Patricia und Caspar
Prolog
- Patricia -
„Patricia Wiebusch! Komm sofort von diesem Baum runter und lass den Jungen in Ruhe! Er soll seine Äpfel alleine ernten“, rief meine Mutter armwedelnd vom Boden hinauf in vier Meter Höhe, um mich davon abzuhalten, den Jungen, der unter mir stand, am Schlafittchen zu packen, um ihn zu mir heraufzuziehen. Zur Antwort bekam sie von mir nur ein übermütiges Lachen und: „Ach komm schon Mama! Die wird er aber nicht dort unten finden. Er ist kein Baby mehr!“
Mit geschlossenen Augen saß ich lächelnd im Garten und ließ mir die Sonne aufs Gesicht scheinen. Die Wärme tat mir gut und beruhigte, wie so oft mein Gemüt. Und in seltenen Fällen tauchten meine Gedanken in alte Erinnerungen ab.
Es war eine Weile her, dass ich daran zurückdachte, wie ich zu der Person wurde, die ich heute bin. Mein Name ist Patricia Wiebusch. Mich erlebt man heutzutage nur noch als sehr ausgeglichenen Menschen. Aus dem Gleichgewicht bringt mich so schnell nichts mehr. Ob ich damit andeute, ich wäre anders gewesen? Ein ganz klares: Ja! Natürlich kann ich nur wiedergeben, wie mich meine Mitmenschen wahrnahmen. Würde man jemanden von damals fragen, bekäme man folgende Antwort: „Sie war eine explosive Mischung aus Goldschatz und Kotzbrocken.“ Nun ja, dafür gab es einen Grund. Der euch im Laufe unserer - Jonas‘, Caspars, Chris‘ und meiner - gemeinsamen Geschichte klar werden wird.
Meine Jugend verbrachte ich am idyllischsten Ort, den man sich vorstellen kann. Bitte nicht lachen! Ich denke da an den Schwarzwald. Ich höre eure Gehirnwindungen arbeiten und nicht nur das. Ich höre euch ganz laut und erschrocken ausrufen: „Was um Himmels willen kann dort schon so toll sein?“
Ich sag es euch: „Meine Familie lebte dort. Sie verankerten mich im Hier und Jetzt, stärkten mir den Rücken und liebten mich bedingungslos.“
Womit klar wäre, dass meine Heimat nicht an bestimmte geographische Daten festzumachen war. Heimat ist und bleibt dort, wo das Herz lebt und liebt.
Wir schrieben das Jahr 2458. Technologie hielt auch in den abgelegensten Winkeln der Erde Einzug. Es gab keine zurückgezogenen, sturen Hinterwäldler mehr, die fleißig die Tradition des Bollenhutes pflegten. Viele clevere Schwarzwälder trauten sich aus ihren Holzhütten und trugen durchaus wertvolle Entwicklungen zum heutigen allgemein als normal angesehenen Lebensstandard bei.
Das CERN dürfte allen ein gängiger Begriff sein. Nachdem sich schlaue Wissenschaftler in der Schweiz mit einem Antimaterie-Experiment in ihrem allseits gepriesenen Ringbeschleuniger ins Nirwana katapultierten, errichteten sie ein vergleichbares Institut, sinnvollerweise etwas weiter weg jeglicher Zivilisation. Sie schickten die Forscher kurzerhand nach Grönland ins Exil. Wie sollte es anders sein? CERN2 erging es ebenso. Es weilte kurze Zeit später nicht mehr auf unserem Planeten. Abermals beklagten wir, trotz der Vorsichtsmaßnahmen, unzählige zivile Opfer. Der Unfall führte zur Abschmelzung des grönländischen Eisschildes. Der Meeresspiegel stieg um sieben Meter. Und die Menschheit fand es keineswegs amüsant. Angesichts der Situation, sicher nicht erwähnenswert.
Leider folgten noch schwerwiegendere globale Ereignisse. Resultierend aus der Grönlandschmelze löste sich in den darauffolgenden Jahrzehnten die komplette Arktis wie Butter in der Sonne auf. Die logische Konsequenz: Anstieg des Meeresspiegels um weitere fünfzig Meter. Und auch das führte zu reichlich Unmut unter der Bevölkerung.
In den Jahrhunderten des Neuanfangs erließen die Regierungen rigorose Gesetze. Umweltschutz und Geburtenkontrolle wurden reglementiert. Richtig gehört! Land wurde nach dem Anstieg der Weltmeere immer knapper. Überbevölkerung stellte ein vorhersehbares Problem dar. Jede Familie erhielt die Erlaubnis, zwei Kinder in die Welt zu setzen.
Frisch motivierte Wissenschaftler widmeten sich erneut der kalten Fusion, welche sie dann - oh Wunder - in den Griff bekamen. Da wir keinesfalls nur auf eine Alternative der Stromerzeugung angewiesen sein wollten, schickten die Energiekonzerne riesige Sonnensegel, bestückt mit Solarzellen, in die Erdumlaufbahn. Die dort absorbierte Solarenergie wurde gebündelt an Auffangstationen übertragen. Gigantische Anlagen, die aussahen wie Radioteleskope, leiteten die empfangene Energie an Wasserkraftwerke zur Zwischenspeicherung weiter.
Die vorab geschilderten Ereignisse wirkten sich ebenfalls auf das Erdklima aus. Zum Glück kamen wir in Mitteleuropa glimpflich davon. Unsere Jahresdurchschnittstemperatur stieg von zehn auf fünfzehn Grad. Flora und Fauna veränderten sich gleichermaßen, wenn auch nur geringfügig. Die Auswirkung für meine Heimatregion hielt sich in Grenzen. Im Laufe der Zeit wurden untypische Pflanzen und Tiere gesichtet. Aber im Großen und Ganzen war der Schwarzwald immer noch der Schwarzwald.
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Im Jahre des Herrn 2417 erblickte ich, als Zweitgeborene, das Licht der Welt.
Meine Eltern begrüßten mich zu einer Zeit, in der ein globales Chaos herrschte. Einschlägige Medien fanden heraus, dass Wissenschaftler eine Technologie entwickelt hatten, die es ermöglichte, die gesamte Bevölkerung, ohne größeren Einsatz von Ressourcen, mit Nahrungsmittel zu versorgen. Nach der Lösung des Energieproblems, eine weitere Hürde. Festland zum Anbau ausreichender Lebensmittel existierte nicht mehr. Ein besonderer Bonus dieser Erfindung: Es konnten ebenfalls materielle Dinge erschaffen werden.
Was das für die Wirtschaft bedeutete? Es kam, wie es kommen musste. Ein Aufstand 2417, der zwei Jahre andauerte. Zu Hause ermöglichten sie mir eine glückliche Kindheit. Welches ich mit extremen Stimmungsschwankungen vergalt. Lief es nicht nach meiner Nase, ließ ich meinen Gedanken freien Lauf. Ich bemerkte sehr schnell, dass ich dadurch Einfluss auf andere nehmen konnte, um so einen für mich positives Ergebnis herbeizuführen. Im Alter von fünf bekam ich fächerübergreifenden Privatunterricht. Zusätzliche Lehrer unterrichteten mich, meine „Gabe“ im Zaum zu halten. Damals begriff ich nicht, wie wichtig es in der Zukunft für mich sein würde.
Die Regierungen einigten sich auf die Bildung einer lang überfälligen Konföderation. Die politischen Unruhen ebbten ab. Der Großteil der Bevölkerung stellte sich der Herausforderung, ihr bisheriges Leben wieder aufzunehmen und zur Normalität zurückzukehren. Die Wirtschaft, wie sie bisher existierte, gab es nicht mehr. Sämtliche Bereiche unterlagen grundlegenden Veränderungen. Die Welttourismusbehörde wurde gegründet. Bestehend aus vormals führenden Konzernen, die Produkte herstellten, welche nicht mehr benötigt wurden. Es erfolgte ein Ausbau jener Branche. Sie organisierte und überwachte den Volkssport Nummer eins, Reisen wann und wohin man wollte. Leider gestattete die Regierung den bisherigen Tourismusunternehmen nur noch bedingt, in diesem Sektor ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Wie sich später herausstellte, gab es auch dafür sehr interessante Gründe.
Durch die massenhafte Schließung von Wirtschaftszweigen überrollte uns eine gigantische Welle der Arbeitslosigkeit. Was an sich alles andere als tragisch gewesen wäre, da die Arbeitskraft nicht mehr im selben Maße wie bisher für den eigenen Lebensunterhalt zum Einsatz gebracht werden musste.
Umverteilungsstationen der Regierung sorgten für das Lebensnotwendigste. Wohnraum wurde zugewiesen. Welche Art von Wohnung hing von der Wichtigkeit der Aufgabe im Allgemeinwesen ab.
Zahlungsmittel schaffte man auch nach dem politischen und wirtschaftlichen Umbruch keinesfalls ab. Es bestand weiterhin noch die Option, diverse Güter zu erwerben. Die Welttourismusbehörde beherrschte den Dienstleistungssektor. Wollte man also mehr im Leben erreichen, als zugeteilte Lebensmittel, 08/15 Bekleidung und Wohnraum, der einem Rattenloch alle Ehre machte, gab es nur eine Alternative. Die nannte sich Zweitjob. Diese Tatsache hätte uns alle bereits stutzig machen sollen. Jedoch, wie die Geschichte es schon zu oft bewies, vertraute der Großteil der Bevölkerung bedingungslos und blindlings auf die aktuelle Führungsriege.
Hatte ich erwähnt, dass die Leistungen des Gesundheitswesens ebenfalls von der Position im Allgemeinwesen abhingen?
Utopia schien so nah! Doch leider täuschten wir uns da gewaltig. Die Erde war nichts weiter als der Kindergarten des Universums. Voller dummer Kleinkinder, die sich gegenseitig versuchten den Eimer zu klauen, anstatt friedlich miteinander Spaß zu haben.
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Rekrutierung
- Patricia -
„Menschenskind, es gibt wirklich Leute, die meinen ich hätte endlos Zeit gepachtet. Warum vereinbaren wir einen Termin, wenn er nicht eingehalten wird? Die ganze Mühe war für die Katz.“ Leise vor mich hinfluchend lief ich vor dem Büro unseres zukünftigen Vorgesetzten im Flur auf und ab.
21 Jahre und etliche Schulbildungsversuche später rekrutierte mich die militärische Abteilung der Welttourismusbehörde. Ich war kein einfacher Mensch und meine Ausbilder hatten es nie leicht mit mir. Ob man es glaubte oder nicht, ich schaffte trotz geringfügiger Schwierigkeiten meine Abschlüsse. Zwar trieb ich in den letzten Jahren den einen oder anderen in den Wahnsinn, aber nun stand ich hier.
Unsere Regierung präsentierte jedem Erdenbürger eine Auswahl an möglichen Betätigungsfeldern für das Allgemeinwohl. Ich gebe offen und ehrlich zu, die Entscheidung mich rekrutieren zu lassen, traf ich völlig unbeeinflusst und im Vollbesitz meiner damaligen geistigen Kräfte - bisher dachte ich das zumindest.
Am Tag unserer Initiation in diese Einheit, welche selbstverständlich nur inoffiziell existierte, lernte ich Caspar Varnkamp kennen. Er brachte vom ersten Moment an meine Hormone auf Hochtouren. Und wie sich später herausstellte, sollte er mein zukünftiger Partner werden. Ich meinte, beruflicher Partnerschaft. Alles andere wäre illusionär gewesen.
Wir standen ... nein, Caspar stand, ich tigerte im Flur auf und ab ... vor dem Rekrutierungsbüro und warteten auf unseren künftigen Kommandanten und Ausbilder Cornelius Cleimann. Die Bürotür öffnete sich und ich hätte liebend gern auf dem Absatz kehrt gemacht und wäre abgehauen.
„Meine Damen, seien Sie mutig und trauen Sie sich herein. Das wird vermutlich das erste und letzte Mal sein, dass Sie dieses Büro mit dem Kopf auf Ihren Schultern wieder verlassen“, forderte er uns auf. Was für ein arrogantes Arschloch!
Caspar und ich traten zögerlich ein. Es überraschte mich sehr, zu sehen, dass es tatsächlich Ausbilder gab, die kaum über den Tisch linsen konnten. Mein zukünftiger Partner schritt zum Schreibtisch und schüttelte Cleimann die Hand zur Begrüßung. „Mein Name ist Caspar Varnkamp. Ich freue mich, dass Sie mich in Ihre Einheit aufnehmen.“
Der kleine Mann musterte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen von oben bis unten und gab arrogant zurück: „Tja, ob das ein Vergnügen wird, stellt sich spätestens in drei Wochen heraus. Nicht wahr, mein Sohn?“
Ich verkniff mir krampfhaft ein Grinsen. Das Bild, welches die zwei abgaben, wirkte äußerst komisch. Um das zu verstehen, sollte man wissen, dass Caspar mit geschätzten zwei Metern und einem spektakulären Kampfgewicht von 110kg, bestehend aus mindestens neunzig Prozent Muskelmasse, Cleimann um wenigstens einen Kopf überragte, ihm auf seine polierte Glatze starrte und kreidebleich wurde.
Nachdem ich mich unter Kontrolle hatte, ging ich ebenfalls direkt auf unseren Ausbilder zu, beugte mich übertrieben vor und schüttelte ihm vorsichtig die Hand. Ich hegte leichte Befürchtungen, ihm diese zu verstümmeln. „Ich bin Patricia Wiebusch und hoffe, dann doch inständig, die ersten Wochen zu überleben.“ Ups ... da waren sie wieder, meine drei Probleme. Erstens, ich konnte einfach den verbalen Filter nicht rechtzeitig aktivieren. Zweitens, meine Impulskontrolle ließen so was von zu wünschen übrig, dass ich stets dem Drang nachgab, Gedanken und Ideen in Echtzeit umzusetzen. Na ja ... und drittens ... keine Ahnung ... hatte garantiert etwas mit erstens zu tun.
Der ‚Kleine Mann‘, so hieß er ab sofort für mich, beäugte mich, schüttelte mir enthusiastisch die Hand und grinste überlegen. „Ja, meine Liebe, von Ihnen hörte ich bereits. Wir werden sehen, ob Sie halten, was mir von anderer Instanz versprochen wurde.“
Mir klappte augenblicklich der Unterkiefer auf die Brust. Es verschlug mir die Sprache. Das sollte was heißen, denn im Grunde sagte man mir verbale Inkontinenz nach.
Diese überheblichen Worte und seine herablassende Art brachten meine innere Ruhe dermaßen aus dem Gleichgewicht, dass meine schwer kontrollierbare Seite sofort übernehmen und zuschlagen wollte. Es fehlte nicht viel und der ‚Kleine Mann‘ wäre um ein Haar Geschichte gewesen. Zum Glück konnte ich auf jahrelanges mentales Training zurückgreifen, was mich von einer spontanen Reaktion abhielt.
Wie ich solche Situationen hasste!
Nach unserer ach so fabelhaften Begrüßung degradierte uns der ‚Kleine Mann‘ offiziell zu Kanonenfutter. In der ersten Phase der Ausbildung setzte er uns als Punchingball für Fortgeschrittene ein. Woran ich mich noch Wort für Wort erinnerte, war sein Abschiedsgruß, den er mir beim Rauskomplimentieren auf dem Flur gab. „Machen Sie’s gut, Patricia. Ich geb Ihnen einen Rat mit auf den Weg. Sie werden lernen müssen mir zu vertrauen, denn ich bin derjenige, der ihnen die Ausbildungszeit erleichtern könnte.“
Nanu, was sollte das denn bitte bedeuten? Er sprühte nur so vor kryptischen Aussagen. Die Antwort ereilte mich während der Grundausbildung durchaus nicht nur einmal.
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Überredungskünste
- Patricia -
Es zeigte sich relativ schnell, dass die Truppe vom ‚Kleinen Mann‘ überhaupt nichts mit einer Wald- und Wieseneinheit gemein hatte. Eine zehn Mann - in meinem Fall Frau - starke Mannschaft, bestehend aus unterschiedlich begabten Teamkollegen.
Wir einigten uns nie, ob unsere Fähigkeiten mehr Gabe oder Fluch darstellten. Ich denke, das war Empfindungssache eines jeden Einzelnen. Ein Thema, was ständig Zündstoff für heftige Diskussionen hergab.
Und jetzt kommen wir zu einem kleinen Geheimnis. Ich erwähnte es zuvor bereits. Die Natur verlieh mir gewisse Talente. Ohne, dass ich irgendeine besondere Behandlung erhielt, machten sie sich bei mir sehr frühzeitig bemerkbar.
Sagen wir es so: Ich besitze mentale Kräfte. Diese könnte ich dazu nutzen, anderen meinen Willen aufzuzwingen. Ja ich weiß, da kommt man auf Ideen. Aber, um mit einer solchen Veranlagung verantwortungsbewusst umgehen zu können, bedarf es einen gefestigten Geist. Es gab nur ein Problem. In mir herrschte Chaos. Gut und Böse lagen stets und ständig im Clinch, was mich zeitweilig innerlich zerriss.
Das mochte der Allgemeinheit keine Kopfschmerzen bereiten, denn niemand war nur gut oder böse. In meinem Fall allerdings eine riesige Katastrophe, denn wer meine unmenschliche Seite zu beherrschen wusste, konnte unheimlich viel mit mir veranstalten. Das Ergebnis: Ausgeliefert und keinerlei Einfluss auf jegliche Handlungsweise. Versteht ihr, was ich damit sagen wollte?
Bisher gelang es mir, dies zu verbergen. Leider gab es immer wieder Situationen, in denen ich ganz gerne die niederträchtige Seite zum Spielen raus gelassen hätte.
Caspar, ein Telekinet, wie geschaffen, um mit mir später ein perfektes Team zu bilden, hielt als Einziger mein Temperament im Zaum. Was er auch eindrucksvoll, mit den unmöglichsten Aktionen, unter Beweis stellte.
Alle Mitglieder verfügten, genauso wie ich, seit ihrer Geburt über Fähigkeiten. Röntgenblick und Kommunikation mit computergestützten Maschinen waren nur zwei davon. Letztere, wirklich cool, wenn man kein Geld einstecken hat und unterwegs auf einen Geldautomaten traf ... ich schweife ab. Seht ihr? Da war sie wieder meine ruchlose Seite. Jedenfalls hätten wir zu eurer Zeit kein Problem gehabt für die X-Men gehalten zu werden.
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Einen Mittwochabend im April befand sich die ganze Meute auf Clubtour, um sich vom auslaugenden Training abzulenken, als uns ein paar Dummköpfe auf der Straße dämlich anzumachen versuchten.
Depp Nr.1: „Hey ihr Hübschen, wo wollt ihr hin? Ihr seid nich von hier, oder?“ Welche Antwort erwartete er auf eine so offensichtlich dumme Frage?
„Nein, mein Schatz, wir sind von Alpha Centauri B. Besuchen euer galaxieweit bekanntes, verschlafenes Nest, um dich hier auf der Straße zu überraschen“, schnurrte ich ihn an.
„Will die mich auf den Arm nehmen?“, maulte er Depp Nr.2 an.
Caspar und die anderen gesellten sich zu mir. Hielten sich im Hintergrund, lehnten sich mit verschränkten Armen an die neben mir befindliche Hauswand und warteten gespielt gelangweilt auf meine Antwort. Mir platzte in den Monaten zuvor des Öfteren der Kragen, wenn sie meinten, mich beschützen zu müssen. Weshalb sie sich nicht einmischten. Innerlich grinste ich. Es war erfrischend zu sehen, dass früher oder später alles einen Lerneffekt hatte.
Meine Aufmerksamkeit wieder auf Depp Nr.1 konzentriert, kramte ich in seinen Gedanken. Durchforstete sie, schaute, wie viel Müll sich im Kopf dieses Blödmanns angesammelt hatte, und wurde prompt fündig. Mit hochgezogenen Augenbrauen musterte ich ihn und fragte, ob er sich noch an die Woche zuvor erinnern könne. Denn es war ja ein denkwürdiger Montagabend für ihn, nachdem er drei Straßen weiter einem unschuldigen Mädchen nachstellte und sie sexuell belästigte. Leider rechnete er nicht mit dem Freund der Kleinen. Dieser, aus ersichtlichen Gründen, stinksauer, faltete Depp Nr.1 kurzerhand zusammen.
Seine Gesichtsfarbe wechselte von kreidebleich zu puterrot, bevor er anfing zu stammeln: „Was ... wie ... woher? Das ist Blödsinn! Es ist überhaupt nichts passiert. Die blöde Schlampe hat das alles ...“
Ich handelte instinktiv. Das Wort Schlampe verließ kaum seine Lippen, als er auch schon wimmernd auf die Knie zusammenbrach.
„Lass es gut sein, Pat! Er ist ein Idiot. Handel dir wegen ihm keinen Ärger mit Cleimann ein.“ Caspar umfasste meinen Oberarm und zog mich fort.
„Cassi, lass mich los oder du wirst es bereuen!“, knurrte ich ihn an. Allerdings hatte ich die Rechnung ohne ihn gemacht. Mein bester Freund hatte nichts Besseres zu tun, als mich an die Wand zu drücken und seine vermaledeiten, wundervollen Lippen auf meine zu legen. Ein Kurzschluss im Hirn und ich ergab mich. Er beendete den Kuss so schnell, wie er ihn begonnen hatte, und schaute mich mit seinen türkisfarbenen Augen an. Musste es ausgerechnet jetzt hier auf der Straße dazu kommen? Ich träumte seit zwei Jahren davon. Und dann kam dieser Hornochse vor all unseren Teamkollegen und den zwei Deppen damit rüber?
Jeden anderen hätte mein Blick getötet. „Das ... das geht doch ... nicht! Geh weg und pack deine Lippen wieder ein!“, motzte ich ihn atemlos an, drehte mich um und ging ohne ein weiteres Wort Richtung Club. Hinter mir hörte ich nur ein verhaltenes Feixen und die Schritte der Jungs.
Caspar holte mich ein und drehte mich zu sich. „Pat, komm schon, sei nicht sauer! Ich musste dich irgendwie ablenken. Wenn ich dich gelassen hätte ... es fehlte nicht viel, um sein unterbelichtetes Gehirn durchschmoren zu lassen.“ Schulterzuckend wandte ich mich wieder Richtung Ziel des heutigen Abends. Der Rest der Nacht und unserer Ausbildungszeit verlief gelinde gesagt sterbenslangweilig.
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Erster Einsatz
- Patricia -
Nach unglaublich langen zwei Jahren, in denen wir nicht nur geistig, sondern auch körperlich und kämpferisch trainiert wurden, hatten wir es endlich geschafft. Wir konnten uns als vollwertige Mitglieder der parapsychologischen Elite-Einheit der Welttourismusbehörde bezeichnen. Die Notwendigkeit dieser Gruppe stellte sich schnell, nach Ende des Aufstandes im Jahr 2419, heraus.
Nachdem sich die unruhige Lage normalisierte, wurde von den führenden Wissenschaftlern festgestellt, dass das Individuum Mensch tatsächlich eine Aufgabe im Leben brauchte. Was für eine Überraschung! Sie versuchten, Defizite durch die zugeteilten Tätigkeiten zu beheben.
Einige Mitmenschen meinten allerdings, dass solch eine Existenz auf eine Art oberflächlich wäre und sie langweilte. Abtrünnige Wissenschaftler, Gründer des Instituts für globale Parapsychologie, konzentrierten sich auf die, ihrer Meinung nach, seit Anbeginn der Menschheit im Gencode angelegten paranormalen Fähigkeiten. Nach kurzer Zeit fanden sie Mittel und Wege, diese Gene zu aktivieren. Verbrecherische Aktivitäten nahmen unerwartete Ausmaße an.
Hätte man vorhersehen können.
Es dauerte nicht einmal zwei Jahre und die ersten unerklärlichen Vorfälle tauchten in den Medien auf. Bankeinbrüche ohne erkennbare Straftaten. Veröffentlichte Geheimnisse aus der Wirtschaft. Niemand hatte eine Erklärung parat. Geschehnisse, die nur die Spitze des Eisbergs zeigten. Richtig übel wurde es, als herauskam, dass angeblich bei jeder Person die Veranlagung aktiviert werden konnte.
Die Einrichtung wurde regelrecht überrannt. Selbstverständlich kostete die sogenannte Genaktivierung eine Kleinigkeit. Das Institut ließ sich von jedem Einzelnen fürstlich entlohnen. Leider legten sie keinen gesteigerten Wert auf Bezahlung im herkömmlichen Sinne. Erfolgreiche Aktivierungen wurden mit Lebenszeit entlohnt. Je heikler der Prozess, umso länger verpflichtete sich die Person dem Institut, seine aktivierte Fähigkeit zur Verfügung zu stellen.
Die Welt entwickelte sich zu einem Irrenhaus.
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„Pat, was meinst du, wann wir los können?“ Ich drehte mich um und sah Caspar ungeduldig vor dem Auto auf und ab gehen.
Wir standen kurz vor unserem ersten Einsatz. In der Staatsgalerie wurden Kunstwerke von unschätzbarem Wert gestohlen. Niemand konnte nachvollziehen, wie die Gemälde aus dem Gebäude gelangten.
„Ich hab alles zusammengesucht und in den Rucksack gesteckt. Ich denke, es kann losgehen.“
Mürrisch stieg er in das Auto. „... einmal im Leben möchte ich mit dir pünktlich wegkommen, aber nein ... du hast immer noch irgendetwas zu regeln ... einfach anstrengend ...“, hörte ich ihn brummeln, bevor die Autotür hinter ihm zufiel.
Es wurde ein Dienstwagen zur Verfügung gestellt, um unauffällig am Ort des Geschehens unsere Untersuchungen durchzuführen. Da heutigentags an jeder Ecke nur Mobile eines einzigen Herstellers zu finden waren, überraschte es nicht, dass wir ausgerechnet mit einem solchen Gefährt zum Tatort fuhren.
Erstaunlich, aber diese gewisse Automarke gab es noch immer. Das Unternehmen wurde 1927 gegründet und überlebte als einziger Automobilhersteller. Sie passten sich frühzeitig an die Gegebenheiten an, in dem sie ihre Produktion auf die heute allgemein gängige Antriebsart umstellten.
Sämtliche Transportmittel bewegten sich mit Hilfe von Antigravitationsfeldern. Der Vorteil lag darin, dass es in Fortbewegungsmittel aller Art funktionierte. Selbst Flugzeuge hielten sich mit dieser Methode am Himmel.
Mein Geschmack lag davon meilenweit entfernt. Es gab elegantere Arten, wie zum Beispiel die Teleportation. Nicht so zeitraubend. Leider wurde diese Möglichkeit des Reisens nur führenden Persönlichkeiten oder bei medizinischen Notfällen zur Verfügung gestellt. Um in den Genuss zu kommen, half nur Vitamin B. Ja, noch eine Sache, die Jahrhunderte überdauerte. Beziehungen waren wie eh und je mehr wert als alles andere.
Ich schweife wieder von meiner Erzählung ab. Also zurück zur Geschichte.
Auf dem Weg zur Galerie beobachtete ich Cassi. Ich dachte an die letzten zwei Jahre und musste zugeben, dass er ein absolut integrer Mann war. Die Anziehungskraft, die zwischen uns seit dem allerersten Tag bestand, intensivierte sich mit der Zeit. Ich konnte mit Gewissheit sagen, dass dieses Gefühl von uns beiden ausging.
Während der Ausbildung hielten wir uns in Sachen Beziehungen dermaßen zurück, dass ich teilweise den Verdacht hegte, Caspar wäre ein Eunuch. Okay, ich beschwerte mich nicht. Mir war es Recht. Ich hasste es bereits, wenn er nur in die Richtung einer anderen Frau schaute. Er hatte es durchaus nicht nötig, auf die Suche zu gehen, da diese sich ihm regelrecht an den Hals warfen. Im Grunde sollte es mich nicht wundern. Er war ein verdammt gut aussehender Kerl. Überragte mich um einen halben Kopf mit einer Statur, die einem typischen Soldaten glich. Bei täglichem Training war das wohl auch zu erwarten. Sein markant geschnittenes Gesicht zierte fast ausschließlich ein Dreitagebart. Kurzes blondes Haar und blaue Augen machten seinem nordischen Familiennamen alle Ehre. Wie ich von ihm erfuhr, siedelten die Varnkamps vor ungefähr vierzig Jahren aus Norwegen über. Ich persönlich würde seine Augenfarbe nicht einfach als schnödes Blau bezeichnen. Mir fiel oft auf, dass sie sich abhängig von seinen Emotionen veränderte. Blau wie Wasser und man sollte in Deckung gehen. Dann stand er kurz vor einem Wutausbruch. Die Farbe changierte von eisblau bis türkis. Letztere gefiel mir am besten, da ich sie nur sah, wenn er mich anschaute, als würde er mich auffressen oder über mich herfallen wollen. Na ja, ein Mädchen wusste, wann es begehrt wurde ... irgendwie. Oder nicht?
Nichtsdestotrotz lief zwischen uns diesbezüglich nichts. Die Nacht, in der uns die zwei Deppen über den Weg liefen, sollte die einzige bleiben, in der wir uns küssten. Eigentlich blöd von mir, immer noch hoffte ich, auf einen Sinneswandel seinerseits. Aber der Mann hat eine unvergleichliche Standhaftigkeit.
Wir kamen dreißig Minuten später in der Galerie an. Caspar schaute sich sofort um und checkte die Umgebung auf telekinetische Schwingungen. Ich prüfte die Mitarbeiter auf eventuell geistige Beeinflussung von außen. Wir stellten beide nicht das Geringste fest.
„Hast du schon mal davon gehört, dass man am Ort eines solchen Verbrechens KEINE paranormalen Schwingungen gefunden hat? Ich nicht ... merkwürdig“, murmelte er überlegend und führte mich an die Plätze, an denen bis vor Kurzem noch die Gemälde hingen.
„Irgendetwas ist hier! Ich bin mir nur extrem unsicher, denn ich kann keinerlei fremde Aktivität feststellen. Es ist wie ein leises Brummen im Kopf. Als würde jemand versuchen, Lärm durch Gegenlärm auszulöschen.“
Cassi blickte mit zusammengekniffen Augen nachdenklich an mir vorbei und nickte. „Vielleicht ist es genau das, was hier passiert. Was glaubst du? Gibt es Fähigkeiten, die andere abschirmen oder die Restschwingungen löschen?“
Abwesend schüttelte ich den Kopf. Versuchte ihn so frei zu bekommen. Das Brummen hörte ich weiterhin. Ich bekam es einfach nicht zu fassen und hatte somit keine Chance es zu identifizieren. Zwecklos weiter nach Beweisen zu suchen. Uns waren im wahrsten Sinne des Wortes die Hände oder der Geist gebunden.
Von einem plötzlichen Gefühl der Leere überrollt, konzentrierte sich alles auf meine todbringende Seite. Mir wurde schwindlig. Ich fühlte mich mit einem Mal wie ferngesteuert. Bei vollem Bewusstsein stellte ich mit Schrecken fest, was hier geschah. Kurz und gut: Ich erlebte eine feindliche Übernahme meines Geistes.
Caspar schaute mich mit vor Schock geweiteten Augen an und sprach mit mir. Ich sah, wie sich seine Lippen bewegten, verstand aber kein Wort. Ich hörte nur extremes Dröhnen und chaotisch durcheinander schreiende Stimmen. Mit aller Kraft wehrte ich mich, musste mich schlussendlich doch geschlagen geben.
Meine Waffe im Anschlag zielte ich mit zitternden Händen auf ihn. Der Macht nachspürend, die mich dazu bringen wollte, die Liebe meines Lebens umzubringen, kämpfte ich mit all meiner Kraft dagegen an. Ich denke, bei jeder anderen Zielperson hätte ich versagt. Aber da es ausgerechnet er war, den ich erschießen sollte, zog ich alle Reserven zusammen. Ob es Stunden oder Sekunden dauerte, konnte ich nicht sagen. Ich weiß nur noch, dass mir schwarz vor Augen wurde und ich zu Boden ging.
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Erkenntnisse
- Patricia -
„... mach keinen Mist!“
Jemand tätschelte mir die Wange. Dunkelheit ergriff mich.
„... das kannst du nicht machen! Komm gefälligst wieder zu dir!“
Mein Bewusstsein trieb zur Oberfläche. Verzweifelte Rufe drangen zu mir durch, bevor ich abermals wegdriftete.
„Pat! Jetzt ist genug mit dem Scheiß! Du wirst mich verdammt noch mal nicht allein zurücklassen!“
Beim nächsten Kontakt zur Außenwelt hörte ich merkwürdige Geräusche. Ein Blasebalg wurde permanent betätigt und in einem enervierenden Rhythmus piepste ein Vögelchen sein monotones Lied dazu.
Es dauerte noch einen Moment, bis mir die Erleuchtung kam. Ich hielt mich nicht im Schwarzwald auf einem Bauernhof mit betriebsamer Schmiede auf. Nein, ich lag festgezurrt wie ein frischer Rollbraten in einem Krankenhausbett. Neben mir ein Beatmungsgerät und der Monitor für die Anzeige von Vitalwerten. Meiner Vitalwerte.
Mein Blick streifte suchend durch das Zimmer und blieb wie hypnotisiert an einem mir vertrauten Gesicht hängen. Mich durchfuhr ein simpler Gedanke. Oh mein Gott! Sind die Augen etwa türkisfarben? Ein nicht sehr damenhafter Würgereflex setzte ein. Ich bäumte mich auf, begann mich gegen etwas zu wehren, was ich nicht verstand. Panik erfasste meinen Körper. Ersticken war keine Todesart, die ich mir wünschte.
„Warte! Ich rufe die Schwester, die wird dir helfen.“
Der Mann mit den unglaublichen Augen versuchte mich davon abzuhalten, meine Hände zu befreien, hielt mich fest und rief lautstark nach der Krankenschwester, die auch schon wie von der Tarantel gestochen im Krankenzimmer schlitternd zum Stehen kam. „Ich habe bereits dem Doktor Bescheid gegeben, er wird sofort hier sein. Frau Wiebusch, beruhigen Sie sich! Wir mussten Sie leider zwangsbeatmen. Sie müssen dringend
Texte: Nele Betra
Tag der Veröffentlichung: 23.01.2015
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