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Leseprobe Kapitel 1-3

  1.  

    Ankunft

    - Neal -

 

Dublin. Endlich. Fast geschafft.

Mit meinem Pass bewaffnet schlurfe ich total erledigt durch die Sicherheitskontrollen, hole mir einen Kaffee und setze mich mit meiner Jacke auf dem Schoß in die Wartehalle am Gate 312, um auf meinen Anschlussflug nach Glasgow zu warten. Das Boarding sollte in ein paar Minuten beginnen.

Das letzte Mal saß ich hier vor zwei Jahren, allerdings war ich damals auf dem Weg nach San Francisco. Es war keine geplante Reise. Ich hatte eher einen auf Richard Kimble gemacht und keine Ahnung, auf was ich mich eigentlich einließ und wo ich schlussendlich landete. Nach einem riesen Krach mit meiner Schwester und einigen anderen Dingen, die mir auf der Seele brannten, regelte ich innerhalb von Minuten meine wichtigsten Angelegenheiten, packte kopflos eine kleine Reisetasche und nahm den erstbesten Flug. Mir war egal wohin, Hauptsache weg.

Jetzt hier zu sitzen fühlt sich so anders an. Ob es daran liegt, dass ich mich verändert habe? Kann es sein, dass ich ein anderer Mensch geworden bin? Tja, die zurückliegenden Monate haben einiges mit mir angestellt.

Mein Flug wird aufgerufen und ich gehe mit den anderen Passagieren an Bord. Von hinten drängelt meckernd eine ungeduldige ältere Dame, die mir mit ihrer Knoblauchfahne in den Nacken schnauft. Ich hole einmal tief Luft, schaue über meine Schulter und lächle sie freundlich an. Das scheint sie so zu überrumpeln, dass ihr die Gesichtszüge entgleisen und sie mich mit offen stehendem Mund anglotzt – worauf ich wirklich gern verzichten würde. »Welchen Platz haben Sie, Miss?«, erkundige ich mich ausnehmend höflich und inständig betend, dass sie nicht neben mir sitzt. Eine Stunde ertrage ich diesen durchdringenden Geruch auf keinen Fall.

Scheinbar Immer noch verdattert zückt sie ihre Bordkarte und hält sie mir ohne ein Wort vor die Nase. Erleichtert darüber, dass sie drei Reihen vor mir reserviert hat, lotse ich das alte Mädchen an ihren Platz, helfe ihr dabei, die Reisetasche zu verstauen, und verabschiede mich mit einem zuvorkommenden Nicken. »Ich wünsche Ihnen eine gute Reise.«

Aus dem Augenwinkel heraus sehe ich nur noch, wie sie sich sprachlos auf ihren Sitz fallen lässt und mir nachstarrt. Tja, das ist eines der Dinge, die ich in den letzten beiden Jahren gelernt habe. Wenn dich jemand nervt oder dir blöd kommen will, schlage mit Freundlichkeit zurück. Damit rechnen die Wenigsten. Ich gebe zu, das gelingt mir nicht immer, aber wenn, dann macht es einfach Spaß, zu sehen, wie ich ihnen auf diese Art den Wind aus den Segeln nehmen kann. Die größten Arschlöcher werden plötzlich handzahm.

Zum Glück konnte ich einen Fensterplatz ergattern, womit ich meinen Sitznachbarn ignorieren kann, indem ich scheinbar interessiert hinausschaue. Mein Bedarf an oberflächlichen Gesprächen ist fürs Erste gedeckt. Auf dem Flug von San Francisco nach Dublin hatte ich die unrühmliche Ehre, einen Weißkragen neben mir sitzen zu haben. Wenn der gute Mann gewusst hätte, dass ich schwul bin, hätte er unter Garantie versucht mich zu bekehren und mir die Absolution zu erteilen.

Ich sinke erschöpft auf meinen Sitz, schnalle mich an und lehne meinen Kopf mit geschlossenen Augen gegen die Bordwand.

Der Gedanke daran, in ein paar Stunden wieder zu Hause zu sein, lässt mich nun doch nervös wie einen hungrigen Bären vor einem geschlossenen Honigtopf werden. Entnervt schnappe ich mir ein Magazin und blättere es interessenlos durch. Na wunderbar. Mein stümperhafter Versuch, mich abzulenken, bringt mich nur wieder dazu, über die Vergangenheit und mein bevorstehendes Wiedersehen mit meiner Schwester nachzudenken.

 

Trotz anfänglicher Schwierigkeiten war San Francisco toll. Auch wenn ich mir das Ende so nie hätte vorstellen können, die Zeit dort wird mir ewig in Erinnerung bleiben … aus den unterschiedlichsten Gründen. Und doch freue ich mich auf meine Heimat.

Alles wird gut.

 

Ob Ellen mit mir reden wird? Oder schlägt sie mir sofort die Tür vor der Nase zu? Die Antwort darauf werde ich wohl bald herausfinden. Aber selbst wenn, ich könnte es ihr nicht einmal übel nehmen. Schließlich habe ich kein Sterbenswörtchen von mir hören lassen, seit ich Hals über Kopf Glasgow verlassen habe.

Ich hoffe nur, dass ihr Scheißkerl von Macker nicht auch zu Hause ist. Das einzig Vernünftige, was der je in seinem Leben zustande gebracht hat, ist meine Nichte Drew. Oh Gott, der kleine Schatz muss jetzt wie alt sein? Drei oder vier? Ach ja, sie war schon ein gutes Jahr, als ich ging. Also müsste sie nun dreieinhalb sein. Meinen kleinen Engel habe ich unendlich vermisst.

Nachdem ich mich in San Francisco eingelebt hatte und wieder über klaren Verstand verfügte, wurde mir schmerzlich bewusst, dass sie mir wohl am meisten fehlen würde. Außer …

Nein, das ist ein anderes Thema, das ich hoffentlich erfolgreich hinter mir gelassen habe. Ein weiterer Grund warum ich ging.

Das letzte Gespräch zwischen Ellen und mir verlief … Nun sagen wir mal, es lief nicht gut.

Meine kleine Schwester hatte schon immer ihren eigenen Kopf und einen beschissenen Geschmack bei Männern. Nachdem unsere Eltern auf dem Weg nach London bei einem Busunfall tödlich verunglückten, fühlte ich mich permanent für sie verantwortlich. Das brachte mehr Spannungen zwischen uns als erwartet. Ellen meinte stets, ich wäre nicht ihr Vater und hätte auch kein Recht, ihr Vorhaltungen zu machen, denn schließlich wäre sie erwachsen. Damit hatte sie vollkommen Recht. Und doch konnte ich nicht aus meiner Haut. Wir zofften uns bei jeder Gelegenheit. Mich beschlich oft das Gefühl, sie suchte sich ihre Freunde danach aus, welcher mich von ihnen am meisten aufregte. Die Krönung war dann Kirk, Kirk Davies. Was für ein Vollhonk.

Froh darüber, Ellen endlich in einem Job zu sehen, der ihr gefiel, hoffte ich, dass sie in die Spur kam und ihr Leben auf die Reihe brachte.

Dem war leider nicht so. Kirk vereinnahmte sie von Minute zu Minute mehr. Nach diversen Gelegenheitsjobs als Zimmermädchen in den verschiedensten Hotels fand sie endlich eine Stelle in ihrem Traumberuf – Floristin in einem angesehenen Blumengeschäft – den sie innerhalb kürzester Zeit wieder verlor, da dieses Arschloch sie einfach nicht zur Arbeit gehen ließ. Obendrein wurde sie augenblicklich von ihm schwanger, als er zu ihr zog. Insgeheim gehe ich auch jetzt noch davon aus, dass er es darauf angelegt hat, Ellen ans Haus zu binden, um sie besser kontrollieren zu können. Was ihm leider Gottes gelang.

Zu jeder passenden Gelegenheit redete ich auf sie ein, versuchte ihr die Augen zu öffnen. Leider wurden die Möglichkeiten, mich mit ihr allein zu treffen, von Kirk immer weiter eingeschränkt. So vernagelt und fixiert meine Schwester war, nahm sie es als gegeben hin und entschuldigte ihn immer wieder aufs Neue. Am Ende gingen wir nicht einmal mehr auf einen Kaffee in die Stadt. Ellen wirkte immer mehr in sich gekehrt, schottete sich von mir ab. Sie veränderte sich, ohne dass ich etwas dagegen unternehmen konnte.

Nach Drews Geburt bemühte ich mich um ihretwillen, mir auf die Zunge zu beißen. Ich wollte um keinen Preis den Kontakt zu meiner Schwester und meinem kleinen Engel verlieren. Notfalls musste ich eben Kirk ertragen.

Vielleicht denkt ihr, ich hätte mehr unternehmen müssen. Aber ich habe alles getan, was zu dieser Zeit in meiner Macht stand. Das rede ich mir zumindest ein.

 

Eine freundlich säuselnde Stimme und Druck auf den Ohren reißen mich aus meiner Grübelei. »Meine Damen und Herren, wir befinden uns im Landeanflug auf Glasgow. Bitte bleiben Sie auch nach dem Aufsetzen der Maschine weiterhin angeschnallt. Wir freuen uns …« und weiteres Bla bla bla. Es folgen die üblichen Sprüche und eine gewisse Unruhe breitet sich unter den Passagieren aus. Warum die Leute immer so nervös werden, hektisch ihre Sachen zusammenräumen und sich ungeduldig an ihrem Handgepäck festhalten, verstehe ich nicht. Zumal das ja eigentlich nichts auf dem Schoß zu suchen hat. Glauben sie wirklich, dadurch schneller aus der Maschine kommen zu können? Jetzt fehlte nur noch der Applaus nach dem Aufsetzen.

Ja klar, ich bin auch froh, dass der Pilot uns heil von A nach B geflogen hat. Aber mal ehrlich, das ist sein Job. Wenn ein Monteur einen Lichtschalter repariert, kommt auch niemand und applaudiert ihm. Oder wenn ein Arzt eine OP sauber hinter sich bringt, steht dann der Patient hinterher auf und klatscht Beifall? Nein. Eben.

 

Die Sonne scheint und ich genieße ihre Wärme auf meinem Gesicht, während der Taxifahrer mein Gepäck ins Auto räumt. Auf dem Weg ins Hotel lasse ich meinen Blick durch Glasgow schweifen.

Ich bin wieder zurück!

Im Hotel beziehe ich sofort mein Zimmer, verschwinde unter die Dusche, um danach total erledigt ins Bett zu kriechen. Mein Kopf berührt kaum das Kissen und ich bin im Reich der Träume.

 

Der Morgen ist schneller da als gedacht, denn das Telefon auf dem Nachtschrank läutet und reißt mich aus dem Tiefschlaf. Aber das ist meine eigene Schuld, denn ich hatte gestern darum gebeten, geweckt zu werden. Ich habe einiges vor und mag keine Zeit vertrödeln. Allerdings muss ich zugeben, ich habe wunderbar geschlafen und bin überraschend fit für diese frühe Stunde.

Nach der Morgentoilette schnappe ich mir mein Handy, welches ich noch aktivieren muss, und meinen Geldbeutel und gehe auf die Jagd nach einem Kaffee. Ohne wird es problematisch. Nicht nur für mich, sondern für jeden, der mich anspricht.

Als sich im Erdgeschoss die Türen des Lifts öffnen, verrät mir meine Nase augenblicklich, welchen Weg ich einschlagen muss, um auf meiner Suche erfolgreich zu sein. Vor dem Frühstücksraum steht ein riesiger Kaffeeautomat und ich wähne mich augenblicklich im Himmel, als ich die Auswahl der möglichen Getränke sehe. Vielleicht fühle ich mich auch einfach nur überfordert, eine Entscheidung zu treffen, die mir von einer quirligen Servicekraft namens Anny abgenommen wird. »Warten Sie, ich mach das. Wollen Sie sich nicht schon mal reinsetzen? Ich bringe Ihnen gerne auch Ihr Frühstück, sollten Sie bereits eine Wahl getroffen haben.«

Überrascht über ihr Angebot nicke ich kurz. »Wow, danke. Ich schau gleich mal, was es alles gibt.«

 

Nach einem Abstecher bei einer Mietwagenfirma, deren nette Mitarbeiterin mich noch daran erinnerte, dass ich ebenfalls einen Kindersitz ausleihen könnte, mache ich mich mit einem kleinen Zwischenstopp am Blumen- und Handyladen auf den Weg zur Wohnung meiner Schwester.

Eine Stunde später stehe ich mit einem gigantischen Strauß Tulpen und weichen Knien vor ihrer Wohnungstür und traue mich nicht, auf den Klingelknopf zu drücken. Der Hauseingang stand sperrangelweit auf, weshalb ich gleich in die dritte Etage hinaufgestiegen bin.

Aus dem Inneren der Wohnung dröhnt plötzlich eine brüllende Männerstimme: »Du dummes Flittchen, wann lernst du es endlich, dass ich mein Essen warm auf dem Teller will!«

Zur Antwort höre ich meine Schwester zurückkeifen: »Dann mach dir doch deinen Scheiß alleine.«

Plötzliche Ruhe lässt mich nervös werden.

Ich halte mein Ohr ans Türblatt und versuche etwas aufzuschnappen.

Aber nichts.

Kein Streit.

Kein Gerangel.

Merkwürdig.

Abrupt wird nun doch die eisige Stille unterbrochen. Ich höre ein Geräusch, welches mich in Alarmbereitschaft versetzt, denn es klingt, als würde jemand eine Ohrfeige bekommen.

Das reicht aus, um meine Starre zu lösen und mich rot sehen zu lassen. Mit geballten Fäusten hämmere ich gegen die Wohnungstür und schreie laut durch den Flur: »Ellen, mach sofort auf!« Scheiß auf die Nachbarn.

Der Gefallen wird mir gewährt, allerdings steht nicht Ellen im Türrahmen, sondern Kirk, total heruntergekommen und mit einem schockierten Gesichtsausdruck.

Ohne ein Wort klatsche ich ihm fuchsteufelswild die Blumen vor die Brust, drücke ihn mit aller Kraft gegen die Wand und stürme ins Apartment.

Wie befürchtet sitzt Ellen auf der Couch, hält sich die Wange und schaut mich mit weit aufgerissenen und tränenüberfluteten Augen an. Ich falle neben ihr auf die Knie und ziehe sie in meine Arme. Das scheint etwas in ihr zu lösen, denn sie schmiegt sich an meine Brust und schluchzt mir hemmungslos ins T-Shirt.

Hinter mir fällt die Eingangstür ins Schloss. Ich schaue über meine Schulter und sehe Kirk mit einer Dose Bier aus der Küche kommen.

Teilnahmslos fläzt er sich in einen Sessel, greift sich die Fernbedienung und schaltet die Glotze ein. Er scheint keinerlei Notiz von uns zu nehmen. Was für ein Arsch! Ich atme schwer, reiße mich jedoch zusammen. Am liebsten würde ich ihm einen kräftigen Schwinger verpassen.

Die letzten Worte eines alten Mannes, den ich sehr mochte und der mir in seinen letzten Wochen so viel Kraft gegeben hat, fallen mir wieder ein und ich versuche mich danach zu richten. Denn schließlich hatte ich Walter ein Versprechen geben müssen.

Beruhigend streiche ich über Ellens Rücken, gebe ihr Zeit sich zu sammeln – mir ebenso. Kirk behalte ich derweil im Auge. Wer weiß, was ihm noch in den Kopf kommt.

Ellens Schluchzen lässt nach und ich rutsche neben ihr aufs Sofa. Mit verquollen Augen schaut sie mich nun ungläubig an und flüstert: »Neal? Was machst du hier?«

Ich streiche Strähnen ihres fettigen Haares aus dem Gesicht und mustere ihre Wange. »Die Frage sollte ich wohl eher dir stellen, oder?« Mein Blick fliegt wachsam zu Kirk. »Wie lange geht das schon so?« Die Frage kommt mir harscher über die Lippen als gewollt.

Ellen zieht die Nase hoch, zuckt mit den Schultern und nuschelt: »Nicht lange.«

In dem Moment, als sie es sagt, weiß ich aus Erfahrung, es ist eine Lüge. Ihr Vorwürfe zu machen, hat allerdings keinen Sinn. »Wo ist Drew?« Ich hoffe, sie hat nichts von dem hier mitbekommen.

Schuldbewusst blickt Ellen zu einer geschlossenen Zimmertür. »Sie ist noch nicht aufgestanden, glaube ich.«

Entsetzt stemme ich mich von der Couch hoch. »Das ist ja nicht zu fassen.« Es ist bald Mittag und Drew soll noch im Bett sein? Als ich mich auf den Weg zu ihr mache, kommt Leben in Kirk. Er springt auf und stellt sich mir in den Weg. Eine Alkoholfahne, welche nicht nur von einem Schluck Bier stammen kann, strömt mir entgegen, versetzt mir eine Gänsehaut und lässt mich kurz innehalten, bevor ich angewidert das Gesicht verziehe.

Während Ellen wieder schluchzend auf dem Sofa zusammenbricht, schwankt Kirk vor mir hin und her und versucht mich lallend aufzuhalten. »Hey, du Arsch, verpiss dich! Das geht dich überhaupt nichts an, wie ich mein Kind erziehe.«

Sein Kind? Es ist ja wohl auch Ellens, du Mistkerl, denke ich, halte mich aber zurück. Ich will es nicht eskalieren lassen. Der Typ geht mir gehörig auf den Zeiger, versetzt mich noch mehr in Rage. Für einen Moment sehe ich nicht Kirk, sondern jemand anderen vor mir stehen.

Innerlich ermahne ich mich zur Ruhe und bete ein Mantra herunter, das mir bereits in Fleisch und Blut übergegangen ist. »Du hast es versprochen. Du hast es versprochen.« Mein Drang, ihm eine zu verpassen, lässt nach und ich remple ihn nur mit der Schulter an, sodass er taumelnd in seinen Sessel zurückfällt.

Natürlich gefällt ihm das nicht sonderlich und er brüllt wie ein wildgewordener Stier Ellen an. »Du Schlampe, das ist deine Schuld. Was sucht der Idiot hier überhaupt. Sieh zu, dass du ihn loswirst!«

Ellen schluchzt herzzerreißend und blickt hilfesuchend zu mir auf.

Eins ist klar, hier kann ich meine Schwester und meine Nichte auf keinen Fall eine Minute länger zurücklassen.

Ich wende mich Ellen zu und fordere in einem kompromisslosen Ton, der sie aus ihrer Lethargie holen soll: »Beweg deinen Hintern! Wir schauen nach Drew, dann packst du deine Koffer!«

In Kirks Richtung gebeugt setze ich eine drohende Miene auf. »Und du, mein Freund, bleibst wo du bist, sonst rufe ich die Bullen.« Dass ich mit Ellen sowieso vorhabe, auf die Wache zu gehen, um Anzeige gegen ihn zu erstatten, muss ich ihm ja nicht auf die Nase binden.

Unsicher blickt meine Schwester zwischen mir und Kirk hin und her. Ihre ängstliche Miene schnürt mir das Herz zu.

Kirk baut sich ein weiteres Mal vor mir auf. »Du hast kein Recht dazu.« Er wendet sich an Ellen und spricht plötzlich in einem einschüchternden und überraschend klaren Tonfall: »Du weißt, ich finde dich. Solltest du jetzt gehen, wirst du dafür bezahlen. Also mach es für dich nicht noch schlimmer.«

Mir läuft es eiskalt den Rücken runter. Dieses Schwein bedroht meine Schwester. Ein schlechtes Gewissen überflutet mich. Ich war es, der sie mit ihm allein gelassen hat. Wie konnte ich nur! Ich hätte mehr unternehmen sollen. Aber nein, ich habe aufgegeben.

Nur hilft es uns jetzt nicht weiter, wenn ich mich mit Gewissensbissen quäle. Ich brauche meinen Verstand, um eine Lösung zu finden. Wie die aussehen soll? Ich habe im Moment keinen Schimmer. Schließlich bin ich gestern erst angekommen, lebe in einem Hotel und kann Ellen und Drew keine Zukunft bieten. Hier in Glasgow habe ich keine Freunde, die ich um Hilfe bitten könnte. Das hatte sich recht schnell erledigt, als ich zum Studium nach Edinburgh ging.

Ich muss nachdenken. Aber vorerst muss ich sie hier rausholen, so schnell wie möglich, bevor Kirk komplett durchdreht. Der Kerl ist einen halben Kopf größer als ich und könnte mich ohne mit der Wimper zu zucken ausknocken. Dass er es noch nicht getan hat, wundert mich.

Ich zwänge mich an Kirk vorbei, ziehe Ellen an meine Seite. »Komm, er wird dir nichts mehr antun. Dafür werde ich schon sorgen.« Woher ich die Gewissheit nehme, weiß ich nicht.

Wir gehen gemeinsam in das angrenzende Zimmer und lassen Kirk einfach hinter uns zurück.

Die Fensterklappen sind halb geöffnet, sodass ich sehe, wie Drew immer noch mit einem Schlafanzug bekleidet in ihrem Bettchen sitzt und still mit ihren Puppen spielt. Als sie bemerkt, dass wir in der Tür stehen, schaut sie mich ängstlich mit aufgerissenen Augen an.

Mein Gott, das arme Ding.

Ich rümpfe die Nase, schaue entrüstet zu Ellen und deute auf das Bett. »War sie den ganzen Morgen da drin?« Hier stinkt es erbärmlich. Die Kleine sitzt garantiert in einer nassen Hose, wenn nicht schlimmer. Ich bin fassungslos, wie sehr meine Schwester Drew vernachlässigt. Fassungslos? Nein, eher steigt unbändige Wut in mir auf.

Ich muss sie hier erst einmal wegbringen, dann kann ich versuchen mit meiner Schwester zu reden. Um mich halbwegs zu beruhigen, atme ich tief durch, sodass mir sofort der beißende Gestank in die Nase fährt. Verdammt!

Mit drei Schritten bin ich bereits am Fenster und öffne es. Ohne zurückzublicken, denn mir steht sicher pure Wut ins Gesicht geschrieben, erkundige ich mich bei Ellen: »Wo ist das Bad?« Ich hoffe, sie muss jetzt nicht an Kirk vorbei.

Ich höre, wie es hinter mir raschelt, Schranktüren auf und zu gehen und dann die brüchige Stimme meiner Schwester, die nur ein krächzendes »Gleich nebenan« herausbekommt.

Ein Glück, dann kann ich sie im Auge behalten. Jedoch wird mir klar, dass Drew genauso eine Dusche benötigt wie ihre Mum. Mittlerweile geht mein Puls wieder etwas langsamer und ich wende mich Drew mit einem Lächeln zu. Ellen steht immer noch im Zimmer und mustert mich bestürzt. Was für einen traurigen Anblick sie bietet. Sie hat abgenommen, eine ungesunde Gesichtsfarbe und eingefallene Wangen. Von den Augenrändern will ich erst gar nicht reden. Ich lächle sie an, versuche ihr etwas den Druck zu nehmen. »Du solltest dich frisch machen. Glaubst du, du schaffst es, deine Tochter mit dir unter die Dusche zu nehmen? Zieht euch saubere Kleidung an und dann pack ein paar Sachen für dich und Drew ein!«

Wieder nur ein Nicken, mehr nicht. Was geht nur in ihr vor?

»Gut, dann wollen wir mal.« Gelassen schlendere ich auf Drew zu. »Hallo, meine Kleine. Du kennst mich sicher nicht mehr, aber ich bin dein Onkel Neal. Hast du Lust, mit deiner Mum und mir einen Ausflug zu machen?«

Drews Blick irrt durch ihr Zimmer und bleibt an der Wohnzimmertür hängen.

Ich werde noch wahnsinnig. Drew hat er also auch unter seiner Kontrolle. Sie strahlt genauso viel Angst aus wie ihre Mum, wenn nicht mehr.

Endlich reagiert Ellen. »Mein Spatz, lass uns schnell duschen und schick machen. Daddy hat nichts dagegen, wenn wir mit Onkel Neal in den Park fahren.« Während sie auf ihre Tochter einredet, hebt sie die Kleine aus ihrem Bett und verschwindet mit ihr und sauberer Kleidung ins Bad. Die Tür schließt sich hinter ihnen, ich setze mich erschöpft auf die Bettkante und streiche mir fahrig durchs Haar.

Unser Wiedersehen habe ich mir anders vorgestellt. Aber was habe ich erwartet? Dachte ich wirklich, Ellen hat aus eigener Kraft ihr Leben in den Griff bekommen? Was hat Kirk nur mit ihr gemacht, dass sie ihm so hörig ist? Sie war nie eine Frau, die sich den Mund verbieten lässt. Hat immer gewusst, was sie wollte. Und dann kommt so ein hirnloses Subjekt daher und schafft es, sie so unter Druck zu setzen? Ich hoffe wirklich, dass nicht auch noch Drogen im Spiel sind.

Es dauert nicht lange und die Mädels kommen mit hängenden Köpfen, aber sauber und adrett aus dem Bad. Mehr kann ich jetzt nicht verlangen.

»Gut seht ihr aus. Drew, magst du mir dein Lieblingsspielzeug zeigen?«

Meine Nichte schaut zu ihrer Mum auf, als würde sie für alles eine Erlaubnis benötigen, und Ellen nickt ihr zu. Vorsichtig, eher schleichend nähert sie sich und lugt an mir vorbei. Ich folge ihrem Blick und sehe einen schmuddeligen Bären in der Ecke sitzen, dem bereits ein Auge fehlt und ein Arm nur noch am seidenen Faden hängt.

Da ich auf dem Bett sitze, traut sie sich nicht an mir vorbei, um ihn zu holen. Also greife nach hinten und setze ihn auf meinen Schoß. »Oh, der ist aber lieb. Wie heißt er denn?«

Mich trifft ihr skeptischer Blick, der zuvor wieder zu Ellen gewandert ist. Nur noch ein Schritt trennt sie von mir, den sie nun zurückhaltend überbrückt. Wie eine unsichtbare Mauer hält sie trotzdem einen Mindestabstand ein, um mich nur nicht zu berühren. Es schmerzt mich, zu sehen, wie viel Angst in dieser kleinen Seele steckt. Jedes andere dreijährige Mädchen wäre sicher auch nicht sofort auf einen Fremden zugegangen, aber hier verhält es sich noch ein Stück extremer. Sie strahlt eine abgrundtiefe Furcht und Unsicherheit aus, was für ein Mädchen in ihrem Alter nicht normal ist. Ich muss es irgendwie schaffen, ihr Vertrauen zu gewinnen.

»Und? Verrätst du mir, wie dein kleiner Freund heißt?«, erkundige ich mich sanft.

»Fuzzy.« Ihre piepsige Stimme geht mir durch und durch. Erstaunlich schnell schnappt sie sich ihren Bären und hält ihn fest in ihren Armen. »Will in den Park«, nuschelt Drew leise.

»Da fahren wir auch gleich hin. Aber vorher holen wir uns noch einen Muffin. Du hast bestimmt Hunger.«

Ein angedeutetes Lächeln blitzt auf ihrem kleinen runden Gesicht auf und entlockt mir einen erleichterten Seufzer. Endlich eine Regung. »Mit Schokolade?«

»Na klar, was immer du möchtest.«

Während wir uns langsam annähern, sucht Ellen Kleidung zusammen und packt eine Reisetasche. Drew schaut ihrer Mum dabei zu und lehnt sich, wohl eher unbewusst, gegen mein Bein. Das rührt mich, lässt mich hart schlucken und ein paar Tränen wegblinzeln. Ich räuspere mich. »Drew, was glaubst du mag deine Mum für einen Muffin?« Ich möchte sie gern in ein Gespräch verwickeln, damit sie spürt, ich würde ihr nicht wehtun.

Sie schaut zu mir auf und grinst schelmisch. »Schokolade?«

»Na, dann werden wir mal sehen, ob es welche für euch gibt.«

»Ich wäre dann so weit«, flüstert Ellen mit der Tasche in der Hand und einem unsicheren Blick auf die Wohnzimmertür gerichtet.

Ich beuge mich zu Drew. »Darf ich dich auf den Arm nehmen?« Langsam erhebe ich mich vom Bett.

Sie dreht sich zu mir um, hält ihren Bären am Arm und streckt mir ihre entgegen. »Mhm.«

Mein Herz macht einen kleinen Hüpfer und ich hebe sie zu mir hoch. Ich straffe meine Schultern. »Na, dann los!«

Im Wohnzimmer angekommen rechne ich schon damit, dass Kirk sich uns in den Weg stellt, was er jedoch nicht tut. Mit einer Schnapsflasche in der Hand sitzt er wieder auf seinem Sessel und starrt auf den Fernseher.

Erleichtert durchqueren wir den Raum und lassen das Chaos hinter uns zurück.

 

Zu dritt betreten wir die Straße und ich schaue mich nach meinem Auto um. Wir steigen ein, Ellen und Drew auf dem Rücksitz. »Wir bringen eure Sachen erst einmal in mein Hotel.«

Drew schaut mich enttäuscht an. »Keine Muffins?«

»Doch, meine Süße. Versprochen ist versprochen und wird nicht gebrochen. Stimmt’s?«, versuche ich sie zu beruhigen.

Sie kuschelt sich mit ihrem Plüschtier an ihre Mutter und zuckt nur ungläubig mit den Schultern. Mein Blick wandert zu Ellen und ich schüttle frustriert den Kopf.

Was haben sie Drew nur angetan, dass sie so selbstverständlich davon ausgeht, dass Versprechen eben nicht eingehalten werden?

 

Im Hotel deponieren wir ihre Reisetasche auf meinem Zimmer. Wieder unten in der Lobby überlege ich, wo wir hingehen könnten, als mir einfällt, dass das Hotel durchgängige Bewirtung anbietet. Hinter mir steht Ellen mit Drew im Arm und wartet. Sie ist so apathisch, dass ich sie wahrscheinlich ohne Widerstand bis zum Mond und zurück schleifen könnte.

Drew hat ihren blonden Lockenschopf in die Halsbeuge ihrer Mum gelegt, ihren Bären unter den Arm geklemmt und beobachtet mich eindringlich mit traurigen blauen Augen. Ich gehe auf die zwei zu und streiche erst Drew und dann meiner Schwester sanft über die Wange. »Wollen wir gleich hierbleiben? Die netten Damen haben sicher die perfekten Muffins für uns. Und dann gehen wir in den Park.«

Von ihnen kommt nur ein leises einstimmiges »Okay«.

Ich lotse sie in Richtung Frühstücksraum und suche nach der Bedienung. Die lebhafte Anny von heute früh kommt mir mit einem aufgekratzten »Hallo, wieder da? Was kann ich für Sie tun?« entgegen und mustert mit einem liebevollen Blick Drew. »Oh, ich sehe schon. Dein kleiner Bär hat sicher riesengroßen Hunger. Was mag er denn essen?«, fragt sie meine Nichte.

Drew zieht instinktiv Fuzzy enger an die Brust und schaut schüchtern zu Anny.

Ich lege meinen Arm um Ellens Schulter und zwinkere Drew zu. »Wir würden gerne hier zu Mittag essen. Geht das in Ordnung? Und wäre es möglich, ein paar Schokomuffins aufzutreiben? Ach, und zwei Tassen extrastarken Kaffee wären sensationell.«

Annys Blick gleitet zwischen uns hin und her und mich beschleicht das Gefühl, sie ahnt, was zuvor vorgefallen ist. »Natürlich. Suchen Sie sich doch schon einen Platz. Ich komme sofort zu Ihnen«, und an Drew gerichtet: »Und dir, meine Kleine, bringe ich den schönsten und größten Schokomuffin, den die Welt je gesehen hat. Ist das ein Vorschlag?«

Die Unbekümmertheit, die Anny ausstrahlt, zaubert Drew ein feines Lächeln ins Gesicht und Ellen entkommt ein erleichterter Seufzer.

Wie Anny vorgeschlagen hat, suchen wir uns einen Tisch, allerdings ziemlich weit am Rand, damit wir ungestört sind.

Das rede ich mir zumindest ein. Da gibt es noch einen anderen Grund, warum ich gerne alles im Auge behalte.

Auf dem Weg dorthin schnappe ich mir einen Hochstuhl, der in der Ecke steht, und stelle ihn zu uns an den Tisch, um Drew hineinzusetzen. Ellen und ich nehmen ebenfalls Platz und ich schaue sie zum ersten Mal in aller Ruhe an. Natürlich bemerkt sie es und wendet voller Scham ihren Blick ab.

Drew scheint sich wohlzufühlen, denn sie beginnt nun leise vor sich hin zu summen und mit ihrem Bären zu reden, bevor Anny wie der Wind herbeigeeilt kommt, um Papier und Farbstifte vor sie zu legen. »Du bist bestimmt eine kleine Künstlerin. Malst du mir etwas Schönes?«

Mein kleiner Engel strahlt über das ganze Gesicht und greift prompt nach den Stiften, hält dann jedoch inne, um Ellen fragend anzusehen, die ihr mit einem Nicken ihre Erlaubnis erteilt. Dann schaut sie zu Anny auf und wispert mit ihrer hellen Stimme: »Eine Blume?«

Anny greift sich übertrieben ans Herz. »Oh, das wäre wundervoll. Mir hat noch nie jemand eine Blume gemalt.« Ihr Blick gleitet zu mir und ich lächle sie dankbar an. »Ihr Kaffee kommt sofort und das Essen wird gerade angerichtet. Was darf ich denn der kleinen Maus bringen?«, fragt sie nun Ellen.

Meine Schwester räuspert sich und flüstert: »Ein warmer Kakao wäre sehr nett.«

»Kein Problem, wird sofort erledigt.« Damit verschwindet Anny in Richtung einer Schwingtür, die vermutlich zur Küche führt.

Bevor ich Ellen fragen kann, was mit ihr und Kirk los ist, beginnt sie mich überraschend anzugreifen. Als würde sie endlich aus ihrer Trance erwachen. »Was machst du hier eigentlich? Und wo warst du in den letzten Jahren? Hör mal, ich bin dankbar, dass du uns helfen willst, aber das ist wirklich nicht nötig. Wir kommen schon klar. Das sind wir schließlich bisher auch.«

Okay, sie geht in die Offensive. In gewisser Weise kann ich es sogar verstehen. Ich greife über den Tisch und nehme ihre Hand in meine. Sie zittert. »Es tut mir leid, Ellen.«

Ihr Kopf ruckt hoch. »Was tut dir leid? Dass du ohne ein Wort abgehauen bist? Dass du uns …«, brüllt sie mich an und stoppt mitten im Satz. Sie schaut kurz zu Drew hinüber, die sich voll und ganz auf ihr Bild konzentriert, und redet leise weiter. »… hier zurückgelassen hast?«

»Ja, das und noch einige andere Dinge. Ellen, sei doch ehrlich zu dir selbst. Du hast mir keine Chance gegeben, euch zu helfen. Erinnerst du dich noch an unser letztes Gespräch?«

»Natürlich. Wie könnte ich auch nicht?«, nuschelt sie und all ihre Kraft scheint aus ihr herauszufließen. Mit hängenden Schultern sitzt sie nun wieder vor mir. Die kämpferische Art von zuvor hat mir ehrlich gesagt besser gefallen. Auch wenn ihre Wut gegen mich gerichtet ist, zeigt es mir, dass sie noch nicht ganz aufgegeben hat.

»Jetzt bin ich wieder hier. Und ich verspreche dir, ich werde mich um euch kümmern. Wenn wir gegessen haben, gehen wir zu den Bullen. Du wirst ihnen genau erzählen, was vorgefallen ist.« Wieder trifft mich ihr ängstlicher Blick. »Ellen, ich kann mir vorstellen, wie schwer es für dich sein muss, aber denk bitte an deine Tochter, wenn schon nicht an dich. Es ist deine Pflicht als Mutter, sie zu beschützen. Ich bin bei dir und dieses Mal ziehen wir es bis zum bitteren Ende durch.«

Sie runzelt ihre Stirn, als würde sie meine Worte hin- und herrollen, um den Sinn zu verstehen.

Fuck! Ich hätte mich anders ausdrücken sollen. Ich halte den Atem an und warte darauf, dass ihre Fragen nur so auf mich einprasseln.

Aber nein, zu meiner Erleichterung folgen keine. Vielleicht denkt Ellen auch nur, sie hätte meine Worte missverstanden. Was mir im Augenblick auch lieber wäre.

Ihre Miene wechselt von Verwirrung zu Beschämung und ich sehe es regelrecht auf ihrer Stirn aufleuchten, wie sie sich erklärende Worte zurechtlegt. Sie holt tief Luft und setzt zu einer Erwiderung an, die ich jedoch kopfschüttelnd unterbinde. »Nein, keine Entschuldigungen, keine Ausreden. Hier und jetzt ist Schluss. Lass uns neu beginnen. Ich bin genauso schuld an eurer Lage wie du. Auch wenn du es nicht hören willst, so ist es aber.«

Ellen kramt in ihrer Hosentasche, bis sie ein Papiertuch zu Tage befördert und schnieft. »Aber wo sollen wir denn hin?«

Tja, gute Frage.

Mir kommt eine Idee, wen ich um Hilfe bitten könnte. Eine ganze Weile schaue ich Ellen überlegend an. Ob ich es wirklich tun soll? Wäre das eine gute Idee? Die Frage ist, kann ich damit umgehen? Und würde er mich überhaupt anhören?

»Was überlegst du?«, erkundigt sich Ellen leise, bevor sie in ihr Taschentuch schnäuzt.

»Ich grüble, wen ich um Hilfe bitten könnte. Leider habe ich keine Wohnung und einen Job auch noch nicht, da ich erst seit gestern wieder im Lande bin. Du weißt, ich habe in Glasgow keine Freunde, die uns helfen würden. Mir fällt nur einer ein.«

»Wenn es der gleiche Mann ist, der mir einfällt, und du dich bei ihm auch nicht mehr gemeldet hast, wird er dich zum Teufel jagen.« Kann man resigniert und hoffnungsvoll zugleich klingen? So wie es aussieht, Ellen schon. Sie lehnt sich zu mir und drückt nun meine Hand. »Er ist einer der Gründe, warum du gegangen bist, oder?«

Dem gibt es nichts hinzuzusetzen, also nicke ich nur wortlos.

»Du hast ihn geliebt«, stellt sie fest.

»Ich denke schon.«

Überraschenderweise erscheint ein fast sehnsüchtiges Lächeln auf ihrem Gesicht, als würde sie an jemanden denken, bei dem es ihr ebenso erging und sie bereuen würde, ihn gehen gelassen zu haben.

Wir beide haben wohl mehr Gemeinsamkeiten, als ich dachte.

»Neal, es tut mir so leid. Ich hätte für dich da sein müssen. Ich bin so egoistisch. Kannst du mir verzeihen?«

Mir steigen ungewollt Tränen in die Augen. Ich kann nicht an mich halten und ziehe sie in meine Arme, um ihr ins Ohr zu flüstern: »Wir haben beide Fehler gemacht. Denkst du nicht, es ist an der Zeit, gemeinsam neu anzufangen? Auch wenn es schwierig wird. Ich werde über meinen Schatten springen, wenn du es auch tust.«

»Du hast recht, es wird nicht einfach«, seufzt sie.

»Oh, was ist das schon? Aber haben wir eine andere Wahl?«

»Wahrscheinlich nicht«, bestätigt sie meine Befürchtungen.

 

~*~

 

Freunde

- Sidney -

 

Wieder einen Tag geschafft.

Der Dienst war heute wirklich kräftezehrend. Aber jetzt ist endlich Feierabend und ich freu mich auf einen netten Abend mit Freunden im Black Rose bei Livemusik. Ein Pint und gute Gespräche werden mir sicher guttun und mich auf andere Gedanken bringen. Vielleicht gönne ich mir noch einen schönen fettigen Burger mit Chips und megaleckeren Zwiebelringen. Da ich nicht vorhabe heute noch jemanden zu küssen, sollte das kein Problem sein. Wobei ich eh nicht wüsste, wem ich meine Zunge überhaupt in den Mund stecken sollte. Dazu müsste ich erst einmal auf die Jagd gehen und danach steht mir heute garantiert nicht mehr der Sinn. Zumal ich nicht allein unterwegs bin.

Mein Schritt wird schneller und ich schaue auf meine Uhr. Super, mir bleibt noch etwas Zeit, um rasch unter die Dusche zu springen und mich ein wenig herzurichten. Um sieben kommt Duncan und holt mich ab.

Das Rose, unser bevorzugter Pub, liegt unweit von meiner Wohnung entfernt, weshalb er sein Auto lieber bei mir stehen lässt und wir den Rest des Weges zu Fuß gehen. In der Rose Street einen Parkplatz zu bekommen ist so gut wie aussichtslos. Zumal der Großteil Fußgängerzone ist. Das Gute daran ist, dass mein Freund notfalls auch wieder auf meiner Couch nächtigen kann, sollte er zu tief ins Glas schauen. Wäre nicht das erste Mal. Was ich insgeheim ziemlich schade finde, denn wenn er mein Bett dem Sofa vorziehen würde, wäre ich der glücklichste Mann der Welt.

Das wird allerdings nicht geschehen. Jedenfalls nicht in diesem Universum. Denn Duncan ist so was von hetero. Nun ja, Träumen ist wohl noch erlaubt.

 

Kennengelernt haben wir uns vor ungefähr zwei Jahren. Er kam während meiner Nachtschicht völlig aufgelöst auf die Polizeiwache und meldete einen Einbruch. Irgendwie war er mir von Anfang an sympathisch.

Wir kamen ins Gespräch und so führte eins zum anderen. Zum Glück konnten wir seinen Fall recht schnell aufklären. Es handelte sich nur um die Verzweiflungstat eines Obdachlosen, der mitten im Winter ein warmes Plätzchen gesucht hatte.

Tja, was soll ich sagen? Duncan hat natürlich keine Anzeige erstattet. Nein, er hat dem guten Mann einen Job angeboten und ein Zimmer gleich mit. John ist nun mittlerweile sein Vertrauter, leitender Haustechniker und hält Duncans Pension in Schuss. Sollte Duncan nicht anwesend sein, ist er es, der sich um die Gäste kümmert.

So ist er, unser Duncan. Immer für andere da. Selbst für Fremde.

Jetzt muss ich mich aber sputen, sonst steht er vor meiner Tür und ich springe noch im Adamskostüm umher.

Ich spüre regelrecht, wie sich meine Mundwinkel bei der Vorstellung zu einem hinterhältigen Grinsen verziehen. Es macht mir einfach viel zu viel Spaß, ihn zu foppen. Er ist nicht prüde oder so und mit Sicherheit nicht homophob. Aber es ist mir jedes Mal ein diebisches Vergnügen, ihn rot anlaufen zu sehen, wenn ich ihn mal wieder eiskalt erwische.

 

Wie immer könnte ich die Uhr nach Duncan stellen. Pünktlich um sieben klingelt es an meiner Haustür. Manchmal glaube ich, er steht mit über dem Klingelknopf schwebendem Daumen und einer Uhr in der anderen Hand vor der Tür, um genau dann auf die Bimmel zu drücken, sobald der Sekundenzeiger auf die vereinbarte Zeit springt.

Im selben Moment als es klingelt, öffne ich die Tür und ernte einen erstaunten Blick.

Zu meiner Ehrenrettung muss ich gestehen, ich bin fertig angezogen und bereit für einen gemütlichen Abend.

»Hi, mein Hübscher! Pünktlich wie immer.«

Duncan kann sich natürlich ein ausgedehntes Augenrollen nicht verkneifen und entlockt mir damit ein herzhaftes Lachen.

»Hi, Sid. Na los, lass uns gehen! Wie ich sehe, hast du es heute tatsächlich geschafft, deinen Allerwertesten zu verhüllen, bevor du mir die Tür öffnest. Es geschehen noch Zeichen und Wunder.« Ja, manchmal dreht er auch den Spieß um und macht mich mit ein paar Worten sprachlos. Das passiert zum Glück nicht allzu oft.

 

Im Rose suchen wir uns einen Tisch mit Blick aus dem Fenster und freier Sicht auf den Rest des Pubs. Es ist immer gut zu wissen, was abgeht. Man weiß ja nie, wann einem der Mann fürs Leben über den Weg läuft. Also nicht, dass ihr denkt, ich wäre notgeil oder so. In einem gewissen Alter muss MANN nur eben auf alles vorbereitet sein. Eine der netten Damen eilt zu uns und nimmt die Bestellung auf, um geschäftig zum nächsten Tisch weiterzutingeln.

»Hi, Jungs! Wie war eure Woche?«, begrüßt uns Molly, mit ihrer besseren Hälfte Peter und ihrem Bruder Grady im Schlepptau.

Piet linst um sie herum und grinst uns verschmitzt an, bevor er entschuldigend hinzusetzt: »Sorry, wir sind etwas aufgehalten worden«

Duncan hebt abwehrend die Hände. »Oh bitte, verschone uns mit Einzelheiten. Eure üblichen Verhinderungsgründe sind uns von deiner lieben Frau bereits mehr als eingängig und mit sehr farbigen Metaphern erläutert worden.«

Ich stecke mir die Finger in die Ohren. »Lalala, wirklich, hört bitte auf, Duncan! Ich brauche auch keine weiteren Offenbarungen.«

Grady gesellt sich an meine Seite, rutscht neben mich auf die Bank und tätschelt meine Schulter. »Wahre Worte, mein Freund. Diese Details will kein Schwein über seine Schwester hören.« Leicht zu mir gebeugt flüstert er mir zu: »Ich habe wieder ein paar wirklich schöne Stücke gefunden. Wenn du Zeit hast, komm doch mal vorbei. Zumal ich dich eh fragen wollte, ob du mich bei einem Teil unterstützen könntest.«

»Oh, du machst mich neugierig. Ich schau mal, wie ich es einrichten kann, okay?«

»Klar, rennt ja nicht weg.« Grady arbeitet als Einkäufer bei live with style – eine kleine Firma, die sich auf luxuriöse Inneneinrichtungen spezialisiert haben –, ist privat der absolute Antiquitäten-Junkie und kann fast alles besorgen, wenn es um alte Sammlerstücke geht.

Molly setzt sich grinsend zu uns. »Ihr seid so doof.«

»Schatz, sie wissen nur nicht, was sie verpassen.«

»Na toll, was soll das jetzt wieder heißen?«, hake ich nach.

Piet verzieht verächtlich seinen Mund und zuckt mit den Schultern. »Na, dass es für euch langsam Zeit wird. Hört ihr noch nicht eure biologische Uhr ticken?«

Duncan schaut verwirrt zwischen uns hin und her. »Biologische Uhr? Piet, verwechselst du da nicht etwas?«

»Nö.«

Das Ale wird serviert und wir halten in der selbst für uns merkwürdig wirkenden Unterhaltung inne, prosten uns zu und genießen den ersten kühlen Schluck, bevor Grady murmelt: »Ich dachte immer, das gilt nur für Frauen.«

Ich weiß, dass Piet es nicht ernst meint. Und doch wurmt es mich, wenn die zwei ihre Zuneigung so zur Schau stellen. Was wahrscheinlich der Grund dafür ist, dass ich nicht anders kann, als zickig zu werden. »Und warum glaubst du eigentlich, bei dir wäre es anders? Nur weil du deine große Liebe gefunden hast, heißt es ja noch lange nicht, dass du nicht auch bald die Schallmauer durchbrichst. Wenn du noch ’ne Weile wartest, wird dein zukünftiges Kind nicht Dad, sondern Grandpa zu dir sagen.«

Molly kichert und legt ihre Hand tröstend auf den Rücken ihres Mannes. »Wo er recht hat.«

»Na super! Jetzt fällst du mir auch noch in den Rücken«, grummelt Piet, jedoch mit zuckenden Mundwinkeln. Mir schenkt er ein entschuldigendes Zwinkern. Piet ist klar, dass mich seine Sticheleien nerven. Allerdings macht es ihm zu viel Spaß, mich zu provozieren. So war er schon immer.

Ich gebe zu, ich bin eifersüchtig. Nicht auf die zwei an sich, eher auf den Umstand, dass sie sich gesucht und gefunden haben. Ich bin es leid, durch die Clubs zu hirschen, um mir jemanden für einen anonymen Quickie zu suchen. Einer festen Beziehung bin ich bereits seit einiger Zeit nicht mehr abgeneigt. Aber wie immer gehören zwei dazu. Ich will nicht deprimiert klingen, aber so langsam glaube ich nicht mehr daran, jemanden kennenzulernen, der es mit mir auf Dauer aushalten könnte. Ja, okay, es klingt doch deprimiert.

Wir prosten uns ein weiteres Mal zu und wechseln vorsichtshalber das Thema.

 

Als die Livemusik einsetzt, sind wir bester Laune und unterhalten uns vergnügt über unsere Erlebnisse der letzten Tage.

Duncan ist gerade dabei, wieder eine seiner witzigen Geschichten über John zum Besten zu geben, als es in seiner Jackentasche klingelt. Keine Sekunde lang lässt er sich aus der Ruhe bringen. Erst beendet Duncan seine Story. Ich versuche die letzten Erdnüsse mit dem Mund aufzufangen und gebe unserer Bedienung ein Zeichen, neue zu bringen.

Mein Freund holt nun doch sein Handy hervor, um aufs Display zu schauen. Da der Anrufer mittlerweile aufgegeben hat, informiert er sich offenbar, wer es war, der ihn erreichen wollte. Plötzlich entgleisen ihm um ein Haar seine Gesichtszüge und er wird kreidebleich.

Ich beuge mich vor, schaue ebenfalls auf den Bildschirm in seiner Hand und flüstere besorgt: »Hey, was ist los?«

Duncan antwortet nicht, starrt nur weiter aufs Display, bis es sich von selbst verdunkelt, um in den Standbymodus zu wechseln.

Jetzt bemerken auch Molly, Piet und Grady, dass etwas nicht in Ordnung ist. Molly ergreift über den Tisch hinweg seinen Unterarm. »Dun? Ist was passiert?«

Wie in Trance schaut er auf, scheint aber durch uns hindurch zu sehen. »Das kann nicht sein«, wispert er abwesend.

»Was kann nicht sein? Ist was mit deiner Mum?«, will ich wissen. Er steht seinen Eltern sehr nahe. Und mir fällt beim besten Willen nichts anderes ein, was ihn dazu bringen könnte, dermaßen die Fassung zu verlieren.

Wortlos schüttelt er den Kopf und murmelt immer wieder: »Das kann nicht sein.«

»Duncan! Sag, was los ist! Du machst uns Angst«, versucht Molly ihn zu uns zurückzuholen.

Gedankenverloren steht er auf, schnappt sich seine Jacke, legt seinen Anteil der Zeche auf den Tisch und stürmt auf die Straße.

Grady ist verblüfft, was ich wirklich verstehen kann. Ihm steht seine Unentschlossenheit, ob er unserem Freund folgen soll oder nicht, ins Gesicht geschrieben.

Molly und Piet sind bereits auf dem Sprung, als ich sie zurückhalte. »Lasst mich nach ihm sehen. Ich gebe euch Bescheid, wenn ich Genaueres weiß, okay?«

Mit besorgten Blicken nicken sie mir zu. »Ja, klar. Beeil dich, sonst ist er verschwunden.« Molly deutet auf den Tisch. »Wir übernehmen das hier.«

»Super, danke. Bis dann.«

 

Zu dieser Jahreszeit ist in der Rose Street viel los. Jeder Pub hat Tische und Stühle vor der Tür stehen, sodass sich der Trubel nicht nur drinnen abspielt. Ich haste nach draußen und lasse meinen Blick suchend die Straße entlangschweifen. Wo kann er nur hin sein? Und dann wird es mir klar. Duncan hat sein Auto bei mir geparkt. Er ist sicher auf dem Weg dorthin. Im Laufschritt verlasse ich die Rose Street, durchquere den Sankt Andrews Square, kreuze keuchend die Queen Street, um endlich die Dublin Street zu erreichen, in der ich wohne.

Und tatsächlich sehe ich gerade noch, wie er ins Auto steigt. »Duncan, warte!«, brülle ich quer über die Fahrbahn.

Keine Reaktion.

Die Fahrertür fällt zu und er startet den Wagen. Ich renne wie ein Verrückter ums Auto herum, öffne in letzter Sekunde die Beifahrertür und springe hinein.

Das scheint ihn so zu erschrecken, dass er den Wagen prompt abwürgt. »Mein Gott, Sid! Musst du mich so schocken? Was machst du hier?«

Ich schnalle mich an und schnaufe völlig außer Atem tief durch. »Was für eine selten dämliche Frage ist das denn bitte?! Du bekommst einen Anruf von wer weiß wem. Stürzt wortlos aus dem Pub und rennst kopflos durch Edinburgh. Was glaubst du, was wir da tun? Seelenruhig sitzen bleiben und ein Pint bestellen? Natürlich machen wir uns Sorgen, du Depp! Also, sag endlich, was los ist!«

»Nichts Dramatisches. Geh zurück und gib Entwarnung.«

Duncan würde mich nicht abwiegeln, wenn es unwichtig für ihn wäre.

»Lass den Scheiß! Irgendwas hat dich so aus der Fassung gebracht, dass du dich nicht einmal mehr von uns verabschiedet hast. Herrje, Duncan, du bist der höflichste Mensch, den ich kenne. Du würdest selbst jedem Fremden auf der Straße zum Gruße zunicken, wenn es nicht so unübersichtlich wäre. Also lässt du es lieber gleich ganz sein, weil du glaubst, du würdest jemanden ungerecht behandeln. Mach’s nicht so kompliziert, raus mit der Sprache!«

Mein Vergleich bringt ihn trotz der offenkundig sorgenvollen Gedanken zum Grinsen und ich kassiere einen leichten Boxhieb in die Seite. »Spinner!«

»Na komm schon!« Betteln ist nicht meine Masche, aber ich kenne meinen Freund mittlerweile sehr gut und weiß, dass ich ihn mit dieser miesen Tour kriege. Er kann einfach niemandem etwas abschlagen.

 

~*~

 

Der Anruf

- Duncan -

 

Es ist schön, Freunde zu haben. Allerdings kann es auch etwas lästig sein, wenn sie zu aufmerksam sind. Wie in diesem Fall.

»Sid, es ist wirklich …«

»Wenn du jetzt noch einmal sagst, es ist nichts Dramatisches, erwürge ich dich«, fällt er mir gereizt ins Wort.

Ich kann nicht verhindern, die Augen genervt zu verdrehen. Er wird keine Ruhe geben, bis ich ihm gesagt habe, was los ist. Also wäre es einfacher, ihm gleich eine Antwort zu geben, damit ich zu Hause in meinen eigenen vier Wänden ungestört überlegen kann, wie ich reagieren soll. »Okay, du Nervensäge. Neal hat sich gemeldet«, lasse ich die Bombe platzen.

Wie erwartet, lässt diese Info Sid verstummen. Er ist der Einzige von meinen Freunden, dem ich irgendwann einmal – ich glaube, an dem Abend hatte ich eindeutig ein Pint zuviel intus – von ihm und Ellen erzählt habe. »Ja, genau, so geht’s mir auch gerade. Ich weiß nicht so recht. Soll ich es ignorieren? Oder doch zurückrufen?« So langsam überwinde ich den ersten Schock und Wut kocht in mir hoch. »Himmel Herrgott, er ist derjenige, der einfach ohne ein Wort verschwunden ist.« Fahrig raufe ich mein Haar. Es macht mich immer noch irre, nicht zu wissen, aus welchem Grund er jedweden Kontakt abgebrochen hat. Selbst seine Schwester wusste nicht, wohin er abgehauen ist. Ich sollte wirklich langsam darüber hinweg sein. Bisher dachte ich auch, dass es so wäre. Aber seinen Namen auf meinem Handy aufleuchten zu sehen, hat mich eines Besseren belehrt.

»Mich wundert, dass du überhaupt noch seine Nummer in deinen Kontakten gespeichert hast«, murmelt Sid.

»Tja, und mich wundert, dass er überhaupt noch die gleiche Nummer hat. Ich bin inzwischen davon ausgegangen, sie würde gar nicht mehr existieren. Schließlich habe ich damals nicht nur einmal versucht, bei ihm anzurufen.« Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, habe ich wohl insgeheim befürchtet, wenn ich sie lösche, würde die letzte Verbindung zu den beiden verloren gehen. Ich bin manchmal so irrational.

Stille breitet sich zwischen uns aus. Sidney scheint wie ich seinen Gedanken nachzuhängen.

Plötzlich wendet er sich mir zu. »Ruf ihn an!«

»Was!?« Ich will gar nicht so hysterisch klingen, aber sein Vorschlag erwischt mich eiskalt. Eigentlich hatte ich gehofft, er würde mir die Leviten lesen und sagen, Neal soll sich gefälligst zum Teufel scheren.

»Du hast mich schon richtig verstanden. Ruf ihn an!« Nun gut, Sid kann extrem beharrlich sein, wenn er sich auf etwas eingeschossen hat – vielleicht beruflich bedingt.

»Jetzt?« Ich versuche Zeit zu schinden, das ist mir vollkommen klar.

Er schnaubt missbilligend. »Nein, natürlich erst nächstes Jahr«, entgegnet er ironisch. Mit einem Mal reißt er seine Tür auf, stapft ums Auto herum, öffnet meine und deutet auf den Beifahrersitz. »Los, rück rüber! Ich fahr dich heim.«

»Hast du sie noch alle? Du hast Alkohol getrunken.«

»Du etwa nicht? Jetzt werd nicht kindisch! Mein letztes Ale ist schon Stunden her. Ich wollte mir gerade ein neues Pint bestellen, als du wie von der Tarantel gestochen die Kurve gekratzt hast.« Sidney zerrt mich am Ärmel aus meinem eigenen Auto und setzt sich auf den Fahrersitz. Ich stehe wie ein Idiot vor ihm und starre ihn verblüfft an, als er den Motor startet und mit Unschuldsmiene zu mir aufblickt. »Wird’s heute noch was?«

Ich werfe frustriert meine Hände in die Luft. Gegen ihn habe ich einfach keine Chance. »Sind ja deine 5.000 Pfund, die du riskierst. Und, na ja, an deinen neuen Aufenthaltsort musst du dich auch nicht sehr gewöhnen, nur dass du die Blickrichtung wechselst«, motze ich vor mich hin, während ich angepisst ins Auto steige.

Mich trifft sein verwirrter Blick. »Blickrichtung? Was schwafelst du da eigentlich?«

»Hey, du bist hier der Bulle. Solltest du es nicht besser wissen? Wenn sie dich erwischen, dass du mit einer Fahne am Steuer sitzt, könnten sie dich einbuchten. Dann würdest du von drinnen nach draußen gucken. Ergo, Änderung der Blickrichtung. Jetzt kapiert?«

Sid schüttelt den Kopf. »Du bist echt bescheuert.« Dann fährt er auch schon los und wir biegen kurze Zeit später in die London Road ein. Bis nach Portobello ist es im Grunde nur ein Katzensprung. Nach einem anstrengenden Tag ist es aber immer noch zu weit zum Laufen oder um sich in die Öffentlichen zu setzen. Gerade mal eine viertel Stunde mit dem Auto und man ist schon am Portobello Beach, natürlich nur, wenn der Verkehr es zulässt. Was in Edinburgh fast ein Ding der Unmöglichkeit ist. Was, ihr glaubt mir nicht? Tja, dann startet doch mal den Versuch, die Royal Mile entlangzufahren. Kleiner Tipp: Es lohnt sich nicht. Also, nicht falsch verstehen, es lohnt sich schon, wenn man die Sehenswürdigkeiten dort anschauen möchte. Allerdings würde ich das nur auf den eigenen zwei Füßen einplanen.

 

Sidney parkt vor meiner Haustür ein, macht allerdings keine Anstalten auszusteigen.

»Na los, ich spendiere dir einen Whiskey. Musst du morgen zum Dienst?«

»Nein, hab zwei Tage frei«, erwidert er gedankenverloren.

»Super, dann bleibst du heute Nacht hier.«

Sid wiegelt ab. »Nein, lass mal gut sein. Ich kann mir ’n Taxi rufen.«

Ich schnalle mich ab und steige aus. Sid zieht den Schlüssel ab, schwingt sich ebenfalls auf die Straße und wirft ihn mir zu, bevor wir gemeinsam aufs Cav-House zugehen.

»Sei nicht so störrisch! Du schläfst heute hier. Morgen kann ich dich mit reinnehmen. Ich muss am Nachmittag eh geschäftlich in die Stadt.«

»Also gut«, gibt er endlich klein bei und grinst mich schief an.

»Oh nein, komm bloß nicht auf blöde Ideen. Ich sag John Bescheid, er möchte dir ein Zimmer herrichten.«

Sid zwinkert mir zu. »Spielverderber.«

»Jepp, mit Leib und Seele. Geh schon mal vor. Du weißt ja, wo du lang musst. Ich komme gleich nach.« Mir ist schon klar, was er bezweckt. Er will mich aufheitern und von meinen trüben Gedanken, die immer noch im Untergrund brodeln, ablenken. Ich werfe ihm meinen Apartmentschlüssel zu.

Mit dem Schlüsselbund um seinen Mittelfinger wirbelnd dreht sich Sid zur Treppe um, wackelt provokativ mit seinem Hintern und murmelt: »Selbst schuld.«

Blöder Kerl. Er kann es einfach nicht lassen. Und doch liebe ich ihn genau dafür. Ja, ich liebe ihn. Heiß und innig. Und wäre ich nicht hetero, wäre er genau meine Wahl. Glaube ich. Aber so müssen wir uns nun mal mit einer tiefen Freundschaft abfinden. Auf dem Weg zu John schnaube ich vor mich hin und denke noch, wie blöd sich das anhören muss. Aber so ist es eben. Ich bin mir sicher, oder nein, ich weiß, dass Sid ebenso empfindet. Wobei, das Gleiche hatte ich bei Neal auch gedacht. Tja, falsch gedacht. Man zahlt in seinem Leben immer auf die eine oder andere Art Lehrgeld.

Ich klopfe kurz an Johns Tür, warte und blicke auf meine Uhr. Mist, es ist echt schon spät, zumindest für John. Um diese Zeit liegt er eigentlich schon im Bett und schnarcht tief und fest. Hoffentlich hört er mich. Ich vernehme ein leises Schlufen und seine vom Schlaf raue Stimme. »Komme schon.«

Mit zerzaustem Haar und in einen Morgenmantel gehüllt öffnet er mir und schaut mich erstaunt an. »Meine Güte, siehst du scheiße aus!« Dann tritt er zur Seite und bittet mich herein.

Ich schüttle andeutungsweise den Kopf. »Ähm, ja danke auch. Das Kompliment gebe ich gerne zurück«, begrüße ich ihn und tätschle seine Schulter. »Sorry, ich wollte dich nicht wecken, bin auch gleich wieder verschwunden. Aber Sid ist hier. Kannst du mir einen Gefallen tun und schauen, welches Zimmer wir ihm geben können?«

»Kein Problem, das kann ich dir sofort sagen. Die 9 ist heute frei geworden. Clara hat es bereits wieder bezugsfertig hergerichtet.«

»Oh, wunderbar, dann hole ich schnell den Schlüssel. ’Tschuldigung nochmal. Wir sehen uns morgen. Schlaf gut.«

»Okay, bis morgen früh.« Mit einem herzhaften Gähnen schließt er seine Tür und ich mache auf dem Absatz kehrt, um zur Rezeption zu schlendern. Manchmal bin ich echt durch den Wind. Ich hätte auch einfach nur ins Gästebuch schauen müssen, dann hätte ich gewusst, welches Zimmer frei ist.

Bewaffnet mit dem Schlüssel für Sids Zimmer erklimme ich die Treppe bis ins zweite Obergeschoss, wo ich mir nach der Übernahme der Geschäfte mein eigenes Refugium eingerichtet habe. Die Pension ist schon seit drei Generationen im Familienbesitz. Als meine Eltern ankündigten, in den Ruhestand gehen zu wollen, habe ich nicht lange überlegt und sie übernommen.

Im Wohnzimmer sitzt Sid auf meiner Couch und zappt gelangweilt die Programme durch.

»Was glaubst du da zu finden? Ist doch eh nur Müll drin.«

Er schreckt hoch und schaltet augenblicklich die Glotze aus. »Keine Ahnung. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.«

»Was kann ich dir Gutes tun? Ich hätte einen Ardberg im Schrank«, biete ich Sid an.

»Um Gottes willen, wenn ich den Drang verspüre, an einem Stück Torf zu lutschen, mache ich das ohne Umwege.« Sein angewiderter Blick ist Gold wert.

»Okay, was hältst du dann von einem Dalwhinnie?«

»Viel besser. Danke, da sag ich nicht nein.«

Mit zwei Gläsern und der Flasche mit dem goldgelben Getränk in den Händen geselle ich mich zu Sid aufs Sofa. Ich gieße uns ein und proste ihm zu. »Auf dich.«

»Auf uns, mein Freund.«

Mit geschlossenen Augen genieße ich den samtigen Geschmack des Whiskeys und spüre, wie die Anspannung etwas von mir abfällt. Ich lehne mich zurück und schwenke mein Glas, um die Lichtreflektionen zu bewundern.

Sid stellt seins zurück auf den Beistelltisch und mustert mich von der Seite. »Also?«

Ich weiß, was er meint und zucke mit den Schultern. »Ich bin mir nicht sicher, was ich sagen soll.«

»Ruf ihn zurück und finde es heraus!«

Da blitzt wieder Sids Sturheit durch.

Ich krame umständlich in meiner Hostentasche, bis ich mein Handy in der Hand halte und es anstarre. Einmal tief durchatmend, meine Schultern gestrafft, entsperre ich das Display und drücke auf Rückruf. Mein Herz rast. Warum eigentlich? Ich tue gerade so, als würde ich eine meiner Ex-Frauen anrufen.

Es klingelt.

Einmal.

Zweimal.

Und ich bin kurz davor, mit zitternden Fingern den Anruf zu beenden, als ich seine Stimme höre.

»Hi, Duncan«, begrüßt mich Neal. Extreme Unsicherheit schwingt in den zwei kleinen Worten mit und ich kann nicht anders, als Mitgefühl für ihn zu empfinden, obwohl ich nicht mal weiß, warum er mich anruft.

Ich stelle auf Mithören und halte das Telefon mit etwas Abstand vor mich. »Hi, Neal.« Ich hätte tausend Fragen an ihn. Bin mir aber nicht sicher, ob es der richtige Zeitpunkt ist, ihn damit zu bombardieren. Er muss einen Grund haben, weshalb er nach so langer Zeit aus der Versenkung auftaucht.

Ich höre, wie er sich räuspert, anscheinend auf der Suche nach den richtigen Worten. »Danke, dass du zurückrufst. Ich hoffe, ich störe dich nicht.«

»Was gibt es?« Meine Frage klingt kälter und abweisender, als ich beabsichtige. Trotzdem ich ihm im Grunde schon nicht mehr gram bin, weil ich einfach nur glücklich bin, seine Stimme zu hören, ist es wohl meinem Unterbewusstsein geschuldet, dass ich so distanziert wirken muss. Es hat mich sehr verletzt, dass er einfach sang- und klanglos aus meinem Leben verschwunden ist. Immerhin haben wir vier Jahre zusammen in einem Zimmer gelebt, zusammen studiert, Freud und Leid miteinander geteilt. So dachte ich jedenfalls.

»Ich brauche deine Hilfe.« Es muss ihn ungeheuer viel Überwindung kosten, diese Worte über seine Lippen zu bringen, denn ich höre, wie er scheinbar erleichtert ausatmet.

»Inwiefern?«

Jetzt herrscht Stille am anderen Ende der Leitung.

Ich spüre Sids Blick auf mir ruhen und schaue zu ihm hinüber. Er schüttelt verständnislos den Kopf und wedelt auffordernd mit seinen Händen. Lautlos formt er mit den Lippen: »Mach es ihm nicht so schwer!«

Er hat recht. »Okay, Neal, worum geht es? Du würdest mich sicher nicht anrufen, wenn nicht die Kacke am Dampfen wäre. Also spuck’s aus!«

»Ich bin dir einige Antworten schuldig, die ich dir mit Sicherheit auch geben werde. Aber nicht am Telefon. Es geht im Moment auch nicht um mich. Meine Schwester steckt in Schwierigkeiten.«

»Ellen? Was ist mit ihr? Ist ihr etwas passiert? Geht es Drew nicht gut?« Seine Nachricht versetzt mich in Panik. Ellen und ich sind uns mehrere Male über den Weg gelaufen, als Neal noch in Edinburgh studierte. Eine Frau ganz nach meinem Geschmack. Wunderschön und dickköpfig. Letzteres liegt anscheinend in der Familie.

Ellen besuchte Neal gerne hier, denn sie liebte diese Stadt genauso wie ihr Bruder. Weshalb ich immer davon ausgegangen bin, dass er sich hier niederlässt und sie vielleicht irgendwann aus Glasgow herholen würde. Aber dann lernte sie dieses Arschloch Kirk kennen und wurde schwanger. Drew ist ein kleiner Schatz. Leider haben auch wir den Kontakt zueinander verloren, nachdem Neal als Bindeglied wegfiel.

»Ihr geht’s den Umständen entsprechend gut. Da ich aber erst seit zwei Tagen wieder im Lande bin, kann ich ihnen nicht wirklich helfen. Und selbst wenn, sie brauchen einen Ort, an dem sie zur Ruhe kommen können. Möglichst nicht in Glasgow. Und um ehrlich zu sein, du bist der Erste, der mir eingefallen ist.« Zum Ende hin wird seine Stimme immer leiser.

… im Lande? Soll das heißen, er war im Ausland? Dann muss ich mich nicht wundern, dass mir niemand etwas über ihn sagen konnte.

Ich schüttle meine Gedanken ab und konzentriere mich auf das aktuelle Problem. »Wo seid ihr jetzt?«

»In meinem Hotel. Zum Glück war noch ein Zimmer frei. Aber sie muss unbedingt aus Glasgow weg.«

Ich überlege, was ich tun kann, und nicke nur, als mir die Lösung kommt.

Sid stupst mich mit dem Ellenbogen an und flüstert: »Dun, sag was! Das kann er nicht sehen.«

»Oh, du bist nicht alleine. Sorry, ich störe dich doch. Lass uns wann anders reden, Duncan«, lenkt Neal ein.

Mist, er hat Sid gehört. Blöde Situation. »Nein, nein, du störst nicht. Und außerdem habe ich dich angerufen, schon vergessen?«

»Okay«, entgegnet Neal leise.

»Pass auf, setzt euch ins Auto und kommt ins Cav-House, sobald ihr könnt. Notfalls gerne auch noch heute Nacht. Ich kümmere mich darum, dass ihr erst mal ein Dach über dem Kopf habt.«

Wieder breitet sich Stille auf der andern Seite aus. Ich schaue aufs Display, rechne bereits damit, dass die Verbindung unterbrochen wurde. Dem ist nicht so. »Neal? Hast du gehört?«, frage ich nach.

Ich höre, wie er sich ein weiteres Mal räuspert. »Danke, Dun. Du glaubst gar nicht, wie viel mir deine Hilfe bedeutet. Ich hätte es wirklich verstanden, wenn du mich zum Teufel jagen würdest, nachdem, was ich abgezogen habe.« Neals Stimme wirkt brüchig, als würden ihm Emotionen das Sprechen erschweren.

Dass er mich Dun nennt, versetzt mir einen Stich ins Herz. Es ist nicht so, dass mich niemand so nennt. Meine Familie und all meine Freunde benutzen die Kurzform von Duncan. Trotzdem es ein unmöglicher Name ist, mag ich ihn irgendwie. Aber ihn jetzt von meinem vormals besten Freund zu hören, schnürt mir die Kehle zu. Herrgott, ich hab ihn so vermisst. Verdammte Scheiße aber auch! »Kommt her und lasst uns in Ruhe über alles reden, okay? Wir finden eine Lösung, wofür auch immer.«

»Gut. Danke noch mal. Ellen und Drew sind schon auf ihrem Zimmer. Ich werde sie morgen nach dem Frühstück einsacken und rüberkommen. Ich denke, wir werden so gegen zehn bei dir sein. Ist das in Ordnung für dich?«

»Natürlich! Ich bin da. Also bis morgen … Neal?«

»Hm?«

»Alles wird gut.« Ich kann nicht aus meiner Haut und muss einfach versuchen ihm das Gefühl zu geben, dass er nicht allein ist.

»Wir werden sehen«, flüstert Neal. »Bis morgen, Dun.«

Es fällt mir schrecklich schwer aufzulegen. Eine unterschwellige Angst, ihn ein weiteres Mal zu verlieren, bemächtigt sich meiner. Sid nimmt mir das Handy aus der Hand und legt es vorsichtig auf den Tisch. Damit erinnert er mich daran, dass wiederum ich nicht allein bin. Mit seinen nächsten Worten erstaunt er mich dann ein weiteres Mal. »Er hört sich nett an.«

Ich hatte damit gerechnet, dass er Neal alles mögliche schimpft, aber doch nicht, dass er seine Stimme nett findet. »Ja, im Grunde ist er ein feiner Kerl. Ich weiß wirklich nicht, was ihn damals veranlasst hat, das Weite zu suchen. Nun ja, wir werden es wohl bald herausfinden, nicht wahr?«

»Ja. Ich bin gespannt. Am besten werde ich dir morgen noch ein wenig Gesellschaft leisten. Natürlich nur, wenn du magst.«

Ich drücke ihm sein Glas in die Hand und nehme meins ebenfalls, um ihm zuzuprosten. »Du bist hier immer willkommen, das weißt du doch, oder?«

Wir lassen unsere Gläser klirren. »Jepp, weiß ich. Slàinte mhath, mein Freund!«

»Slàinte mhath*! Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.«

 

* gälischer Trinkspruch, wörtlich: „gute Gesundheit“

 

~*~

Ende der Leseprobe

Impressum

Texte: Nele Betra
Bildmaterialien: Nele Betra / shutterstock
Lektorat: Brigitte Melchers / Bernd Frielingsdorf
Tag der Veröffentlichung: 22.04.2016

Alle Rechte vorbehalten

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