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LESEPROBE Tree of Truth Kapitel 1-3

Kapitel 1 Frauen und Werkzeuge

 

- Matthew -

 

„Guten Morgen, Bruderherz. Lust, heute Abend rüberzukommen? Ich mache Kartoffelauflauf und Steaks“, plärrt mich meine Schwester euphorisch an. Ich erschrecke mich fast zu Tode und mir fällt um ein Haar der Zylinderkopf aus der Hand. Na, das hätte noch gefehlt. Diese Frau lässt mich frühzeitig ergrauen.

Ich atme einmal tief durch und drehe mich zu den Eindringlingen um. Es geschieht nicht selten, dass ich einfach die Türklingel überhöre, wenn ich in meine Arbeit vertieft bin. Vicky weiß das und benutzt natürlich den Zweitschlüssel, den ich ihr kurz nach meinem Einzug in dieses Haus gegeben habe. Dass Charly dabei ist, wundert mich nicht wirklich, allerdings hatte ich sie heute nicht erwartet. Meine Nichte ist begeisterte Motorradfahrerin, werkelt für ihr Leben gern an ihrer Maschine herum, worin sie ziemlich erfolgreich ist. Sie konnte mit ihren zwanzig Jahren in Indianapolis bereits einige Rennen in der 125er Klasse für sich entscheiden. Ich gebe zu, sie ist mein ganzer Stolz. Was die Schrauberei angeht, bin ich gerade dabei, ihr etwas unter die Arme zu greifen. Ich hätte es schon eher tun sollen, doch leider fehlte mir einfach die Zeit dafür. Aber egal, jetzt habe ich sie im Überfluss und Charly ist eine der wenigen Personen, deren Gegenwart ich auf Dauer ertrage.

Ich schaue mich suchend um und sehe hinter Vicky das benötigte Ersatzteil, um den Motor wieder zusammensetzen zu können.

„Vicky, gib mir mal bitte die Zylinderkopfdichtung, die hinter dir liegt.“

„Was für’n Ding? Zylinder - wie?“

Charly greift an ihr vorbei. „Mom, schau hier! Dieses Ding, was aussieht wie ein Untersetzer mit Loch“, erklärt sie genervt und hält ihr genannte Dichtung vor die Nase.

„Warum sollte ich wissen wollen, was das ist?“

Seufzend lege ich behutsam den Zylinderkopf ab. „Stimmt auch wieder“, grummel ich und nehme von Charly den Pappring entgegen. „Danke. Darf ich fragen, warum ihr mich schon so früh mit eurer Anwesenheit beehrt? Habt ihr nichts zu tun? Vicky, musst du nicht in den Laden? Und Charly, solltest du nicht an der Uni sein?“

„Mat, was bist du wieder mürrisch heute. Geht’s dir nicht gut?“ Vicky lehnt an meiner Werkbank und spielt mit meinem Drehmomentschlüssel herum, den ich ihr postwendend aus der Hand nehme und liebevoll an seinen angestammten Platz lege.

„Erstens ging es mir bis vor drei Minuten wunderbar und zweitens Finger weg von meinem Werkzeug! Wie oft muss ich dir das noch sagen? Das ist ein empfindliches Präzisionsgerät. Damit wird nicht gespielt!“ Die Dichtung lege ich vorsichtig auf einen sauberen Teil der Arbeitsfläche und drehe mich wieder zu ihnen um.

Charly kichert in ihren Rollkragen, dreht sich von mir weg und streicht andächtig mit den Fingerkuppen über den letzte Woche frisch lackierten Tank meiner Norton. „Mat, der ist richtig toll geworden. Wann bist du fertig mit ihr?“

„Nur, weil du das dreimal am Tag fragst, geht es nicht schneller. Sie ist fertig, wenn ich es sage.“

„Hm … Mum hat recht, du bist heute bissig. Ich wollte nur wissen, wann ich mit der Schönen die erste Runde drehen darf“, schmollt sie.

Ich schüttle den Kopf und deute mit meinen Händen das Zeichen für Auszeit an. „Stopp, das Wichtigste zuerst.“ An Vicky gerichtet nicke ich. „Ja, ich komme heute Abend gern zum Essen. Wann soll ich da sein?“

„Gegen sieben wäre perfekt. Soll dich jemand abholen?“

„Ich mag ‘nen Schaden haben, aber ich kann mich trotzdem noch locker vom Fleck bewegen. Und ich glaube, fünfhundert Meter werde ich gerade noch schaffen.“ Es macht mich rasend, wenn mir jemand das Gefühl gibt, ich würde mir nicht mal mehr alleine die Schuhe zubinden können. Wobei es ja im Grunde nur noch einer ist.

Sie hebt beschwichtigend ihre Hände. „Ist ja gut, krieg dich wieder ein.“ Meine Schwester schaut zu Charly. „Frag du ihn, was ihm über die Leber gelaufen ist. Mich killt er schon, wenn ich nur falsch gucke. Also, ihr zwei, bis später. Ich gehe dann mal. Heute kommt noch eine Lieferung Bücher, die sollte ich einsortieren, bevor sie mir wieder die Tür einrennen.“ Sie dreht sich zum Gehen um, bleibt jedoch noch einmal stehen. Über ihre Schulter hinweg grinst sie mich an. „Ach, bevor ich es vergesse. Wir haben heute Abend Besuch.“

„Was? Besuch? Warum soll ich dann kommen?“

„Vielleicht kannst du dich besser mit unserem Gast unterhalten. Ich habe doch von dieser Motorradsache und dem ganzen Quatsch keine Ahnung. Also dann bis heute Abend, Matti“, höre ich sie trällernd durch die Tür verschwinden.

Mit gerunzelter Stirn blicke ich fragend zu Charly rüber und deute mit dem Zeigefinger auf sie. „Und jetzt zu dir. Warum bist du nicht in der Uni? Und wer wird heute Abend mit uns essen?“

Ihre Daumen in die Hosenträger geschoben beugt sie sich verschwörerisch vor und flüstert: „Neugierig? Ich kann dir nur verraten, dass es mit Sicherheit ein netter Abend wird.“ Nebenher dreht Charly sich um und kramt in meiner Schublade, bis sie einen Maulschlüssel rausfischt. Den hält sie mir drohend entgegen und grinst. „Du wirst mir versprechen, nett zu sein.“

„Warum sollte ich?“ Irgendetwas läuft hier gerade ab. Mein Gefühl trügt mich selten. Dass sie mir etwas verheimlicht, sagte sie ja bereits, aber da steckt eindeutig mehr dahinter.

„Wirst schon sehen. Komm, versprich es!“

Ich nicke und verdrehe gleichzeitig die Augen. „Oh man, womit habe ich das bloß verdient?“

Charly stürmt auf mich zu und springt mir quietschend um den Hals. „Du bist der beste Onkel, den ich habe.“

Ich kann gerade noch mein Gleichgewicht halten, indem ich mich eilig mit der rechten Hand am Schraubstock verhake, muss aber grinsen. „Was ja auch extrem schwierig ist, wenn man wie du nur einen hat.“

Sie ist schon immer impulsiv, handelt spontan und unüberlegt. Was im Rennsport nicht unbedingt optimal ist. Zumindest, wenn es um Risikobewertungen geht.

„Sagst du mir jetzt, was mit der Uni ist?“

Sie entlässt mich aus ihren Fängen und richtet mütterlich meine Kleidung, während sie ein nachdenkliches Gesicht macht. Ich nehme ihr Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger und zwinge sie somit mir in die Augen zu schauen. „Was ist los, Schatz?“

Trotzig zieht sie ihre Schultern ein und schiebt ihre Unterlippe vor. Oh je, das sieht nach etwas Schwerwiegendem aus. Meine linke Augenbraue wandert zur Stirn hinauf und ich blicke sie ernst an.

„Du wirst nicht aufhören zu fragen, oder?“

Aha, hab ich es doch gewusst. Ich schüttele nur den Kopf und warte auf ihre Antwort.

Charly atmet schwer aus und flüstert: „Ich bin suspendiert.“

„Was?!“ Das kann ja wohl nicht wahr sein.

„Na ja, die fanden es nicht witzig, dass ich mehr Zeit auf der Piste und in meiner Garage verbringe als am Schreibtisch.“

„Soll heißen?“

„Mir fehlt die Zeit fürs Studium. Um ehrlich zu sein, will ich es sowieso nicht beenden. Was meinst du dazu?“

Was ich dazu meine? Ich würde es scheiße finden, wenn sie alles aufgibt. Leider ist es aber nicht meine Entscheidung. „Darüber sollten wir vielleicht noch mal nachdenken, oder? Was sagt deine Mum dazu?“

„Sie ist, gelinde gesagt, nicht erfreut darüber. Aber es wird schon alles gut gehen.“ Anscheinend hat sie sich in ihrem verrückten Hirn bereits etwas zusammengesponnen. Mir wird angst und bange, danach auch nur zu fragen.

„Schatz, ich bin nicht dein Dad. Das sind Dinge, die musst du mit deiner Mum besprechen. Oder gibt es einen besonderen Grund, warum es ausgerechnet ich bin, den du fragst, wenn deine Mum es so gut wie abgesegnet hat?“

„Könnte sein.“

„Nun gut. Was hältst du davon, wenn wir reingehen und Josy bitten, uns ein zweites Frühstück zu machen? Und dann reden wir.“

„Gute Idee. Ich hab Hunger.“

 

Kaum sind wir in der Küche, stürmt Jerry Lee auf uns zu. In einem aussichtslosen Manöver, vor uns zu stoppen, schliddert er auf den glatten Fliesen an uns vorbei und donnert gegen die Verandatür, die wir zuvor geschlossen hatten. Schmerzfrei, wie er ist, nimmt er keinerlei Notiz vom Aufprall und kommt aufgeregt winselnd zurück, um uns zu begrüßen, als wären wir einem Monat weg gewesen. Sein Schwanz rotiert vor Freude so schnell, dass sein Hinterteil wie wild mitwackelt. Mit seinen euphorischen Begrüßungen bringt er mich jedes Mal zum Grinsen. Ich beuge mich zu meinem Liebling, kraule ihn hinter den Ohren, bis er mit der linken Hinterpfote ausschlägt und vor Wonne schier die Augen verdreht. „Hallo, mein Hübscher, warst du ein guter Junge? Oder hast du Josy wieder in den Wahnsinn getrieben?“

„Er war wie immer ein braver Kerl“, wendet Josy ein.

Ich schaue zu ihr auf. „Guten Morgen. Soll ich das jetzt wirklich glauben?“

Sie zuckt mit ihren Schultern. „Klar, er ist immer folgsam, wenn wir unterwegs sind. Stimmt’s, Jerry?“, erwidert sie total gelassen, zwinkert Charly zu und wirft Jerry eine Kusshand zu. Als ob er, selbst wenn er könnte, widersprechen würde.

Charly gesellt sich zu uns herunter und übernimmt die Streicheleinheiten. „Ja, du bist ein ganz Lieber. Dein Herrchen hat keine gute Meinung von dir. Du solltest ihn mal in den Hintern beißen“, gurrt sie und wird zum Dank mit einem feuchten Hundekuss belohnt. Sie spuckt, lacht und schiebt den Wildfang von sich, der es als Aufforderung sieht und mit ihr spielend ringt.

„Habt ihr zwei Hunger?“, fragt Josy über ihre Schulter hinweg.

Langsam und vorsichtig erhebe ich mich - nach all der Zeit fällt es mir immer noch schwer das Gleichgewicht zu halten - und gehe zu ihr rüber. Ich fische zwei Tassen aus dem Regal, bleibe neben ihr stehen und öffne einen großen blubbernden Topf, um zu schnuppern. „Eine Kleinigkeit könnten wir vertragen. Was hast du auf die Schnelle für uns? Das riecht übrigens lecker, was ist das?“

Josy zieht mich am Arm vom Herd weg, nimmt mir die Tassen aus der Hand, um sie auf den Tisch zu stellen und drückt mich auf einen Stuhl. „Chili nach Josy Art. Das gibt es aber erst zum Mittag. Ich kann euch schnell ein paar Pancakes in die Pfanne schmeißen, wenn ihr wollt.“

„Oh ja, super“, flötet Charly, die Jerrys Wassernapf füllt, ihm ein Leckerli aus der Schublade holt und sich dann mit ihm im Schlepptau mir gegenüber auf die Eckbank setzt. Jerry quengelt so lange, bis meine Nichte auf die Seite rutscht und ihn auf die Bank lässt. Er legt seufzend seinen Kopf auf ihren Schoß und holt sich weitere Kuscheleinheiten ab. Charly lässt sich natürlich nicht zweimal bitten, krault ihn hinter seinen Ohren und flüstert auf ihn ein.

„Gut, dann genießt solange den Kaffee“, fordert Josy, während sie wie aus dem Nichts eine Kanne frisch Gebrühten in die Tischmitte zaubert.

Während ich an meinem heißen Getränk nippe, beobachte ich meine Nichte, Jerry und Josy, wie sie mit der Pfanne hantiert.

 

Es gibt nicht mehr sehr viele Menschen in meinem Leben, die es lange in meiner Nähe aushalten. Erwähnte ich ja bereits. Da wäre Vicky, meine Schwester, mit dem Gemüt eines Ackergauls. Sie würde wahrscheinlich nicht einmal ein F5-Tornado aus der Ruhe bringen. In ihrem kleinen, aber gut sortierten Buchladen mit integriertem Café fühlt sie sich wie zu Hause. Bücher sind ihre Welt und zum Glück konnte ich ihr ihren Traum eines eigenen Ladens mit Lese- und Kaffeeecke sowie Lesenachmittagen für Kinder verwirklichen.

Mein Lieblingsmensch ist unstreitbar meine Nichte, Charly, die im Augenblick sehr beschäftigt mit Jerry Lee ist und damit eine sehr subtile Gesprächsvermeidungstaktik an den Tag legt.

Und dann hätten wir noch Josy. Als meine ehemalige Physiotherapeutin ignoriert sie meine Macken und hat auf seltsame Weise einen Narren an mir gefressen. Wie ich es in ihr Herz geschafft habe, ist mir ein Rätsel.

Nachdem ich vor drei Jahren fünf Therapeuten in die Flucht geschlagen hatte, übernahm sie meine Behandlung. Sie war zu diesem Zeitpunkt meine letzte Rettung. Das weiß ich jetzt. Damals sah ich es etwas anders und machte ihr das Leben zur Hölle. Zumindest versuchte ich es. Mit ihrer zwar mütterlichen, jedoch schroffen und direkten Art, drehte sie den Spieß mühelos um. Sie war nicht das, was man sich schlechthin unter Physiotherapeuten vorstellt. Kein junger dynamischer Mensch mit gestähltem Körper, der sich für einen Motivationsweltmeister hält. Bereits in ihren Fünfzigern angelangt, hatte sie genug Lebenserfahrung, um mich Trottel auf Kurs zu bringen. Nach anfänglich sehr explosiven Streitgesprächen rauften wir uns zusammen. Sie schaffte es tatsächlich, mich in kürzester Zeit wortwörtlich auf die Beine zu bringen. Ich verdanke ihr eine Menge.

Irgendwann während meiner Rekonvaleszenz verriet sie mir, ich wäre ihr letzter Patient, da sie sich entschieden hätte, in ihren wohlverdienten Ruhestand zu gehen. Sie hätte nur absolut keine Ahnung, was sie dann mit ihrer übermäßigen Freizeit anfangen solle. Diese Information nistete sich bei mir ein.

Es kam, wie es kommen musste. Meine damalige Haushaltshilfe strich – ich gebe zu, ebenfalls nach einer heftigen Auseinandersetzung – die Segel. Josy übernahm kurzerhand sämtliche Aufgaben im Haus und weicht mir seitdem nicht mehr von der Seite.

Es war seltsam. Der Übergang von Therapeutin zur Haushälterin und Freundin verlief nahtlos. Nachdem ich wieder vollständig hergestellt war, was man in meiner Lage vollständig nennen konnte, gab es nur ein kurzes ruppiges Gespräch. Josy stellte mich vor vollendete Tatsachen und meinte, ich hätte sowieso keine andere Wahl, als sie zu behalten und ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen. Bei so einem Sturkopf wie mir würde eh keiner lange bleiben. Überrumpelt und doch wissend, sie hatte recht, stimmte ich mürrisch zu. Sie nannte mir ihre Arbeitszeiten, Lohn, Urlaubstage und zog in mein Haus ein. Punkt. Tja, womit eine weitere Frau um mich herumwuselte.

Mittlerweile ist sie nicht nur meine Angestellte, sondern zählt zu meinen engsten Vertrauten. Ja, ich kann sagen, sie zählt zur Familie, meiner sehr überschaubaren Familie. Außer Vicky und Charly gibt es da niemanden mehr. Unsere Eltern kamen vor Jahren bei einem Brand ums Leben. Der Rest der buckligen Verwandtschaft wohnt in alle Himmelsrichtungen zerstreut und legt keinen gesteigerten Wert darauf, mit einem durchgeknallten Coach in Kontakt zu stehen, der obendrein auch noch schwul ist.

 

Josy summt zufrieden vor sich hin, während sie uns die versprochenen Pancakes zubereitet. Eine gute Gelegenheit, meine Nichte darauf aufmerksam zu machen, dass wir hier aus einem bestimmten Grund sitzen. „Dann schieß mal los!“

Als hätte ich sie bei einer Sünde erwischt, schaut sie mich mit glühenden Wangen an. „Na ja, du weißt ja, was mein Traum ist. Und … ähm … ich habe mich entschieden, nicht bis nach dem Studium zu warten, sondern mich jetzt voll reinzuhängen.“

„Wie stellst du dir das vor? Du solltest wirklich erst den Abschluss machen. Was ist, wenn es mit der Rennkarriere nicht funktioniert? Willst du in ein paar Jahren dann hier sitzen und dich darüber totärgern, dass du so überstürzt alles hingeschmissen hast? Charly, du bist zwanzig und hast genug Zeit. Du kennst den Stress, dem du dich aussetzen würdest, wenn du jetzt voll einsteigst.“ So langsam, aber sicher rede ich mich in Rage. „Du wirst nur noch unterwegs sein, dein Coach wird dich permanent unter Druck setzen. Wenn es dann nicht so gut läuft, wie ihr euch das vorstellt, werdet ihr die falschen Entscheidungen treffen. Fehler werden begangen. Tödliche Fehler. Fehler, die ihr niemals rückgängig machen könnt. Was soll ich deiner Mutter dann sagen? Soll ich hingehen und ihr verklickern, dass sie nun endgültig jemanden verloren hat, den sie liebt? Das kannst du nicht von mir verlangen! Ich werde das nicht …“

„Mat!“, fährt sie mir aufgebracht über den Mund, steht wütend auf, sodass Jerry Lee vor Schreck von der Bank springt und sich winselnd mit eingezogenem Schwanz in seine Ecke verkrümelt, und baut sich auf den Tisch gestützt vor mir auf. „Wir reden hier nicht von dir!“, brüllt Charly mich an.

Geschockt halte ich inne. Das hat gesessen. So hat sie zuvor noch nie mit mir geredet. Charly scheint zu sehen, dass ihre Worte mich tief getroffen haben. Ihr Gesicht wird schlagartig sanft. Der zornige Ausdruck in ihren Augen verschwindet und weicht einer entschuldigenden Miene. Sie legt ihren Kopf in den Nacken, schließt die Augen. Anscheinend versucht sie, sich zu beruhigen. Ihr Brustkorb hebt sich unter einem tiefen Atemzug, bevor sie sich betont langsam wieder hinsetzt.

Aus Josys Richtung höre ich nur Gegrummel, was sich anhört wie: „Scheint ein familiärer Defekt zu sein.“

Ich bin immer noch wie erstarrt und bringe keinen einzigen vernünftigen Satz über die Lippen. Also nehme ich meine Tasse und starre in die braune Flüssigkeit.

Leise, aber eindringlich redet Charly weiter. „Entschuldige, das wollte ich nicht sagen. Das war dir gegenüber unfair.“ Sie legt sacht ihre Hand auf meine und drückt sie leicht, bis ich sie ansehe. „Es war nicht deine Schuld, was damals passiert ist. Und ja, es ist echt beschissen gelaufen. Aber das alles hat doch nichts mit mir zu tun. Lass mich doch bitte erklären, was ich mir überlegt habe. Vielleicht kannst du mich dann besser verstehen. Sicher, ich bin in deinen Augen ein junges Ding, was noch grün hinter den Ohren ist. Aber ich habe meine Vorstellungen, die ich gern mit deiner Hilfe - falls du bereit bist - verwirklichen will.“

„Ich kann dich nicht coachen“, flüstere ich. Allein darüber nachzudenken, in diese Richtung Verantwortung für jemanden zu übernehmen, der auf mich baut und mir bedingungslos vertraut, lässt mich in Angstscheiß ausbrechen. Wenn ich mir vorstelle, dieser Jemand wäre Charly, bleibt mir das Herz stehen. Ich kann das nicht. Auf keinen Fall werde ich ein zweites Mal die Schuld auf mich laden und einen Fahrer in den Tod schicken. Und mit Sicherheit nicht Charly.

„Mir ist klar, was du denkst. Aber ich will dich nicht als Coach. Ich brauche dich als meinen Onkel, der weiß, was gut für mich ist und bereit ist, gewisse Risiken zu übernehmen.“

„Risiken? Bin mir nicht sicher, was du meinst“, nuschle ich in die Tasse.

„Mat, kannst du mir meinen Ausraster verzeihen?“

„Klar.“

„Nein, im Ernst. Es tut mir wirklich leid.“

Ich schaue zu ihr auf und sehe pure Verzweiflung. Ja, ich habe eindeutig überreagiert und eventuell voreilig die falschen Schlüsse gezogen, aber ihre Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht und schmerzen mehr als ich zugeben will. Allerdings konnte ich ihr noch nie wirklich böse sein. Sie ist mein kleines Mädchen. Ich liebe sie, als wäre sie meine eigene Tochter. Also schlucke ich meinen Stolz runter - was ich bei keiner anderen Person tun würde - und lächle sie an. Der Stein, der ihr vom Herzen fällt, ist so groß und macht einen Lärm, dass ihn wahrscheinlich die kleinen Italiener auf der anderen Seite der Erde noch hören können. „Vergeben und vergessen. Dann erzähl mir mal, was dein geniales, demnächst durch Aufgabe des Studiums permanent unterfordertes Hirn ausgeheckt hat.“

Die Augen meiner Nichte fangen an zu leuchten, während sie mir aufgeregt von ihrem Plan erzählt. „Motorräder sind mein Leben, das weißt du. Im Grunde bist du es, der mich dazu angestiftet hat. Lewis hat mich vor ein paar Wochen nach einem Rennen angesprochen und mir einen Job angeboten.“

„Was für einen Job? Wer ist dieser Lewis und wie kommt er dazu, dich einfach anzuquatschen?“

„Ich war auch überrascht und skeptisch. Er hat mich auf einen Kaffee überredet, wobei er mir erzählte, er überlege, in das Bikergeschäft einzusteigen. Er hätte gesehen, mit welcher Leidenschaft ich fahre und wie viel Herzblut ich in meine Maschine stecke. Er gab auch zu, dass er wüsste, wer mein Onkel ist und dass er dich ebenfalls persönlich kennenlernen möchte.“

„Verstehe ich nicht wirklich. Was hat das mit mir zu tun? Und weshalb willst du wegen eines wildfremden Kerls alles hinschmeißen? Du weißt, dass du jede x-beliebige Marke an jeder Ecke kaufen kannst. Der Markt ist übersättigt. Was soll ausgerechnet an seinem Laden so toll sein?“

„Ähm, fremd ist er mir ja nun mittlerweile nicht mehr“, widerspricht Charly mit einem Zwinkern.

„Wie das? Hast du was mit ihm?“

„Quatsch. Wir haben uns nur ein paar Mal getroffen.“

„Und das reicht dir, um deine Zukunft mit ihm zu planen?“

„Mat, für wie blöd hältst du mich? Ich hab ihm gesagt, ich würde studieren und neben meinem Hobby auch noch ein paar Stunden bei Mum aushelfen. Dass sein Angebot schmeichelhaft wäre, ich es mir aber nicht leisten kann. Denn schließlich muss er ja erst einmal Fuß fassen und das Geschäft Gewinne abwerfen, um Vollzeitkräfte anstellen zu können. Daraufhin erklärte er mir, dass Geld keine Rolle spielen würde, er hätte genug für uns alle. Du hättest mein Gesicht sehen sollen. Als er dann mit leuchtenden Augen von seinem Traum sprach … na ja, es fühlt sich richtig an. Also, es ist so, er möchte nicht in erster Linie verkaufen, sondern einen besonderen Service für Custombikes anbieten. Nicht nur in der Choppersparte, auch für Joghurtbecher, wie er sich ausdrückte. Womit wir ins Spiel kommen, da er mich als Mechanikerin einstellen will. Für Chopper hätte er schon ein paar Jungs am Start.“

„Was ist er von Beruf – Sohn?“ Der Typ ist mir jetzt schon unsympathisch.

„So ungefähr. Er wird es dir sicher heute Abend besser erklären können. Worum es mir allerdings geht, ist Folgendes. Ich möchte, dass du mich begleitest. Egal wohin mich mein Weg führt. Ich brauche dich an meiner Seite, als Ratgeber, Bremse, Schulter zum Ausheulen oder wie immer du es nennen willst. Ohne dich kann ich es nicht. Das habe ich auch Lewis gesagt. Für ihn ist es kein Problem. Er findet die Idee sogar super, da er weiß, wer du bist und er eh vorhatte, mit dir über eine eventuelle Teilhaberschaft zu sprechen. Um ihn kennenzulernen, hat Mum dich heute Abend eingeladen. Im Übrigen ist er trotz deiner Vorurteile ein sehr netter Mann. Bist du dabei? Du hast schon immer für mich die heißen Kartoffeln aus dem Feuer geholt. Wirst du diesmal wieder für mich da sein? Kannst du dir vorstellen, den Bockmist, den ich vielleicht verzapfe, geradezubiegen oder dich mit mir zu freuen, wenn wir ein paar verrückte Freaks glücklich machen? Du könntest, was du hier in deinem stillen Kämmerlein tust, genauso gut auch dort machen.“

Die ganze Sache kommt mir spanisch vor. Charly ist viel zu versessen darauf. Mir ist klar, dass ich sie nicht davon abbringen kann. Sie ist genauso stur wie ich. Also werde ich, schon um sie vor sich selbst zu beschützen, in den sauren Apfel beißen und mir diesen Lewis näher anschauen. Es ist mit Sicherheit kein Traum von mir in irgendeiner Schrauberbude zu versauern, aber für Charly würde ich sogar zum Mond fliegen, sollte sie mich je darum bitten. „Mir ist schleierhaft, auf was ich mich hier gerade einlasse. Aber ich werde dich nicht blindlings ins Verderben rennen lassen. Ich höre mir die ganze Sache mal an und dann sehen wir weiter, okay?“ Da fällt mir etwas auf, was sie gesagt hat. „Sag mir jetzt nicht, deine Mum kennt deine Pläne, wie die auch immer aussehen mögen.“

Verlegen presst Charly ihre Lippen zusammen, verzieht das Gesicht und spielt mit dem Henkel ihrer Tasse.

Hinter uns klirren Teller und Josy lacht auf. „Na, was glaubst du, warum Vicky sich so schnell vom Acker gemacht hat. Da sie dich kennt, wollte sie es sicher ihrer Tochter überlassen, dir alles zu erzählen. Ihr kannst du doch eh nichts abschlagen“, erklärt sie mir wie selbstverständlich und stellt uns je einen Teller mit leckeren Pfannkuchen vor die Nase, die Charly sofort mit eingezogenem Kopf beginnt zu vernichten.

„Woher weißt du, dass sie hier war?“

Eine ihrer Augenbrauen wandert vorwurfsvoll unter das silberfarbene Haar. „Mein Junge, sie schleicht sich nicht wie du klammheimlich durch die Küche, um in die Garage zu kommen.“

„Was soll das denn jetzt wieder heißen?“, entrüste ich mich.

„Dass du glaubst, nur weil ich meinen Job aufgegeben habe, würde ich nicht mehr mitkriegen, was um mich herum passiert.“ Sie grinst und klopft mir kumpelhaft auf die Schulter. „Ich mag nicht mehr die Jüngste sein, aber verblödet bin ich noch nicht.“

„Wovon reden wir hier überhaupt? Ich dachte, es wäre immer noch mein Haus und ich könnte mich frei bewegen, ohne mich bei dir an- und abzumelden.“ Ich bin schließlich mit meinen 42 Jahren alt genug, um kein Kindermädchen zu benötigen. Ich lasse mich doch nicht von ihr bevormunden.

Josy grinst mich frech an. „Och, nun komm aber mal wieder runter.“ An Charly gerichtet flüstert sie: „Jetzt schmollt er wieder. Magst du noch Nachschlag?“ Damit war das Thema für sie erledigt. Sie wartet nicht einmal auf eine Antwort. Nicht von mir und auch nicht von Charly. Mit dem leeren Teller in der Hand stiefelt sie zum Herd zurück und schaufelt meiner Nichte weitere Pancakes drauf, die ihr nur schulterzuckend und feixend hinterherschaut.

„Das hat man davon, wenn man Frauen ins Haus holt. Es wird Zeit, dass sich das ändert“, murmle ich, muss mir aber ein Grinsen verkneifen.

„Oh, willst du dir ‘nen Poolboy zulegen? Nette Idee. Darf ich den mit aussuchen? Schließlich freuen sich meine trüben Augen auch über einen ansehnlichen Kerl.“

„Josy, übertreib es nicht!“ Wie kann man nur solche Flausen im Kopf haben.

„Also kommst du heute zum Abendessen?“, nuschelt Charly mit vollem Mund.

„Ich hatte doch schon ja gesagt. Jetzt lass uns essen. Was hast du die nächsten Stunden noch vor?“

„Wieso?“

Ich wollte einfach nur meiner Norton den letzten Schliff verpassen und sie über den Asphalt jagen. Dank eines Doppelkupplungsgetriebes, welches ich nachgerüstet habe, ist es mir möglich, mit meiner Prothese zu fahren. Die Gänge werden nicht mehr über Fußpedale geschaltet, sondern per Tastendruck am Lenker, ähnlich wie bei Rennmaschinen. Ein Hoch auf die Honda-Ingenieure. „Kannst mir ja helfen noch ein paar Kleinigkeiten an meiner Süßen in Ordnung zu bringen.“

Charly schiebt ihre Unterlippe vor und überlegt. Was gibt es da nachzudenken? Sonst nervt sie mich bis zum Exzess, damit ich sie an meinen Liebling lasse, und nun das.

„Wenn du was Besseres vorhast, kein Problem. Ich kann den Motor auch allein montieren und sie das erste Mal starten.“ Als wäre es nichts Besonderes, zucke ich nur mit den Schultern und mache mich über meinen mittlerweile kalten Snack her.

„Was? Bist du irre? Natürlich bin ich dabei“, erwidert sie aufgebracht und doch euphorisch.

Ich grinse nur. „Okay.“ Ich freue mich diebisch, dass mein Mädchen Zeit mit mir verbringt.

 

***

 

Kapitel 2 Ein vermeintlicher Heiratsantrag

 

- Lewis -

 

Meine Mutter nennt mich immer liebevoll eine Flitzpiepe. Ihrer Meinung nach bin ich zu schnell mit meinen Entscheidungen, die mehr aus einem Bauchgefühl heraus entstehen, als durch Verstand. Aber hey, das Leben ist kurz.

Dass es mich aus diesem Grund an Orte verschlägt, die ich nie im Leben freiwillig aufgesucht hätte, kann man sich sicher gut vorstellen. Und an so einem befinde ich mich gerade. Eine besondere Mission treibt mich her, die mit den Jahren an Dringlichkeit zunahm. Eine Mission, ein Vorhaben, eine saublöde Idee, die mir noch eine Menge Ärger bringen wird. Ich weiß es jetzt schon und doch finde ich keinen anderen Weg, als diesen, den ich jetzt gehen werde. Ich muss es einfach tun.

Ich stehe mitten in einem Eckladen. Der Duft nach frischem Gebäck steigt mir in die Nase, mischt sich mit einem unterschwellig leicht muffigen Holz- und Staubgeruch, der erahnen lässt, hier wird aktuelle und sehr alte Literatur angeboten. Bis unter die Decke vollgestopfte Regale mit Büchern starren mich von den Wänden aus an. Jede freie Fläche wird von Lektüre in diversen Formaten annektiert. Irgendwie wirkt es wie geordnetes Chaos.

Nur ein Teil des eh schon knapp bemessenen Raumes schien der Bücherflut entkommen zu sein, um einer Ecke mit Ledersesseln und kleinen, runden Tischen Platz zu bieten. Sämtliche Sitzmöglichkeiten werden von lesenden Männern, Frauen und kleinen Nerds belegt, die ihre Nasen in den unterschiedlichsten Lesestoff versenken. Die zierlichen Mahagonitische vor ihnen sind berstend voll mit Büchern – was auch sonst – und Geschirr, sodass sie den Anschein erwecken, jeden Augenblick zusammenzubrechen.

In dieser ruhigen und heimeligen Atmosphäre wuselt eine hübsche, selig lächelnde Frau, ich schätze sie um die 40, mit einem riesigen Teller voller dampfender, duftender Scones und einer Servierzange um die Lesenden herum, um wiederum ihre Teller zu füllen.

Sie ist der Grund, warum ich hier bin.

Das Stones - Books & Scones gehört Viktoria Stone, der Mutter einer sehr erfolgversprechenden jungen Dame namens Charlotte, von allen nur Charly genannt und Schwester des Mannes, den ich seit Jahren für seinen Erfolg bewundere.

Nachdem ich vor ein paar Tagen mit Charly sprach, um ihr mein Jobangebot zu unterbreiten und sie trotz einiger Bedenken dann doch Interesse zeigte, versprach ich mit ihrer Mum zu sprechen. Das hätte sie in ihrem Alter natürlich auch selber tun können, allerdings spürte ich ein schlechtes Gewissen ihrer Mutter gegenüber. Dem kann ich Abhilfe schaffen.

„Oh, hallo und willkommen im Stones! Was kann ich für Sie tun?“, werde ich freundlich von Ms. Stone begrüßt.

Mit meinem strahlendsten Lächeln auf den Lippen gehe ich ihr entgegen und reiche ihr meine Hand. „Einen wunderschönen guten Morgen, Ms. Stone. Mein Name ist Lewis Marshall und ich würde gern mit Ihnen über Ihre Tochter sprechen.“

Überrascht stellt sie den Teller mit Gebäckstücken eilig neben die Kasse auf dem Ladentisch ab und wischt sich die Hände an ihrer Hose sauber, um meine Hand zu schütteln. „Ist etwas passiert?“, fragt sie alarmiert.

Ich drücke ihre Hand und winke mit der anderen ab. „Nein, nein, alles in Ordnung, soweit ich weiß. Hat Charly nicht gesagt, dass ich komme?“

Sie schüttelt ungläubig ihren Kopf. „Nein.“ Ihr Blick sondiert die Lage im Raum. „Kommt ihr mal eben ohne mich aus? Bin gleich zurück.“

Keine der Leseratten schaut vom Buch auf. Nur ein gemeinschaftliches, undeutliches Gemurmel ertönt, was sie als Zustimmung zu verstehen scheint, denn sie lacht kurz auf und führt mich in einen Nebenraum. „Wie Sie sehen, bin ich hier überflüssig. Dann können wir uns einen Tee aufbrühen. Mögen Sie Scones? Ich backe sie immer frisch. Hab vor fünf Minuten welche aus der Röhre geholt.“

„Darum riecht es hier so wunderbar. Ja, ich würde gerne eins probieren.“

Wir schlüpfen beide durch die Tür und ich bin abermals verwundert. Der benachbarte Raum ist nicht wie von mir erwartet ein Pausenraum. Er beherbergt eine kleine Küche und eine Essecke, in die sie mich dirigiert. „Bitte setzen Sie sich doch. Was für Tee kann ich Ihnen anbieten? Wir haben English Breakfast, Earl Grey, verschiedene Früchte- und Kräutertees. Oder ist Ihnen ein Kaffee lieber? Den hätte ich natürlich auch da.“

„Machen Sie sich bitte keine Umstände. Ein Earl Grey ist genau das Richtige zu Scones.“

„Genau, Sie haben so recht.“ Der Wasserkessel scheint ständig auf dem Herd zu stehen, denn er dampft bereits vor sich hin. Charlys Mutter füllt uns je eine Tasse mit dem heißen Getränk, stellt sie auf den Tisch und setzt sich zu mir. „Kaum jemand versteht mein Faible für englische Tees und Kuchen. Aber ich liebe England. London und Edinburgh sind meine Favoriten. So, und nun genug von mir. Sie wollten über meine Tochter reden.“ Ich erfahre eine Musterung ihrerseits und ihre Miene verändert sich von kritisch in träumerisch. „Wollen Sie etwa um ihre Hand anhalten? Mir war nicht klar, dass mein Engel einen Freund hat.“

Tja, das hätte ich ahnen müssen. „Oh, entschuldigen Sie, wenn ich einen falschen Eindruck auf Sie gemacht haben sollte, aber das ist nicht meine Intention. Was natürlich nicht heißen soll, dass Ihre Tochter nicht hübsch und sicher auch begehrenswert …“, haspele ich verlegen.

Sie prustet in ihren Tee und unterbricht mich lachend. „Mr. Marshall, holen Sie bitte Luft. Ich habe es verstanden.“

Ich atme erleichtert auf. „Gut, denn selbst wenn, Charly ist mir dann doch ein wenig zu jung, wissen Sie.“

„Lachen Sie bitte nicht, aber das war auch mein erster Gedanke. Nun ja, man kann sich seinen Schwiegersohn allerdings nicht aussuchen, nicht war? Und Sie wissen ja, wo die Liebe hinfällt …“

„Stimmt. Weshalb ich jedoch hier bin … Ich weiß nicht so recht, wie ich anfangen soll, ohne dass Sie mich stehenden Fußes wieder vor die Tür setzen.“

„Worum geht’s? Immer raus mit der Sprache, mich haut so schnell nichts um.“

Ja, den Eindruck habe ich von ihr auch. „Ich würde Ihrer Tochter gern ein Jobangebot unterbreiten.“ Sie muss ja nicht wissen, dass ich es schon getan habe und Charly so gut wie zugesagt hat.

Ihre Arme vor sich verschränkt lehnt sie sich langsam zurück. „Aber sie steckt mitten im Studium!“

„Das ist mir klar. Ich habe Charly schon eine Weile auf dem Schirm. Bisher dachte ich auch, sie würde an der Uni zufrieden sein, weshalb ich mich sehr lange zurückgehalten habe. Aber wissen Sie, Ms. Stone, Ihre Tochter ist kreuzunglücklich. Sie fängt erst an aufzublühen, wenn sie über den Asphalt fliegt oder an ihrer Maschine schrauben kann.“ Außer einem wissenden Lächeln kommt nichts von ihr, also rede ich einfach weiter auf sie ein. „Natürlich kann ich Sie verstehen. Sie wollen nur das Beste für Ihre Tochter, aber manchmal ist es nicht das, was wir uns vorstellen. Verstehen Sie, was ich meine?“

Ihre Ruhe macht mich nervös. Sie beugt sich vor, stellt ihre Ellenbogen auf den Tisch und legt ihr Kinn auf die gefalteten Finger. Mehr nicht. Sie beobachtet mich, scheint abzuwägen, ob sie mir vertrauen kann oder nicht, während ich beginne wie ein Schuljunge nervös auf der Bank herumzurutschen.

„Darf ich fragen, wie alt Sie sind, Mr. Marshall?“

Was spielt das jetzt für eine Rolle? „39, Ma’m.“

„Dann, Mr. Marshall, bevor Sie mir erklären, was Sie für ein Geschäft haben und wir weiter über die Zukunft meiner Tochter sprechen … ich heiße Victoria, für meine Freunde Vicky. Und bitte nenn mich nie wieder Ma’m.“

Sie ist echt eine Granate. Mir wird leicht ums Herz. Demonstrativ reiche ich meine Hand über den Tisch. „Hallo Vicky, mein Name ist Lewis. Schön, dich kennenzulernen.“

„Viel besser, oder? Noch Tee?“, flötet sie, als würden wir uns bereits Jahre kennen.

„Nein danke, ich hab noch.“

„Dann erzähl mir mal, was du und meine Tochter ausgeheckt haben! Du wärst nicht hier, wenn sie sich nicht schon entschieden hätte. Ich wusste, dass etwas im Busch ist. Sie war die letzten Tage so komisch.“

Hitze steigt mir in die Wangen. So ist es wohl, wenn man Kinder hat. Sie können in den seltensten Fällen etwas vor ihren Eltern verbergen. „Ich mach es kurz. Meine Idee ist folgende. Ich würde gern eine Werkstatt eröffnen, in der wir Umbauten für die unterschiedlichsten Bikemodelle anbieten. Das hört sich an sich nicht spektakulär an. Aber ich habe natürlich vorab den Markt überprüft. Hier in der Gegend gibt es reichlich Anbieter für Neufahrzeuge, jedoch kaum Läden, die Custombikes auf Wunsch konstruieren und bauen. Vielleicht kennen sie namhafte Firmen von der Ostküste. Hier ist der Markt dafür noch offen. Die Besonderheit, welche unser Geschäft ein Alleinstellungsmerkmal bietet, ist, dass wir unseren Service nicht nur für Chopper anbieten, sondern auch für Tourer und Streetfighter. Bei Letzterem kommt Charly ins Spiel. Ich würde sie gern genau für dieses Ressort hinzuziehen.“ Gespannt schaue ich über den Tisch und ernte einen skeptischen Blick.

„Wow. Hast du schon mal überlegt in den Verkauf zu gehen? Kurz ist anders“, foppt mich Vicky mit einem neckischen Grinsen.

Ja, sie hat recht. Ich verliere mich gern darin, alles ausführlich erklären zu wollen. „Entschuldige. Ich wollte dir keinen Staubsauger aufs Auge drücken. Allerdings ist es mir wichtig, dass du siehst, ich habe mir wirklich Gedanken über die Umsetzung gemacht und würde Charly nie ins offene Messer laufen lassen.“

Vicky kaut auf ihrer Unterlippe und kneift die Augen zusammen. „Ganz ehrlich, ich habe keine Ahnung von Motorrädern oder Rennsport. Es interessiert mich eben nicht. Ich weiß nur, dass in Indianapolis die MotoGP abgehalten wird. Und dass nur, weil mein Bruder und Charly wie die Verrückten sind, wenn sie stattfindet. Auch kenne ich keine Firmen an der Ostküste. Ich habe nicht sehr viele Präferenzen, Lewis. Mein Bruder, meine Tochter und mein Laden sind Mittelpunkt meines Lebens. Was mir allerdings Kopfschmerzen bereitet, ist folgende Sache. Charly hat zwar Vorkenntnisse, aber kann sie ihren Lebensunterhalt damit verdienen? Sie wird ihr Studium aufgeben. Ich bin mir sicher, dass es für sie bereits beschlossene Sache ist. Mir erschließt sich nur nicht der Nutzen, den du durch sie hättest. Was nicht heißen soll, dass ich es ihr nicht zutraue.“

„Anfangs wird sich das Geschäft in erster Linie über die Chopper tragen. Ich konnte zwei wirklich gute Mechaniker an Bord holen. Sie wissen, was sie tun und ich bin mir sicher, es wird somit von dieser Seite ein Selbstläufer. Wie jedoch schon erwähnt, will ich die anderen Sparten auch einbeziehen. Sicher kann ich von Charly anfangs keine Arbeit eines Fachmannes mit jahrelanger Erfahrung erwarten. Allerdings hoffe ich, genau so eine Person engagieren zu können, die dann mit ihr zusammenarbeitet.“

„Darf ich fragen, von wem du sprichst?“ So, wie sie schaut, scheint Vicky zu ahnen, wen ich anvisiere.

„Von deinem Bruder.“ Was soll ich lange um den heißen Brei reden? Sie macht mir den Eindruck, dass sie es lieber geradeheraus mag. Und bevor ich sie mir verärgere, beiße ich eben in den sauren Apfel.

„Ha, das ist nicht dein Ernst! Wieso sollte sich Mat darauf einlassen woll-“ Sie verstummt und ich sehe ihren Gedankengang förmlich in Leuchtschrift über ihre Stirn laufen. „Du willst also Charly nur einstellen, weil sie als Lockvogel für Mat herhalten soll? Das kannst du nicht machen!“ Erbost springt sie vom Stuhl.

„Um Gottes willen, so ist es auf keinen Fall. Ich schätze Charlys Talent, Kreativität und ihren Enthusiasmus. Matthew und deine Tochter wären das perfekte Team, denn sie ergänzen sich. Obendrein wäre dein Bruder nicht nur in seinem Element - ich weiß, dass er es liebt, sich stundenlang in der Werkstatt bei seinen Schätzen zu vergraben - er hätte endlich wieder eine Aufgabe, Verantwortung und würde sich nicht mehr zu Hause verstecken.“ Ich merke, wie ich mich in Rage rede. Das darf nicht passieren. Vicky kann nicht verstehen, warum es mich aufregt oder mir so nahe geht.

„Wie kommst du auf so eine Schlussfolgerung. Du kennst ihn doch gar nicht.“

Ihre Skepsis habe ich nach meinem Ausbruch erwartet. Ich fahre mir mit beiden Händen schroff durchs Haar. Mein Herz rast. Lewis, beruhig dich!, ermahne ich mich im Stillen. Ich muss mich dringend wieder in den Griff kriegen. Sie kann es nicht wissen. Ich hole tief Luft. „Stimmt. Ich kenne ihn nicht persönlich, leider. Aber ich bewundere ihn schon seit Jahren. Er ist der Beste auf seinem Gebiet. Er denkt, als Coach einen Fehler gemacht zu haben. Vicky, nur einen einzigen Fehler!“, betone ich, um ihr zu verstehen zu geben, dass es menschlich ist, genau das zu tun. “Verdammt, das passiert nun mal. Ja, es ist tragisch ausgegangen, nicht nur für den Fahrer, für Matthew auch. Und es wird Zeit, dass er wieder unter die Lebenden kommt. Meinst du nicht? Okay, ich möchte auch gar nicht abstreiten, dass er ein Zugpferd für meine Firma wäre. Jeder kennt seinen Namen, wir würden uns vor Aufträgen nicht retten können.“

Vicky kehrt zum Tisch zurück, stützt ihre Hände auf die Holzplatte und mustert mich nachdenklich. Dann flüstert sie: „Du hast recht. Mat muss aus seinem Haus raus, sonst versauert er. Ich sag dir was. Du bist mir fremd und doch habe ich das Gefühl, dich schickt der Himmel.“

Erleichtert ausatmend lehne ich mich zurück, bevor sie ihren Zeigefinger warnend auf mich richtet und noch ernster wird. „Ich gebe dir gern eine Chance, Lewis. Du kommst mir auf seltsame Weise vertrauenswürdig vor. Sollte ich jedoch mitkriegen, dass du Charly oder Mat ausnutzt und ihnen auf irgendeine Art …“

Beschwichtigend hebe ich meine Hände. „Du brauchst nicht weiterreden. Es ist nicht meine Absicht, ihnen zu schaden.“

„Gut. Wie hast du vor mit Mat in Kontakt zu treten?“

„Kann ich einfach bei ihm auftauchen und ,Hallo, da bin ich’ brüllen?“ Komisch, aber bei Vicky habe ich keinerlei Bedenken blöde Späße zu machen. Außer meiner Mutter versteht mich jeder falsch. Vielleicht liegt es an meinem Auftreten. Ich bin privilegiert aufgewachsen, musste sehr frühzeitig lernen unsere Familie nach außen würdig zu repräsentieren. Nicht selten werden mir Arroganz und Unnahbarkeit unterstellt. Was mich im Grunde nicht stört, ich bin es gewohnt. Nebenbei hat es den Effekt, dass ich in Ruhe gelassen werde.

Vicky scheint es nicht so zu sehen. Sie lacht und bufft mich am Oberarm. „Spaßvogel! Du würdest nicht mal durch seine Haustür kommen. Nein, dass müssen wir anders angehen.“

Einfach so? Von argwöhnisch zu ,Wie kann ich dir helfen?’ innerhalb eines Wimpernschlages? Was habe ich gemacht, dass sie mir plötzlich so bereitwillig ihre Hilfe anbietet? Vicky überrascht mich mit ihrer herzlich offenen Art und unterbreitet mir ihre Idee. Sie würde Matthew zu sich zum Abendessen einladen, mich natürlich auch, dann könnten wir uns auf neutralem Boden kennenlernen.

Allein die Vorstellung, Matthew Stone leibhaftig gegenüberzustehen, bringt mein Herz aus dem Rhythmus. Ich muss mich zurückhalten, nicht wie ein übermütiges Kind vor Freude im Kreis zu springen. Verrückt? Ja, total. Aber ich vergöttere diesen Mann. Ein Traum wird wahr.

 

***

 

Kapitel 3 Ein bekannter Fremder

 

- Matthew -

 

Charly ist vor ein paar Minuten aufgebrochen, um sich für das Abendessen landfein zu machen. Das sollte ich auch dringend in Angriff nehmen. Die Werkstatt ist schnell aufgeräumt und Josy hat sich, nachdem sie mit Jerry eine große Runde durch den Park gelaufen ist, für den Rest des Abends in ihr Zimmer zurückgezogen.

Auf dem Weg in mein Zimmer werde ich von Jerry Lee verfolgt, der mir seit heute früh, außer er war mit Josy unterwegs, nicht mehr von der Seite weicht. Im Schlafzimmer pelle ich mich aus meinen dreckigen Klamotten und werfe sie neben dem Bett auf einen Haufen. Jerry vergräbt seinen Kopf in den Wäscheberg, schnuppert und wühlt darin herum, als würde es etwas Interessantes zu entdecken geben. Nachdem er gründlich gesucht hat, schaut er mich vorwurfsvoll an, setzt sich vor mich und jault. Nur noch in Unterhosen beuge ich mich zu ihm und kraule ihn unter seiner Schnauze. „Du bist ein Vielfraß. Lass uns nachher unten schauen, ob ich etwas Feines für dich finde, okay?“

Nach einem langen Tag wie heute, in dem ich mich mehr als zehn Stunden auf den Beinen halten musste - schließlich kann ich nicht im gemütlichen Bürostuhl durch die Werkstatt hirschen - spüre ich deutlich die verhassten Phantomschmerzen. Ich stemme mich schwerfällig vom Bett und humpele in Richtung Bad. Mein Süßer bleibt natürlich nicht sitzen. Das tut er nie, wenn ich Schmerzen habe. Er trottet neben mir her und mustert mich bei jedem Schritt, als wolle er sofort zur Stelle sein, sollte ich Probleme bekommen. Mit frischer Unterwäsche bewaffnet betrete ich mein luxuriöses Bad und überlege, ob ich mir nicht doch lieber ein Vollbad gönne. Das würde meine Muskulatur entspannen und vielleicht könnte ich danach ohne Humpeln vor diesem Mann erscheinen. Ich hasse mitleidige Blicke.

Die Entscheidung steht und das heiße Wasser läuft gemächlich in die Wanne. Durch mein bevorzugtes Schaumbad, was nach Sandelholz und einer leichten Vanillenote riecht, türmen sich alsbald Schaumberge. „Jerry, was meinst du? Ich habe noch genug Zeit, um ein wenig zu lesen, oder?“ Er stellt die Ohren auf und neigt seinen Kopf zur Seite, als müsse er über eine angemessene Antwort nachdenken. Ohne Kommentar - den ich auch nicht wirklich erwarte - richtet er sich schnaufend und träge der Länge nach auf dem flauschigen Wannenvorleger ein. Nun gut, das bedeutet dann wohl ja.

Da ich sehr gerne in der Wanne lese, hat sich in einem Regal neben der Verandatür ein Vorrat diverser Bücher angesammelt. Meine Schwester versorgt mich laufend mit den aktuellsten Veröffentlichungen. Ich schmunzele, denn schließlich ist es ja wohl das Mindeste, wenn ich ihr schon den Laden auf einem Silbertablett präsentiert habe. Nein, nein, es ist natürlich so, dass sie mich eher verwöhnt, in allen Belangen. Bücher inbegriffen.

Langsam und konzentriert, um mein Bein nicht mehr zu belasten als nötig, bewege ich mich durchs Bad, bleibe vor dem Bücherhaufen stehen und kann mich nicht entscheiden. Mein Blick gleitet wie magnetisch angezogen hinüber zum Fenster. Die Abendsonne lugt durch die Bäume und verleitet mich um ein Haar die Flügel weit zu öffnen. Leider wäre es um diese Jahreszeit eine echt blöde Idee, da ich mir sicher meinen Allerwertesten abfrieren würde. Im Sommer allerdings ist es wundervoll, in der Wanne zu sitzen, die Vögel kurz vor Sonnenuntergang zwitschern zu hören, während eine leichte Brise den Blütenduft aus meinem Garten ins Zimmer trägt. Schulterzuckend schnappe ich mir eine Biografie. Das Buch sieht sehr mitgenommen aus, was kein Wunder ist, da ich es schon etliche Male gelesen habe. Es handelt vom Leben eines Mannes, der mich in seiner visionären Art sehr beeindruckt hat. Leider ist er 2011 nach langer Krankheit verstorben. Trotz allem liebte er sein Leben, seine Arbeit, blieb sich treu und beeinflusste mit bahnbrechenden Erfindungen unsere technisierte Welt. Eins meiner Lieblingszitate von ihm ist: „Design ist nicht nur, wie es aussieht oder sich anfühlt. Design ist, wie es funktioniert.“* Wie recht er damit hat.

Mit dem Buch unterm Arm wanke ich zu meiner gigantischen Wanne zurück. Bei ihrem Anblick wird mir klar, sie ist für mehr als nur eine Person gemacht. Warum wird mir das erst jetzt bewusst? Ob ich jemals das Vergnügen haben werde, mit einem Mann diesen Luxus zu genießen? Ich winke meine eigenen Gedanken ab. „Jerry, ich habe wirklich komische Ideen heute.“ Seine Reaktion auf meine Worte? Seine Ohren zucken und das war es dann auch schon.

Es wird Zeit, meinen müden Knochen Entspannung zu verschaffe. Die Biografie lege ich auf den kleinen Hocker, den ich als Ablagefläche nutze, und beginne mich von meiner Prothese zu befreien. Das Unterdrucksystem ist die beste Lösung, jede andere Befestigung würde mir sicher größere Probleme verursachen. Ich lehne sie an den Wannenrand, ziehe den Silikonstrumpf aus, schwinge mein gesundes Bein herum und gleite seufzend in herrlich warmes Wasser. Was für eine Wohltat!

Bis zum Hals im Schaum versunken, schließe ich meine Augen und genieße die wohltuende Wärme. Meine Gedanken gehen auf Wanderschaft und landen beim bevorstehenden Abendessen. Ich habe keinen Schimmer, was mich erwartet. Wie stellt sich Charly das vor? Sicher, ich arbeite gern an Motorrädern, modifiziere oder restauriere sie einfach nur. Aber bisher war es nur ein Hobby. Während meiner Zeit als Coach arbeitete ich eng mit der Technikcrew zusammen, unterbreitete ihnen meine Ideen, die sie häufig umsetzten. Es hat mich stolz gemacht, meinen Beitrag auch in dieser Richtung leisten zu können.

Aber gleich eine Teilhaberschaft? Wie kommt dieser Mann dazu, Charly gegenüber so etwas zu erwähnen, wo er mich nicht einmal kennt. Selbst wenn ich es wagen sollte, was würde mich erwarten? Sollte ich mich tatsächlich auf etwas Neues einlassen? Will ich überhaupt etwas ändern? So wie mein Leben im Moment verläuft, ist es doch wunderbar, oder nicht? Geldnöte plagen mich keine, da ich vor Jahren Vorkehrungen getroffen habe. Hier ein paar Aktien, dort ein paar Immobilien und schon mehrt sich mein Vermögen stetig. Von den Einnahmen kann ich locker meinen Lebensstil unterhalten und meine Lieben unterstützen. Ein nicht unbeträchtliches Bankpolster bewahrt mich vor Überraschungen. Verantwortung trage ich nur für mich und meine Familie. Wobei Vicky rundum zufrieden mit ihrem Laden ist, Charly erst am Anfang steht und Josy auch keinen unzufriedenen Eindruck auf mich macht.

Also warum sollte ich mein Leben auf den Kopf stellen? Weil es stinklangweilig ist, du Depp!

Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, fehlt mir schon so einiges. Die Zeiten ändern sich. Verdrängte Wünsche, die ich noch vor meinem Unfall hegte, kämpfen sich langsam wieder an die Oberfläche. Vor einigen Monaten hätte ich dankend abgewunken und jedem einen Vogel gezeigt, der mich dazu hätte überreden wollen, aus meinem Schneckenhaus herauszukriechen. Denn nichts anderes ist es. Ich vergrabe mich mit der Ausrede, ich würde in meiner Garage glücklich sein, in meinen vier Wänden. Bisher wollte ich niemanden sehen, wollte nicht gezwungen sein, höflich Konversation zu betreiben, mit Menschen, die ich nicht einmal schweigend neben mir ertragen könnte. Mir ging alles und jeder auf die Nerven, machte mich aggressiv.

Im Augenblick sieht die Wahrheit jedoch so aus: Je mehr ich über mich nachdenke, umso mehr macht sich ein unterschwelliger Tatendrang in mir breit, der mich dazu antreibt, über Veränderungen nachzudenken. Neugierde wächst und lässt mich ungeduldig werden. Ist es vielleicht doch an der Zeit? Ich sollte nicht voreilig Entscheidungen treffen. Worüber auch?

Kribbelig und nervös stemme ich mich aus dem Wasser. „Tja, Jerry, so viel zu einem entspanntem Bad. Das wird wohl heute nichts mit mir.“

Mein pelziger Freund hebt bedächtig seinen Kopf und mustert mich anklagend. Das kann er wirklich gut, denn ich bekomme prompt ein schlechtes Gewissen. „Ja, hast recht. Ich sollte mich lieber ausruhen, aber dazu bin ich jetzt nicht mehr in Stimmung. Ich sag dir, da ist etwas im Anmarsch. Und ich würde ums Verrecken gern wissen, was es ist.“ Mit diesen Worten mache ich mich für das Treffen fertig. Rasieren, Haare richten, Prothese anlegen, Klamotten überwerfen und schon kann es losgehen.

Auf dem Weg ins Wohnzimmer läuft mir Josy noch einmal über den Weg. „Ich dachte, du sitzt bereits vor deiner Serie.“

„Ist noch Zeit. Ich wollte mir nur ein Glas Wein holen. Soll ich Jerry Lee mitnehmen, oder begleitet er dich zu Vicky?“

„Oh, das wäre toll, wenn er heute Nacht bei dir bleiben könnte. Ich habe keine Ahnung, wann ich wieder da bin. Könnte auch passieren, dass mein Schwesterherz ihren Dickkopf durchsetzt und mich auf der Couch festnagelt.“

„Sagt ein Dickkopf zum anderen.“ Josy kommt zu mir, stellt sich auf die Zehenspitzen und drückt mir einen Kuss auf die Wange.

Ich erstarre. „Was war das denn?“

Mit einem Zwinkern dreht sie sich um. „Viel Spaß, mein Junge. Benimm dich! Jerry, komm, wir schauen nach, ob es in der Küche für dich etwas gibt.“

Wie ein kleiner Junger, der zum Kindergeburtstag seines Freundes verabschiedet wird, stehe ich in meinem Haus, grinse und schüttle fassungslos den Kopf, bevor ich mich auf den Weg mache.

 

Zu meiner Schwester sind es tatsächlich nur ein paar Minuten zu Fuß. Ich hatte ihr angeboten bei mir im Haus zu wohnen, groß genug wäre es, aber sie wollte nicht. Nachdem ich ihr einen kleinen Bungalow kaufte, wehrte sie sich mit Händen und Füßen gegen dieses Geschenk. Sie erklärte mir, dass sie gern dort einziehen würde, aber nur zur Miete. Zähneknirschend ließ ich mich breitschlagen, womit ich im Eigentlichen ihr Vermieter bin. In meinen Augen gehört es trotzdem ihr und Charly. Sollte mir je etwas zustoßen, geht es automatisch in ihren Besitz über. Die Miete, die sie mir monatlich überweist, fließt auf ein extra Konto, welches Charly an ihrem 25. Geburtstag überschrieben bekommt. Zwei Fliegen mit einer Klappe erschlagen. Meine Schwester ist nicht in ihrem Stolz verletzt und für Charly ist gesorgt.

Als ich den Vorgarten erreiche, öffnet sich die Eingangstür und Vicky winkt mich freudig zu sich. „Ah, da bist du ja. Geht’s dir gut?“

Zur Begrüßung bekommt Vicky wie immer eine feste Umarmung und einen Schmatzer auf die Wange. „Ja, Schwesterherz, alles in Ordnung. Ist euer Gast schon eingetroffen?“

„Hm hm, wir warten schon auf dich. Der Auflauf ist im Ofen, Charly richtet den Salat und die Steaks liegen bereit und freuen sich auf die Pfanne.“

„Mir war nicht klar, dass es Steaks gibt, die sich darauf freuen.“

„Doch, die hier schon. Gib mir deine Jacke!“

„Jawohl, Chef.“

Die Tür hinter sich schließend hält sie mir ihre Hand abwartend entgegen. „Geh schon rein. Ich bringe dir gleich etwas zu trinken. Bier oder Wein?“

Da ich mich bereits ziemlich angeschlagen fühle, verzichte ich lieber auf Alkohol. „Eistee wäre super, danke.“

Als sie mich ins Esszimmer begleitet, trifft mich ihr besorgter Blick. „Also geht’s dir doch nicht so gut.“

Ich winke ab. „Doch, doch, alles bestens. Da ich aber weiß, dass du mich bereits nach einem Schluck Bier nicht mehr heim lässt, bleibe ich lieber nüchtern. Eure Couch ist der Tod meines Rückens.“

Aus dem Augenwinkel nehme ich eine Person wahr, die augenblicklich vom Stuhl springt. Ein Mann, schätzungsweise Mitte Ende dreißig, steht am riesigen Esstisch und vermittelt mir einen recht unschlüssigen Eindruck. Tja, und er kommt mir irgendwie bekannt vor.

„Matti, das ist Lewis, Lewis Marshall. Lewis, das ist mein Bruder Matthew Stone“, stellt uns Vicky einander vor und verlässt den Raum.

Wir reichen uns förmlich die Hände. „Guten Tag, Mr. Marshall. Sind wir uns schon einmal begegnet? Sie kommen mir bekannt vor.“

Er stockt, scheint überrascht zu sein, schüttelt dann aber verneinend den Kopf. „Nein, ich denke nicht. Allerdings ist es mir eine Ehre, Sie kennenzulernen, Mr. Stone.“

Mein Gefühl trügt mich selten und bei diesem Herrn schrillen sämtlich Alarmglocken. Warum, kann ich noch nicht sagen. Seltsamerweise ist es kein sonderlich unangenehmes Schrillen. Ich könnte schwören, wir sind uns bereits über den Weg gelaufen. Aber gut, eins nach dem anderen. Ich zucke resigniert die Schultern, schüttle meine Gedanken ab. „Na ja, sie tun gerade so, als wäre ich ein Prominenter.“

Marshall räuspert sich umständlich und grinst geheimnisvoll. „Vielleicht sind Sie das nicht für jeden, aber für mich schon. Ich habe Ihre Karriere im Rennsport immer gebannt verfolgt. Sie sind eine Koryphäe auf Ihrem Gebiet und nicht nur dass, Sie haben eine Menge für die Entwicklung im technischen Bereich getan.“ Er trägt sehr dick auf. Sean wäre da sicher anderer Meinung, wenn er denn noch eine hätte haben können.

„Wenn Sie meinen, durch Ihre Schmeicheleien meine Entscheidung beeinflussen zu können, muss ich Sie enttäuschen.“ Es ist mir extrem peinlich. Ich habe mich nie als irgendjemandes Idol oder Vorbild gesehen. Schon gar nicht nach dem tragischen Vorfall. Hat dieser Marshall nur die Hälfte mitbekommen? Ich sollte sehr vorsichtig sein. Marshall scheint ein gefährlicher Mann zu sein. Typen seines Schlages kenne ich zur Genüge. Leider macht ihn das für mich nicht sympathisch. Schleimer, die katzbuckeln, sinken sehr schnell in meiner Gunst. Ich mag Menschen, die offen sagen, was sie denken, selbst wenn es mir wehtut. Und doch, unterschwellig beschleicht mich ein eigenartiges Gefühl.

„Es tut mir leid, wenn ich Sie beleidigt haben sollte.“ Geknickt setzt er sich wieder auf seinen Platz und spielt verlegen an seinem Glas herum.

„Vergessen Sie es!“ Mein inneres Bedürfnis, auf Abstand zu gehen, siegt und ich schnappe mir den Stuhl, der am weitesten von ihm entfernt steht.

Leises Klirren von Geschirr kündigt Vicky mit den Getränken an. „So, und da ist auch schon dein Eistee. Könnt ihr mich noch einmal kurz entschuldigen? Ich sollte die Steaks anbraten.“

„Kein Problem“, antworten wir synchron.

Vickys Blick fliegt skeptisch zwischen uns hin und her. Sie beugt sich zu mir und flüstert: „Charly hat gesagt, du hättest ihr etwas versprochen.“

Mir ist klar, worauf sie anspielt und mir entkommt nur ein grummeliges „Hm“.

Unangenehmes Schweigen breitet sich zwischen Marshall und mir aus und scheint nicht nur mich nervös zu machen. Also gut, Vicky hat recht. Ich hab’s versprochen. „Charly hat mir kurz erzählt, was Sie vorhaben. Abgesehen davon, dass ich es für ein ziemliches Wagnis halte, verstehe ich nicht, wie Sie ausgerechnet auf uns kommen.“

Marshall strafft den Rücken und schaut mir tief in die Augen. Mist! Was soll dieser Blick? Es kommt mir vor, als würde er mich scannen.

„Mr. Stone, wie ich schon erwähnte, sind Sie für mich kein unbeschriebenes Blatt. Ich gebe gern zu, dass ich Charlotte angesprochen habe, hat nicht ausschließlich etwas mit ihrem Talent und Enthusiasmus zu tun, den ich wirklich sehr zu schätzen weiß und auch unbedingt in meiner Firma einbinden möchte. Nur … bitte lynchen Sie mich nicht dafür, dass ich einfach die Gelegenheit beim Schopfe packe und versuche, Sie ebenfalls ins Boot zu holen. Es wäre wie ein Lotteriegewinn, wenn ich schaffe Sie beide zu überzeugen, dass es genau das Richtige ist. Wir wären sicher ein wunderbares Team, was sich in vielen Belangen ergänzen kann. Na ja, da Sie im Augenblick vertraglich nicht gebunden sind und sicher froh wären Verantwortung zu übernehmen und etwas Sinnvolles zu tun, trifft es sich doch hervorragend. Denken Sie nicht auch?“

Das geht mir allmählich zu weit. Mit auf den Tisch gelegten Unterarmen beuge ich mich zu ihm. Meine rechte Augenbraue wandert unwillkürlich in die Höhe, die Gesichtsmuskeln verspannen sich und an meiner Schläfe spüre ich, wie mein Puls von innen nach außen hämmert. Immer wenn ich sauer werde, passiert mir das. Es fehlt nicht viel und ich sehe rot. „Hören Sie gut zu, Mr. Marshall!“ Ich spreche leise, betone seinen Namen jedoch besonders, denn meine Meinung über ihn ist um einen weiteren Sympathiepunkt gefallen. „Ich bin nicht hier, um mit Ihnen über mich und meine Befindlichkeiten zu reden. Es geht Sie einen Scheiß an, was ich wie, wo und wann tue. Ich bin nur wegen meiner Nichte hier. Charly bat mich, Sie heute Abend kennenzulernen. Um ihretwillen versuche ich so nett und höflich zu sein, wie es mir möglich ist. Sie, Mr. Marshall, machen es mir im Moment sehr schwer mein Versprechen gegenüber Charly zu halten. Also hören Sie gefälligst auf, mir Honig ums Maul schmieren zu wollen oder zu denken, Sie dürften sich anmaßen über mein Leben zu urteilen. Damit erreichen Sie nur eins, und zwar dass ich aufstehe und gehe. Glauben Sie nicht, irgendwer aus meiner Familie würde dann auch nur einen Fuß über Ihre Schwelle setzen.“

Marshalls Augen fallen ihm beinahe aus dem Gesicht, sein Mund steht schockiert offen und aus dem Augenwinkel sehe ich, wie seine Hände zittern. Shit! Was für ein Weichei. Ein tiefer Atemzug, wahrscheinlich zur Beruhigung, und er setzt zu einer weiteren Rede an, die höchstwahrscheinlich ebenso arrogant und schleimig wie die erste geworden wäre, würden uns nicht Charly und Vicky mit ihrer Anwesenheit dazu zwingen, unseren Disput zu unterbrechen.

Die plötzliche Ruhe lässt Vicky stutzig werden und mich trifft ihr fragender, vorwurfsvoller Blick, was das Fass zum Überlaufen bringt.

Ich schaue in die Runde und spüre sämtliche Augenpaare auf mich gerichtet. Sorry, aber das muss ich mir nicht gefallen lassen. Warum geht jeder grundsätzlich davon aus, dass ich derjenige bin, der einen Streit vom Zaun bricht? Ist es mir jetzt auch nicht mehr gestattet, eine eigene Meinung zu haben und mich dagegen zur Wehr zu setzen, wenn mir jemand zu aufdringlich wird? Wie kann Marshall es nur wagen? Seit wann hat jeder Dahergelaufene das Recht, über mich ein Resümee von sich zu geben?

Mein Herz schlägt bei jedem gedachten Wort einen Takt schneller, mir bricht der Schweiß aus. Ich fühle mich bedrängt. Ihre Blicke wechseln von vorwurfsvoll zu mitleidig. Meine Brust wird eng, die Kehle ist wie zugeschnürt und dieses Mal bin ich es, der hektisch vom Stuhl aufspringt. Schwer atmend dränge ich aus dem Zimmer, remple dabei Vicky und Charly an, die mir entsetzt aus dem Weg gehen. Im Flur bleibe ich stehen, zwinge mich zurückzuschauen und blicke in seine Augen. Augen, die mir viel zu vertraut erscheinen. Hier stimmt etwas nicht. Ich muss raus, raus an die frische Luft. Meinen Kopf klären. Die Höflichkeit gebietet es, eine Erklärung abzugeben, mich für mein Verhalten zu entschuldigen und mich zu verabschieden, aber ich bringe kein einziges Wort heraus.

Die Haustür fliegt hinter mir ins Schloss und ich sauge kühle, frische Luft in meine malträtierten Lungen. So schnell mich meine Beine tragen, verschwinde ich. Der kleine Umweg nach Hause wäre sicherer, aber ich brauche einen Moment für mich, weshalb ich die andere Richtung einschlage. In meinem Blickfeld taucht auch sehr bald der unbeleuchtete Pfad durch ein Waldstück auf, der unmittelbar an meinem Grundstück endet. Der perfekte kleine Privatweg. Allerdings sollte man ihn nachts meiden. Abgesehen davon, dass niemand mitbekommen würde, wenn hier jemand überfallen wird, ist es genauso schwierig nach Hilfe zu rufen, sollte ich Probleme bekommen. Aber das ist mir jetzt egal.

Uralte Bäume ragen auf beiden Seiten mit ihren knochigen Stämmen in die dunkle Nacht. Jeder andere hätte es vielleicht als bedrohlich empfunden, ich nicht. Paradoxerweise fühle ich mich von ihnen beschützt. Ihre Kronen treffen sich weit oben und verdecken den Blick in einen sternenklaren Himmel. Ich suche mir schwer schnaufend einen umgefallenen Baumstamm als Sitzmöglichkeit. Scheiß Panikattacke. Warum ist es mir gerade jetzt passiert? Das Adrenalin, welches meinen Körper zuvor geflutet hat, verlässt sukzessive meine Systeme und lässt mich mit weichen Knien zurück. Eine Zigarette wäre jetzt wundervoll. Unwillkürlich taste ich meine Hose ab und bemerke, dass ich Blödmann meine Jacke bei Vicky vergessen habe. Ein leichtes Frösteln überfällt mich. Zum Glück hatte ich mich heute für meine Cargohose entschieden und finde ein Päckchen Zigaretten und das Feuerzeug. Mit zittrigen Fingern pule ich mir eine aus der Schachtel und zünde sie an. Im Lichtschein des Feuerzeuges nehme ich eine Bewegung wahr und erschrecke kurz. Dann fällt mir ein, dass es sich nur um eine Eule auf der Jagd handeln kann. Ich nehme einen ersten Zug und inhaliere genüsslich. Meine Augen sind geschlossen, meine Ohren nehmen jeden noch so kleinen Laut auf, um ihn sogleich zu katalogisieren. Ja genau, da ist es, das Geräusch schwebender und kaum hörbarer Eulenflügel. Ein leises Surren in der Dunkelheit, gefolgt von einem letzten Hilfeschrei der Beute, die nun in ihre Unterkunft gebracht wird.

Eine Art Meditation bringt mich langsam wieder in meinen Körper zurück. Das Gefühl, fremdbestimmt zu werden, vergeht. Leise Schritte lassen mich aufsehen. In der Ferne bildet sich ein Umriss, eine dunkle Gestalt, die stetig näher kommt. Ich erahne nur, wer es ist, und würde am liebsten das Weite suchen. Kann ich aber nicht, da sämtliche Kraft mit dem Adrenalin aus meinem Körper gespült wurde. Also ignoriere ich ihn einfach. Mit geschlossenen Augen genieße ich meine Zigarette.

„Sie haben ihre Jacke vergessen. Vicky macht sich Sorgen und Charly ist außer sich vor Angst.“ Marshalls Stimme ist vorsichtig und hat einen besorgten Klang. Ich mag nicht aus meiner kleinen Blase auftauchen und behalte weiterhin meine Augen geschlossen.

Plötzlich spüre ich Wärme an meiner Seite. Meine Augen fliegen auf und ich sehe zu meinem Erstaunen, wie er sich einfach neben mich gesetzt hat. Meine Jacke über seine Beine gelegt, knetet er nervös seine Finger. Im glimmenden Schein der Zigarette sehe ich sein trauriges Gesicht. Ich werde aus diesem Kerl einfach nicht schlau. Sein Blick fixiert sich auf seine Hände, bevor er weiterredet: „Mr. Stone, es tut mir unendlich leid, was ich gesagt habe. Ich wollte Sie nicht angreifen, oder auch nur Vorhaltungen machen. Na ja, vielleicht bin ich über mein Ziel hinausgeschossen. Aber ich freue mich schon so lange darauf, Sie kennenzulernen.“

Da ist es wieder, dieses Ehrfürchtige. Ich habe nicht verdient, bewundert zu werden. Mir ist schleierhaft, wie er überhaupt darauf kommt. Aber es ist wohl an der Zeit, mich für mein überbordendes Verhalten von zuvor zu entschuldigen. Plötzlich muss ich lachen. Diese Situation ist so merkwürdig. Marshall und ich kennen uns gerade mal eine Stunde und unsere Unterhaltungen enden permanent mit einer Entschuldigung. Egal von wem. Vielleicht ist es auch nur hysterisches Gelächter, meiner soeben überstandenen Panikattacke geschuldet, aber es muss raus, sonst platze ich. Also ploppen winzige, abertausende Lachbläschen unaufhaltsam durch die Oberfläche der Zurückhaltung und ich stecke mitten in einen Lachanfall. Ich schaue zur Seite und der verwirrte Blick von ihm stachelt mich nur noch mehr an.

Ich sehe, wie seine Mundwinkel zucken, er versucht sich zurückzuhalten, es trotz aller Bemühungen nicht schafft und sich mir anschließt. Wir sind nicht leise und mir fällt die Eule ein. Ich hoffe, sie hat sich nicht verschluckt und verklagt mich wegen nächtlicher Ruhestörung. Dieser blöde Gedanke löst eine weitere Welle aus, die mich bis ins Mark durchschüttelt, mir Sauerstoff in die Lungen presst und meinen Körper überflutet, bis es in meinem verkorksten Hirn ankommt. Ich vibriere vor Leben und Energie. Es fühlt sich wundervoll an.

Eine zaghafte Hand landet auf meiner Schulter. Keine kameradschaftliche Geste, eher eine vorsichtige Annäherung. Das Gelächter ebbt ab und wir bleiben grinsend zurück. Da ich nicht auf seine Berührung reagiere, wird Marshall mutiger und fährt mir bedächtig über den Rücken. Ich schaue zur Seite und sehe, wie sein Blick seiner Hand folgt. Ehrfürchtig? Ängstlich? Ich kann es nicht einschätzen. Sein Gesicht sieht entrückt aus, als würde er mit Erinnerungen kämpfen. Aber welche? Wie könnte er Erinnerungen mit mir in Verbindung bringen?

Ich muss zugeben, seine warme Hand auf meinem Schulterblatt fühlt sich gut an. Es ist vielleicht auch einfach schon zu lange her, dass mich ein Mann auf diese Weise angefasst hat. Wer hätte es auch gewollt? Ich bin nicht berühmt für Nettigkeiten.

„Du glaubst gar nicht, wie froh ich bin, dass ich die Möglichkeit habe, hier mit dir zu sitzen.“ Seine Stimmung ist seltsam.

Bemüht ihn etwas aufzumuntern, greife ich nach meiner Jacke. „Na ja, das lag ja nur an dir. Du bist mir gefolgt. Und ich kann mir gut vorstellen, dass die Mädels dich unter Druck gesetzt haben, damit du mir auch ja die Jacke bringst. Danke übrigens. Es ist doch etwas kühl.“ Ich schlüpfe hinein und spüre Lewis‘ Wärme, die von seinen Beinen auf den Stoff übergegangen sein muss. Ein Seufzer entkommt mir und ein kleines Kribbeln sammelt sich in der Magengegend. Schmetterlinge? Also wirklich, dazu bin ich doch nun schon zu alt. Kann also nur eine körperliche Überreaktion sein.

Lewis scheint aus seiner Vergangenheit aufzutauchen, räuspert sich und nickt mir unbestimmt zu. „Ja, stimmt.“

„Hör zu, Lewis. Ich kann doch Lewis sagen, oder?“

„Sicher.“

„Jetzt sollte ich mich bei dir entschuldigen. Aber was hältst du davon, wenn wir einfach noch mal von vorn anfangen? Wenn du Zeit hast, würde ich morgen gern dein Geschäft und die Werkstatt sehen. Du hast doch sicher schon Räumlichkeiten angemietet, oder?“

Ein erleichtertes Lächeln lässt seine bemerkenswerten Augen strahlen. „Es ist noch nichts fix. Mein Angebot, dich als Teilhaber einzubeziehen, steht nach wie vor. Und aus diesem Grund wollte ich auf deine Meinung warten. Eventuell hast du ja andere Vorstellungen oder Ideen.“

„Wie kannst du nur alles von mir abhängig machen? Es ist doch deine Geschäftsidee. Solltest du nicht wissen, was du willst?“

Unwillkürlich nimmt der Druck seiner Hand auf meinem Rücken zu. „Oh, verstehe mich nicht falsch. Ich weiß sehr wohl, was ich will.“

Mir wird eines ganz klar, diese Antwort bezieht sich nicht auf die Lokalitäten für seine Firma. Eine Gänsehaut krabbelt meinen Nacken hinauf und die Schmetterlinge erhalten neue Energie, sodass es mir flau im Magen wird.

„Nun gut. Ich schau es mir an und dann sehen wir weiter. Wo und wann wollen wir uns treffen?“

„Bei Vicky gegen zehn Uhr? Dann können wir noch gemeinsam einen Tee trinken und ich komme noch mal in den Genuss ihrer extrem leckeren Scones.“

„Ach, dann kennst du es schon?“

„Vor ein paar Tagen wollte ich mit ihr über Charly und dich reden. Es ist so ein wundervoller kleiner Laden. Man spürt die Liebe und Begeisterung von Vicky.“

„Ja, das stimmt. Sie ist aufgeblüht, seit sie ihn hat.“ Ich erhebe mich, prüfe meine Standfestigkeit und bin mir nicht im Klaren, was ich jetzt tun soll. Einfach nach Hause stiefeln wäre sehr kindisch. Ungefragt wieder zurück zu meiner Schwester, ist mir allerdings auch unangenehm.

Lewis steht plötzlich vor mir, viel zu nah, und richtet meine Jacke. Ob ihm diese Geste überhaupt bewusst ist? Scheint nicht so. Er lächelt mich an und meint: „Vicky lässt dir ausrichten, du sollst deinen knochigen Hintern gefälligst wieder an ihren Tisch schleifen. Notfalls würde sie persönlich kommen und dich holen.“

Damit ist meine Entscheidung wohl gefallen. „Immer diese Drohungen“, grummele ich lächelnd, als wir uns beide auf den Rückweg machen.

 

Es wurde noch ein sehr entspannter Abend. Nachdem Lewis und ich uns für den folgenden Tag verabredeten, verlor er kein Wort mehr über die Firma. Ich hatte erst Bedenken, Charly würde sich ausgeschlossen fühlen, aber dem war nicht so. Lewis teilte ihr mit, dass wir uns gemeinsam Räumlichkeiten ansehen werden und damit war auch Charly mehr als zufrieden.

Das Essen war köstlich, die Stimmung locker und gelöst und wir amüsierten uns prächtig. Trotz des holprigen Anfangs entwickelte sich ein wirklich toller Abend.

Es muss Mitternacht gewesen sein, als Lewis Anstalten machte heimzufahren. Meine Schwester ergriff natürlich die Gunst der Stunde und heuerte ihn als Chauffeur für mich an. Mir war es nicht recht, aber nein sagen wollte ich auch nicht. Also tat ich ihr den Gefallen und ließ mich von Lewis nach Hause bringen.

Die Fahrt dauerte keine fünf Minuten. Ich verabschiedete und bedankte mich höflich, als seine Hand abermals auf meiner Schulter landete. „Immer gern, Matthew. Schlaf gut und bis morgen.“

Seine Worte waren so ernst und voller … was weiß ich. Ich würde sagen, Gefühl. Aber warum sollte das so sein? „Ja, du auch. Bis morgen.“

Mehr als mir lieb war, wollte ich einfach nur im Auto sitzen bleiben. Was für blöde Ideen ich doch immer habe.

Ich tat es natürlich nicht. Die Autotür schloss ich sehr leise und schlich zum Eingang. Dort angekommen fummelte ich den Schlüssel aus der Jackentasche und öffnete lautlos die Eingangstür. Als ich sie schließen wollte, fällt mir auf, dass Lewis immer noch vor meinem Haus steht und mir nachschaut, als würde er sichergehen wollen, dass ich auch heile ankomme. Ich hebe kurz meine Hand, winke und schließe die Tür hinter mir. Mit rasendem Herzen lehne ich in meinem Haus an meiner eigenen Tür und habe das Gefühl, heimlich von einem Date zurückgekommen zu sein.

 

***

Impressum

Texte: Nele Betra
Bildmaterialien: Nele Betra
Lektorat: Bernd Frielingsdorf
Tag der Veröffentlichung: 12.10.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für die beiden A’s in meinem Leben. Danke für alles.

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