirklich nicht die Richtigen. Wenn wir es jedoch schaffen, Menschen das Gefühl zu geben, dass sie willkommen sind, dann haben wir unser Ziel erreicht.«
Ich streiche über ihren Oberarm und murmele: »Das habt ihr absolut geschafft. Zumindest bei mir. Und dafür wollte ich mich schon so oft bedanken. Wenn ich euch nicht hätte, dann …«
»Oh, Junge. Jetzt hör aber mal auf! Natürlich sind wir gerne für dich da. Wir kennen uns nun so lange. Du bist wie der Sohn, den wir uns immer gewünscht haben.«
Ergriffen räuspere ich mich und schenke ihr mein dankbarstes Lächeln, was ich unter diesen Umständen zustande bringe.
»Was ist hier los?! Stimmt was nicht?«, grummelt Artair, der soeben mit einem Tablett voller Essen und meinem heiß ersehnten Bier um die Ecke gerauscht kommt. Sein Anblick gefällt mir, denn er hatte bis vor ein paar Tagen große Schmerzen und konnte sich kaum bewegen.
»Nein, alles bestens, mein Lieber«, wird er von seiner Frau ausgebremst, die ihm die Teller abnimmt und mir mit einem aufmunterndem Lächeln serviert. »Lass es dir schmecken.« Dann sind sie verschwunden, Artair in seine Backstube und Una hinterm Ladentisch.
Ein wenig erleichtert schnaufe ich einmal tief durch und widme mich meinem Burger.
Natürlich würde man jetzt erwarten, dass ich nach dem Gespräch mit Una mein Leben umkrempele, aber das ist nicht der Fall. Mir fehlt der Anreiz, geschweige denn auch nur ein Hauch einer Idee, wie ich es anpacken könnte. Zu wissen, dass man etwas ändern muss, heißt noch lange nicht, es zu können oder auch nur eine Ahnung zu haben, was genau falsch läuft. Nennt es meinetwegen feige oder wie auch immer.
~*~
Feierabend
- Leroy -
Bei Sauwetter eine Hausfassade neu zu verputzen ist eine äußerst bekloppte Idee. Ich kann mir nur zugutehalten, dass sie nicht auf meinem Mist gewachsen ist. Nach all den Jahren, die ich in dieser Firma arbeite, bin ich heilfroh, dass Archie, mein Chef und guter Freund – okay, ich gebe zu, der einzige, den ich habe – nicht schon früher auf solche dämlichen Einfälle gekommen ist. Aber diesmal geht es wohl nicht anders, da der Auftraggeber Druck macht.
Nicht dass das Haus in sich zusammenfallen würde, kämen wir erst wieder, wenn das Wetter mitspielt. Nein, der gute Mann hat in einer Woche ein Event auf seinem Anwesen angesetzt, das er um keinen Preis verschieben kann.
Diese Art von Schnöseln gehen mir ordentlich gegen den Strich. Nur weil sie Geld wie Heu haben, denken sie, sie könnten andere auf Teufel komm raus herumkommandieren und unmögliche Fristen setzen.
»Soll mir egal sein, zumindest werden die Überstunden gut bezahlt«, grummle ich vor mich hin und arbeite weiter.
»Was hast du gesagt?«, erkundigt sich einer der Jungs, die neben mir auf dem Gerüst stehen und ebenfalls die Maurerkelle schwingen.
Schulterzuckend und ohne ihn eines Blickes würdigend erwidere ich: »Nichts, hab nur laut gedacht.«
»Ach so, hätte ich von allein drauf kommen können, wer will sich auch schon mit dir unterhalten«, höre ich ihn herablassend sagen, was die anderen zu hämischen Gelächter animiert.
Idioten. Allesamt Volltrottel. Mag ja sein, dass ich zu Selbstgesprächen neige. Aber das rührt nur daher, dass mir meine Gesellschaft allemal lieber ist, als mir ihr dummes Gequatsche reinzuziehen.
Wenn sie nicht mit geballten Fäusten grunzend auf ihre stolzgeschwellte Brust trommeln, lassen sie sich über ihre Eroberungen vom Vorabend oder Wochenende aus. Ärsche hier und Titten da. Einfach nur geschmacklos. Manchmal komme ich mir vor, als wäre ich auf dem Lande und höre Bauern dabei zu, wie sie sich über einige Prachtexemplare ihrer Kuhherde unterhalten. Wobei ich glaube, dass selbst ein unterbelichteter Bauerntölpel in seinem kleinen Finger mehr Intellekt besitzt als alle meine lieben Kollegen zusammengenommen.
Ich ignoriere sie geflissentlich und tue so, als würde ich sie nicht hören. Mir hat man ziemlich schnell beigebracht, dass das der bessere Weg ist, mit diesen hirnlosen Neandertalern umzugehen. Klar, ich würde gerne rübergehen und ihn gegen meine Faust laufen lassen. Leider hätte das jedoch nur eins zur Folge: Ich stände innerhalb von Minuten auf der Straße. Und das kann ich mir beim besten Willen nicht leisten. Obwohl, Archie war bisher immer sehr verständnisvoll, wenn es um mich ging. Herrje, der Gedanke ist äußerst verlockend. Aber nein, ich sollte mich wirklich zusammenreißen!
Ich schaue auf meine Uhr und seufze erleichtert auf. Noch eine Stunde, dann ist Feierabend. Endlich!
Im Hintergrund klopfen sich die Affen gegenseitig auf ihre Schultern und es fallen wie üblich, wenn sie mich im Fokus haben, beleidigende Worte. Schwuchtel ist noch das harmloseste in ihrem Vokabular. Sie glauben tatsächlich, sie könnten mich damit kränken. Allerdings ärgere ich mich darüber schon lange nicht mehr.
Ich verdränge sie aus meinen Gedanken und freu mich auf zu Hause.
Es ist nicht so, dass ich in einer riesigen Stadtwohnung lebe, nein, mein kleines, aber feines Domizil befindet sich unweit vom Calton Hill in einer Nebenstraße. Die York Lane ist ideal gelegen, da ich alles zu Fuß erreichen kann. Selbst in den nächsten Gay-Club ist es nicht weit. Das Blooms ist keine fünf Minuten von meiner Wohnung entfernt.
Ich bin kein besonders regelmäßiger Club-Gänger, dennoch gönne ich mir dort ab und zu etwas Abwechslung und eine nett anzusehende Kehrseite, wenn es sich ergibt.
Unbedingt scharf bin ich zwar nicht darauf. Allerdings, sollte der dazugehörige Kerl einen sympathischen Eindruck machen, sage ich auch nicht nein. Schließlich ist Handbetrieb auf Dauer nicht das Wahre. Meine kleinen Abenteuer halten sich jedoch in Grenzen. Denn ich bin keinesfalls oberflächlich – Gott bewahre. Ich wäre froh, wenn ich jemanden kennenlernen würde, der auf der Suche nach mehr als nur einem schnellen anonymen Fick ist. Was mich daran erinnert, dass ich seit Wochen nicht ausgegangen bin.
Allein zu leben und so gut wie keine Kontakte zu pflegen, hat Vor- und Nachteile. Ein absolutes Plus ist es natürlich, dass ich bei meiner Freizeitplanung auf niemanden Rücksicht nehmen muss. Soll heißen, wenn ich ins Kino oder in den Club gehen will, tu ich es einfach.
Nun ja, ich gebe zu, es könnte sein, dass dieser Punkt nicht unbedingt die negative Seite aufwiegt. Denn was nützt es mir, frei bestimmen zu können, was ich unternehme, wenn keiner da ist, mit dem ich es erleben kann? Okay, es ist doch scheiße, ein Single zu sein.
Mit meinen Gedanken wieder einmal bei mir selbst, kehre ich auf dem Heimweg im Supermarkt ein und besorge frischen Salat und ein saftiges Steak. Gewissermaßen meine Belohnung für den anstrengenden Tag und dafür, dass ich mich heute so gut im Griff hatte, als meine Kollegen meinten, sie müssten mich aufs Korn nehmen.
Zu Hause angekommen räume ich die Einkäufe in den Kühlschrank, putze den Salat und bereite das Fleisch für die Pfanne vor. Ich schaue auf die Uhr und erschrecke. »Herrje, sie wird mich vierteilen, wenn ich nicht gleich anrufe.« Sehnsuchtsvoll mein Abendessen musternd, wasche ich mir die Hände. »Tja, das muss jetzt doch warten.«
Das Handtuch landet auf dem Küchentisch und ich angele mein Handy aus der Jeans. Die Kurzwahltaste für Mom gewählt und es klingelt zweimal, als sie auch schon in der Leitung ist.
»Hallo, mein Schatz! Gut, dass du noch anrufst. Heute ist es aber wieder spät geworden. Wie geht es dir?«
»Hi, Mom. Alles gut. Wir stehen unter Termindruck, weshalb in den nächsten Tagen Überstunden anfallen. Wo ist Dad?«
»Er ist bei den Tieren«, entgegnet sie kurz angebunden. Merkwürdig, denke ich, als sie dann doch noch hinzufügt: »Lee, ich muss dir etwas Wichtiges erzählen.«
Oh, ich wusste, da ist was im Busch. »Was ist los? Geht es euch nicht gut?«
»Nein, nein, mit wir sind gesund. Es geht um den Hof.« Den letzten Satz flüstert sie nur und ich muss meine Ohren spitzen, um sie verstehen können.
»Was ist denn damit?« Ich bin zwar in eine Züchter-Familie reingeboren worden, aber ich habe keinerlei Ambitionen, was das betrifft. Es ist ein 24-Stunden-7-Tage-die-Woche-Knochenjob. Wer so wie ich nicht mit Herzblut dabei wäre, würde todunglücklich werden. Weshalb ich mich recht schnell abgesetzt habe. Was nicht bedeutet, ich hätte kein gutes Verhältnis zu meinen Eltern. Sie waren zugegebenermaßen traurig und besorgt, als ich ihnen mitteilte, dass ich mein Glück in Edinburgh versuchen würde, hielten mich jedoch nicht davon ab.
»… sieht nicht gut aus«, höre ich nur noch ihre letzten Worte, da ich völlig in Gedanken versunken war.
»Sorry, Mom. Was hast du gesagt?«
»Es sieht nicht gut aus. Wir haben Ärger mit den Behörden.«
Tja, das wirft mich jetzt total aus der Bahn. Dad mag stur sein, was ihn jedoch eher zu einem aufrechten Mann macht, der nichts tun würde, was illegal wäre.
»Schatz, bist du noch dran?«
»Ähm, ja klar. Was wollen die denn?«
»Ich habe wirklich versucht, mit ihm zu reden. Also mit deinem Vater, meine ich. Wenn ich den Brief nicht gefunden hätte, würde ich es nicht einmal wissen. Was soll ich nur machen?«, plappert sie konfus drauflos.
»Mom, bitte reg dich nicht auf. Von was für einem Brief sprichst du? Und warum versteckt Dad so etwas? Ich dachte, ihr redet über alles miteinander.« Sie sind für mich schon immer das Nonplusultra einer funktionierenden Partnerschaft gewesen. Das Idealbild einer liebevollen und auf Vertrauen basierenden Ehe.
»Aber ich weiß doch nicht …«
»Mom!«, hake ich sanft nach. »Der Brief, was steht dadrin?«
»Oh, ja. Warte, ich hab ihn hier.« Es raschelt am anderen Ende und dann ist sie wieder da. »Sie werfen uns vor, die Rinder mit Präparaten zu behandeln, die nicht zulässig sind. Was bedeutet das?«
Gute Frage. Da ich mich bereits als Jugendlicher vom Acker gemacht habe, bin ich absolut nicht im Bilde, was Rinderzucht oder allgemein Tierhaltung betrifft. »Mom, ich habe keine Ahnung, was das heißen soll. Aber wenn es ein behördliches Schreiben ist, wird es ernst sein. Ich kann dir leider nicht helfen. Du musst unbedingt mit Dad reden. Und wenn du Genaueres weißt, ruf mich bitte noch mal an.«
»Schatz, es tut mir leid, dass ich dir die Ohren vollheule. Aber ich wusste nicht weiter«, beteuert mir Mom.
»Das ist doch in Ordnung«, versuche ich sie zu beruhigen.
Das muss sie zum Nachdenken bringen, denn plötzlich habe ich das Gefühl, sie wäre nicht mehr in der Leitung. »Mom?«
Ein leises Schluchzen, dann flüstert sie: »Das macht mich traurig.«
Es tut mir so leid, dass ich ihr nicht helfen kann. »Mom, du kennst doch Dad. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er etwas mit den Rindern anstellt, was ihnen oder euch schaden könnte. Glaubst du wirklich, er würde sich jemals ändern und plötzlich so gewissenlos sein?«
Sie seufzt und scheint sich die Nase zu schnäuzen, denn ich kann sie kaum verstehen, während sie in den Hörer nuschelt: »Nein, da hast du wohl recht. Das kann er gar nicht. Das ist ganz und gar nicht seine Art.«
Innerliche seufze ich auf. »Mom, hör mal. Warum sprichst du ihn nicht auf den Brief an? Versuch herauszufinden, was los ist! Vielleicht kann ich euch dann helfen«, wiederhole ich meine Bitte von zuvor, da ich mir nicht sicher bin, ob sie es beim ersten Mal verstanden hat.
Mom schnäuzt sich noch einmal kräftig, bevor sie mit fester Stimme fortfährt: »Okay, das werde ich tun, versprochen. Weißt du was? Wenn ich dich so reden höre, bin ich sehr stolz auf dich, mein Sohn.«
Ich bekomme kaum ein Wort heraus, als ich ihr antworten will. »Oh, Mom. Ich hab doch gar nichts gesagt, was so toll wäre. Bitte hör auf zu weinen.«
»Das ist im Moment zu viel verlangt, Schatz. Allerdings werde ich es versuchen.«
»Danke, Mom.« Ich muss sie und mich auf andere Gedanken bringen, sonst fange ich auch noch an zu heulen. Ja, ich bin ein Mann und 42 Jahre alt, und trotzdem brennen mir die Augen, wenn ich meine Mom weinen höre. »Wann kommt ihr mich mal wieder besuchen?«
Sie waren in den letzten zwei Jahren drei Mal in Edinburgh. Durch die Tiere sind sie an den Hof gebunden und können schlecht mehrere Tage am Stück wegfahren.
»Ich weiß nicht. Es ist immer etwas verzwickt. Ich muss mal mit deinem Vater reden. Vielleicht können wir es nächstes Wochenende einrichten. Wäre das in Ordnung?«
»Natürlich. Ich würde mich freuen. Warum habt ihr euch eigentlich immer noch keinen Laptop angeschafft? Wir könnten uns viel öfter sehen.«
Das bringt sie zum Lachen. »Hab ich dir eigentlich schon mal gesagt, dass der Weg hierher genauso weit ist? Du könntest dich auch mal wieder aufraffen und nach Hause kommen. Und dann vergisst du wohl, mit wem du sprichst? Ich bin kein junger Hüpfer mehr, der mit dem technischen Fortschritt so einfach mithalten kann. Ich bin ja bereits total aus dem Häuschen, wenn mein Handy klingelt, was du mir geschickt hast.«
Stimmt, ich hätte wirklich Lust, ein paar Tage auszuspannen und ich erinnere mich noch genau daran, wie durcheinander sie war, als sie mein Päckchen erhalten hat. Bevor sie mit dem Smartphone umgehen konnte, haben wir etliche Stunden über Festnetz telefoniert, bis sie es halbwegs begriffen hatte, wie es funktioniert.
»Ich habe demnächst ein paar Tage frei und dann steht ja noch mein jährlicher Weihnachtsbesuch bei euch an. Aber ihr könnt trotzdem vorher zu mir kommen. Wenn ihr hier seid, kann ich dir und Dad ja mal die Sache mit der Videotelefonie zeigen. Vielleicht gefällt es euch doch und ihr überlegt es euch noch mal.«
»Gut, so machen wir es.«
»Schön, das wird sicher interessant«, necke ich sie.
»Leroy Gardner! Wirst du wohl deine alte Mutter nicht ärgern!«
»Ich doch nicht«, erwidere ich mit einem Schmunzeln. »Und Mom, was die andere Sache angeht: Mach dir bitte keine Sorgen. Es wird sich sicher alles aufklären.«
»Wir werden sehen. Jetzt lass ich dich aber in Ruhe, du brauchst deinen Feierabend.«
»Mom, schon vergessen? Ich hab dich angerufen.«
Sie ignoriert einfach meine Worte. »Ich hab dich lieb, mein Sohn. Hören wir uns nächste Woche?«
»Na klar. Bis dann. Ich hab dich auch lieb, Mom. Und grüße Dad von mir, ja?«, verabschiede ich mich etwas zwiegespalten.
Das Handy landet auf dem Küchentisch und mein Magen schreit danach, gefüttert zu werden. Während ich das Steak in die Pfanne schmeiße, grübele ich über unser Gespräch nach.
Nun ist es also passiert. Ich mache mir natürlich Sorgen. Es ist so untypisch für meinen Vater, nicht mit seiner Frau zu reden. Ich hoffe, es ist nichts, was ihre Ehe auseinanderbringen könnte. Selbst in meinem Alter würde es mich noch umbringen. Sie sind meine Heimat, mein Hafen, mein Rückhalt. Egal was ich im Leben mache, ich weiß, sie sind da und fangen mich auf, sollte ich jemals straucheln.
Achselzuckend quatsche ich das Steak voll: »Sie kennt ihn nicht anders und weiß, wie sie mit ihm klarkommt. Schließlich sind sie fast ein halbes Jahrhundert miteinander verheiratet. Meine Fresse, kann man es wirklich so lange mit ein und derselben Person aushalten?« Ich schüttle den Kopf über mich selbst und grinse nur vor mich hin.
Mit Argusaugen bewache ich die Pfanne – Wer will schon Schuhsohle auf dem Teller? – und mir kommt die Idee, heute Abend doch nicht auf der Couch abzuhängen, sondern dem Blooms einen Besuch abzustatten. Vielleicht ist es mal wieder an der Zeit für Ablenkung.
Gesagt, getan. Nachdem ich mir den Bauch vollgeschlagen habe, verschwinde ich ins Bad, hübsche mich auf und schlüpfe in clubtaugliche Klamotten.
Keine Stunde später kehre ich im Blooms ein, das heute sehr gut besucht ist. Ich schlendere zur Bar und warte geduldig, bis ich an der Reihe bin. Zwischenzeitig lasse ich einen prüfenden Blick durch den Club schweifen, um zu sehen, wer von den Anwesenden mein Interesse wecken könnte. Ein paar der Jungs, die meinen Blick kreuzen und mir zuzwinkern oder zuprosten, sehen recht nett aus, aber nach ihnen steht mir im Moment nicht der Sinn.
Die Theke lichtet sich und vor mir wird ein Barhocker frei, den ich sofort für mich beanspruche. Ein hübscher Kerl, etwa meine Größe, eventuell eine Handbreit kleiner als ich, gepflegter Dreitagebart und dunkles Haar, das durch die vorherrschende diffuse Beleuchtung eher rötlich schimmert, sitzt neben mir an der Bar. Rücken und Ellenbogen lässig gegen den Tresen gelehnt, nippt er an einem Getränk – nach dem Glas zu urteilen, irgendein Cocktail – und schaut über meine Schulter an mir vorbei. Er ist so auf jemanden hinter mir fixiert, dass ich mir vorkomme wie Luft. Anscheinend falle ich nicht in sein Beuteschema.
»Soll mir recht sein.« Ich kenne ihn vom Sehen. Oder sollte ich sagen, für mich gehört er schon zum Inventar? Es vergeht kein Abend, an dem ich hier bin und er nicht früher oder später auftaucht, um auf die Jagd zu gehen. »Auf einen Kerl, der sich durch sämtliche Betten schläft, hab ich auch keine Lust. Weiß der Geier, was man sich da alles einfängt.«
»Was hast du gesagt?«, werde ich von Tom, dem Barkeeper, gefragt.
Erschrocken zucke ich zusammen und wende mich ihm zu. Scheiße, ich muss wieder unbewusst laut gedacht haben. Ich winke ab. »War nicht wichtig. Gibst du mir ein Bier?«
Tom sammelt ein paar Bierdeckel ein, wischt die polierte Holzoberfläche vor mir sauber und nickt. »Klar, dafür bin ich doch hier, oder?«
~*~
Tretmühle
- Cameron -
Die Zeit vergeht und ich fühle mich zunehmend in einer Tretmühle gefangen, der ich einfach nicht entfliehen kann.
Morgens: Früh raus, ab in die Klinik.
Nachmittags: Ins Haven.
Abends: Entweder ab auf die Couch und bei irgendwelchen stumpfsinnigen Serien die Zeit totschlagen oder ins Blooms, einem der angesagtesten Gay-Clubs von Edinburgh, keine fünfzehn Minuten zu Fuß von mir entfernt, um wenigstens meiner Libido etwas Spaß zu gönnen.
Wenn ich Glück habe, und das ist meistens der Fall, verlasse ich nicht ohne einen Typen, der seinen Sextrieb befriedigen will, die Location.
Zugegeben, ich vermeide es, sie mit zu mir zu nehmen. Es ist um einiges praktischer zu verschwinden, als einen vielleicht doch zu anhänglichen Kerl nachts loswerden zu wollen. Spätestens am Morgen wird es merkwürdig. Jeder schleicht befangen um den anderen herum und hat keine rechte Ahnung, was er sagen soll. Was ja klar ist, schließlich ist es nicht so, dass wir intellektuelle Gesellschaft suchen.
Um die zu bekommen, treffe ich mich mit meinen Freunden. Ja, so etwas habe ich tatsächlich. Kaum zu glauben, oder? Auch wenn ich mich bei ihnen in den letzten Monaten ziemlich rar gemacht habe, weiß ich, dass ich jederzeit auf sie zählen kann. Sie sind ein eingeschworener Haufen, den ich durch Rhys, ein ehemaliger Patient von mir und Freund, kennenlernte.
Wie soll ich sagen? Ich hatte keine Chance. Grady, mittlerweile Rhys’ Ehemann, brachte nicht nur eine unüberschaubare Anzahl von Antiquitäten, sondern auch einen Sack voll liebenswerter und verrückter Menschen mit, die mich kurzerhand in ihrer Mitte willkommen hießen. Ich wurde einfach adoptiert. Schon wieder.
Und ich liebe sie alle durch die Bank, egal wen.
Da ist das Cav-House, eine Pension in Portobello, die Duncan und seiner Frau Ellen gehört. Die zwei sind ein Herz und eine Seele und haben vor einem halben Jahr Familienzuwachs bekommen. Die kleine Drew, Ellens Tochter aus einer wirklich miesen Beziehung, läuft mit ihren sechs Jahren stolz wie ein Hahn durch die Gegend und verkündet jedem, dass sie jetzt eine große Schwester ist und niemand ohne ihre Erlaubnis ihren Bruder auf den Arm nehmen dürfe.
Ich freue mich schon darauf, zu sehen, wenn Jamie alt genug ist, um sich zur Wehr zu setzen. Denn sollte er auch nur ein Quäntchen von seiner Mom mitbekommen haben, wird es sehr interessant für die Umwelt. Sie kann zuweilen ziemlich dickköpfig sein.
Zur Pension gehören noch Clara und John, die ebenfalls eine irre Geschichte zu erzählen haben. Ich sage nur: Spätes Glück.
Sie sind der Beweis: Es kann jeden treffen – nur mich nicht. Womit ich nicht andeuten will, dass ich es gerne möchte. Also das Beziehungsdrama, meine ich. Denn früher oder später würde es definitiv darin enden.
Zynisch? Vielleicht. Wer jedoch mit einer Familie wie der meinen gesegnet ist, kann gar nicht anders, als genau so zu werden.
Aber zurück zum Chaostrupp. Da gibt es noch Gradys Schwester und ihren Mann Piet. Oder den total verrückten Sydney und seinen Partner Neal, der wiederum mit Ellen verwandt ist – sie sind Geschwister – spielt im Grunde auch keine große Rolle. Sie gehören irgendwie alle zusammen. Wie eine wild zusammengewürfelte Familie. Und wie schon erwähnt, zählen Rhys und Grady ebenfalls dazu.
Ihr seht also, es mangelt mir nicht an Freunden.
Mit den Gedanken bei meiner Wahlfamilie schlendere ich von meinem Auto über die Cockburn Street in Richtung zu Hause. Ja, dieses Mal meine ich es wörtlich. Ich wohne in der dritten Etage eines Mehrfamilienhauses. Und wie jeden Abend, wenn ich aus dem Haven komme, leere ich als Erstes den Briefkasten, bevor ich die Haustür öffne. Er platzt heute fast aus allen Nähten. Nicht, weil sich so viele persönliche Post darin befindet. Nein, was ich heraushole, besteht überwiegend aus Werbung.
Ich stöbere den Berg Papier durch und was finde ich?
Da hätten wir das neueste und schönste Auto überhaupt, alles, was man sich wünscht und unentbehrlich für den Mann von Welt ist. Na toll, wünschen vielleicht, aber wie sieht es denn mit sich leisten können aus?
Dann die Reiseprospekte. Wer will schon so weit weg?
Oh, und die Hygieneartikel nicht zu vergessen – leider nicht für Männer, sondern nur für die anderen fünfzig Prozent der Menschheit. Mal ehrlich, will ich wirklich wissen, wie sanft irgendein beflügeltes Watte-Dingens irgendwo reingleiten kann?
Ich schüttle mich, ergreife eine Ecke des besagten Werbeflyers mit Daumen und Zeigefinger und trage es mit einem gehörigen Sicherheitsabstand vor mir her, um es augenblicklich in die Tonne gleiten zu lassen. Na bitte, da gleitet wenigstens etwas.
Meine gesamte Ausbeute aus gefühlten fünf Kilo Zeitschriften und diversen anderen Dingen ist sage und schreibe ein ganzer Brief.
Ich drehe und wende ihn und bewundere das Papier. Wow, sieht edel aus. Wo kommt der denn her und ist der überhaupt für mich? Ein Blick auf die Anschrift und es wird mir bestätigt: Ja, mein Freund, der ist einzig und allein für dich.
Und von wem ist er? Von Burns & Associates. Eine Londoner Anwaltskanzlei? Was wollen die denn von mir?
Habe ich etwa was verbrochen, von dem ich nichts mehr weiß? Will mich ein Patient verklagen, weil ich ihn vielleicht falsch behandelt habe? Scheiße! Hoffentlich meldet er sich nicht im Auftrag meines Vaters, denn das würde nichts Gutes bedeuten.
Auf dem Weg die Treppe hinauf zu meinem Apartment grüble ich und komme doch auf keinen grünen Zweig. Das Einzige, was passiert, ist, dass mir mulmig wird. Ich bin mir sicher, ein unbescholtener Bürger zu sein. Zumindest, was das Gesetz angeht, bin ich mir keiner Schuld bewusst.
Immer noch auf den merkwürdigen Brief blickend schließe ich die Wohnungstür hinter mir, streife die Schuhe von den Füßen und hänge meine Jacke an die Garderobe. Allerdings so in Gedanken vertieft, dass sie sofort wieder zu Boden gleitet, weil ich nicht wirklich hingeschaut habe, was ich tue. Aber mir fällt beim besten Willen nicht ein, was dieser Burns von mir wollen könnte.
Ich werde ihn wohl oder übel einfach mal öffnen müssen. Den Kopf in den Sand zu stecken, hilft keinesfalls.
Während ich mit Magensausen am Küchentisch sitze, starre ich auf den vor mir ausgebreitet liegenden Brief. Ich habe ihn jetzt bereits das fünfte Mal gelesen und kann es immer noch nicht glauben.
Burns teilt mir doch tatsächlich mit, dass meine Großmutter verstorben ist und er mir einen Brief von ihr übergeben soll, den er mir nur persönlich aushändigen darf. Er bittet mich darum, ihn zeitnah anzurufen, um mit mir einen Termin in seiner Londoner Kanzlei zu vereinbaren.
Mit allem habe ich gerechnet, aber damit nicht. So wie es aussieht, gab es in meiner Familie tatsächlich noch jemanden, dem ich irgendetwas bedeutet haben muss. Jemand, den mein abartiger Drang, mich mit Männern ins Bett zu legen – ja, das sind die Worte meines Erzeugers – nicht zu stören schien. Und ausgerechnet ist es jemand, dem ich es niemals zugetraut hätte.
Ich weiß nicht, ob ich heulen oder lachen soll. Mein Gefühlsleben ist komplett aus den Fugen geraten und steht im Augenblick auf dem Kopf.
Auf den Schreck brauche ich ein Bier.
Mit der Flasche in der einen Hand und dem Brief in der anderen sinke ich auf mein Sofa und genehmige mir einen tiefen Schluck. Ich lehne mich zurück, schließe die Augen und denke an eine Zeit, die ich glaubte längst hinter mir gelassen zu haben.
*Ende der Leseprobe*
Texte: Nele Betra
Bildmaterialien: shutterstock / Nele Betra
Lektorat: Bernd Frielingsdorf
Tag der Veröffentlichung: 27.07.2016
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