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Leseprobe Kapitel 1-3

Uraltgedöns

- Grady -

 

»Oh Mann, ich fass es nicht! Ich habe es tatsächlich gefunden«, rufe ich begeistert aus, während mein Blick selig am Bildschirm vor mir hängt.

»Grady Lovell, wovon zum Teufel redest du da?! Und warum musst du mir immer so einen Schrecken einjagen? Ich sag dir, irgendwann falle ich einfach vom Stuhl, dann kannst du zusehen, wie du meine Überreste entsorgst«, entgegnet Simon mit genervtem, aber zugleich amüsierten Unterton.

Ich schaue grinsend über den Monitor in seine Richtung. »Na, noch sitzt du ja aufrecht, also kann es nicht so dramatisch sein, wie du behauptest.«

»Wir werden sehen«, nörgelt mein Freund zurück. »Erzählst du mir jetzt, was du gefunden hast?« Schwungvoll stößt er sich mit seinem Drehstuhl vom Schreibtisch ab und rollt mit den Füßen trippelnd um den Tisch auf meine Seite, schaut mir über die Schulter und stöhnt auf. »Ach komm schon, das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«

»Wieso denn nicht?«

»Wieso?« Simon deutet auf das Bild. »Weil es im Grunde auf den Sperrmüll gehört? Wer stellt sich denn bitte so altes Zeug in die Wohnung?«

Entrüstet über sein Unverständnis, was meine Sammelleidenschaft betrifft, werfe ich ihm einen bösen Blick zu. »Na ich. Und das ist kein altes Zeug, das sind Antiquitäten.« Ich wende mich ihm zu und schiebe ihn von mir. »Du hast keine Ahnung. Also schwing deinen Hintern einfach wieder auf deine Seite zurück und tu so, als hätte ich nichts gesagt.«

»Warum denn gleich so angepisst?«

Simon hat recht, ich bin verärgert, aber ich winke nur verächtlich ab. »Vergiss es einfach.«

Er wirft entnervt seine Hände in die Luft. »Wie du willst. Aber solltest du dieses Ding kaufen und in deine Höhle schleppen wollen, frag nicht, ob ich dir dabei helfe.«

Wer ist jetzt angepisst? Ich grinse Simon an und werfe ihm einen Luftkuss zu. »Wie kommst du nur auf diesen Schwachsinn? Ich will nicht den wunderschönen Schreibtisch kaufen, dafür hätte ich keinen Platz mehr, leider«, seufze ich sehnsuchtsvoll, denn es ist ein Prachtstück von Sekretär. »Zumal ich ja schon einen besitze. Ich suche seit Jahren nach genau so einem Füllfederhalter – einer der ersten seiner Art. Oh, und ich liebe dich auch, mein Freund.«

»Das ist wohl so!«, kommentiert er meine letzten Worte und kann sich ein Grinsen doch nicht verkneifen. »Was in Herrgotts Namen willst du nur damit? Ich werde es nie verstehen, weshalb du dich mit Uraltgedöns umgeben musst.«

Keine Ahnung, wie oft wir ebendiese Diskussion schon geführt haben. Aber ich kann es einfach nicht lassen, ihm immer wieder zu erklären, warum ich dieser Leidenschaft verfallen bin. »Stell dir doch bloß mal vor, diese wundervollen Gegenstände könnten reden. Kannst du dir nur annähernd ausmalen, was sie alles zu berichten hätten?«

»Tja, und da haben wir das Problem. Sie können es eben nicht«, hält Simon dagegen und lehnt sich mit verschränkten Armen in den Stuhl zurück. Sein Blick ist herausfordernd auf mich gerichtet, als würde er nur darauf warten, dass ich seiner Argumentation nicht beipflichte, die für ihn absolut hieb- und stichfest ist.

»Ja gut, du hast ja in gewisser Weise recht.«

Damit bringe ich ihn aus dem Konzept und sein Unterkiefer klappt erstaunt herunter, da er nicht mit meiner Zustimmung gerechnet hat.

»Natürlich setzen wir uns nicht in einen Stuhlkreis, um uns auszutauschen«, erkläre ich mit einem Augenzwinkern. Die Vorstellung allein amüsiert mich irgendwie. Das hätte was von einer Selbsthilfegruppe. Wir könnten uns die Anonymen-Antiquitäten-und-deren-Sammler nennen. Ne, das geht nicht, wäre eindeutig zu lang. Wie würde ›Willkommen bei den AAudS‹ denn auf einem Flyer aussehen? Und außerdem wollen wir ja nicht von unserer Sucht geheilt werden.

»Grady?! Wo bist du nur mit deinem Kopf?«, reißt mich Simon barsch aus meinen wirren Überlegungen.

»Ähm … was ich damit sagen will, ist, dass mich die Geschichte hinter jedem einzelnen Stück interessiert. Oftmals ist sogar bekannt, wem sie gehörten. Und …« Ich verfalle schon wieder ins Dozieren, was Simon sofort unterbricht.

»Ist ja auch egal. Du musst schließlich selber wissen, wofür du dein schwerverdientes Geld ausgibst«, lenkt Simon doch noch ein.

Wie gesagt, ist diese Unterhaltung nicht neu für uns. Wir kennen uns bereits seit der Highschool. Viel Zeit, um alte Themen aufzuwärmen.

Ich hatte schon immer ein Faible für Geschichte. Mich nannten sogar die unterbelichtetsten Sportskanonen Doc und tätschelten mir vorsichtig, aber respektvoll die Schulter. Letzteres vermutlich meiner Körperstatur geschuldet. Ich gehörte stets zu den Größten. Und da ich seit meiner Jugend in Dads Schreinerei mitgeholfen hatte, war ich sehr frühzeitig muskulös gebaut. Auf der Highschool versuchten sie nicht nur einmal, mich dazu zu überreden, ins Rugbyteam einzutreten. Absolut nicht mein Ding, sage ich da nur.

Missmutig, weil unsere Mittagspause vorüber ist, speichere ich den Link ab und schicke ihn mir auf meinen privaten E-Mail-Account, um am Abend die Sache näher in Augenschein zu nehmen.

Ich atme tief durch, zwinge mich, der Versuchung zu widerstehen, nicht doch noch sofort Kontakt mit dem Besitzer aufzunehmen. Halbwegs erfolgreich wende ich mich dem Grund zu, aus dem ich hier bin – nämlich, um meinen Job zu erledigen.

Simon und ich sind nicht nur Freunde, sondern auch Kollegen. Nachdem wir unser Studium abschlossen, hatten wir das Glück, an eine ambitionierte, aufstrebende kleine Firma zu geraten, die im Begriff war in Edinburgh einen Namen für luxuriöse Inneneinrichtung zu erlangen. Wir beraten, planen und führen aus. Alles aus einer Hand.

Aber egal, ich will hier keine Werbung für uns machen. Was mir jedoch am meisten gefällt, ist, dass in all den Jahren, seitdem wir hier tätig sind, diese nicht expandierte. Das Klima ist seit jeher familiär und das ist auch gut so. Wir sind ein eingeschworenes Team.

Dass keine weiteren Kollegen mehr eingestellt werden, liegt nicht an mangelnden Aufträgen. Eher im Gegenteil, wir führen sogar eine Warteliste für Kunden. Unsere Chefin meinte vor geraumer Zeit: »Jungs, Masse ist nicht Klasse. Lieber verzichte ich auf ein Projekt, als mich unter Druck setzen zu lassen.« Soll heißen: Wir sind in der glücklichen Lage, uns die Kunden auszusuchen.

Nun denn, zurück an die Arbeit. »Also gut, dann erzähl mir doch noch, welche Lieferanten wir für das neue Vorhaben anfragen müssen.«

Simon ist bereits wieder mitten in der Planung und nuschelt gedankenverloren: »Warte, ich schick dir die Aufstellung auf deinen Desktop.«

Nachdem ich etliche Preisanfragen versandt habe, klären wir die weitere Vorgehensweise, stellen einige Termine für unsere Chefin in die Agenda und machen – zu meiner grenzenlosen Freude – pünktlich Feierabend.

Auf dem Weg zum Parkplatz stoppt mich Simon. »Hey, heute noch was vor? Wenn nicht, lass uns auf einen Absacker gehen.«

Reflexartig wandert eine Augenbraue auf meine Stirn. Wirklich? Er will mich ausgerechnet heute zu einem Drink mitschleppen?

Simon tritt beim Anblick meiner Miene einen Schritt zurück und hebt beschwichtigend die Hände. »Ist ja schon gut. Hab vergessen, dass du ein Date mit deinem Füller hast.«

Ich tätschle ihm den Arm. »Nicht böse sein, ja? Vielleicht ein andermal.«

Nachtragend war Simon noch nie, weshalb er auch diesmal nicht stinkig ist, sondern mir nur zuzwinkert und meint: »Ich wünsch dir viel Spaß.«

»Dito. Wir sehen uns morgen früh«, verabschiede ich mich und steige ungeduldig ins Auto. Nichts wie nach Hause. Ich muss unbedingt wissen, was es mit meinem Internetfund auf sich hat.

 

Kaum daheim schlüpfe ich in meine Wohlfühlklamotten, bestehend aus Gammelshirt und ausgeleierter Jogginghose. Nach einem hastigen Abstecher in die Küche setze ich mich mit belegten Broten und einem heißen Tee auf die Couch. Dort klappe ich meinen Laptop auf, der wie gewohnt vor mir auf dem Tisch steht und auf seinen Einsatz wartet. Mümmelnd und voller Vorfreude die Hände reibend warte ich, bis er hochgefahren ist, und rufe meine Mails ab.

»Ah, da bist du ja, mein Schätzchen«, murmle ich mit kauend und klicke den Link zum Forum. Es werden Zugangsdaten abgefragt, die Seite öffnet sich nach deren Eingabe und ich verfalle augenblicklich ins Schmachten, als die Nahaufnahme auf dem Bildschirm erscheint. »Was für ein wunderschönes Stück«, seufze ich gefühlsduselig. Was mich zum Grinsen bringt. Mann, bin ich froh, allein zu leben. Ich hätte keine große Lust dazu, ständig blöde Diskussionen darüber führen zu müssen, warum ich mich für … wie sagt Simon immer so schön? … Uraltgedöns interessiere. Aber, zurück zum Objekt meiner Begierde.

In diesem Internetforum bin ich bereits jahrelang Mitglied, weshalb ich weiß, dass nur vertrauensvolle Personen aufgenommen werden. Dennoch, Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Selbst hier, wo die Admins extrem sensibel mit dem Thema Fälschung umgehen, kann es schwarze Schafe geben. Im Zeitalter des anonymen World Wide Webs ist die Versuchung umso größer für diejenigen, die es darauf anlegen. Was mich dazu bringt, einmal im Profil des Anbieters nach weiteren Informationen stöbern zu gehen. Wollen wir doch mal schauen, was er oder sie für Angaben hinterlassen hat.

»Hm, Russel. Scheint wohl ein Mann zu sein. Zumindest, wenn es nach dem Usernamen geht.« Ob er sein realer Name ist, steht in den Sternen. Was im Grunde auch kein Problem darstellt. Wer will schon immer seine persönlichen Daten für jedermann zugänglich machen? Allerdings wird sich die Frage spätestens beim ersten Kontakt klären, hoffe ich.

Ich könnte jetzt noch stundenlang das Netz nach vergleichbaren Angeboten durchforsten. Das wäre aber vertane Liebesmühe, denn ich kenne die Auswahl. Schließlich suche ich seit Jahren nach genau so einem Schreibgerät.

Also, was soll’s. Ich öffne auf seiner Profilseite das Nachrichtenfenster. Während ich nachdenke, wie ich am besten beginne, scrolle ich über seine Seite und sehe, dass eine ganze Menge mehr an Antiquitäten gelistet sind. Ist mir vorher gar nicht aufgefallen. Und sieh mal einer an, dort wird auch der Sekretär aufgeführt, den ich für mein Leben gerne erstehen würde, hätte ich ein größeres Haus.

Hat der Typ einen Laden? Mein Blick gleitet über die nächsten Positionen. Die Stücke stammen durch die Bank aus einer Epoche und scheinen zusammenzugehören, was der Theorie mit dem Antiquitätengeschäft widerspricht. Außer, er hätte sich spezialisiert. Aber nein, das kann ich mir nicht vorstellen.

Ja, hört sich komisch an, dennoch sieht es nun mal für mich so aus. Es macht den Eindruck, als würde da jemand eine Sammlung verhökern, vielleicht auch heiße Ware aus einem Einbruch. Ne, Letzteres glaube ich nun nicht wirklich.

Will er tatsächlich eine Sammlung auseinanderreißen? Herrgott, das kann er doch nicht machen! Ich kräusele abfällig die Nase, als würde ein übler Geruch aufsteigen – denn hier stinkt gewaltig was zum Himmel – während meine Finger nur so über die Tastatur fliegen und meiner Entrüstung Luft verschaffen.

Mein Herz schlägt mir vor Empörung bis zum Hals und mein Magen verknotet sich bei dem Gedanken, da könnte jemand so dumm sein und eine wertvolle Sammlung auseinanderreißen wollen, nur um die Knete einzusacken. Warum ich auf so etwas Irrwitziges komme? Kann ich nicht erklären. Ich weiß nur, sollte das der Fall sein, gehört demjenigen das Handwerk gelegt.

Verärgert hämmere ich auf der Maus herum, um diesen verschissenen Sendebutton zu bestätigen.

Erledigt.

Na, dir werd ich helfen, denke ich grimmig, sinke erschöpft in die Kissen und beruhige mich langsam wieder. Derweil ich an meinem Tee nippe, fällt mir urplötzlich ein, dass ich nach dieser Nachricht an den ominösen Russel wohl nicht mehr damit rechnen kann, den wunderbaren Füllfederhalter irgendwann mein Eigen nennen zu dürfen. Mist! Ich und meine Impulsivität.

 

~*~

Schließlich habe ich ihn geliebt

- Rhys -

 

»Du solltest noch eine Runde am Laufbarren dranhängen, mein Lieber.«

Außer Atem und am Ende meiner Kräfte lasse ich mich mit auf den Lehnen abgestützten Händen Stück für Stück in meinen Rollstuhl sinken und schaue Cameron genervt von der Seite an. »Du kannst mich mal!«

Scheinbar gelangweilt gegen die Wand gelehnt grinst er mich schief an. »Du weißt aber schon, dass du mich so nicht kleinkriegst, oder?«

»Wenn es sein muss, wiederhole ich mich gern für dich. Du kannst mich mal!«, grummle ich und zeige ihm meinen gestreckten Mittelfinger.

Cameron zuckt nur unbeeindruckt mit den Achseln. »Na ja, das funktioniert zumindest reibungslos.«

»Sei so gut und geh mir nicht auf den Zeiger, okay?«, bitte ich ihn inständig. Heute ist kein guter Tag, um meine Nerven zu strapazieren.

Ha, was für ein Blödsinn. Denn mein letzter liegt genau genommen zwei Jahre, acht Monate und einundzwanzig Tag zurück. Woher ich das so genau weiß? Die Frage ist simpel zu beantworten: Vor zwei Jahren, acht Monaten und zwanzig Tagen ist mir die Liebe meines Lebens genommen worden.

Endlich, nach all den Jahren der innigen Freundschaft und des standhaften Leugnens seinerseits, begriff er, dass ich mehr für ihn war als sein Freund. Und was machte das Schicksal, diese miese Schlampe? Sie lässt ihn mit einem Liebesgeständnis auf den Lippen seinen letzten Atemzug tun. Tja, war nicht die beste Zeit. Und die, die danach folgte, wurde nicht besser.

Ich schnaufe tief durch und schaue Cameron entschuldigend an. Er hat es wahrhaftig nicht verdient, von mir so blöd angemacht zu werden. »Sorry, Kumpel. Lass uns einfach Feierabend machen, okay? Morgen ist auch noch ein Tag.«

Cameron stößt sich von der Wand ab, neigt seinen Kopf, runzelt die Stirn, als müsse er über etwas nachdenken oder würde versuchen in mich hineinzuschauen, und durchquert den Trainingsraum, um vor meinen Beinen in die Hocke zu gehen und seine Hände auf meine Knie zu legen. »Sicher. Und übermorgen und überübermorgen. Solange du dir das weiterhin vor Augen hältst. Versprich mir, mich nicht hängen zu lassen, dann können wir jetzt gehen.«

Okay, mittlerweile ist er ein guter … nein, mein einziger Freund, wenn man ihn denn überhaupt so nennen kann. Ich tätschle Cam die Hand und nicke. »Klar doch. Wie du immer so schön sagst, einen Tag nach dem anderen. Weißt du, eigentlich hast du den Beruf verfehlt. Du hättest Seelenklempner werden sollen«, trieze ich ihn im Versuch, die unterschwellige Spannung aus unserer Unterhaltung zu nehmen. Die Richtung, in die sie abgleitet, gefällt mir nicht.

»Nö, das ist mir zu anstrengend. Aber für dich habe ich immer eine Couch in der Nähe. Also fühl dich jederzeit eingeladen, wenn du jemanden zum Quatschen brauchst.« Die letzten Worte bringt er in einem überaus ernsten Tonfall heraus und seine Miene ist regelrecht flehentlich.

»Du hast mir das schon so oft angeboten, irgendwann …« Ich räuspere mich ergriffen, schlucke um den Kloß herum, der wegen seines Mitgefühls in meinem Hals feststeckt. Ich glaube, er ist der Einzige, bei dem ich nicht auf Abstand gehe, wenn er mir zeigt, wie besorgt er ist. Wobei es ja nicht mehr sehr viele Menschen in meinem Leben gibt, die sich freiwillig in meiner Nähe aufhalten. »Danke, mein Freund. Ich weiß das wirklich zu schätzen«, flüstere ich, straffe meine Schultern und setze mein übliches Grinsen auf, das aller Welt zeigen soll: Seht her! Mir geht’s prächtig.

»Wir sehen uns morgen, in alternder Frische«, scherze ich, treibe die Räder mit meinen Händen an und verschwinde in die Umkleidekabine.

Hinter mir höre ich ihn nur feixen und hinterherrufen: »Alternder Frische? Rhys, du bist manchmal echt ein Spinner.« Nun gut, Cam habe ich somit wieder von meiner Spur gelockt. Das beruhigt mich dann doch.

Ich suche mein Handy aus der Tasche und rufe meine Mutter an.

Nach dem ersten Klingelton ist sie bereits in der Leitung. »Hi, Schatz, bin schon auf dem Weg«, werde ich sofort von ihr begrüßt.

Die Selbstverständlichkeit, mit der sie alles für mich versucht zu realisieren, verschafft mir permanent ein schlechtes Gewissen. Eben dieses wächst und wird von Tag zu Tag unerträglicher, denn schließlich bin ich 34 Jahre alt und sollte langsam allein klarkommen – auch und gerade wegen meines Handicaps.

»Mum! Kein Stress. Lass dir bitte Zeit. Ich muss eh noch duschen. Wenn du in einer dreiviertel Stunde hier bist, reicht es allemal, okay?«

»Oh, das ist wunderbar, dann kann ich vorher noch fix im Laden vorbeischauen. Ich wollte dir doch heute Abend dein Lieblingsessen kochen.«

Ich stöhne innerlich auf. »Nein, mach dir bitte nicht solche Umstände. Ich muss echt nicht jeden Abend bekocht werden«, wiegele ich ab. Eine weitere Sache auf der Liste für schlechtes Gewissen.

Ich liebe meine Mutter, und ja, ich verstehe, warum sie sich so aufopfert. Als ihr einziger Sohn und ohne Ehemann – mein Dad hat uns sitzenlassen, da muss ich zehn oder so gewesen sein –, hat sie nicht mehr viel Familie, die sie mit ihrer Fürsorge überschütten könnte. Ich kann somit nicht behaupten, dass sie vor meinem Unfall anders war. Sie hat mir schon immer jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Allerdings bin ich der Meinung, es wird Zeit, dass sie anfängt ihr eigenes Leben zu leben. Bestenfalls mit einem Partner, der sie schätzt und liebt, so wie sie ist.

»Papperlapapp! Erzähl keinen Unsinn. Dann also bis gleich«, entgegnet sie rüde und legt auf, ohne meine Antwort abzuwarten.

Ich schaue das Telefon in meiner Hand an und schüttle den Kopf. »Sie ist einfach unmöglich«, grummele ich und beginne mich auszuziehen. Wie ich meine Mutter kenne, steht sie mit Sicherheit bald auf der Matte, selbst wenn ich ihr sage, sie kann sich Zeit lassen.

Und tatsächlich sitzt sie wartend in der Umkleide, als ich frisch geduscht zurückkehre.

 

»Schätzchen, kann ich dir noch einen Nachschlag geben?«

Ich seufze und reibe demonstrativ meinen Bauch. »Mom, echt, ich bekomme keinen Bissen mehr runter. Es war wie immer sehr lecker, danke.« Natürlich gab es wie von ihr angekündigt Cullen Skink. Eine Fischsuppe aus Kartoffeln, Zwiebeln, geräuchertem Fisch und Milch, welche eigentlich als Vorspeise serviert wird. Nur nicht bei den Bishops. Bei uns gab es sie schon immer als Hauptgang. Zumindest solange ich denken kann. Was wahrscheinlich daraus resultiert, dass ich mich bereits im Kleinkindalter hätte reinsetzen können. Ich verweigerte einfach die Hauptmalzeit, wenn ich wusste, dass der Topf mit Cullen Skink noch nicht geleert war.

Mom räumt die Teller in die Spüle, stellt mir ein Glas Orangensaft vor die Nase und drückt liebevoll meine Schulter. »Schön, wenn es dir geschmeckt hat. Und, wie war das Training? Hat dich Cameron wieder bis an deine Grenzen getrieben? Ich sag dir, mein Junge, in ihm steckt ein Drill Sergeant«, erklärt sie erst total ernsthaft, bevor sie zu kichern beginnt. »Hab ich dir eigentlich schon mal gesagt, dass ich ihn mag? Er ist ein wunderbarer Mann.« Sie versucht es beiläufig klingen zu lassen. Was ihr jedoch nicht so recht gelingt. Es ist auch nicht das erste Mal, dass sie von Cameron schwärmt. Seit fast zwei Jahren liegt sie mir damit in den Ohren. Was nur ihre Hartnäckigkeit unter Beweis stellt.

Ich stöhne genervt, bevor ich jammere: »Mom, bitte nicht. Cameron ist ein guter Mann, da hast du vollkommen recht. Und ich mag ihn. Aber nur als Freund, okay?« Was nicht daran liegt, dass Cameron hetero wäre. Ist er nämlich nicht.

Das Thema haben wir recht schnell abgehakt. Ich glaube, das war ungefähr drei Monate nach unserer ersten Therapiestunde. Ich kann mich gar nicht mehr genau erinnern, wie wir darauf gekommen sind. Das Ergebnis war, dass wir uns beide voreinander geoutet haben. Seitdem ist nie wieder ein Wort darüber gefallen.

Nun ja, man könnte es darauf schieben, dass ich gesundheitlich nicht unbedingt auf der Höhe bin. Aber das ist es nicht. Cameron entspricht absolut nicht meinem Beuteschema und ich nicht seinem, da bin ich mir ziemlich sicher. Was natürlich vieles erleichtert.

Beuteschema? Tja, darüber habe ich mir lange keinen Kopf mehr gemacht. Und damit sollte ich jetzt nicht anfangen, schon gar nicht in der Küche meiner Mutter. Also wirklich.

»Mom, kann ich dir helfen?«

»Nö, ist ja so weit alles in Ordnung. Ich reinige noch den Topf und dann werde ich mich zurückziehen. Ich wollte noch Kate anrufen.«

»Okay, dann verschwinde ich auf mein Zimmer. Grüß sie bitte von mir, ja?«

»Ja klar, gern. Da freut sie sich sicher drüber. Oh, könnte sein, dass ich mich morgen mit ihr zum Kaffee treffe. Das geht doch in Ordnung, oder?«

»Natürlich, was für eine Frage. Ich hab morgen eh nichts weiter vor. Außer natürlich die Reha.«

»Bis dahin bin ich lange zurück.« Ich schaue ihr hinterher, wie sie zum Vorratsschrank läuft und darin herumkramt, bevor sie zu mir kommt und eine Schale und Cola in meinem Schoß deponiert. »Hier ist noch Knabberzeug, Schatz.« Ein liebervoller Kuss landet auf meiner Stirn. »Aber wenn möglich, stell den Fernseher nicht wieder so laut.«

Ich salutiere, ehe ich durch die Küchentür hinaus in den Flur rolle. »Wird gemacht, Ma’am.«

 

Nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus nahm mich meine Mutter ohne großes Aufsehen zu sich. Meine Wohnung wurde aufgelöst und die Möbel eingelagert. Ein Bekannter von ihr richtete das Erdgeschoss rollstuhlgerecht her. Eine Rampe wurde vor dem Haus montiert, damit ich die drei Stufen hinauf zur Eingangstür eigenständig überwinden kann, und das Bad, welches an mein Zimmer grenzt, wurde umgebaut. Die Dusche ist nun barrierefrei, damit ich notfalls mit fahrbarem Untersatz hineingelange. Mittlerweile kann ich mich glücklich schätzen, ein paar Schritte ohne fremde Hilfe zu schaffen. Es kostet zwar unendlich viel Kraft, aber es ist ein Fortschritt. Klar, nach zwei Jahren sollte es auch so sein. Zumindest sind die Ärzte guter Hoffnung, dass es nicht der Endzustand ist. Es wird mit viel Training immer besser werden. Auf den langen Zeitraum gesehen sind es für mich jedoch kaum messbare Erfolge. Was unterschiedliche Emotionen bei mir erzeugt. Es gibt Tage, da ist es mir so was von egal und ich würde mich am liebsten irgendwo vergraben und an anderen geht es mir nicht schnell genug. Mittlerweile bin ich so weit, dass letztere überwiegen – also manchmal.

Ich schließe die Zimmertür hinter mir, durchquere den Raum und schalte meinen Fernseher ein. Im Grunde interessiert mich nicht, was dort läuft, aber es gibt mir das Gefühl, nicht allein zu sein.

Dass Dad uns das Haus überlassen hat, ist nicht nur aus heutiger Sicht ein Glücksfall. Für Mom fielen nur die üblichen Nebenkosten an und sie hatte somit genug Platz, um mich mit Rollstuhl im Gepäck wieder bei sich einziehen zu lassen. Warum er uns so bereitwillig das Haus überließ, will mir immer noch nicht so recht in den Kopf. Ich war einfach zu jung. Mit zehn spukten mir andere Dinge durchs Hirn, die mich zu sehr beschäftigten, um mich an alles zu erinnern. Allerdings sehe ich eins glasklar vor meinem inneren Auge: Es war unvorhersehbar und ging verdammt schnell. Jedes Mal, wenn ich meine Mutter darauf anspreche, was damals passiert ist, macht sie dicht. Vielleicht ist sie ja irgendwann bereit mir die ganze Geschichte zu erzählen. Mein Vater hat sich jedenfalls nie wieder bei uns blicken lassen. Das tat zu Beginn weh, keine Frage.

Am Schreibtisch stelle ich die Schüssel mit den Chips und mein Getränk ab, klappe den Laptop auf und warte, dass er hochfährt.

Mein Blick wandert auf die Zeitanzeige des Bildschirms. Ist noch früh am Tage. Vor Jahren hätte ich garantiert nicht um acht auf meinem Zimmer gehockt, die Glotze angestellt und vor dem Rechner gesessen. Nein, um diese Zeit hätte ich mich landfein gemacht und wäre auf die Jagd gegangen.

Wie, das könnt ihr euch nicht vorstellen? Doch, so war es. Ja, ich hatte mein Herz an meinen besten Freund Russel verloren, lange bevor ich erwachsen wurde. Das hieß jedoch nicht, dass ich keine Bedürfnisse hatte, die befriedigt werden wollten. Ist ja auch nichts dabei. Ein- oder zweimal in der Woche auf die Pirsch zu gehen, um Druck abzulassen, war in Ordnung. Abgesehen von der Notwendigkeit hatte ich nie ein Problem, klare Grenzen zu ziehen. Meine Einstellung war kein Geheimnis und das schien sich rumgesprochen zu haben. Anonymer Sex war akzeptabel. Die Kerle, mit denen ich etwas hatte, wussten das. Ich war auch gerne für eine Wiederholung, wenn der Typ mich scharfmachte, aber mehr gab’s nicht. Mehr konnte ich nicht geben, denn wie schon erwähnt gab es nur einen für mich, Russel. Womit mir wieder der Grund in den Sinn kommt, weshalb ich den Rechner angeschaltet habe. Ein weiterer Versuch, in mein Leben zurückzufinden.

Russel hatte eine Vorliebe für Antiquitäten. Seit ich ihn kenne, war er auf der Suche nach alten Dingen. Ihm gefiel die Idee, welche Geschichten sie erzählen. Bei einigen Stücken, die er später erstanden hatte, war es zum Teil sogar dokumentiert und verbrieft.

Um ehrlich zu sein, dahinter gestiegen bin ich nie. Aber es gehörte zu ihm, wie alles andere auch. Es war nur eine Facette von ihm. Und ich liebte jede einzelne. Warum er ausgerechnet mir seine Sammlung vermachte, werde ich wohl nie erfahren.

Nun ja, es wird Zeit, Abschied von ihm zu nehmen. Jetzt nach zwei Jahren und acht Monaten bin ich vermutlich endlich so weit es zu versuchen. Zu dieser Erkenntnis bin ich nicht einfach so gelangt. Das war ein steiniger Weg. Aber dazu später mehr.

Natürlich wohnte ich seiner Beisetzung bei und besuchte danach hunderte Male sein Grab. Und ja, ich war auch der Letzte, der an seinem Krankenbett saß und seine Hand hielt. Aber wirklich Abschied genommen habe ich nie. Es ging einfach nicht. Nach all den Jahren des Hoffens, kam es mir zu endgültig vor, wenn ich seinen Tod einfach so akzeptiert hätte.

Das will ich nun versuchen, indem ich jedes einzelne Stück seiner Sammlung an jemanden abgebe, der es zu schätzen weiß, seine Leidenschaft teilt. Natürlich klingt das total irre. Schließlich habe ich ihn geliebt – tue es immer noch –, sollte also sein Andenken in Ehren halten. Aber im Grunde brauche ich nichts Materielles, um mich an ihn zu erinnern. Er wird immer einen besonderen Platz in meinem Herzen haben. Vielleicht ist es auch nur ein Versuch, mich Stück für Stück wieder ins Hier und Jetzt zurückzubringen. Natürlich haben wir nie darüber gesprochen, aber ich glaube zu wissen, er würde nicht wollen, dass ich mein Leben aufgebe. Eine Einsicht, die mir erst klar werden musste. Und ja, es wird mir verdammt noch mal schwerfallen, das weiß ich. Nichtsdestotrotz muss es sein. Ich sehe keinen anderen Weg, um endlich Abschied zu nehmen.

Mir geht es keineswegs darum, so viel Geld wie möglich aus dieser Aktion zu schlagen. Das könnte ich einfacher haben, indem ich einen Fachmann die Sachen bewerten ließe und sie für das Geld anbiete.

Als vor ein paar Tagen mein Entschluss feststand, habe ich in Russels Unterlagen, die zu seiner Sammlung gehören, Zugangsdaten für ein Internetforum gefunden, wo eben genau diese Dinge angeboten und diskutiert werden. Nachdem ich die Plattform konkreter unter die Lupe nahm, entschloss ich mich, seinen Zugang einfach weiter zu nutzen. Russel war ein vorsichtiger Mensch, wenn er also dort angemeldet war, dann vertraute er den Mitgliedern. Der Vorteil liegt auf der Hand. Ich muss meine Identität nicht sofort preisgeben und kann notfalls im Forum Informationen einholen, die ich anderswo vielleicht nie bekommen würde.

Ich öffne die Internetseite und werde durch ein sanftes Klingeln und das Aufploppen eines Fensters darüber informiert, dass ich eine Nachricht erhalten habe. Wow, das ging ja mal schnell.

Mit einem merkwürdigen Gefühl, das sich wie ein schlechtes Gewissen in meiner Magengegend herumtreibt, rufe ich die Message ab, die augenblicklich auf meinem Bildschirm erscheint.

 

von: g.love

an: russel

Sehr geehrter Mister …

leider ist mir Ihr Nachname nicht bekannt. Mir widerstrebt es, Sie mit Ihrem Usernamen anzureden, denn ich gehe fast davon aus, dass Russel Ihr tatsächlicher Vorname ist.

Aber egal. Das ist im Grunde auch nicht wirklich wichtig, da ich nicht vorhabe weitere Nachrichten an Sie zu versenden, als die, welche Sie gerade von mir erhalten haben.

Ich werde mich kurzfassen, denn mir kommt bereits jetzt die Galle hoch, wenn ich nur darüber nachdenke, dass Sie eine wundervolle Sammlung auseinanderreißen wollen. Wieso, weshalb, warum ist mir schleierhaft. Und vielleicht denken Sie, Sie hätten einen triftigen Grund. Aber ich sag Ihnen eins: Den gibt es nicht!

Eigentlich hatte ich mich darüber gefreut, mit Ihnen wegen des angebotenen Schreibgerätes ins Geschäft zu kommen und mir somit einen lang gehegten Traum zu erfüllen. Aber das werde ich nicht tun, nicht bei Ihnen. Da warte ich liebe weitere zehn Jahre oder verzichte ganz darauf. Was ich eigentlich sagen will, ist: Schämen Sie sich.

 

Ich starre auf den Bildschirm und kann nicht fassen, was ich da lese. Nach dem dritten Versuch zu begreifen, was mir der Kerl so unfreundlich vorwirft, werde ich immer zorniger. Der Typ hat sie doch nicht mehr alle. Glaubt er, ich würde seinen unqualifizierten Kommentar einfach so hinnehmen? So weit kommt’s noch.

 

von: russel

an: g.love

Da ich von Ihnen nicht einmal den Vornamen kenne, verzichte ich gleich mal komplett auf eine Anrede. Was Sie sicher nicht weiter stören wird, denn mit Freundlichkeit sind Sie ja nun auch nicht gesegnet.

Was die Sammlung angeht, nur eins: Es geht Sie einen Scheiß an, was ich mit meinem Eigentum mache.

Und ganz sicher werde ich nicht anfangen, mich für irgendetwas, was Sie sowieso nie verstehen würden, zu rechtfertigen.

Ich wünsche Ihnen ein schönes Leben.

 

PS:

Trotz Ihrer ungehobelten Art hoffe ich, dass Sie niemals in eine Situation geraten, in der Sie keinen anderen Ausweg sehen, als das zu tun, was Sie eigentlich nie wollten.

 

Ohne noch mal über das Geschriebene zu schauen, schicke ich es ab und knalle den Deckel vom Laptop zu. Dieses Arschloch kann mich mal.

Mir ist die Lust vergangen, weiter im Netz zu surfen. Ich schnappe mir Chips und Cola, bugsiere sie zum Couchtisch, stelle sie dort ab und hieve mich aus meinem Rollstuhl aufs Sofa. Cameron würde jetzt wieder die Augen verdrehen und mich ein faules Stück schimpfen. Aber mal im Ernst, ich habe heute keinen Bock mehr.


~*~

Freunde

- Grady -

 

Simon und ich sitzen zu Mittag in der Rose Street, genießen die Sonne, die uns wärmend auf den Pelz scheint, und vertilgen jeder einen Burger mit allem drum und dran, als mein Freund mich aus heiterem Himmel fragt: »Du sag mal, was ist jetzt eigentlich aus deinem Date geworden?«

Mit offenem Mund und einem heiß geliebten Zwiebelring auf halbem Weg dorthin halte ich inne und runzele die Stirn. »Date? Wovon redest du?«

»Herrgott, dein Füllerdate. Du weißt schon, das Teil, was du im Netz gefunden hast und total happy drüber warst. Ich hab nichts mehr deswegen von dir gehört.«

Ich lege den frittierten Ring zurück auf den Teller, als mir klar wird, wovon Simon spricht. Augenblicklich ist meine Wut über den Unverstand des Typen aus dem Forum zurück. »Daraus ist nichts geworden. Stell dir nur mal vor, der Kerl reißt da wahrscheinlich eine Sammlung auseinander, die jemand jahrzehntelang zusammengetragen haben muss. Wie kann man nur?!«

Simons Augenbrauen wandern in die Höhe und mich trifft sein erstaunter Blick. »Wow, sag nicht, dass du getan hast, was ich denke, dass du getan hast. Und woher willst das eigentlich wissen? Hast du ihn gefragt?«

Ich werfe entrüstet meine Hände in die Luft. »Ich habe keine Ahnung, was du glaubst zu wissen. Aber ich kann das doch nicht unkommentiert hinnehmen. Ich hab ihm meine Meinung darüber kundgetan und das war’s.«

»Kundgetan? Ehrlich?«, amüsiert sich Simon. »Das ist jetzt zwei Wochen her. Willst du mir sagen, dass es keine Antwort von ihm gab?«

An einem Chip knabbernd ziehe ich die Schultern hoch und schüttle den Kopf, bevor ich nuschle: »Ich war seitdem nicht wieder im Forum.« Das hat mehrere Gründe, wenn ich ehrlich bin. Erstens ist es mir extrem peinlich, so impulsiv gehandelt zu haben, und zweitens nervt es mich insgeheim immer noch, dass ich mir das Angebot mit meiner idiotischen Reaktion hab durch die Lappen gehen lassen. Also war ich einfach nicht mehr online. Ich würde mich nur grün und blau ärgern.

»Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Was hast du gemacht?«

Scheiße, Simon kennt mich viel zu gut. »Vielleicht bin ich ein wenig unhöflich gewesen.«

Simons Gesicht erstarrt zu einer fassungslosen Miene, als ich ihm die Details meines hitzköpfigen Schriftverkehrs erzähle, bevor er seinen Kopf lauthals lachend in den Nacken wirft. Zwischen den Lachsalven spuckt er seine Worte regelrecht auf den Tisch. »Ich hatte also recht.« Er atmet tief durch, um sich zu beruhigen, blickt mir ins Gesicht und prustet sofort wieder los. Unter Schnappatmung stammelt er: »Anstatt dir das Ding so billig wie möglich unter den Nagel zu reißen, spielst du den Moralapostel und verzichtest darauf?!«

Leicht angepisst verziehe ich meinen Mund. »Schön, wenn ich dich amüsieren kann.«

»Ja, mein Freund, das kannst du.« Simon fischt ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und wischt sich Lachtränen von der Wange. »Was gedenkst du jetzt zu tun?«

»Nichts!« Was soll diese Fragerei eigentlich?

»Und warum nicht?«

»Was interessiert dich das denn plötzlich so brennend? Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie genervt du warst, als ich dir stolz meinen Fund gezeigt habe.«

Simon zuckt mit den Achseln. »Keine Ahnung.«

Na toll, was für eine Antwort.

Seine Flasche Cider leerend mustert er mich, stellt sie wieder auf den Tisch und schiebt überlegend seine Unterlippe vor.

Das macht mich nervös. »Was ist?«

»Ich überlege, ob du heut Lust hast, mit ins Rose zu kommen.«

Ich schaue mich um, suche den Eingang unseres Stammlokals, welcher uns direkt gegenüberliegt, und informiere mich, welche Band heute Abend für die Livemusik angekündigt wird. Hm, hört sich nicht schlecht an. Und mir ist der Themenwechsel lieber, als weiter über diesen Russel zu reden. »Wegen mir, ich bin dabei. Wer kommt noch?«

»Die üblichen Verdächtigen, würde ich sagen.«

Stimmt, blöde Frage. Heute ist Mittwoch, unser Pub-Abend, und somit ist immer irgendjemand vor Ort. »Also gut, ist schon eine Ewigkeit her, dass ich Duncan und Sidney gesehen habe. Wie geht’s denen eigentlich? Meine letzte Info kam von Sid, als er vor Wochen Duncan, der total von der Rolle war, nachlief. Er hat sich nur ganz kurz per SMS gemeldet. Ziemlich kryptisch, wenn du mich fragst.«

Ja, ich hätte mich auch selbst zurückmelden können. Allerdings kam mir ständig irgendwas dazwischen und ich habe es einfach vergessen. Ich bin echt ein toller Freund, oder?

»Das beweist, dass du heute unbedingt kommen musst. Sidney und Duncan können mit einigen Neuigkeiten aufwarten. Glaub mir, du wirst es nicht glauben, wenn ich es dir erzähle. Das musst du mit eigenen Augen gesehen haben.«

»Du machst mich neugierig. Okay, dann komme ich auf alle Fälle.«

 

Der Nachmittag vergeht wie im Fluge und ich freue mich auf den Abend mit ein paar Freunden. Allerdings geht mir das Gespräch von heute Mittag nicht mehr aus dem Kopf und piesackt mich in einer Tour. Es bringt jedoch nichts, darüber nachzudenken. Das Thema Russel ist erledigt. Somit verdränge ich es und konzentriere mich auf das Wesentliche: Was zum Geier soll ich anziehen? Ja, schon klar, ihr lacht. Schließlich bin ich Schotte, da stellt sich diese Frage normalerweise nicht. Träumt weiter!

 

Auf dem Weg vom Bad durch mein Wohnzimmer hinüber zum Schlafzimmer und zurück fällt mein Blick jedes verdammte Mal auf den Laptop. Was an sich nicht überraschend ist, da er ja auf dem Couchtisch steht. Allerding wächst meine Neugier von Mal zu Mal und mir kribbelt es in den Fingern nachzuschauen, ob Russel mir vielleicht doch eine Antwort geschickt hat. Ich schüttle über mich selbst den Kopf. »Idiot, was soll er schon auf deine Schimpftirade schreiben?«

Weitere Gedanken daran verdränge ich und begebe mich auf den Weg ins Rose.

 

»Hey, da ist ja mein verloren geglaubter Bruder«, werde ich von Molly mit einer stürmischen Umarmung begrüßt. Ich drücke meine Schwester an meine Brust und flüstere ihr ins Ohr: »Du kennst meine Adresse und Telefonnummer, oder?«

Das bringt mir einen Hieb auf den Arm ein. »Das könnte ich dich auch fragen. Wo warst du nur?«

»Auf Arbeit und zu Hause. Wo sonst?«

Molly zieht mich zu einem Tisch in der Ecke hinter sich her, der bereits von etlichen Personen bevölkert wird. Einige von ihnen sind mir nicht bekannt. Was mich tatsächlich verwundert. Ich nicke höflich in die Runde und mustere jeden Einzelnen von ihnen. Überrascht stelle ich fest, dass Duncan mit einer Frau an seiner Seite und Sid mit einem Mann auf der Bank sitzen. Beide grinsen mich an, als hätten sie den Jackpot geknackt.

»Na, Leute, alles klar?«, frage ich nach und lasse mich neben Simon, der ebenfalls vor mir eingetroffen sein muss, auf einen Stuhl nieder.

Duncan legt seine Hand liebevoll auf die Schulter seiner Nachbarin. »Ellen, darf ich vorstellen? Grady, der sich im Moment ziemlich rar macht. Grady, das ist Ellen, meine …« Sein Blick wandert unsicher zu Ellen, die ihm einen Kuss auf die Wange gibt und für ihn antwortet.

»Seine Freundin.«

Ihre Worte bringen Dun zum Strahlen, der wiederrum ihr einen sanften Kuss gibt und sie näher an seine Seite zieht. Ellen reicht mir ihre Hand über den Tisch hinweg und zwinkert mir zu. »Dun hat da wohl noch einige Schwierigkeiten mit. Aber das gibt sich sicher noch.«

Eine wirklich nette Person, denke ich und grinse sie an, ehe mein Blick zu Sidney wandert. »Hey, Sid. Alles klar bei dir?« Bevor er antworten kann, strecke ich dieses Mal die Hand über den Tisch in Richtung seines Sitznachbarn, der die reinste Augenweide ist. »Hallo, willkommen in unserer illustren Runde!«

Der gutaussehende Mann ergreift meine Hand, grinst schief und lehnt sich demonstrativ gegen Sid, der den Arm um seine Schultern legt.

»Grady, das ist Neal«, er lehnt sich vor und schaut mir warnend in die Augen, »und er ist mit mir hier.«

Ah ja, das dachte ich mir schon. Ihre Körpersprache ist ja auch nicht unbedingt subtil.

Neal schaut erschrocken zur Seite. »Also, wenn er das nicht sieht, dann weiß ich auch nicht.« Er beugt sich zu seinem Partner und flüstert ihm ins Ohr. Das bringt Sid zum Schlucken, verpasst ihm große Augen und glühend rote Ohren.

Interessant.

Ich blicke zwischen Ellen und Neal hin und her und mir scheint meine nächste Frage auf der Stirn tätowiert zu sein, denn Molly stößt mich an und meint: »Yep, sie sind Geschwister.«

Die Bedienung serviert mir ein Pint, was ich zwar noch nicht bestellt habe, aber wir kehren bereits seit Jahren hier ein, womit sich das mittlerweile erübrigt. Ich nicke ihr dankbar zu und widme mich den zwei Neuankömmlingen. »Schön, euch kennenzulernen.«

Duncan prostet mir zu. »In ein paar Wochen gibt es eine große Party. Wie sieht’s aus, kommst du?«

»Sag bloß, du hast es jetzt tatsächlich getan?«

»Yep, haben WIR«, entgegnet Duncan stolz, mit Blick auf seine Sitznachbarn. »Ich rufe dich in den nächsten Tagen mal im Büro an, wenn’s dir recht ist. Mir schwebt da noch etwas vor. Vielleicht kannst du uns dabei unter die Arme greifen.«

»Klar, kein Ding.« Er wird sicher noch spezielles Mobiliar suchen.

Neal ergreift das Wort. »Und Duncan hat nicht nur die Pension um fünf Zimmer erweitert, sondern auch seine EDV auf Vordermann gebracht.«

»Was dringend notwendig war«, ergänzt Sid. »Du hättest mal die alte Möhre sehen sollen, die er in seinem Büro stehen hatte. Mir ist schleierhaft, wie man heutzutage noch mit so was arbeiten kann. Aber gut, das gehört ja nun zum Glück der Vergangenheit an.«

»Hört endlich auf, über mein Equipment herzuziehen, ihr seid unmöglich«, verteidigt sich Dun, dessen Mundwinkel verräterisch zucken.

»Aber sie haben doch recht, Schatz«, bekräftigt Ellen und grinst mich dabei spöttisch an.

Die vier stehen sich so nah, dass ich es selbst hier spüren kann. Ich blicke von einem zum anderen und kann nicht anders, als es in Worte zu fassen. »Oh Mann, ich freu mich so für euch, ehrlich.« Und zugleich wird mir klar, dass Simon und ich die letzten Singles in dieser Runde sind.

Piet, mein Schwager, rutscht an meine Seite und flüstert mir mit Blick auf Simon zu: »Ihr werdet sicher auch bald unter die …«

Plötzlich rufen sechs Personen im Chor: »Oh nein, bitte nicht schon wieder!«

Piet hält erschrocken inne. »Was denn?«

Sid wirft ihm eine Erdnuss an den Kopf. »Fang jetzt bloß nicht wieder mit deiner These von der biologischen Uhr an.«

»Genau«, stimmt der Rest ihm einhellig zu.

»Was ist daran bitte falsch?«

Sid stellt sein Glas ab. »Muss ich dir das wirklich noch mal erklären?«

Ich bin verwirrt. »Leute, worum geht’s hier gerade?«

»Mein lieber Gatte ist mal wieder der Meinung, dass eure biologische Uhr tickt und ihr langsam in die Pötte kommen solltet, um endlich unter die Haube zu kommen.«

Prompt fällt mir der Abend ein, an dem er bereits Sid und Dun damit genervt hat, und grinse mir eins. »Echt, sind wir jetzt dran? Und was hab ich denn bitte mit einer biologischen Uhr am Hut? Bin ich etwa neuerdings eine Frau?« Ich blicke mir demonstrativ in den Schritt. »Nö, noch alles da, wo’s hingehört.«

»Wie du sicher noch weißt, war das auch mein Argument, als er es das letzte Mal auf die Tagesordnung setzen wollte«, pflichtet Sid mir bei.

»Piet, du bist ein unverbesserlicher Romantiker«, ziehe ich ihn auf und wir verfallen in höhnisches Gelächter, was er nicht unbedingt witzig findet.

»Und jetzt zu euch.« Ich deute auf die zwei frisch verliebten Pärchen vor mir. »Wie ist das denn passiert und auch noch so schnell?«

Duncan blickt fragend zu Ellen, Sid und Neal, welche ihm durch ein Nicken ihre Zustimmung geben zu wer weiß was. Ein weiterer Kuss von ihm landet auf Ellens Wange, dann lehnt er seine Unterarme auf den Tisch und beugt sich zu uns herüber, als wären seine Worte tatsächlich nur für unsere Ohren – in dem Fall wohl nur für meine Ohren – bestimmt. »Eine sehr lange Geschichte, die wir dir bei Gelegenheit an einem passenderen Ort erzählen. Nur so viel. Neal, Ellen und Drew mussten aus Glasgow verschwinden und haben sich zum Glück an mich gewandt. Na ja, wie soll ich sagen, Sid und mir sind uns unsere Gegenstücke auf dem Silbertablett serviert worden. Wir hatten gar keine andere Wahl, als zuzugreifen und sie festzuhalten.«

Das klingt so liebevoll, dass sich mir spontan das Herz zusammenzieht. Neid? Ich höre in mich. Ja, eindeutig. Es wäre schön, jemanden zu finden, von dem ich mit genau dem gleichen seligen Gesichtsausdruck berichten könnte. Ich räuspere mich. »Na, auf die Story bin ich aber gespannt. Wer ist eigentlich Drew?«

»Meine Tochter«, werde ich von einer liebevoll lächelnden Ellen aufgeklärt.

Erstaunt zuckt mein Blick zu Duncan. »Tochter?!« Ich bin nicht schockiert oder so, schließlich ist er ein herzensguter Mann. Mich wundert nur … Blödsinn, warum sollte mich das wundern? So glücklich, wie er schaut, scheint Drew bereits einen Platz in seinem Herzen zu haben, genau wie Ellen. Ich winke ab und schenke ihnen ein entschuldigendes Lächeln. »Wie alt ist sie denn?«

Neal schmeißt sich regelrecht in die Brust und flötet aufgeregt: »Unser Engel wird vier.«

»Und sie hat’s faustdick hinter den Ohren«, setzt Sid ebenso stolz hinzu.

Duncan lacht auf. »Oh ja, sie weiß ganz genau, wie sie jeden um den kleinen Finger wickeln kann. Der arme John wird heute Abend fix und fertig sein.«

»Ihr seid doch selbst schuld mit eurem Sprachfehler. Das Wörtchen NEIN versteht Drew. Nur müsstet ihr es auch mal benutzen«, rügt Ellen die drei Männer. »Und was John angeht, er kommt von euch allen mit Drew am besten klar. Zumal er nicht allein babysittet. Schließlich ist Clara auch noch da.«

Mein Gott, sie wirken nach so kurzer Zeit bereits wie eine eingeschworene Familie. Es ist toll, das zu sehen.

 

Gegen elf verabschieden wir uns voneinander mit dem Versprechen, uns wieder regelmäßig zu treffen.

Es war ein wirklich netter Abend. Wir redeten, ließen uns die Getränke schmecken, lauschten der Livemusik … alles in allem hatten wir Spaß. Was ja Sinn und Zweck unserer Treffen ist. Einfach mal die Seele baumeln lassen und gute Gesellschaft genießen. Und doch muss ich gestehen, dass ein Gedanke, ein und dieselbe Frage kurz unter der Oberfläche waberte und nur darauf wartete, sie zu durchbrechen. Hat Russel vielleicht doch eine Antwort geschickt?

Auf dem Weg nach Hause drehe und wende ich mögliche Eventualitäten. Wenn ja, was hat er geantwortet? War er sauer? Bestimmt. Ich wäre es gewesen.

Was mich jedoch noch viel mehr beschäftigt, ist die Frage: Warum bin ich eigentlich so versessen darauf, es zu wissen?

Endlich daheim mache ich mich bettfertig. Duschen, Zähne putzen, Schlafshorts an. Alles mit einem Seitenblick ins Wohnzimmer. Ach, was soll’s. Ich schnappe mir meinen Rechner und schlappe ins Bett, wo ich mich ans Kopfende lehne und ihn anschalte. Komisch. Ich bin nicht nur neugierig, sondern extrem nervös. Warum zum Teufel? Was habe ich mit dem Kerl zu schaffen? Soll er doch denken, was er will.

Ich logge mich ins Forum ein und tatsächlich, mir wird eine eingegangene Nachricht angezeigt. Wow, sie ist bereits am selben Tag geschrieben worden, als ich ihm meine geschickt habe. Nun denn, lass mal sehen, denke ich und rufe die Message ab.

 

von: russel

an: g.love

Da ich von Ihnen nicht einmal den Vornamen kenne, verzichte ich gleich mal komplett auf eine Anrede. Was Sie sicher nicht weiter stören wird, denn mit Freundlichkeit sind Sie ja nun auch nicht gesegnet.

Was die Sammlung angeht, nur eins: Es geht Sie einen Scheiß an, was ich mit meinem Eigentum mache.

Und ganz sicher werde ich nicht anfangen, mich für irgendetwas, was Sie sowieso nie verstehen würden, zu rechtfertigen.

Ich wünsche Ihnen ein schönes Leben.

 

PS:

Trotz Ihrer ungehobelten Art hoffe ich, dass Sie niemals in eine Situation geraten, in der Sie keinen anderen Ausweg sehen, als das zu tun, was Sie eigentlich nie wollten.

 

Ach du Scheiße! Mir fallen beinahe die Augen aus den Kopf. Da habe ich wohl einen wunden Punkt getroffen. Ich lese die Mail ein zweites Mal und mir fällt etwas auf, was ich um ein Haar übersehen hätte. Okay, er scheint in einer misslichen Lage zu stecken. Ich bin mir im Klaren darüber, dass es tausend Gründe geben kann – allen voran finanzielle Probleme – auch wenn ich etwas anderes behauptet habe. Und ja, ich war ungehobelt und unfair, da hat er vollkommen recht. Wenn ich mir meine damaligen Worte nur ein einziges Mal in Ruhe angeschaut hätte, wäre diese Nachricht von mir niemals so abgesendet wurden. Mist!

Ob ich ihm noch mal antworten sollte? Hm, ich könnte mich entschuldigen. Selbst wenn Russel es nicht lesen sollte, könnte ich wenigstens damit mein schlechtes Gewissen besänftigen.

 

Nachdem ich das Geschriebene dreimal durchgegangen bin, schicke ich meine Nachricht mit rasendem Herzen ab, klappe den Rechner zu und versuche mit einem Buch abzuschalten. Das gelingt mir mehr schlecht als recht und ich schlafe erst gegen drei Uhr ein.


~*~

Ende der Leseprobe

Impressum

Texte: Nele Betra
Bildmaterialien: Bilder: shutterstock Covererstellung: Nele Betra
Lektorat: Bernd Frielingsdorf
Tag der Veröffentlichung: 05.06.2016

Alle Rechte vorbehalten

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