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Wenn die Angst schweigt

 

Was wäre wenn…?

 

GayRomance

Vier Kurzgeschichten

von

Nele Betra

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

1. Auflage

Text: Nele Betra

Im Hangelstein 41, 73730 Esslingen

nele.betra@web.de

Umschlagerstellung: Nele Betra

Foto: depositphotos.com (c) pixabay

Korrektorat: Brigitte Mel

Copyright Esslingen am Neckar April/Mai 2015 Nele Betra

 

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Vervielfältigung und Veröffentlichung sind nicht gestattet oder bedürfen meiner ausdrücklichen Zustimmung. Die Illustrationen auf dem Einband bzw. Titelseite werden nur für darstellerische Zwecke genutzt. Jede abgebildete Person ist ein Model.

 

***

 

  1. Wenn die Angst schweigt

 

„In einem wirklichen magischen Moment schweigt die Angst von allein.“

(c) Kerry Greine

 

***

 

Magische Momente? Dass ich nicht lache. Wer behauptet, dass es die gibt, ist ein wahrhafter Träumer? Ich habe bisher noch keine erlebt. Denke ich.

Wie komme ich überhaupt auf diese wirren Überlegungen? Die Erklärung ist einfach. Ein Satz, von einem meiner Onlinefreunde geschrieben als Kommentar in einem Socialnet, lässt meine Gedanken fliegen und mich Fragen stellen, die ich immer wieder gerne verdränge.

Wollt ihr wissen, um welchen Satz es dabei geht? Also gut, hier ist er:

 

„In einem wirklichen magischen Moment schweigt die Angst von allein.“

 

Was für ein Schwachsinn!

 

Es ist 5 Uhr früh, schweinekalt und finster wie in einer Gruft. Die dunkelste Stunde ist immer die vor Sonnenaufgang. Hab ich mir mal sagen lassen. Angeblich soll es ein chinesisches Sprichwort sein. Keine Ahnung, ob es wahr ist. Vom Gefühl her würde ich dem aus tiefster Seele zustimmen.

Ich liege im Bett. Allein, wie ich hoffe, denn ich habe noch nicht nachgesehen. Mein erster Blick aus verquollen Augen - wenn man die überhaupt so nennen kann - fällt auf mein Handy, welches wie Weihnachtsbeleuchtung in regelmäßigen Abständen sämtliche LED’s blinken lässt. Blau für Facebook. Grün für private Nachrichten. Weiß für WhatsApp. Gelb für meine drei E-Mail-Accounts. Die Mitteilungen und meine elektronische Post müssen jetzt warten, ich bin absolut nicht fähig klar zu denken, oder irgendwem ein Lebenszeichen von mir zukommen zu lassen. Warum ich diese nervige Erfindung an meinem Bett liegen habe? Ist es eine Erklärung, wenn ich sage aus Dummheit? Es wird echt Zeit für Urlaub. Wann war mein Letzter? Erstaunlich... es ist schon so lange her, dass ich in meinen Terminplaner schauen müsste, um mich daran erinnern zu können. Wie konnte das nur passieren?

Mein Kopf dröhnt. Ich streiche durch mein störrisches Haar und stöhne auf. Selbst die Haarwurzeln sträuben sich und schmerzen. In meinem Mund scheint etwas Pelziges verendet zu sein. Ich hauche in meine Hand und sehe es regelrecht vor mir, wie ich vom Geruch grün anlaufe. Mein Magen findet es ebenfalls nicht lustig und rebelliert munter drauf los. Nach der Nachttischlampe suchend taste ich auf dem neben mir stehenden Schränkchen herum, bis ich den Schalter finde und ihn betätige. Meine Augen kneife ich reflexartig zu und lasse mich mit einem schmerzerfüllten Stöhnen ins Kissen zurücksinken.

Zweiter Versuch. Das Licht beißt mir in die Augäpfel und verstärkt das Dröhnen in meinem Schädel. Langsam drehe ich mich zur Seite und lasse meinen Blick über die linke Betthälfte wandern. Die Bettlaken sind zerwühlt, da ich im Schlaf dazu neige zu randalieren, also nichts Bedenkliches. Sehr gut, ich bin tatsächlich allein nach Hause gekommen und muss mich somit nicht für meinen Zustand schämen.

Hätte ich doch nur gestern Abend meine Kollegen ignoriert und dieses Gesöff nicht angerührt. Es roch merkwürdig, sah eklig aus und schmeckte dementsprechend mies. Aber hey, in meiner Situation wäre wohl jedem mit solch einem Alk-Cocktail geholfen. Hauptsache die immerwährenden Achterbahnfahrten meiner Gedanken kommen zum Stillstand.

Sechs Monate! Sollte es nicht langsam besser werden?

Dieses halbe Jahr liegt wie im Nebel. Blackouts wie der heute Nacht sind keine Seltenheit. Meine tägliche Arbeit verrichte ich routiniert, eher wie eine Maschine, die einem Programm folgt. Acht Stunden am Tag Tunnelblick. Die Frage ist nur, was sehe ich am Ende des Tunnels? Dunkelheit. Nur abgrundtiefe Stille und verzehrenden Schmerz.

Verdammt! Welcher Idiot hat eigentlich je gesagt, dass die Zeit alle Wunden heilt? Den würde ich gern persönlich kennenlernen. Vielleicht auch in der Dunkelheit? In einer Gasse, ganz allein würde ich mit ihm sehr gern näher auf dieses Thema eingehen.

 

Ein Scheppern gefolgt von unverständlichen Worten dringt ins Schlafzimmer. Ich fahre aus meinen Gedanken hoch und greife mir im selben Augenblick an meine stechende Schläfe, als die Tür zum Bad geöffnet wird und sich ein Mann auf leisen Sohlen versucht ins Zimmer zu schleichen.

Mist! Ich bin doch nicht allein. Weiterhin meine Hand gegen die Stirn gepresst traue ich meinen Augen nicht. Das kann nicht sein!

Völlig in sein Bemühen vertieft, sich so leise wie möglich zu bewegen, bemerkt er nicht, dass bereits ein diffuses Licht das Zimmer erhellt und ich hellwach - zumindest so hellwach ich in meinem Zustand sein kann - im Bett sitze und ihn anstarre.

Ich würde mich gern bemerkbar machen, aber meine Synapsen spielen noch Fangen mit sich selbst und geben mir keine Möglichkeit auf angemessene Weise zu reagieren. Was mir selbst im katerlosen Zustand schwergefallen wäre, da dieser Mann kein geringerer ist, als jener, der mich vor einem halben Jahr in die emotionale Hölle geschickt hat.

Ein Stechen in der Brust. Ein Ziehen in der Magengegend. Es hilft alles nichts, ich muss aufstehen, sonst gibt es hier im Bett ein Unglück. Ich quäle meine Beine über die Bettkante. Was mein Gegenüber nun doch aus seiner Trance herausholt und mitten in seiner Bewegung erstarren lässt. Ein Fuß in der Luft, leicht nach vorn gebeugt, um sich vor was auch immer zu ducken, steht er mitten im Zimmer und starrt mich mit offenem Mund an. Witziger Anblick. Bei jeder anderen Person wäre ich sicher in Gelächter ausgebrochen. Bei ihm fällt es mir schwer meinen Mageninhalt bei mir zu behalten. Mit einer Hand vor meinem Mund sprinte ich ins Bad und lasse ihn ohne Kommentar stehen.

Im Bad angekommen werden die Kopfschmerzen nur noch unerträglicher. Das Licht überm Spiegelschrank ist grell. Wunderbar, wenn ich mich rasieren muss, da jede Pore und Falte zu sehen ist. Jetzt ist es einfach nur ätzend. Am Boden liegt ein Becher. Der war es wohl auch, der das scheppernde Geräusch verursacht haben muss. Hat er sich den Mund gespült? Nein, auf dem Waschtisch liegt eine neue Zahnbürste, die aufgebrochene Verpackung daneben. Wirklich? Er schleppt mich im Delirium zu mir nach Hause, verbringt die Nacht bei mir - wer weiß, vielleicht auch mit mir - und putzt sich nach allem, was er mir angetan hat einfach seine Zähne, um klammheimlich zu verschwinden? Ich bin so ein Idiot!

Meine Übelkeit ist so plötzlich verschwunden, wie sie aufgetaucht ist. Wird durch ein Zittern ersetzt, welches mich dazu zwingt meinen Hintern auf dem kalten Toilettendeckel zu parken, was mir wiederum schlagartig ins Bewusstsein ruft, dass ich splitterfasernackt bin.

Kann es eigentlich noch schlimmer kommen?

Ja es kann.

Die Badtür geht abermals auf und er steht im Türrahmen, unschlüssig... tritt von einem Fuß auf den anderen. Kann sich nicht entscheiden, ob er reinkommen soll oder nicht. Ich sehe es ihm an. Weiß was er denkt. Zu lange kenne ich ihn schon. Und doch läuft mir eine Gänsehaut über den Körper, als er mich anspricht. „Alles okay bei dir?“

Vier Worte, die ich liebe und gleichzeitig hasse. Hat er mich das je gefragt? Ich zucke mit den Schultern. „Mir geht’s gut, wenn du den heutigen Morgen meinst. Langsam gewöhne ich mich daran.“ Oh, das war mehr, als ich sagen wollte.

Seine Reaktion auf meine Antwort ist ein tiefes Seufzen und in sich Zusammensinken, bevor er durch seine dunklen Locken streicht und flüstert: „Hab‘ ich wohl nicht anders verdient. Brauchst du etwas? Kann ich dir ein Glas Wasser bringen?“

„Wenn ich mich nicht irre, wolltest du gerade gehen. Also leb wohl!“, meine Wut, seit Monaten angestaut, verschafft sich Platz. Was glaubt er eigentlich, was er hier tut?

Sein Kopf fährt hoch, überrascht durch meine lauten und harschen Worte. „Du verstehst nicht... es sind einfach Dinge passiert... die du... die du sicher nicht verstehen würdest“, versucht er sich im wirren Gestammel zu rechtfertigen.

Ich hebe abwehrend meine Hände. „Hör auf! Ich will es nicht wissen. Spielt keine Rolle mehr. Ich will nur noch, dass du gehst. Also verschwinde endlich!“ Den letzten Satz brülle ich ihm entgegen und sinke sofort wieder in mich zusammen. Scheiß Alk. Das muss ein Ende haben. So geht es nicht mehr weiter. Ich kann nicht einmal meiner Wut ein Ventil bieten, ohne hinterher wie ein Häufchen Elend auf dem Klo zu hocken. Das macht mich rasend und zugleich verzweifelt.

Was mir bei aller Peinlichkeit entgangen ist, kämpft sich mit voller Wucht an die Oberfläche. „Bevor du verschwindest, wäre es sehr nett von dir, mir zu sagen, was du überhaupt in meiner Wohnung suchst.“ Meine Worte triefen vor Sarkasmus.

Er steht immer noch in der Tür. Traut sich keinen Schritt weiter an mich heran und schaut betreten auf den Fliesenboden. „Du kannst dich nicht mehr erinnern?“

„Würde ich fragen, wenn ich es täte?“, raunze ich ihn an.

„Hm... stimmt.“

„Also?“

„Ich habe dich sternhagelvoll im Ruben’s aufgesammelt.“

„Was? Wieso im Ruben’s? So ein Quatsch. Ich war auf einem Firmenausflug... zumindest erinnere ich mich noch daran, von meinen Kollegen dieses Zeug vorgesetzt bekommen zu haben“, nuschle ich irritiert vor mich hin.

„Ich kann dir nicht sagen, wie du dort hingekommen bist. Ich weiß nur, dass ich dich dort hab pöbeln hören, als ich rein kam. Und die Barbesitzer sind nicht erfreut über solche Art von Gästen. Also habe ich ihnen gesagt, du gehörst zu mir und brachte deinen Hintern nach Hause. Ich wollte längst weg sein, wenn du wach wirst. Du hättest nie erfahren, was passiert ist.“

„Das ist typisch für dich. Einfach abhauen, scheint deine bevorzugte Art des Verschwindens zu sein.“ Ich werde theatralisch. Nur kann ich meine Gefühle schlecht verbergen.

Mir macht nicht zu schaffen, dass ich mich im Ruben’s daneben benommen habe. Ich kenne die Jungs da und werde es beim nächsten Besuch wieder geradebiegen. Mir macht zu schaffen, dass ich von ihm aufgelesen wurde. Sozusagen gerettet und nach Hause gebracht, um von ihm abermals stillschweigend verlassen zu werden. Auch wenn sein Plan funktioniert hätte und ich nun nicht wüsste, was gestern geschehen ist. Es hat mich damals zu tiefst verletzt und tut es immer noch.

„Ja, mag sein. Aber wie gesagt, gibt es für alles einen Grund. Auch dass ich dich gestern im Ruben’s getroffen habe, war kein Zufall.“

„Was soll das bitte heißen? Spionierst du mir nach?“

„Das würde ich jetzt nicht so krass ausdrücken, aber... ach was soll’s. Ja, ich spioniere dir nach.“ Er kommt auf mich zu, greift meinen Morgenmantel, der hinter der Tür hängt, und legt ihn mir sanft über die Schultern. Diese Geste ist neu. So kenne ich ihn nicht. Bei uns war immer ich derjenige, der sich um ihn gekümmert hat. Nicht dass mich das gestört hätte, aber ich muss zugeben, es fühlt sich gut an und ich sehe diese Seite das erste Mal an ihm.

Zurück zu dem, was er mir gerade offenbart hat. Er gibt es auch noch unumwunden zu, mich zu stalken? Ich glaube, ich höre nicht richtig. Was noch schlimmer ist, ich hab es nicht einmal bemerkt.

Meine Gedanken muss ich laut geäußert haben, denn von ihm kommt prompt eine Antwort. „Das konntest du auch nicht. So oft wie du im Alkoholrausch durch Leben gehst, wundert mich, dass du überhaupt noch an einem Stück bist“, weist er mich zurecht. „Aber lass uns doch erst einmal deinen heutigen Kater in einen Zwinger stecken.“

„Tja, mit heimlich abhauen ist es wohl nicht mehr getan?“, maule ich und versuche mich vom Klo zu erheben. Meine gottverdammten Beine machen mir einen Strich durch die Rechnung. Es muss doch ziemlich heftiges Zeug gewesen sein, was sie mir da gegeben haben.

„Du sagst es. Ich kann mich nicht von dir fernhalten. Also lass uns das Beste draus machen.“ Der Stimmungswechsel lässt mich aufhorchen.

„Ich glaube, du spinnst! Du verschwindest nach zwei Jahren Beziehung sang- und klanglos aus meinem Leben. Kommst nach 6 Monaten, ohne Lebenszeichen oder irgendeiner Erklärung, mir nichts dir nichts angerauscht und denkst, ich würde das so schlucken und so tun als wäre nichts geschehen? Träum weiter, mein Lieber! Ich weiß ja nicht, was mit dir in der Zwischenzeit geschehen ist, aber naiv warst du noch nie.“

„Es ist, wie schon gesagt, eine ganze Menge passiert, was nicht nur mich betrifft.“

Okay, das hatte so keinen Sinn mit ihm zu reden. Wir drehen uns im Kreis. Ich bin sauer auf ihn, verletzt und zugleich neugierig. „Pass auf, ich mach dir ‘nen Vorschlag...“ Ich wickle mich in den Mantel und stehe vorsichtig auf. So komme ich mir nicht mehr allzu verletzlich vor und kann endlich halbwegs klar denken. „... auch wenn ich weiß, dass ich es sicher bereuen werde“, nuschele ich auf dem Weg zur Dusche. „Lass uns nachher in Ruhe über alles reden. Ich werde mich jetzt unter die Dusche stellen und hoffen, dass sie mir den letzten Rest Dummheit abspült. Wenn du willst, kannst du uns in der Zeit Kaffee aufbrühen. Im Kühlschrank sind noch ein paar Eier und belegte Brote von gestern. Sollte ich aus dem Bad kommen und du bist weg... bitte, dann lass dich aber auch nie wieder bei mir blicken.“ Sein Gesicht hellt sich auf. Voller Hoffnung, was mir mein Herz schwer macht. Er tut gerade so, als hätte ich ihn verlassen.

Ich drehe mich zur Dusche, betätige die Armatur, um das Wasser warmlaufen zu lassen. Mein Mantel rutscht mir vom Körper und ich höre hinter mir, wie er bei meinem Anblick die Luft zwischen seinen Zähnen einzieht und leise murmelt: „Es wird Zeit, dass ich mich um dich kümmere.“

Bei seinen Worten schließe ich die Augen und warte, bis die Tür hinter ihm ins Schloss fällt. Ich atme einmal tief durch. Ist das eben alles ernsthaft geschehen? Oder habe ich einen extrem realistischen Tagtraum? Nein, das kann kein Traum sein. Ich habe ihn gehört, gesehen und... oh ja, seinen Geruch kann ich mir nicht einbilden, obwohl... so ganz richtig war er dann doch wieder nicht. Egal, er ist also tatsächlich hier. Bei mir, in meiner Wohnung. Ich muss zugeben, er sieht gut aus und doch irgendwie anders. Etwas hat sich verändert. Ich kann nur nicht den Finger drauflegen. Seine Haare sind dunkel und lockig wie eh und je, dennoch sehen sie nicht richtig aus. Wenn er jetzt vor mir stehen würde, wäre ich geneigt hindurchzufahren, nur um meine Annahme zu bestätigen. Meine Finger wissen noch ganz genau, wie sie sich anfühlen sollten. Aber was kann eine Veränderung in diesem Ausmaß hervorgerufen?

Endlich ist das Wasser warm und die Duschkabine vom Dampf aufgeheizt. Ein erleichterter Seufzer entkommt mir, als das heiße Nass auf meine empfindliche Haut prasselt. Ich hebe den Kopf und genieße die Wärme, die über mein Gesicht fließt und meinen Körper einhüllt. Meine Gedanken wandern natürlich sofort zurück zu ihm. Ob er noch da ist, wenn ich in die Küche komme? Ich benehme mich kindisch. Das hat er früher immer gehasst. Seiner Meinung nach sollte ich mich wie ein richtiger Mann benehmen.

Er hat recht. Was bringt es einem, Träume zu haben? Ich höre ihn noch, wie er gebetsmühlenartig runterbetete: „Das reale Leben spielt sich nicht in deiner Fantasie ab. Werd’ erwachsen!“ Warum erinnere ich mich jetzt an diese Dinge? Bisher sind mir nur die positiven Erinnerungen im Kopf umhergewirbelt. Aber jetzt...

Es sind die Kleinigkeiten, diverse Unterschiede, die mir in den Sinn kommen und mich hellhörig werden lassen.

Meinen Suffkopf geklärt, der Kater verzieht sich langsam aber sicher, verwöhne ich mich mit meinem Lieblingsduschbad. Mir ist zwar noch flau in der Magengegend, aber das lässt sich mit einem ordentlichen Frühstück und etwas Kaffee - nicht zu vergessen, Aspirin - wieder in Ordnung bringen.

Ich stelle die Dusche aus, mir wird schlagartig kalt. Somit schlinge ich mir das Badetuch um die Hüften und gehe zum Waschbecken, um diesen ekelhaften Alk-Geschmack loszuwerden. Mit der Zahnbürste im Mund mustere ich mich, nehme mich nach Monaten der Selbstverleugnung bewusst wahr und bekomme eine kleine Ahnung, warum er so entsetzt reagierte, als er mich nackt vor der Dusche stehen sah. Ist es das, was ihn so schockierte? Er hat mich doch gestern Abend heimgebracht, mich ausgezogen und ins Bett gesteckt. Ihm muss doch da bereits aufgefallen sein, welche Veränderung ich durchgemacht habe. Okay, vielleicht ist es ihm nur nicht so klar vor Augen geführt worden wie gerade eben.

Ja, ich habe in den letzten Monaten einige Kilo abgenommen. Und ja, ich sehe blass und ausgemergelt aus. Meine Hüftknochen drücken sich durchs Badetuch. Meine Rippen zeichnen sich überdeutlich ab. Ich gebe zu, mit meinem Körper Raubbau betrieben zu haben.

Ich blicke mir in die Augen und treffe eine Entscheidung. Egal was heute noch passiert, dieses Leben hat ein Ende. So geht es nicht mehr weiter. Ich muss mich in den Griff bekommen. Die Abwärtsspirale stoppen und aufhören dem hinterher zu trauern, was ich nicht mehr haben kann. Selbst wenn dieses Etwas draußen in der Küche sitzt.

Vielleicht musste es passieren. Vielleicht musste er noch einmal wahrhaftig vor mir stehen, damit mein Leben endlich weiter gehen kann und ich begreife, dass es auch ohne ihn geht.

Nur... die Frage, die sich mir seit einigen Minuten ins Hirn brennt, ist:

 

Wer zum Geier sitzt eigentlich dort in meiner Küche?

 

Er sieht aus wie er. Er redet wie er. Aber tief in mir drin keimt der Verdacht, dass ER nicht ER ist. Oh ja, erklärt mich für völlig verrückt. Ich kann es euch nicht übel nehmen. Und doch überfällt mich ein komisches Gefühl. Je nüchterner ich werde, umso überzeugter bin ich, dass dieser Mann nicht mein Ex ist. Wir waren zwei Jahre zusammen. Es war eine extrem intensive Beziehung. Für mich gab es nur ihn. Tja eben, es gab nur ihn für mich. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich im Grunde keine Ahnung habe, was mit seiner Familie ist. Wieso habe ich nie nach ihnen gefragt? War ich so blind vor Liebe und zu fixiert auf ihn, dass es mir egal war?

Für mich bedeutet Familienbande nichts. Oh, bitte nicht falsch verstehen. Ich finde es toll, wenn es Eltern gibt, die ihre Kinder bedingungslos lieben, akzeptieren wie sie sind, stolz darauf sind, was sie im Leben erreicht haben. Hätte ich jemals ein eigenes Kind, würde ich mir wünschen, genau so ein Vater für meinen Nachwuchs zu sein.

Was meine eigene Kindheit betrifft, war dies nicht der Fall. Aufgewachsen in einem am Existenzminimum dümpelnden Elternhaus, ging ich schnell meinen eigenen Weg, der genauso gut da hätte enden können, wo er begonnen hatte. Dem war zum Glück nicht so. Ich bin stolz es aus dem Sumpf herausgeschafft zu haben. Ich habe nie zurückgeblickt. Mir fehlte schon immer die Bindung zu meiner Familie. Welche mir es auch nicht schwer machte zu gehen und sie hinter mir zu lassen. Es ist einfach zu viel vorgefallen, um bei einem Gedanken an sie, herzliche Gefühle zu bekommen. Aber gut, das ist lange her und im Eigentlichen kein Problem mehr.

Ist es aber möglich, dass eben genau diese Vergangenheit mich davon abhielt, mehr wissen zu wollen, als das, was er mir in unserer gemeinsamen Zeit freiwillig preisgab? Ich stocke in der Bewegung, starre mich überrascht im Spiegel an und ziehe bei der Erkenntnis, die in mir reift, meine Augenbrauen hoch. Mein Gott, was bin ich nur für ein Mensch? Ja, es hat mich nie interessiert. Für mich war immer wichtig, dass er da war. Einzig und allein nur für mich. Im Umkehrschluss gab es auch nur ihn für mich. Verdammt! Was habe ich nur getan? Bin ich schuld daran, dass er der Meinung war, mich von jetzt auf gleich verlassen zu müssen? Fragen, die geklärt werden müssen, bevor ich mich auf meine Zukunft konzentrieren kann.

Zurück im Schlafzimmer werfe ich mir saubere Pants, mein Wohfühl-T-Shirt und eine Jogginghose über. Ein paar dicke Socken über die Füße gezogen, begebe ich mich mit flauem Magen und rasendem Herzen in die Küche. Im Türrahmen bleibe ich stehen, genieße den Duft von frisch gebrühtem Kaffee. Ich bin erstaunt, dass er tatsächlich hier in meiner Küche an einem gedeckten Frühstückstisch sitzt und in der Tageszeitung liest. Vertieft in einem Bericht bemerkt er nicht, dass ich zu ihm an den Tisch trete. Ich schau über den Zeitungsrand und runzle überrascht die Stirn. „Finanzbericht über den Dow-Jones-Index?“

Er schreckt hoch und zieht verlegen den Kopf ein. „Ähm... ja, also... das ist schon wichtig. Ich muss doch wissen, was in der Welt passiert. Oder nicht?“

„Seit wann interessiert dich das?“, frage ich ihn skeptisch.

Er faltet die Zeitung übertrieben langsam und sorgfältig zusammen, kaut auf seiner Unterlippe, an der mein Blick hängen bleibt und in mir der Wunsch wächst, genau das für ihn zu übernehmen. Meine Lippen auf seinen zu spüren. Ich schüttle meinen Kopf, muss wieder klar werden. In diese Richtung sollten meine Gedanken nun wirklich nicht abschweifen. Aber... dieser Mund macht mich wahnsinnig. Ich reiße meinen Blick davon los und wandere über sein Gesicht hinauf zu seinen steingrauen... Moment! Da stimmt etwas nicht.

 

*** Ende der Leseprobe ***

Impressum

Texte: Nele Betra
Bildmaterialien: Nele Betra
Lektorat: Brigitte Mel
Tag der Veröffentlichung: 28.07.2015

Alle Rechte vorbehalten

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