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1

Im Blitzlichtgewitter sieht die Welt auf einmal ganz anders aus. Die Zeit bekommt einen neuen Takt. Knips - knips - knips - knips - knips. Fünf Mal knips, und man ist ein anderer Mensch.

Bevor ich geknipst wurde, war mein Leben kein besonders kompliziertes. Nur vielleicht ein wenig stressig. Da war das Informatik-Studium und mein Nebenjob in einem Hotel, mit dem ich mir unter anderem das nötige Taschengeld verdiente, um mein Faible für technische Geräte ausleben zu können. Ja, für ein Mädchen hatte ich merkwürdige Interessen, doch ich war nicht komisch oder so, ganz und gar nicht. Auch meine Eltern hatten mittlerweile akzeptiert, dass ich einen völlig anderen Weg eingeschlagen hatte, als den, auf dem sie mich gerne gesehen hätten. Aber kam das nicht in den meisten Familien vor?

Ich hatte einen netten, überschaubaren Freundeskreis, mit dem ich meistens am Wochenende ins Pub ging. Und meine beste Freundin Drew und ich hielten zusammen wie Pech und Schwefel - schon seit der Grundschule. Alles verlief überwiegend in geordneten Bahnen.

Nun, bis zu dem Tag, als plötzlich diese berühmte Band im Central Hotel aufkreuzte, umschwirrt von einem aufgeregten, unkontrollierbaren Schwarm aus Fans und Journalisten, der die halbe Hotellobby ausfüllte. Meine Chefin hatte zuvor etwas davon erwähnt, dass wir heute VIP-Besuch bekommen würden, irgendeine Rockband, die gerade furchtbar angesagt war. Leider hatte mein Gehirn es als nebensächliche Information eingestuft, und nicht als Warnung.

Ich war bei den Betten eingeteilt und musste dummerweise gerade die Lobby durchqueren, da ich aus dem Wäscheraum frische Laken holen wollte. Durch die Eingangstür strömten immer mehr Menschen und auf einmal war auch ich umzingelt von kreischenden Mädchen und Kameralinsen. Verzweifelt versuchte ich, nur irgendwie heil aus dem Handgemenge zu entkommen, doch dann setzte das Blitzlichtgewitter ein. 

Ich verlor völlig die Orientierung. Während ich wie ein Zombie suchend die Arme ausstreckte, um mir einen Weg durch die Masse zu bahnen, spürte ich, wie zwei andere Arme nach mir griffen. Irgendjemand zog mich zu sich heran, und bevor ich es begriff, befand ich mich in einer engen Umarmung und fühlte, wie sich zwei Lippen fest gegen meine pressten. Eine Zunge bahnte sich ihren Weg tief in meinen Mund. Ich weiß nicht, warum ich es einfach geschehen ließ, vielleicht, weil der Kerl groß und gutaussehend war. Vielleicht, weil er mich so fest und so selbstverständlich in seinen Armen hielt, dass sich die Berührung beinahe vertraut anfühlte. Aber vielleicht stand ich auch einfach unter Schock. Dass es der beste Kuss war, den ich je bekommen hatte, wurde mir schließlich erst im Nachhinein bewusst.

Der geheimnisvolle Fremde verschwand, kurz nachdem sich seine Lippen von den meinen gelöst hatten. Im gleichen Zuge lichtete sich die Menschenmenge um mich herum, wenn auch nicht ganz. Ein paar der Fotografen und Journalisten blieben an mir hängen, einer hielt mir sogar ein überdimensionales Mikrofon hin. Ich konnte zunächst keine einzige der vielen Fragen verarbeiten, die sie mir durcheinander entgegenwarfen. Einer schrie mich immer wieder an, ich solle ihm meinen Namen nennen. Zum Glück war ich geistesgegenwärtig genug, dies nicht zu tun.

»Sind Sie seine Freundin?«, rief eine andere und hielt mir das Mikrofon wieder hin.

Erschrocken trat ich einen Schritt zurück, doch der Mob rückte unmittelbar nach. Verängstigt schüttelte ich nur den Kopf. Ich machte auf dem Absatz kehrt und flüchtete durch die Hotellobby ins Treppenhaus. Obwohl sie mir nicht folgten, rannte ich weiter die Treppe hinab und schloss die Tür des Wäscheraums panisch hinter mir.

An diese gelehnt, brauchte ich einige Atemzüge, um mich zu fangen. Ich glaubte, den Kuss noch immer zu spüren und fuhr mir ungläubig mit den Fingern über die Lippen. Erst jetzt bemerkte ich die Schmetterlinge, die in meinem Bauch wild umher tanzten. Ob es Liebe auf den ersten Blick gewesen war, die den Typen dazu veranlasst hatte, plötzlich über mich herzufallen? Vergiss es, ermahnte ich mich selbst. Er gehörte wahrscheinlich zu dieser Band. Jeder wusste, dass Kerle wie er glaubten, sich alles nehmen zu können, was ihnen über den Weg lief. Wobei ich sagen musste, dass mich seine Fähigkeiten als Küsser absolut überzeugten. Angesichts der Tatsache, dass ich mir nicht viel aus Jungs machte und deshalb auch noch nicht allzu oft mit einem ausgegangen - geschweige denn von einem geküsst worden - war, wusste ich jedoch nicht, ob meine Wertung wirklich von Bedeutung war.

Wie in Trance taumelte ich dann zu einem der Regale und nahm einen Stapel Bettlaken heraus. Was sollte ich schon tun, außer weiterzuarbeiten? Mein Herz klopfte noch immer wie wild, und bevor ich wieder in die Lobby hinaustrat, spähte ich vorsichtig durch die Glastür. Ich wusste nicht genau, wovor ich mich fürchtete, vor küsswütigen Fremden oder neugierigen Journalisten? Doch die ganze Aufregung war verpufft wie ein kurzer Traum und die leere Hotellobby, die in völliger Ruhe vor mir lag, ließ mich für einen Moment daran zweifeln, dass das Ganze wirklich geschehen war. 

Schließlich wagte ich mich nach draußen. Sollte sich doch noch ein Paparazzo irgendwo versteckt halten, so war ich mit dem Stapel Bettlaken vor meinem Gesicht gut getarnt. Darüber hinaus eignete er sich hervorragend, um mein dümmliches Grinsen vor meinen Kollegen zu verbergen, während ich am Restaurant und der Küche vorbei zum hinteren Trakt des Gebäudes lief.

»Josy«, rief mir auf einmal jemand zu. Ich blinzelte hinter meinem Stoffberg hervor und sah den hochroten Kopf von Tara, einer Kollegin aus der Küche. Sie räumte hektisch Snacks und Getränke auf einen Servierwagen. »Der muss in den vierten Stock, aber ich hab niemanden, der ihn hochbringen kann.«

»Kann ich machen«, erwiderte ich und hielt hinter mir im Restaurant nach einem sauberen Platz Ausschau, um die Bettlaken abzulegen.

»Du bist ein Schatz«, keuchte Tara erleichtert.

»Ist schon gut.« Seit ich im Central Hotel arbeitete, war kein Tag vergangen, an dem ich nicht Hunderte von Sachen gleichzeitig machte.

Während ich den Servierwagen im vierten Stock den Flur entlang schob, musterte ich verwundert seinen Inhalt. Außer zwei großen Platten mit belegten Broten war er bis oben hin mit Bier und Cola gefüllt. Wer feierte denn so früh am Tag schon eine Party?

Vorsichtig klopfte ich an die Tür der Suite, die Tara mir genannt hatte, und rief: »Zimmerservice!«

Ein paar Momente später wurde mir von einem Typ in löchriger Jeans und T-Shirt geöffnet. Ein Wortgefecht, das sich im Zimmer abspielte, zog sofort meine Aufmerksamkeit auf sich.

»Ich sage doch, ich habe nicht nachgedacht«, schien sich jemand zu rechtfertigen.

»Du weißt, dass das Konsequenzen haben wird!«

Der junge Mann schob die Tür weiter auf, damit ich mit meinem Servierwagen hineinfahren konnte. In diesem Moment kamen auch die beiden Streithähne zum Vorschein. Neben einem schlaksigen Jungen, der an der Kante des Sofas saß und den Arm über eine Gitarre hängen ließ, als wollte er jeden Moment anfangen zu spielen, lag in lässiger Haltung der Typ, der mich geküsst hatte. Das Geklapper ließ sie nun aufsehen. Gegenüber von ihnen saßen die restlichen beiden Bandmitglieder in zwei großen Sesseln.

Auch wenn ich diesmal nicht von unzähligen Kamerablitzen geblendet wurde, hielt ich mitten in der Bewegung inne und wusste nicht, wo ich hinsehen sollte. 

»Hier sind eure Sachen«, sagte ich schließlich, als ich die Sprache wieder fand, und schob den Wagen weiter in den Raum.

Ich wollte gerade wieder gehen, da sah ich im Augenwinkel, wie der Typ, der mir seine Zunge in den Mund gesteckt hatte, aufstand. »Warte.«

Oh nein. Gleich wird es total peinlich.

Im Gegensatz zu meinen Gedanken spürte ich, wie mein Herz freudig aufsprang und gegen meine Rippen trommelte. So nebensächlich wie möglich wandte ich ihm den Blick zu und sah dann ein wenig fassungslos zu, wie er sich in aller Ruhe ein Bier vom Wagen nahm und es öffnete. Er war mit Abstand vom ganzen Haufen der Attraktivste und zudem der Einzige mit langen Haaren, die ihm in dunkelbraunen Locken auf die Schultern fielen. Doch das Hübscheste an ihm war eigentlich sein Gesicht mit den tief verborgenen Augen, den lang geschwungenen Augenbrauen und dem fein geschnittenen Mund. Die Oberlippe war etwas dünner als die Unterlippe, und von Natur aus schienen die Mundwinkel leicht nach oben gebogen, so dass immer ein sanftes Lächeln darauf lag. Oh mein Gott - dieser Mund hatte mich geküsst?

Dieser Mund verbog sich nun zu einem Lächeln, einem richtigen, das ein wenig schief war, und öffnete sich dann leicht, so dass die Zähne dahinter ganz kurz aufblitzten. Gerne hätte ich mehr davon gesehen.

Mein Wunsch wurde erhört, als der Mund auf einmal mit schottischem Akzent sprach: »Hi, ich bin Cedric.«

»Ich bin Jolene.« Ich war selbst erstaunt über den selbstsicheren Ton, den ich herausbrachte, und nahm Cedrics Handschlag entgegen. Ich unterdrückte ein Kichern, denn es war so seltsam, dass wir uns die Hände schüttelten, wenn man bedachte, dass wir uns vor einer Viertelstunde innig geküsst hatten.

»Seit wann schüttelt ihr euch die Hände wie zwei Fremde?« Der Junge mit der Gitarre schien die gleichen Gedanken zu hegen wie ich.

Cedric öffnete den Mund, wie um einen spitzen Kommentar zu entgegnen, und blickte über die Schulter zu seinem Bandkollegen.

»Sollen wir euch vielleicht alleine lassen?«, stichelte nun einer von den anderen.

Cedric ignorierte sie und sah wieder mich an. »Hey, es tut mir leid, dass ich dich vorhin so überfallen habe.«

Bei seiner Wortwahl konnte ich nur bestätigend nicken. Doch es erklärte immer noch nicht, weshalb er es getan hatte. 

 

Cedric konnte nicht glauben, welche Worte da gerade über seine Lippen gekommen waren. Noch nie hatte er sich für einen Kuss entschuldigt. Die Schlangen bei seinen Autogrammstunden wären zehnmal so lang, würde er zusätzlich jedem Mädel einen Kuss auf die Wange geben - geschweige denn einen Zungenkuss. Doch anstatt seine Entschuldigung abzutun, sah die Kleine ihn weiterhin völlig ernst an, als wartete sie noch auf eine Erklärung. Wie es aussah, würde er sie nun enttäuschen müssen, denn ihr Aussehen war es sicher nicht gewesen, was ihn zu einer solchen Aktion verleitet hatte. Wenn er auch zugeben musste, dass sie auf den zweiten Blick ganz süß war und der kurze Pferdeschwanz ein wenig frech und gar nicht mal so langweilig aussah.

»Hör zu, das mit dem Kuss war eine blöde Kurzschlusshandlung. Die ganzen Leute haben mich genervt und ich dachte, wenn sie denken, dass ich eine Freundin habe, würden sie mich vielleicht in Ruhe lassen.«

Andrew, mit dem er gerade schon über dieses Thema diskutiert hatte, schnaubte verächtlich.

»Kein Problem, ehrlich«, winkte die Kleine nun ab. Es sah tatsächlich aus, als wäre die Sache für sie damit gegessen. Ließ es sie wirklich so kalt, wie es ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen aussah? Kein Hauch der Enttäuschung, keine zerplatzten Luftschlösser?

»Möchtest du was trinken?«, lud er sie spontan ein, um der Sache auf den Grund zu gehen.

Überrascht hob sie die Brauen. Sie schien ein verlegenes Lächeln zu unterdrücken. »Danke. Aber ich muss arbeiten.«

Auch wenn es eine Absage war, ihr leichter Anflug von Nervosität stellte ihn ein wenig zufrieden.

»Na gut.« Cedric machte einen Ausfallschritt zur Seite, wo der Hotelservice ihr Gepäck abgestellt hatte, und holte aus der Vordertasche seines Koffers eines der Konzerttickets, die sie zu Promotionzwecken verwenden konnten. »Nimm wenigstens das hier als Entschuldigung an. Es ist ein Freiticket zu unserem Konzert heute Abend in Dublin.«

Ihm war klar, wenn ein Kuss von ihm sie nicht von den Socken hauen würde, dass es ein Konzertticket auch nicht tun würde, doch ein wenig mehr Begeisterung hätte er erwartet als das pflichtbewusste »Danke«, das sie murmelte. Sie inspizierte das Ticket skeptisch wie einen Strafzettel, den sie gerade auf ihrer Windschutzscheibe gefunden hatte.

»Ihr seid die Lonely Lions?«, fragte sie dann mit überraschendem Enthusiasmus, als hätte jemand sie mit einem Defibrillator wiederbelebt. Doch die Frage war wie ein sanfter Schlag in seine Magengrube.

»Du weißt nicht, wer wir sind?«, entgegnete er, unfähig seine Verwunderung zu verbergen.

»Naja, jetzt schon«, erwiderte sie.

Aber erst, nachdem du den Bandnamen auf dem Ticket gelesen hast, Süße.

»Kann ich ein Autogramm für meine Freundin haben?«

Er stutzte, fing sich jedoch sofort wieder. »Klar«, sagte er und wandte sich ab, um aus seinem Koffer noch eine Autogrammkarte zu holen. Beim Unterschreiben ließ er sich Zeit, weil er die neueste Information erst verdauen musste. Sie interessierte sich nicht die Bohne für ihn oder die Lonely Lions. Sie war nur wegen ihrer Freundin so aus dem Häuschen gewesen, die wohl ein Fan von ihnen war.

Während die Autogrammkarte ringsum ging, so dass auch die anderen darauf unterschreiben konnten, entstand eine Art peinliche Stille zwischen ihnen. Während er die Zeit nutzte, um sie von oben bis unten zu mustern, schien sie nicht zu wissen, wo sie hinsehen sollte. Waren ihre kurzen, schüchternen Seitenblicke vielleicht doch ein Zeichen, dass sie gegen seinen Charme nicht ganz so immun war, wie sie tat? Leider blieb ihm keine Zeit mehr, es herauszufinden. Als er ihr die Karte reichte, bedankte sie sich und verließ ohne Umschweife das Zimmer.

 

Im Aufzug warf ich stolz einen Blick auf die Autogrammkarte in meiner Hand. Drew würde sich bestimmt darüber freuen. Die gesamte Band war vor einer blauen Leinwand darauf abgebildet und jeder hatte neben seinem eigenen Kopf unterschrieben. Nachdenklich strich ich mit dem Finger über Cedrics schöne Handschrift, als das Vibrieren meines Handys mich erschrocken zusammenzucken ließ.

Ich war erstaunt, als ich Drews Namen auf dem Display las. War es Gedankenübertragung, dass sie gerade jetzt anrief?

Im Erdgeschoss trat ich aus dem Aufzug und blieb mit dem Handy am Ohr stehen. Drew ließ mir nicht einmal Gelegenheit, mich zu melden, sondern schrie mir gleich etwas ins Ohr, nachdem ich abgenommen hatte. Sie war so aufgeregt, dass ich sie nicht verstehen konnte.

»Was hast du gesagt? Drew, ich verstehe dich nicht.«

Ihre Stimme überschlug sich. »Was zur Hölle machst du in den Armen von Cedric Laking?«

Im ersten Moment stand ich auf dem Schlauch. »Wer? Ach, Cedric!«

»Joe! Tu jetzt bloß nicht so unschuldig! Ich kann es einfach nicht fassen!«

Mir war inzwischen zwar klar, wovon sie sprach und weshalb sie so außer sich war, doch ich verstand auf einmal die Welt nicht mehr.

»Wie... Woher weißt du...?«

»Das ist ja das Schlimme! Du bist das Gespräch auf Twitter! Wieso konntest du es mir nicht persönlich sagen?«

»Dir was sagen?« Verzweifelt fasste ich mir an die Stirn. »Warte, Drew, das Ganze ist vor zwanzig Minuten passiert. Ich bin auf Arbeit. Ich hatte noch keine Zeit, dich anzurufen.«

»Du willst sagen, dass du es selbst erst seit zwanzig Minuten weißt?«

»Was weiß ich?«

»Dass du und Cedric Laking ein Paar...« Der Rest des Satzes ging in erstickungsähnlichen Geräuschen unter.

»Nein!«, schrie ich in den Hörer. »Wir sind kein Paar!«

»Heißt das, dass das Foto ein Fake ist?«

Oh mein Gott. Sie hatte ein Foto von dem Kuss gesehen. Ein Foto von mir und einem begehrten Rockstar kursierte auf Twitter. »Nein, es ist kein Fake«, gab ich schuldbewusst zu, »aber der Kuss hat nichts zu bedeuten. Cedric - dieser Arsch«, fügte ich aus taktischen Gründen hinzu, doch es klang leider nicht überzeugend, »hat sich einfach die Nächstbeste geschnappt, damit die Journalisten etwas vor die Linse kriegen und die ganze Welt denkt, er hätte eine Freundin. Das hat er mir gerade erklärt. Und die Nächstbeste war in diesem Fall ich.«

»Cedric ist kein Arsch«, sagte Drew kleinlaut und unter Schluchzen. »Wieso du? Wieso passiert dir so etwas und nicht mir? Das ist so ungerecht! Du kannst Rockstars Nicht ausstehen, aber für mich wäre ein Traum in Erfüllung gegangen.«

»Ich weiß«, sagte ich zerknautscht. Oh Gott, fühlte ich mich elend. Ich hasste mich dafür, dass ich in jenem Moment an jenem Ort gestanden hatte, wo Drew hätte stehen müssen.

 

»Wie hat sein Kuss sich angefühlt?«, wollte Drew wissen, als wir nach Feierabend in einem Pub in Temple Bar saßen und ich ihr alles erzählt hatte. Sie hatte sich aufgemotzt, weil wir im Anschluss auf das Konzert gehen wollten. Drew hatte sich seit Monaten auf diesen Tag gefreut, sie sprach seit Tagen von nichts anderem mehr. Und jetzt saß sie wie ein Häufchen Elend vor mir.

In ihrem zerknirschten Gesicht glitzerte es überall und riesige Ohrringe baumelten neben ihrem schlanken Hals. Sie hatte noch kürzere Haare als ich, sie gingen ihr nicht einmal über die Ohren, und doch steckte so viel mehr Mädchen in ihr. Zum Beispiel hatte sie in ihrem WG-Zimmer alle vier Wände mit Postern von den Lonely Lions tapeziert. Neben ihrem Bett prangerte eine lebensgroße Aufnahme von Cedric. Eigentlich hätte ich ihn allein deshalb schon erkennen müssen, hätte ich auch nur eine Sekunde lang nachgedacht.

»Drew«, sagte ich eindringlich und schüttelte den Kopf. Mein Blick glitt zum Fenster hinaus, verweilte kurz auf der Wasseroberfläche des Liffey, der durch den grauen Kanal floss, und fuhr dann die roten Backsteingebäude auf der gegenüberliegenden Flussseite ab.

»Nein.« Sie fauchte mich beinahe an. »Ich will es wissen. Ich will wissen, wie er küsst, wenn ich es schon nicht selbst ausprobieren darf.«

»Na schön. Sehr gut. Sehr intensiv.« Ich wusste beim besten Willen nicht, wie ich die überwältigenden Gefühle bei Cedrics Kuss beschreiben sollte. Die Erinnerung löste unzählige kleine, heiße Explosionen in meinem Körper aus. Doch ich wusste auch nicht, warum Drew sich selbst so quälte. Kaum hatte ich es ausgesprochen, brach sie schon fast wieder in Tränen aus.

»Ist mein Make-Up verwischt?«, fragte sie mit hundselendem Gesichtsausdruck.

»Nein, alles noch gut. Ach, ich habe ja etwas für dich«, fiel mir auf einmal ein, und ich war froh, etwas gefunden zu haben, was sie aufmuntern würde. Ich holte die Autogrammkarte aus meiner Handtasche und schob sie ihr über den massiven Holztisch zu.

»Sie haben alle darauf unterschrieben«, versuchte ich sie aufzuheitern.

Drew griff nach der Postkarte und nahm sie in Augenschein. Ich starrte ihre Mundwinkel an, wartete darauf, dass sie endlich einmal lächelten. Doch zu meinem Erschrecken bogen sie sich in die andere Richtung. Zum ersten Mal, seit wir hier saßen, setzten die Tränen, die immer wieder bis ans Ufer ihres unteren Augenlids getreten waren, über und liefen ihre Wange hinab. Ihre Schultern wurden von stummen Schluchzern geschüttelt. Hilflos sah ich einfach nur zu, bis sie sich über die Augen wischte und tränenerstickt hervorbrachte: »Du küsst mit Cedric und ich bekomme ein Autogramm?« Kurzzeitig wurden die Schluchzer wieder heftiger.

»Es tut mir leid. Ich dachte, du freust dich.«

»Sorry. Ich muss das alles nur erst verdauen. Immerhin hast du an mich gedacht.«

»Natürlich habe ich das.« Ich legte meine Hand auf ihre. »Hör zu. An meiner Stelle hätte dort jedes beliebige andere Mädchen stehen können. Du hättest es in der Zeitung gelesen und dich vielleicht kurz geärgert, aber dann hättest du es wieder vergessen. Und auch ich werde diesen Kuss wieder vergessen. Seien wir froh, dass ich ihn bekommen habe und nicht eine von diesen widerlichen Gören, die Cedric an den Fersen kleben.«

Drews Atem schien sich zu beruhigen. »Du hast recht«, sagte sie schließlich.

 

Ich hatte manche Songs der Lonely Lions schon tausende Male gehört und ihnen nie etwas abgewinnen können, doch heute Abend gingen sie mir direkt ins Herz. Der Grund war Cedric. Seine selbstbewusste Art die Bühne zu rocken, als wäre sie sein Wohnzimmer, bescherte mir jedes Mal Hochgefühle, wenn ich an den Kuss mit ihm dachte. Als Cedric vorhin mit mir gesprochen hatte, war mir gar nicht bewusst geworden, wie schön seine Stimme war. Doch wenn er seine Balladen sang, ging sie mir unter die Haut.

Irgendwie hatte ich geglaubt, längst über die Schmetterlinge hinweg zu sein, die unser außergewöhnliches Kennenlernen mit sich gebracht hatte, doch sobald ich ihn dort oben auf der Bühne sah, die Gitarre lässig auf dem Rücken hängend, das Mikrofon mit beiden Händen fest umschlossen und die Augen beim Singen gefühlvoll geschlossen, war es um mich geschehen. Zum Glück merkte Drew von alledem nichts, sie war viel zu sehr mit ihren eigenen Schwärmereien beschäftigt. Und auf einmal wurde mir bewusst, dass es nicht nur ihr und mir so ging, sondern all den Mädels hier in der großen Halle. 

Oder fast allen. So manches Herz schlug sicher auch für den Bassisten, den anderen Sänger, den Schlagzeuger oder den Keyboarder.

Leider konnte ich das Konzert nicht in voller Länge genießen. Drew und ich standen im hinteren Drittel der Menge, obwohl wir frühzeitig da gewesen waren. Kurz vor Beginn war auf einmal eine wahnsinnige Hysterie ausgebrochen und alle rannten kreischend in Richtung Bühne, als ginge es um Leben und Tod. Drew und ich rannten in die andere Richtung, denn irgendwie ging es wirklich um Leben und Tod - die wild gewordene Masse war ungefähr so rücksichtsvoll wie ein Tsunami. Ein paar Opfer mussten von den Sicherheitsleuten anschließend aus der Menge gezogen werden.

Für ihren Schwarm gingen diese Mädchen über Leichen. Deshalb zögerte ich nicht lange, als ein paar von ihnen, die in unserer Nähe standen, mich erkannten.

»Drew, ich muss gehen«, sagte ich und stieß meine weggetretene Freundin an.

Entgeistert erwiderte sie meinen Blick. »Was?«

»Ich sollte jetzt besser gehen«, wiederholte ich, und im selben Moment stupste mich jemand von hinten an.

»Hey, du bist doch Cedrics Freundin.«

»Soll ich mitkommen?«, fragte Drew jetzt mit etwas mehr Verständnis.

»Nein. Du bleibst hier und genießt das Konzert. Ich nehme mir ein Taxi.« 

»Das ist sie«, hörte ich jemanden sagen.

»Nein, bin ich nicht«, rief ich in die Runde und rannte im gleichen Zuge nach draußen. Irrte ich mich, oder war das schon meine zweite überstürzte Flucht an diesem merkwürdigen Tag? Normalerweise überquerte ich von Temple Bar aus kommend erst die Half Penny Bridge und nahm mir auf der anderen Flussseite ein Taxi, denn auf dieser Seite, einer Einbahnstraße, mussten sie erst in die für mich falsche Richtung fahren. Doch heute gönnte ich mir den Luxus und hielt den nächstbesten freien Fahrer an.

Erleichtert, nun endlich in Sicherheit zu sein, ließ ich mich auf den Rücksitz fallen. Der Taxifahrer faltete gemütlich seine Zeitung zusammen und legte sie auf den Beifahrersitz, bevor er sich zu mir umdrehte. Statt etwas zu sagen, zog er nur die Brauen hoch, und ich dachte schon, er wolle mich anbaggern. Was ein ziemlicher Graus gewesen wäre, denn er war alt, dick und grauhaarig. 

»Sie sind doch die Frau aus der Zeitung, die mit dem Rockstar?«

Nein, bitte nicht! Nicht du auch noch.

»Was?«, tat ich unwissend. Doch es nutzte nichts. Schnaufend drehte er sich wieder von mir weg und holte erneut seine Zeitung hervor, faltete sie auf, blätterte kurz darin und klappte sie dann einmal in der Mitte zusammen, so dass er sie mir zeigen konnte. Zu sehen war auf der halben Seite nur ein großes Foto von einem sich leidenschaftlich küssenden Paar - Moment, das war ja ich! Der Text dazu befand sich wohl auf dem Teil der Seite, die der Fahrer umgeklappt hatte. Der Headline nach zu urteilen konnte dessen Inhalt jedoch nicht allzu anspruchsvoll sein: 

 

Nicht mehr einsam: Cedric küsst seine Löwin.

 

Ich ließ mich wieder auf den Sitz zurücksinken. »Madison Square Garden«, wies ich den Fahrer ohne einen weiteren Kommentar an.

Konnte ich mich in meiner eigenen Heimatstadt denn überhaupt noch auf die Straße wagen? Wie schön es wäre, wenn die Schlagzeile wenigstens einen Funken Wahrheit beinhalten würde. Cedric Laking hatte mich heute verzaubert, doch nach diesem Tag würde ich ihn nie wieder sehen. Und das war auch gut so, sagte ich mir, denn er würde immer zwischen mir und Drew stehen.

2

Es gab diesen Spruch - Morgen sieht alles ganz anders aus - und seit heute wusste ich, dass das nicht einfach nur so eine Floskel war. Eine gute Mütze voll Schlaf, schien es, hatte mich wieder zur Vernunft gebracht. Ich fühlte mich erfrischt, als ich die Augen öffnete, und hörte in mich hinein. Gott sei Dank, von all dem Wahnsinn war nichts mehr übrig! 

Hatte ich gestern nach dem Konzert noch meine ganze Wohnung (sie gehörte, streng genommen, meinen Eltern) auf den Kopf gestellt, um die olle CD zu suchen, die Drew mir vor einer Ewigkeit von den Lonely Lions gebrannt hatte, und hatte ich dann noch stundenlang auf dem Sofa gelegen und mit geschlossenen Augen Cedrics Stimme gelauscht, so verspürte ich heute nicht mehr den leisesten Drang, sie zu hören. Die Pläne, die ich in meinem Wahn geschmiedet hatte - heute Morgen ins Hotel zu gehen und unter einem Vorwand an der Suite der Band zu klopfen, nur um ihn zu sehen - waren hinfällig. Zum Glück, sie hätten mich im schlimmsten Fall meinen Job kosten können, vor allem, da ich heute erst zur Spätschicht eingeteilt war.

Mit einem erleichterten Lachen schüttelte ich die Erinnerung an die gestrigen Erlebnisse ab. Es war ein besonderer Tag gewesen, der ordentlich Schwung in meinen Alltag gebracht hatte, aber Rockstars waren für Teenager. Und ich war erwachsen. Erst im zweiten Moment wurde mir klar, wem ich mit diesen Gedanken eins auswischte. Denn ich wusste, wer das Ganze auch heute noch nicht zum Lachen fand...

Auf dem Handy hatte ich eine Nachricht von Drew. Ob ich gut nach Hause gekommen sei. Ich antwortete ihr knapp, da ich vor der Arbeit noch eine Menge Lernstoff schaffen wollte. Die kleine Anekdote mit dem Taxi-Fahrer hob ich mir für das nächste Mal auf, wenn wir uns sahen. 

Der Bewegung wegen liebte ich es, den Weg zur Arbeit zu laufen, und ging deshalb immer schon vierzig Minuten vorher los. Zur Sicherheit setzte ich heute meine Kapuze auf, auch wenn es nicht regnete, denn das Foto von gestern mochte in den Köpfen der Leute noch frisch sein. Zugegeben, in meinem auch. Dafür hatte ich es vor dem Einschlafen zu lange angestarrt - es war nicht schwer gewesen, es im Internet zu finden. Das Lernen hatte mich zum Glück auf andere Gedanken gebracht und meinen Kopf mit profaneren Inhalten gefüllt.

Céline, meine Chefin, winkte mich zu sich, als ich durch die große Glastür ins Hotel trat.

»Ich brauche dich heute hier an der Rezeption«, verkündete sie mir. »Brenda ist ausgefallen. Ich kann leider auch nicht bleiben. Aber du kannst mich jederzeit anrufen, wenn etwas ist.«

Ich nickte. »Kein Problem. Es wird ja nicht viel los sein.« Abends gab es keine Check-Ins mehr. Die Leute hatten meist allgemeine Fragen zum Hotel, die ich mittlerweile im Schlaf beantworten konnte. »Ich gehe mich nur schnell umziehen.« Ich verschwand in den Personalraum hinter der Empfangstheke, um mich in mein rezeptionstaugliches Kostüm zu schmeißen.

»Oh, bevor ich es vergesse«, sagte Celine, als ich wieder herauskam, und sah nur kurz von den Papieren auf, die sie gerade durchging, »dieser Rockstar hat nach dir gefragt.«

»Ach wirklich?« Ich tat unbeeindruckt, doch meine gesamte Körpersprache war auf einmal zu einem unechten Schauspiel geworden. Ich versuchte viel zu verkrampft, das verschwörerische Grinsen meiner Chefin mit meiner gleichgültigen Art abzutun.

»Ja, ich habe gesagt, du kommst erst heute Abend. Doch sie mussten abreisen.«

Ich war erleichtert, zu hören, was mir die ganze Zeit schon klar gewesen war: dass sie längst weg waren. Ich spürte, wie ich erst in diesem Moment einen definitiven Schlussstrich unter die Sache zog. »Er wollte wahrscheinlich nur bye sagen.«

»Wenn er so bye sagt, wie er hallo sagt, ist es ein Jammer, dass du dir das entgehen hast lassen.«

Ich suchte auf der Theke nach etwas Kleinem, Leichtem, das ich nach ihr werfen konnte, doch ich fand leider nichts. Celine lachte, als wüsste sie meinen Blick zu deuten. Schließlich verstaute sie den Dokumentenstapel in einem Schubfach, nahm ihre Handtasche und ließ mich hinter der Theke allein. »Mach’s gut, Josy! Und zögere nicht, mich anzurufen, wenn es Probleme gibt!«

Ich mochte den Job an der Rezeption. Es sorgte für gute Laune, die Leute freundlich zu begrüßen, die ins Hotel kamen oder hinausgingen. Die meisten liefen nur an mir vorbei und grüßten zurück. Etwa alle halbe Stunde hatte jemand eine Frage zu Dublin oder zum Hotel, und ich freute mich über die strahlenden Gesichter, wenn ich weiterhelfen konnte. 

Wenn nichts los war, spielte ich unauffällig auf dem Handy Angry Birds oder schrieb mit Drew, so auch jetzt, als ich aus dem Augenwinkel sah, wie die Tür sich öffnete, so tat, als würde ich ein wichtiges Dokument lesen, ein sanftes Lächeln aufsetzte und dann den Kopf hob, um den Gast zu begrüßen.

Das erste Mal an diesem Abend passierte etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Und es brachte mich völlig aus der Fassung. Auf mich zu kam mit großen, zügigen Schritten Cedric. Ich starrte ihn an, als wäre er nur ein Hirngespinst, das täuschend echt aussah. Irritierend waren seine zusammengebundenen Haare, und das war es auch, was mich letztendlich davon überzeugte, dass er wirklich da war. Ich hatte ihn bisher nur mit offenen Haaren gesehen, und so hätte ich ihn mir auch vorgestellt, wäre er meiner Einbildungskraft entsprungen.

Über einer Jeans trug er ein einfarbiges, dunkelblaues Longsleeve, das seine hochgewachsene Figur noch mehr zur Geltung brachte. Eine braune Lederjacke hatte er an seinem Zeigefinger aufgehängt und ließ sie über die Schulter baumeln. Das war wohl sein legerer Freizeitlook, doch auch jetzt, obwohl das Konzert längst vorbei war, sprühte er nur so vor Charisma. Seine Aura schien noch immer von der Euphorie der Menge aufgeladen, ich glaubte sie sogar spüren zu können, als wäre die Luft auf einmal viel dicker geworden.

Ich hatte mich getäuscht. Ich war überhaupt nicht über ihn hinweg. Doch das merkte ich erst jetzt, da er in seiner vollen Größe und 3D vor mir stand und mir mit seinem durchdringenden Blick in die Augen sah.

Es gab nur zwei Dinge, die es bedeuten konnte, dass er zurückgekommen war. Entweder, ihm lag wirklich etwas an mir, oder...

»Hast du etwas vergessen?«, fragte ich ihn in voller Überzeugung, dass das der Grund war.

Er schüttelte lachend den Kopf. »Nein.«

Das war es also nicht.

Ich musste schlucken, als er die Arme auf der Theke ablegte und sich zu mir nach vorne beugte. Als würde die Zeit stillstehen, tastete ich mit den Augen jeden einzelnen Millimeter in seinem Gesicht ab. Besonders lange verweilte ich auf den Augenbrauen und dem Mund. Ich musste diesen Moment auskosten, schließlich wusste ich nicht, wie viel Zeit mir mit ihm blieb. Er war ein Star, lebte abgeschottet von der Öffentlichkeit. Und er stand hier vor mir, so nahe, dass die Luft zwischen uns vor Elektrizität zu knistern schien.

»Ich dachte, ihr seid längst abgereist«, brachte ich hervor.

»Aus dem Hotel, ja.« Er legte eine, wie mir schien, bewusste, geheimnisvolle Pause ein, in der er so tat, als würde er sich eines der Dublin-Prospekte ansehen, die in einem Ständer auf der Theke standen. »Andrews Onkel hat ein großes Anwesen an der Küste im Süden von Dublin. Das nächste Konzert ist erst in ein paar Tagen. Deshalb haben wir uns dort eingenistet, um noch ein wenig zu relaxen.«

»Und weshalb bist du hier?«

 

Cedric dachte einen Moment über seine Formulierung nach. Sein plötzliches Auftauchen schien sie vorhin kurz aus der Fassung gebracht zu haben, doch jetzt wirkte sie wieder so kühl und besonnen und stellte mechanisch eine Frage nach der anderen, so dass er sich vorkam wie bei einem Kreuzverhör. Wie sollte er sie je dazu bringen, auf seine wahnwitzige Idee einzugehen, wenn sie so anders war als all die Frauen, die ihm immer sofort zu Füßen lagen? Letztendlich war er froh, dass gerade sie ihm in die Arme gelaufen war. Mit jeder anderen wäre es ein leichtes Spiel gewesen. Doch seit ihrer letzten Begegnung wusste er, wie sehr er die Herausforderungen vermisst hatte!

Natürlich durfte sie nicht den Hauch einer Ahnung davon bekommen, dass das der wahre Grund war, weshalb er zurückgekommen war. Deshalb hoffte er nicht nur, dass sie auf seinen Vorschlag eingehen würde, sondern auch, dass sie ihm die ganze Sache abkaufte.

»Weshalb ich hier bin... Ich wollte dich um einen Gefallen bitten. Aber auf einmal komme ich mir ziemlich bescheuert vor deswegen.«

»Was ist es denn?«

»Als ich vorhin darüber nachdachte, kam es mir wie ein genialer Plan vor. Aber für dich muss es sich krank anhören.«

»Cedric. Was für ein Plan?«

Er legte eine Kunstpause ein, druckste herum und tat, als traute er sich nicht, es auszusprechen. »Na gut. Ich wollte dich fragen, ob du zu einem Fotoshooting bereit wärst. Oh, nein, nein«, wiegelte er schnell ab, als er sah, wie ihr sämtliche Gesichtszüge entglitten. »Ich will mir keine Nackt-Fotos von dir übers Bett hängen.« Der Gedanke ließ ihn für einen kurzen Moment den Faden verlieren. Wie diese Fotos wohl aussehen würden? Er setzte noch einmal neu an. »Ich habe dir doch erklärt, dass ich dich in der Hoffnung geküsst habe, dass die ganze Hysterie ein wenig abflacht. Warst du übrigens gestern bei unserem Konzert?«

Sie überraschte ihn mit einem Nicken. »Ja.« Ihrer Stimmlage nach hatte sie es nicht gerade genossen. »Ich hatte Angst, überrannt zu werden.«

Er legte bedauernd den Kopf schief. »Genau. Das Ganze hat ein Level erreicht, das über das Angenehme hinaus geht.«

Sie nickte bestätigend, doch gleichzeitig sah sie ziemlich verwirrt aus.

»Nun«, schickte er sich an, endlich zum Punkt zu kommen. »Das mit dem Kuss hat funktioniert. Die ganze Welt denkt, du bist meine Freundin. Ich dachte«, mit gespielter Verlegenheit kratzte er sich am Kopf, »wir könnten vielleicht noch ein paar Fotos zusammen machen, um das Ganze glaubwürdiger zu machen. Im Moment hat es noch den Touch von einem Gerücht. Ich möchte in den Medien ein offizielles Statement dazu abgeben.«

»Du willst, dass ich mich mit dir als Pärchen fotografieren lasse.« 

So wie sie ihn nun von unten her ansah, gelangte er zu dem Eindruck, dass sie die Sache mit den Nacktfotos weitaus weniger befremdlich gefunden hätte.

»Ja«, gestand er schüchtern ein. Auf einmal war er sich nicht mehr sicher, ob seine Unsicherheit noch immer gespielt war. »Ein Freund von mir hat in der Nähe ein Fotostudio. Er hat morgen Nachmittag zufällig eine Stunde Zeit.«

»Das ist krank.«

»Ja.« Was die Worte anging, war er mit seinem Latein am Ende. An diesem Punkt einer Unterhaltung hingen ihm die Puppen normalerweise schon am Hals und ließen sich nicht mehr abschütteln. Aber wie es aussah, würde er sich in diesem Fall die Zähne ausbeißen.

»Was soll ich anziehen?«, fragte sie auf einmal. Als er aufsah, hatte sie entschlossen die Arme in die Hüften gestemmt.

»Du meinst für das Fotoshooting?«

»Ich dachte, davon reden wir.«

Sie war eindeutig wortgewandter als er. Doch auch er konnte mit seiner Zunge umgehen, und am liebsten hätte er sie am Kinn gepackt und es ihr bewiesen. 

»Ähm.« Er kramte in seiner Hosentasche und zog wahllos ein paar Scheine heraus. »Hier. Kauf dir irgendwas Schönes. Vielleicht etwas, das dein hübsches Dekolleté betont.« Das Kompliment war ehrlich gemeint, doch sie funkelte ihn nur böse an.

»Ich habe etwas zum Anziehen daheim. Steck das wieder ein.«

»Du machst also mit?« Wieso wurde er das Gefühl nicht los, dass sie noch nicht wirklich zugesagt hatte?

»Unter einer Bedingung.« 

Aha.

»Und die wäre?«

»Ich tue es. Aber nicht für dich. Auch nicht für mich. Als Gegenleistung wirst du mit meiner besten Freundin ausgehen.«

 

Ich wusste nicht, was ich mir unter einem Fotoshooting als Cedrics Freundin vorgestellt hatte. Dass wir gemeinsam auf einer Parkbank sitzen würden und Händchen halten? Dass wir uns verliebt in die Augen sehen würden? Im Nachhinein muss ich sagen, dass ich ziemlich blauäugig an die Sache herangegangen bin. Ein paar Fotos machen, dafür, dass ich Drew ihren Traum erfüllen konnte, hatte für mich nach einem guten Deal geklungen.

Das Fotostudio war vom Central Hotel aus ein Stück den Fluss hinunter gelegen. Der Fotograf, ein junger, rothaariger Mann mit Hemd und Hosenträgern, musterte mich abschätzig von oben bis unten, als ich den Laden betrat und mich vorsichtshalber als Cedrics Freundin vorstellte - ich wusste nicht, inwieweit er eingeweiht war.

»Schwarz. Ich hasse es, wenn die Leute Schwarz tragen.«

Geknickt folgte ich ihm durch eine Tür in einen abgedunkelten Raum mit einer weißen Leinwand und jeder Menge Ausrüstung. Cedric war noch nicht hier. Ich hoffte, wenigstens ihm würde das schwarze Glitzeroberteil gefallen, für das ich mich entschieden hatte, nachdem ich mir stundenlang in der Stadt die Füße plattgelaufen hatte - natürlich hatte ich doch nichts Passendes in meinem Schrank gefunden. Normalerweise hatte ich beim Shopping immer Drew als Beratung dabei, aber sie wusste noch nichts von dem Fotoshooting. Ich hatte mich noch nicht getraut ihr davon zu erzählen, auch wenn ich das Ganze nur ihretwegen tat. Der Wasserfallsausschnitt brachte jedenfalls mein Dekolletée zur Geltung - zumindest hatte das die Verkäuferin gesagt, die es mir empfohlen hatte.

Wir warteten bereits ungefähr eine Viertelstunde, wobei Padraig, der Fotograf, immer wieder nervös auf die Uhr sah. »Das ist so typisch«, murmelte er. Von Smalltalk sah ich angesichts seiner schlechten Laune ab und schaute mir stattdessen die ausgestellten Fotos an. Die melancholische Stimmung der Landschaftsaufnahmen passte zu Padraigs eher mürrischem Gemüt, doch es waren auch sehr actiongeladene Aufnahmen von Personen darunter, die vor Lebensfreude nur so strotzten. Auch wenn ich Padraig erst seit ein paar Minuten kannte, konnte ich mir nicht vorstellen, dass jemand wie er solche Fotos machen konnte.

Als die Klingel der Tür zu hören war, streckte Padraig den Kopf in den Laden, ohne den Raum zu verlassen. Kurz darauf kam Cedric herein, in einem hellen T-Shirt - da erkannte man wohl den Profi. Er nahm seine Sonnenbrille ab und warf mir zur Begrüßung ein Lächeln zu, bevor er Padraig freundschaftlich auf die Schulter klopfte.

Nach einem kurzen Geplänkel der beiden bat uns Padraig, uns vor die Leinwand zu stellen. Kaum hatte er die Kamera auf uns gerichtet, machte Cedric einen Schritt auf mich zu und überrumpelte mich völlig, in dem er den Arm um mich legte und mir ohne Vorwarnung einen Kuss auf den Mund drückte. Ich presste erschrocken die Lippen zusammen und riss die Augen auf, doch dann stellte ich mir vor, wie es auf dem Foto aussehen musste - eher nach einer Vergewaltigung als nach einem Rockstar und seiner Freundin. Schließlich riss ich mich zusammen, öffnete leicht die Lippen und suchte mit den Händen Halt an seinem Rücken, der sich stark und überraschend gut anfühlte. Ich zog den Stoff des T-Shirts mit den Fingern zusammen, um seine Muskeln zu ertasten, während Cedric mein Nachgeben schamlos ausnutzte und den Kuss intensivierte. Er erkundete mit der Zunge meine obere Zahnreihe, von den Schneidezähnen bis zu den hinteren Backenzähnen, obwohl ich mir sicher war, dass eine solche Tiefe des Kusses für das Foto nicht nötig gewesen wäre. Ich vergaß jedoch auch völlig, wo ich war, als ungefähr hundert Mal so viele Schmetterlinge meinen Bauchraum eroberten wie bei unserem ersten Kuss. Ich gab mich völlig hin, legte den Kopf in den Nacken und krallte mich tiefer in sein T-Shirt.

Padraig holte uns wieder in die Wirklichkeit zurück. »Das haben die Leute schon gesehen. Ihr müsst etwas Neues machen. Wir brauchen mehr Action!«

Während ich den Fotografen völlig hilflos anblinzelte, zog sich Cedric kurzentschlossen sein T-Shirt über den Kopf.

»Was machst du?«, fragte ich leicht panisch.

Mein Atem wurde automatisch schneller, als er sich so nahe vor mich stellte, dass der Stoff meines Oberteils seine Haut berührte. Er sah mit einem gewinnenden, beinahe überheblichen Grinsen auf mich herab und flüsterte mir ins Ohr, bevor er begann, meinen Hals zu liebkosen: »Du darfst deines anlassen, Süße. Du siehst schon sexy genug darin aus.«

Ich nahm einen tiefen Atemzug, um nicht in Ohnmacht zu fallen. Seine Hand fuhr langsam an meinem Poansatz unter mein Oberteil, womit er mich noch fester an sich drückte. Die andere Hand schob meine Haare zurück, damit er den Bereich unter meinem Ohr küssen konnte. Völlig ergeben legte ich den Kopf zur Seite. Wie von selbst bewegte sich mein Mund auf seine nackte Schulter zu, doch kurz bevor ich den Geschmack seiner Haut testen konnte, hielt ich inne. Ich konnte so etwas nicht, wenn noch jemand Drittes im Raum war, und schon gar nicht vor der Kamera.

Cedric ließ sich davon jedoch nicht einschüchtern. Seine Hände fuhren auf einmal über meinen Hintern und an meinen Oberschenkeln hinab, nur um mich dann hochzuheben, so dass meine Beine links und rechts um seine Hüfte lagen. Um nicht das ganze Gewicht mit den Händen halten zu müssen, lief er mit mir näher zur Wand, bis ich mit dem Rücken anstieß, und presste seinen Körper gegen meinen. Ich war kurz davor, das Ganze abzublasen, doch gerade, als ich Luft holen wollte, um etwas zu sagen, verschloss Cedric meinen Mund mit dem seinen. Ich wollte ihn wegschieben, doch sobald meine Hände seine nackte Haut berührten, siegte das aufregende Kribbeln in meiner Bauchgegend und ich überkreuzte die Beine an seinem Rücken, um ihn enger heranzuziehen und noch mehr von seinem Körper zu spüren. Die Tatsache, dass seine und meine intimste Stelle nur durch die Stoffe unserer beiden Jeans getrennt waren, ließ einen Schwall aus Hitze in mir aufsteigen, der mich wahnsinnig machte. Hätte ich lange Fingernägel gehabt, hätte meine Hand vier tiefe Furchen in seinen Rücken geschürft, als ich mit den Fingern quer darüber fuhr, und mit der anderen seine Haare verwüstete.

»Ja, genau das ist es«, feuerte Padraig uns an. Das Knipsen der Kamera wurde immer schneller und hektischer. Das Gleiche konnte man von meinem Atem und Herzschlag behaupten. Auch Cedrics Küsse wurden immer wilder und fordernder. Ich befürchtete, er könnte vergessen haben, dass wir nicht allein waren. Er senkte den Kopf und vergrub ihn auf einmal in meinem Ausschnitt. Zum ersten Mal, das glaubte ich zumindest, hatte die Kamera freien Blick auf mein Gesicht. Ich warf den Kopf zur Seite, so dass meine Haare es verdeckten, da ich nicht wollte, dass man mich auf solchen Fotos erkennen konnte. Doch ich wollte auch nicht, dass Cedric aufhörte, mein Dekolleté und den Ansatz meiner Brüste mit immer leidenschaftlicher werdenden Küssen zu bedecken.

»Ich denke, wir haben es«, hörte ich Padraig sagen und verfluchte ihn in Gedanken. Konnte er nicht einfach auf Zehenspitzen den Raum verlassen? Cedric schien die Ansage nicht gehört zu haben, denn er machte keinerlei Anstalten, das Gesicht aus meinem Ausschnitt herauszunehmen. Wie nach einem schönen Traum, aus dem ich kurz geweckt worden war, ließ ich mich wieder fallen.

»Hey, Leute«, sagte Padraig nun lauter, »ihr könnt aufhören. Das Shooting ist beendet.« Das konnte Cedric nicht überhört haben. Dennoch hörte er nicht auf. Seine linke Hand löste sich von meinem Oberschenkel um meine rechte Brust durch den Stoff meines Oberteils zu erfühlen, die er gerade küsste. Ich schloss erneut die Augen, als er anfing sie zu kneten, und musste aufstöhnen. Dann wanderten seine Küsse über meinen Hals bis hoch zu meinem Mund. Seine Hand verweilte auf meiner Brust, während er mich noch ein letztes Mal küsste, bevor er sich sachte von mir löste. Wir sahen uns tief in die Augen, eine Mischung aus Schock und Verlangen musste in meinen zu sehen sein, als er mich losließ und ich langsam von ihm herunterrutschte.

Padraig stand an einem hohen Tresen und spielte gerade die Fotos auf einen Bildschirm.

»Zeig mal her.« Cedric stellte sich neben ihn.

»Ich... bin mal schnell im Bad«, sagte ich und verschwand durch eine Tür mit einem WC-Zeichen. Ich drehte den Wasserhahn auf und spritzte mir eiskaltes Wasser ins Gesicht. Es half, die Hitze aus meinem Körper zu vertreiben und die Hormone wieder halbwegs zur Ruhe zu bringen. Ich blieb noch eine Weile, um sicherzugehen, dass ich nicht gleich wieder über Cedric herfallen würde, wenn ich ihn sah, bevor ich mich wieder hinauswagte. Die Männer waren verschwunden. Padraig entdeckte ich vorne im Laden.

»Wo ist Cedric?« 

Ohne aufzusehen, zeigte Padraig hinter sich. »Er ist draußen und telefoniert.«

Draußen bedeutete in diesem Fall im Innenhof, der über den Hinterausgang des Ladens zugänglich war. An der von Fußgängern stark frequentierten Straße hätte es nicht lange gedauert, bis jemand Cedric erkannt hätte. Ich stellte mich mit verschränkten Armen in die Tür und wartete, bis er auflegte. Der Anruf klang geschäftlich und er schien gerade nur noch einen Termin zu vereinbaren. Als er mich sah, veränderte sich sein Gesichtsausdruck, als würde er mich wie eine Beute anfokussieren. Ich wich seinem Blick aus, um nicht wieder schwach zu werden.

»Dann kommen wir jetzt zu deinem Teil der Verabredung«, sagte ich sofort, nachdem er das Handy weggesteckt hatte, und hob mein Kinn. »Wann kannst du dich mit Drew treffen?«

Er kam mit langsamen Schritten und einem nachdenklichen, zum Boden gerichteten Gesichtsausdruck auf mich zu. »Morgen zum Frühstück. Am besten bei dir im Hotel, da sehen uns nicht so viele Leute. Ansonsten bin ich ausgebucht.«

»Super, dann morgen zum Frühstück. Neun Uhr dreißig.«

»Ich habe in einer Stunde einen Termin«, fing er wieder an und sah mir in die Augen, »hast du Lust irgendwo noch was trinken zu gehen?«

Eigentlich ja. »Eigentlich nein. Ich muss zur Uni«, log ich. Ich hatte den Nachmittag frei und wenn ich ehrlich war, fiel mir nichts Besseres ein als noch eine Stunde mit einem heißen Rockstar abzuhängen, der offenbar Freude daran fand, mit mir herumzuknutschen.

»Schade«, sagte er, doch es klang gar nicht so, wie dieses Wort normalerweise klingen sollte. Eher wie eine Aufforderung, es mir noch einmal anders zu überlegen. Bevor ich das tatsächlich tun konnte, verabschiedete ich mich mit einem hastigen Gruß von ihm. Auf halbem Wege fiel mir noch etwas ein, das ich ihm über die Schulter zuwarf: »Ach so. Ich möchte nicht, dass bei der ganzen Sache mein Name irgendwo auftaucht.«

3

 

Cedric studierte die Etiketten im Whiskeyregal von Andrews Onkel. Draußen war ein Sturm aufgekommen, und durch das große Panoramafenster hatte man einen fantastischen Blick auf die Wellen des Atlantiks, die sich nur etwa hundert Meter von der Fensterscheibe entfernt an den Klippen brachen. Umso gemütlicher war es im hochwertig eingerichteten Wohnzimmer. Das Feuer knisterte im Kamin, und der anheimelnde Duft von Torf erinnerte Cedric an seine Kindheit. Seit er erwachsen war, weckte das rauchige Aroma jedoch auch stets die Lust auf einen Whiskey in ihm. Er half, die weniger schönen Gedanken an seine Eltern zu betäuben, die sich mit hinzu mischten.

Andrew stand bereits mit zwei schicken Bleikristallgläsern neben ihm. »Welchen möchtest du?«

Er konnte sich nicht entscheiden und griff spontan nach einer ihm unbekannten Flasche, die in der Ecke mit den schottischen Whiskeys stand. »Öfter mal was Neues.«

»Typisch für dich«, erwiderte Andrew mit einem seltsamen Gesichtsausdruck, den Cedric nicht wirklich zu deuten wusste.

Sie ließen sich in die beiden großen Sessel sinken, die vor dem Kamin standen. »Das ist mal was anderes als ein Hotelzimmer und ein Kasten Bier«, stellte Cedric anerkennend fest und prostete seinem Bandkollegen zufrieden zu. »Slainte.«

Andrew hob mit ernstem Blick sein Glas. »Dany sagt, du hast dich heute wieder mit diesem Mädchen getroffen.«

Er zuckte mit den Achseln. »Und?«

»Ist es was Ernstes? Denn wenn nicht...«

»Was geht dich das an?«

Andrew senkte beschwichtigend die Stimme. »Die Fans stellen reihenweise ihre Konzerttickets auf Ebay.« Er zückte sein Handy, tippte kurz darauf herum und zeigte Cedric die Internetseite. »Deine angebliche Freundin schadet der Band. Das geht uns alle etwas an. Wenn es nur eines deiner Spielchen ist, dann ist es das nicht wert.«

In einem unechten Lachen stieß Cedric die Luft aus. »Ich glaube, die paar Fans können wir verkraften. Und glaub mir, es schadet niemandem, wenn der ganze Irrsinn sich mal ein bisschen beruhigt.«

»Das ist doch reiner Humbug. Du setzt unseren Erfolg aufs Spiel, für ein bisschen Spaß. Denn ich glaube nicht, dass sie dir mehr bedeutet als die anderen...«

Cedric trank den Rest des Whiskeys auf ex, stand auf und stellte das schwere Glas geräuschvoll auf dem niedrigen Holztisch ab. »Beruhige dich, Andy. Ich habe nur ein wenig Spaß mit ihr. Der Spuk wird genauso schnell vorüber sein, wie er gekommen ist.

Es war sicher nicht der gute Whiskey gewesen, der ihm beim Aufwachen am nächsten Tag so schreckliche Kopfschmerzen bereitete, sondern die paar Flaschen Bier, gepaart mit der Tüte, die er gestern Abend geraucht hatte, um seinen Frust zu vertreiben. Wieso durfte er nicht ein ganz normales Liebesleben führen wie andere Männer in seinem Alter auch? Wieso musste, wenn er mal ein bisschen herumknutschte, gleich der Erfolg der ganzen Band davon abhängen? 

Andrew hatte recht, die Kleine war es nicht wert, das alles aufs Spiel zu setzen. Vielleicht sollte er den Termin heute Nachmittag bei der Zeitung absagen. Aber dann sah er es wieder nicht ein, dass die ganze Welt glaubte, über sein Leben bestimmen zu müssen. Diese Hin- und Hergerissenheit hatte ihn gestern fast umgebracht, weshalb er sie in Alkohol ertränkt hatte.

Nein, wenn er jetzt einen Rückzieher machte, würde er ein für alle Mal seine Seele ans Musikbusiness verkaufen. Und außerdem konnte er die Sache nicht einfach so abblasen, nicht so kurz vorm Ziel. Jolene war eine harte Nuss, doch er hatte sie schon fast geknackt. Lange hatte ihm nichts mehr so viel Spaß gemacht!

Der schrille Klingelton seines Handys fuhr ihm wie ein spitzer Pfeil durch den Schädel, so dass er scharf die Luft einsog.

Jolene.

Na sowas. War es etwa doch schon so weit? Hatte sie Sehnsucht? Es war eine gute Idee gewesen, ihr seine Handynummer zu geben, damit sie Bescheid sagen konnte, falls ihr wegen des Shootings etwas dazwischen kam - was natürlich nur ein Vorwand gewesen war. Anscheinend war sie doch nicht so schwer zu kriegen, wie sie tat.

Siegessicher krächzte er ins Telefon: »Ja?«

»Typen wie du sind das allerletzte!«

»Jolene?« Er war sich sicher, dass es ihre Stimme war, auch wenn er sie noch nie so herumbrüllen gehört hatte.

»Arschloch!«

»Jolene«, wiederholte er nachdrücklich, um sie für ein paar Sekunden zum Schweigen zu bringen, so dass er etwas sagen konnte, »hier ist Cedric. Wahrscheinlich wolltest du jemand anderen anrufen.«

»Hast du sie noch alle? Ich weiß, dass ich dich angerufen habe. Ich fasse es nicht, dass du Drew versetzt hast!«

Oh Scheiße! Das Frühstück. 

»Äh... Oh, verdammt. Das tut mir leid. Ich habe sie nicht versetzt, hörst du? Ich habe es nur... vergessen.«

»Du klingst verkatert«, sagte sie vorwurfsvoll, als würde es alles erklären.

»Jolene«, seufzte er, »es ist kompliziert. Ich würde dir das gerne in Ruhe erklären. Hast du heute Abend Zeit? Es ist unser letzter Abend in Dublin. Ich könnte ihn mir freiräumen und dich zum Abendessen einladen.«

In der Leitung herrschte Stille. Er musste zugeben, dass es sich nicht ganz logisch anhörte, dass er sie zum Essen einlud, wenn er sich doch eigentlich bei dieser Drew entschuldigen musste. Umso überraschter war er, als ein leises, wie ihm schien wohlüberlegtes »Okay« am anderen Ende zu hören war.

»Fantastisch! Kennst du ein schickes Restaurant, das ein bisschen außerhalb liegt und in dem man nicht so auf dem Servierteller sitzt?«

 

»Hast du heute wieder zu viel Chia-Pudding gegessen oder wieso hast du so viel Energie?«, wunderte sich Sean, der gerade die Reservierungen für heute Abend checkte, während ich im Restaurant die Tische abwischte.

»Ich muss mich abreagieren«, gab ich zurück und quälte die Tischplatte weiter mit dem Lappen. Sean kicherte nur und schüttelte den Kopf.

Während ich einen Tisch nach dem anderen schrubbte, ließ mich die Vorstellung nicht los, wie Drew heute Morgen hier gesessen haben musste und auf die wahrscheinlich wichtigste Verabredung ihres Lebens gewartet hatte. Immer wieder überprüfte ich mit zunehmender Panik mein Handy. Nach dem Telefonat mit Cedric hatte ich mehrmals vergeblich versucht, sie zu erreichen. Es war nicht ihre Art, so lange nicht zurückzurufen. Als ich heute Morgen mit ihr gesprochen hatte, war sie völlig aufgelöst gewesen und hatte geklungen, als wäre sie bereit, jeden Moment von der nächsten Klippe zu springen. Obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, dass sie zu so etwas wirklich fähig war, wurde ich das Bild in meinem Kopf nicht mehr los. Kurzentschlossen versuchte ich es ein weiteres Mal.

Wieder nur die Mailbox. Aus Verzweiflung legte ich dieses Mal nicht gleich auf, sondern ließ mich dazu hinreißen, ihr eine Nachricht zu hinterlassen: »Hi Süße, bitte ruf mich doch mal an, ich mach mir Sorgen. Oh, und... ich habe mich mit Cedric zum Abendessen verabredet. Ich dachte, wir könnten ihn vielleicht austricksen, indem er sich mit mir trifft und du dann überraschend vorbei kommst. Dann bekommst du heute doch noch dein Date! Wir treffen uns um neunzehn Uhr im Old Harbour Master in Dun Laoghaire. Ich hoffe, du hörst die Nachricht noch vorher, damit es auch klappt.«

Nachdenklich betrachtete ich mein Handy. Wieso schickte ich sie nicht gleich alleine zu dem Date? Eigentlich war es gar nicht nötig, dass ich mitkam. Aus irgendeinem Grund konnte ich mich jedoch nicht dazu durchringen. Wahrscheinlich war ich einfach selbst zu scharf darauf, Cedric zu sehen... sebstverständlich nur, damit ich ihm mit eigenen Händen die Ohren langziehen konnte. Und um mich zu vergewissern, dass er auch wirklich auftauchte.

Ich schoss ein paar Mal mit der Putzmittelflasche auf eine noch dreckige Tischplatte und wollte gerade mit dem Lappen ansetzen, als ich aus dem Augenwinkel sah, wie jemand den Raum betrat. Der junge Mann gehörte nicht zum Personal, deshalb hielt ich inne, um zu sehen, ob ich ihm helfen konnte. Überrascht stellte ich fest, dass er mir bekannt vorkam. Als er mit entschlossenen Schritten zu mir herüber gelaufen kam, spuckte mein Gehirn die Info endlich aus: Es handelte sich um einen Bandkollegen von Cedric.

»Hi«, begann er, als er neben mir stand, »ich bin Andrew.«

»Hi«, erwiderte ich, ohne meine Verwirrtheit zu verbergen.

»Ich wollte mit dir sprechen... über Cedric.«

Ach, wirklich? Ich dachte, über den Klimawandel.

»Was gibt’s?«

»Das mit dir und Cedric muss aufhören.«

Ich brauchte einen Moment, um die Ansage zu verdauen. Dann zuckte ich mit den Schultern. »Das musst du Cedric sagen.«

Andrew seufzte schwerfällig und mir wurde klar, dass das bereits geschehen war. »Lass dich nicht von ihm an der Nase herumführen. Beende es lieber, bevor er es tut.«

Ich fragte mich die ganze Zeit, was er genau meinte. Es gab nicht wirklich etwas zwischen Cedric und mir, was man beenden konnte.

»Wieso willst du überhaupt, dass wir es beenden?« Es musste ihm ja wahnsinnig wichtig sein, wenn er dafür extra hier aufkreuzte.

»Für die meisten unserer Fans dreht sich die ganze Welt um Cedric. Du kannst dir vorstellen, was passiert, wenn er auf einmal eine Freundin hat?«

Als ich ihn lediglich verstehend ansah, fuhr er fort: »Ich wollte dir nur geraten haben, dich von ihm fernzuhalten. Damit tust du nicht nur dir, sondern uns allen einen Gefallen. Mach’s gut, Jolene.« Er sah mich noch einmal eindringlich an und verabschiedete sich dann mit einem Nicken. Sobald er aus dem Restaurant verschwunden war, setzte ich kopfschüttelnd meine Arbeit fort.

Nach Feierabend schlüpfte ich im Personalraum in mein eng anliegendes, knielanges Etuikleid und die dazu passenden Ballerinas - alles in einem dunklen Braunton, der die Farbe meiner Haare und Augen wiederholte. Kurz darauf stand ich mit weichen Knien und frierend vor dem Hotel im Regen und wartete auf ein Taxi, das mich zum Old Harbour Master brachte. Als ich dort ankam, war ich nicht das einzige frierende Mädchen im sexy Kleid, dessen Haare ihm nass im Gesicht klebten. Es war Samstagabend und für eine Irin war es der ganz normale Ausgeh-Look.

Das Restaurant kannte ich aus einer Zeit, in der ich ein paar Mal einen gut situierten Banker gedatet hatte, den mir meine Eltern vorgestellt hatten. Es war im gemütlichen Stil eines Pubs eingerichtet, gehörte aber dennoch zur gehobenen Klasse. Ich fand es für ein Abendessen mit Rockstar passend, weil es über Séparés verfügte. In einem davon wartete ich nun beinahe mit Schnappatmung auf Cedric. Die rote Serviette neben meinem Platz hatte schon mehrere feuchte Flecken, da ich immer wieder meine schwitzigen Hände daran abwischte. 

Das Separé lag in einer Nische direkt neben der Eingangstür, weshalb ich sah, wie Cedric nur fünf Minuten nach mir ankam. Nervös nahm ich einen Schluck von meinem bereits halbleeren Wasserglas, das mir der Kellner gleich bei meiner Ankunft eingeschenkt hatte. Mir war bereits klar, dass er es war, als ein langer, silberner Mercedes mit getönten Scheiben vorfuhr. Cedric stieg mit Kapuze und Sonnenbrille aus der Limousine aus. Sein Fahrer blieb einfach vor der Restauranttür stehen, als müsste es jederzeit möglich sein, die Flucht zu ergreifen. Ich fragte mich, ob berühmte Leute über Sonderrechte beim Parken verfügten.

Der Vorhang des Séparés war nicht geschlossen, hing jedoch so weit in die Tür hinein, dass man schon den Kopf hineinstecken musste, um zu sehen, wer darin saß. Es dauerte deshalb ein wenig, bis Cedric mich fand. Ein Ober brachte ihn herein.

Zur Begrüßung beugte er sich zu mir herunter und hauchte mir einen Kuss auf die Haare, der noch eine Weile im Umkreis meines Ohres kribbelte. Ich atmete tief durch und warf einen verstohlenen Blick auf mein Handy. Drew hatte sich noch immer nicht gemeldet.

Cedric bestellte sich einen Wein, doch ich blieb vorsichtshalber bei Alkoholfreiem.

»Das mit deiner Freundin tut mir wirklich leid«, begann er das Gespräch ohne Umschweife. Ich zwang mich, keine Miene zu verziehen. Er war mir eine Erklärung schuldig. Deshalb waren wir hier. 

Er atmete tief ein. »Ja, ich war verkatert und habe verpennt. Ich habe getrunken, weil mir alle immer in mein Leben reinreden wollen. Andrew möchte, dass ich mich nicht mehr mit dir treffe, dass ich die ganze Sache abblase.«

Ich sparte mir die belehrende Weisheit, dass es nicht gut war, Probleme mit Alkohol zu bekämpfen. Cedric war schließlich nicht gerade der Junge von nebenan, bei dem solche Ratschläge fruchten würden. Zumindest konnte ich es mir nicht vorstellen. Wenn er der Vollblut-Rockstar war, für den ich ihn hielt, dann gehörte das Trinken wohl zu seinem Lebensstil wie World of Warcraft zu meinem.

Andrews Besuch bei mir im Hotel fiel mir wieder ein, und auf einmal verstand ich Cedrics Wut auf ihn. Dass er sogar mir hatte verbieten wollen, dass ich mich noch einmal mit ihm traf, ließ mich auch nicht gerade kalt. Hätte ich eine echte Beziehung mit Cedric gehabt, hätte es mich garantiert auf die Palme gebracht.

»Das macht er schon immer so«, fuhr Cedric mit einem kraftlosen Kopfschütteln fort. »Und das Schlimme ist, er hat recht. Ich bin nicht gerade der Junge von nebenan.«

Konnte er Gedanken lesen?

»Ich kann es mir nicht leisten, eine Freundin zu haben.«

»Wegen der Band«, stellte ich fest.

Er nickte. »Wegen der Fans. Sobald ich mit einer Frau ausgehe, muss ich sie verstecken. Niemand darf wissen, dass ich nicht mehr zu haben bin. Und das ist nicht leicht, wenn man auf der Straße nicht mal zwei Meter gehen kann, ohne dass die Smartphones auf einen gerichtet werden. Von den Paparazzi einmal ganz abgesehen.«

»Klingt anstrengend.«

Er legte die Stirn in tiefe Falten und nickte ein paar Mal mit gesenktem Blick, bevor er mich wieder ansah. »Das ist es. Und man kann es keiner Frau zumuten.«

Ich lachte auf. »Das glaube ich nicht. Die meisten Frauen würden doch alles tun, um mit dir zusammen zu sein.« Ich dachte an Drew und schielte auf mein Handy.

Auch Cedric lachte jetzt in sich hinein. »Ich dachte eigentlich, alle. Bis ich dich getroffen habe.« Er sah mich so durchdringend an, dass ich die Serviette in die Hand nahm und zwischen meinen Fingern zerknitterte. Zum Glück brachte der Kellner in diesem Moment unsere Getränke.

»Sind Sie schon soweit, das Essen zu bestellen?«, fragte er. Cedric und ich schüttelten einstimmig den Kopf.

»Wo waren wir stehen geblieben?«, fragte Cedric, als wir wieder allein waren. Ich wollte gerade vom Thema ablenken, doch er war leider schneller. »Ach ja. Ich wollte sagen, es tut gut, mal mit einer Frau zu sprechen, die nicht nur meinen Körper will.«

Irritiert sah ich ihn an. »Nicht nur? Eigentlich will ich gar nichts von dir. Du wolltest etwas von mir.«

Er lachte. »Das habe ich nicht gemeint. Das ist ja gerade das Angenehme daran. Ich kann einfach mit dir reden, und du fällst dabei nicht in Ohnmacht oder willst tausend Fotos mit mir machen.«

»Nein, bisher wolltest du nur Fotos mit mir machen.« Meine Schlagfertigkeit beeindruckte mich zutiefst.

Cedric scheinbar auch. Er brach er in lautes Lachen aus. »Stimmt.«

Ich warf noch einmal einen Blick auf mein Handy, doch danach vergaß ich es völlig. Ich hörte Cedric gebannt zu, während er mir davon erzählte, wie es ihn manchmal belastete, dass er nicht ein völlig normales Leben führen konnte. War fasziniert davon, wie offen er mit mir darüber sprach, ein Rockstar, der mir hier von seinen Gefühlen erzählte. Ich spürte, dass ich, wie auch immer, zu einem Teil von ihm durchgedrungen war, der für die meisten Menschen verschlossen blieb. Und in diesem Moment schien die Zeit einfach stillzustehen. Irgendwann - ich wusste nicht, wie es passiert war - klebten nicht mehr nur meine Augen an seinen sexy Lippen. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie wir uns immer näher gekommen waren, bis wir uns auf einmal küssten. Und dieses Mal war es kein Kuss, den er mir einfach aufdrängte. In diesem Moment fühlte es sich an wie das einzig Richtige.

Dass es das nicht war, fiel mir schlagartig wieder ein, als wir uns zaghaft voneinander lösten und ich mich umdrehte, weil ich mich auf einmal beobachtet fühlte - und als Drew im Eingang des Séparés stand. Sie sagte nichts, kein Wort der Enttäuschung, der Wut oder der Fassungslosigkeit, doch an ihrem apathischen Blick sah ich, dass sie wohl einfach unter Schock stand. 

Der Moment schien ewig anzudauern.

»Und so etwas nennt sich Freundin!« Diese wenigen, regelrecht ausgekotzten Wörter klangen wie das Letzte, was sie je zu mir sagen würde. Ich war mir sicher, dass ich sie so schnell nicht würde umstimmen können. Deshalb ging ich ihr auch nicht hinterher, sondern blieb wie erstarrt sitzen.

Cedric räusperte sich. »Ich nehme an, das war Drew.«

»Ja, und ich nehme an, dass ich sie wohl nie wieder sehen werde.«

Ich versteifte mich, als ich seine Hand an meinem Bein spürte. Und ich bekam einen Anflug von Panik, als meine Hand nicht machte, was sie sollte, nämlich seine wegzuschieben. »Cedric, wir sollten nicht...«

Er beugte sich zu mir herüber und sein Mund berührte mein Ohr. »Es ist meine letzte Nacht in Dublin. Welches ist das beste Hotel der Stadt? Ich lade dich ein.«

Wie eine Geisel, der man eine Waffe an die Schläfe hielt, starrte ich nur mit angehaltenem Atem die Tischdecke an. »Nein.«

»Wieso nicht?«

»Das würde mir Drew nie verzeihen.«

Endlich bekam ich die Kontrolle über mich zurück. Ich fasste seine Hand mit meiner und schob sie langsam weg. Ich straffte die Schultern. »Drew bedeutet mir echt viel.« Seine Augen, die sich zu einem interessierten Blick verdunkelten, veranlassten mich, weiter zu sprechen: »Wir sind so grundverschieden, und trotzdem hält sie zu mir.« Ich hatte Bilder von meiner bisher einzigen Liebeskummer-Phase vor mir, in der ich aber viel tiefer gefallen war, als Drew jemals bei einem ihrer unzähligen Männer-Dramen. Sie hatte Tage und Nächte aufgeopfert und sogar einen Wochenend-Ausflug mit ihrem damaligen Schwarm abgesagt, um mich aus meinem Loch zu holen. »Schon immer. Naja, zumindest bis heute«, fügte ich schmerzhaft hinzu.

Er legte nachdenklich das Kinn in die aufgestützte Hand, so dass seine Finger seinen Mund halb verdeckten. »Mhm. Ich schätze, da kann ich nicht mitreden. Wahrscheinlich habe ich keine Ahnung, was wahre Freundschaft ist. Die Leute sehen in mir immer nur den Star mit dem glamourösen Leben, da ist es schwer, echte Freundschaften aufzubauen. Aber das Thema hatten wir ja schon.«

Etwas veranlasste mich dazu, zu lächeln. Es war wieder so ein Moment, in dem ich das Gefühl hatte, dass ein Fensterladen aufging und ich für einen kurzen Augenblick direkt in seine Seele sehen konnte. Ich war geschmeichelt und verunsichert zugleich und wich seinem Blick aus.

Ich glaubte, ihm gerechterweise ein Stück von meiner Seele zurückgeben zu müssen. »Meine eigenen Eltern stehen nicht so sehr hinter dem, was ich tue, wie Drew. Mein Vater ist Arzt und meine Mutter Juristin. Dass ich Informatik studiere, passt ihnen gar nicht.«

»Du studierst was?«, warf er mit gespielter Empörung ein.

Ich sah ihn warnend an. »Sie sagen, ein Mädchen studiert so was nicht. Aber in Wahrheit wollen sie doch nur, dass ich auch Jura oder Medizin studiere.« Ich lachte bitter. »Und dass ich mit einem Juristen oder einem Mediziner ausgehe.«

»Was würden sie sagen, wenn du mit einem Rockstar ausgehst?«

Ich schüttelte nur mit einem vielsagenden Blick den Kopf.

»Nein, im Ernst. Wäre es nicht ein Vergnügen, es ihnen mal so richtig zu zeigen? Sie mal richtig auf die Probe zu stellen? Weißt du, manchmal muss man es einfach knallen lassen. Ich hab es schon getan, und es fühlt sich gut an.«

»Du meinst das hier? Unsere Fake-Beziehung?« 

»Zum Beispiel.« Er grinste verschmitzt.

Ich sah ihm in die Augen und nickte. »Ich finde gut, dass du dir nichts vorschreiben lässt.«

»Es ist wie ein Befreiungsschlag.«

Der Ober war zurück. »Haben Sie sich schon entschieden?«

Verlegen öffnete ich den Mund, ohne etwas zu erwidern.

»Bringen Sie uns einfach das Teuerste auf der Karte.«

»In Ordnung«, gab der Ober leicht verwirrt zurück und verschwand wieder.

»Was ist, wenn mir das Teuerste gar nicht schmeckt?«

»Dann bestellen wir etwas anderes«, winkte Cedric ab. »Also, was ist, machst du mit?«

»Mit - bei was?« Als mir wieder einfiel, worüber wir vor der Unterbrechung gesprochen hatten, sah ich ihn entgeistert an.

»Lass uns die - wie du so schön sagst - Fake-Beziehung noch ein wenig länger führen.«

Nun kam ich doch nicht mehr mit. Trotzdem gingen in diesem Moment alle Alarmglocken in meinem Körper an, und gleichzeitig - ich habe keine Ahnung, wie das möglich war - fühlte ich mich euphorisch bei seinem Vorschlag. Sicherlich würde er mir gleich seine Beweggründe schildern, doch sie waren mir in diesem Moment egal. Wie hätte ich ablehnen können? Wie konnte ich diesen dunklen Augen, die sich gerade hinter einer vorwitzigen Haarsträhne verbargen, widerstehen? Spätestens, als mein Blick wieder auf seinen wunderschönen Mund fiel und an seinem kantigen Kinn entlang fuhr, wusste ich, dass irgendwo in den hintersten Regionen meines Gehirns die Entscheidung schon längst gefallen war. So sehr ich mich auch dagegen sträubte.

»Ich habe keine Lust mehr, mich von irgendwem herumkommandieren zu lassen und dieses Versteckspiel zu spielen«, fuhr Cedric fort und strich sich mit der flachen Hand die Haarsträhne zurück. »Wenn mir ein paar Fans dabei abhanden kommen - so what? Das ist mir lieber, als dass ich irgendwann mit einer Überdosis oder auf dem Dach eines Hochhauses ende, wie viele andere in meiner Lage. Und du könntest deinen Eltern so auch mal einen Denkzettel verpassen.«

Jetzt sah ich ihn skeptisch an. 

»Wie dem auch sei«, sagte er, »wenn du mitmachst, dann verspreche ich dir, dass ich für Drew ein Date organisiere, das sie nie vergessen wird. So dass sie dir einfach verzeihen muss.«

Wow. Mit dem Date für Drew hatte er mich am Haken. Wahrscheinlich war es meine einzige Chance, sie zurückzugewinnen. Und so wie es klang, würde er sich echt ins Zeug legen, damit es auch funktionierte.

»Wie lange?«, fragte ich.

Er schürzte nachdenklich die Lippen. »Das können wir ganz locker angehen lassen. Sagen wir einfach, höchstens zwei Monate. Wenn einer von uns das Gefühl hat, dass es reicht, können wir es auch vorher schon beenden.«

»Zwei Monate«, wiederholte ich, während ich mir alles durch den Kopf gehen ließ.

»Keine Angst, du wirst mich nicht oft sehen in der Zeit«, sagte Cedric mit einem schiefen Grinsen.

Das klang alles relativ harmlos. Nun, das hatte das Fotoshooting auch... »Gut«, sagte ich, woraufhin Cedric mit einem verschwörerischen Blick sein Glas hob und mich dazu veranlasste, mit meinem Wasser mit ihm anzustoßen.

Nachdem wir eine fantastische Fischplatte für zwei Personen, inklusive Hummer, genossen hatten, sah er mich so fest an, dass ich Panik bekam. »Also? Welches ist das beste Hotel in Dublin?«

Ich schluckte. »Was hast du vor?« Ich fragte mich, ob er darauf abzielte, von Journalisten dabei erwischt zu werden, wie wir zusammen in ein Hotel gingen. Doch wie sollten sie das so schnell herausfinden?

Töricht.

Natürlich war das nicht der Plan.

Seine Augen funkelten liebevoll spottend, als er mich mit ihnen zu hypnotisieren schien und meinem Gesicht immer näher kam. Mehr brauchte er nicht zu tun, damit nach und nach die verschiedensten Stellen meines Körpers ihre Stellung aufgaben und nur noch von ihm geküsst werden wollten. Ich schmeckte den Rotwein noch auf seinen Lippen, bevor seine Zunge in meinem Mund einen wilden Tanz aufführte. Völlig unvermittelt fuhr seine Hand zwischen meine Beine und unter mein kurzes Kleid, bis ich ein unwillkürliches Stöhnen von mir gab.

»Das als Vorgeschmack«, flüsterte er mir ins Ohr.

»Drew«, brachte ich nur hervor.

»Sie ist sowieso schon sauer«, sagte er noch einmal.

Er hatte Recht. War der Ruf erst ruiniert... Dennoch ging das alles so wahnsinnig schnell. Ich glaubte, jemandem wie ihm mit meinen dürftigen Männer-Erfahrungen nicht gewachsen zu sein. Doch ein Teil von mir wollte einfach nicht zulassen, dass ich sein Angebot ausschlug.

»Nun ja«, hörte ich diesen Teil jetzt sagen, »Obama hat damals im Shelbourne übernachtet.«

Und schließlich stieg ich nach dem Essen mit ihm zusammen in das Fluchtauto, das noch immer vor der Tür wartete. Erst jetzt fiel mir auf, wie groß die Limousine wirklich war. Der Chauffeur sprang sofort heraus und hielt uns die Tür zum hinteren Bereich des Wagens auf, in den auf den ersten Blick meine gesamte Wohnzimmereinrichtung gepasst hätte. Wir nahmen auf einer schicken, verdammt bequemen Lederbank Platz, die schon fast als Couch durchgehen konnte. Gegenüber, mit dem Rücken zum Fahrer, befand sich noch eine. Überrascht bemerkte ich neben dem dünnen Chauffeur die breitschultrige Silhouette eines Beifahrers, die durch einen weißen Vorhang hindurchschien.

»Mein Bodyguard«, erklärte Cedric, während er aus einem kleinen Kühlschrank eine Flasche Champus holte. Ohne mein Staunen zu verbergen, nahm ich ein Champagnerglas in die Hand, das er mir reichte. Nachdem er meines und sein eigenes mit der schaumigen Flüssigkeit gefüllt hatte, setzte sich der Wagen langsam in Bewegung. Dankbar nahm ich einen Schluck und hoffte, dass meine Nervosität sich so ein wenig legen würde.

»Ich muss träumen«, sagte ich.

»Das sind die schönen Seiten.« 

Wir stießen an. Ein wohliger Schauer breitete sich bei den nächsten Schlucken in meinem Körper aus. Die Lichter der Stadt zogen an uns vorbei, und ich betrachtete sie, als hätte ich noch nie etwas Derartiges gesehen. Irgendwie wirkte aus dieser Luxuskarosse selbst der Anblick bekannter Straßen neu.

Ich spürte Cedrics Hand an meiner Taille, als wollte er darauf aufmerksam machen, dass er auch noch da war. Auch deshalb hatte ich aus dem Fenster gestarrt, weil mich alles an dieser Situation einfach furchtbar nervös machte. Ich würde die Nacht in einem Hotel verbringen (im besten der Stadt), mit einem... Rockstar! Ich wäre wohl an einem Lachanfall gestorben, hätte man mir das noch vor einer Woche prophezeit.

Doch jetzt befand ich mich in Schieflage auf einer äußerst unkonventionellen Rücksitzbank, der begehrteste Musiker der Hemisphere halb auf mir und schien in einem Meer aus Champagner und Küssen zu ertrinken, während Cedrics Hand mal wieder unter meinen Rock wanderte. Meine Taille und meinen Busen durch den Stoff meines Kleides zu erfühlen, hatte ihm offenbar nicht gereicht. Mir allerdings auch nicht.

Ich spürte, wie ich mich mit Champagner bekleckerte, er schwappte auf meinen Unterarm, als Cedric das obere Ende meines Oberschenkels umkreiste. Ich bekam einen solchen Hunger auf ihn, dass ich ihn in die Lippe und ins Ohr biss. Doch am besten schmeckte sein Hals, ich konnte nicht genug von dem Geschmack seiner Haut und dem Duft seines teuren Aftershaves bekommen. Ich wurde immer wilder, bei den Dingen, die seine Hand da unter meinem Kleid machte. Der Champagner wirkte, er ließ meine zuvor angespannten Muskeln butterweich werden und brachte mich auf die seltsamsten Gedanken. Wie zum Beispiel, Cedric auszuziehen. Hier und jetzt, noch im Auto. Ich warf über Cedrics Schulter einen verstohlenen Blick aus dem Fenster, um abzuschätzen, wo wir waren und wie viel Zeit wir noch hatten, bis wir beim Shelbourne ankamen.

Wir fuhren gerade am eindrucksvollen Eingang des Trinity College vorbei, mit seinen korinthischen Säulen und römischen Dächern. Der Anblick versetzte mir einen Adrenalinstoß. Der Großteil meines Lebens spielte sich hier ab. Der beste Teil.

Ich stieß Cedric weg, das hieß, ich versuchte es. Ich setzte mich aufrecht hin und schob noch stärker gegen seine Schultern. Endlich ließ er von mir ab und sah mich fragend an.

»Ich kann das nicht«, sagte ich mit Bestimmtheit.

In seinem Blick erschienen noch mehr Fragezeichen.

»Es tut mir leid.« Den Rest fochten unsere Augen untereinander aus. Unser Blickkontakt reichte, um ihm verständlich zu machen, wie ernst es mir war. Irgendwann verschwanden das Flehende und die Ratlosigkeit aus seinen Augen und wichen einem ernsthafteren, besonneneren Teil von ihm.

»Na schön«, sagte er unter sichtbarer Überwindung, »soll ich dich heimbringen?«

»Mhm.« Ich dachte kurz nach. »Noch eine Runde, okay?«

Seine Mundwinkel zuckten amüsiert. »Jacob«, rief er an den Fahrer gewandt, »wir drehen noch eine Runde!«

Ich musste lachen und ließ mir von Cedric noch einmal einschenken. 

Er sah kurz auf und grinste mich an. »Nicht, dass du es dir doch noch anders überlegst.«

Mit gespieltem Bedauern schüttelte ich den Kopf.

 

 

Abwesend stand ich am nächsten Morgen an der Rezeption, als meine Chefin mir die heutige Tageszeitung vor die Nase legte. Das Titelblatt war gespickt mit den heißen Fotos, die wir im Fotostudio gemacht hatten. Zum Glück war es wirklich so, wie ich schon vermutet hatte: Man erkannte mich darauf nur, wenn man wusste, dass ich es war. Dennoch konnte ich vor Scham kaum hinsehen. Zumindest konnte ich mir nach dieser Aktion sicher sein, dass Drew nie wieder mit mir sprechen würde.

Da heute einige Reisegruppen eintrafen, war es ein recht hektischer Tag. Ich übernahm am Vormittag den Telefondienst und hielt Celine den Rücken frei, während sie die Check-Ins machte. 

»Wir sind leider vollkommen ausgebucht, Sir.« Ich verarztete gerade einen Mann, der noch eine Unterkunft für ganze zehn Personen am Saint-Patricks-Day-Wochenende suchte, das schon in einem Monat war.

»Ich habe schon sechzehn andere Hotels angerufen und bekomme immer wieder die gleiche Antwort.«

»Es tut mir leid«, sagte ich zerknirscht, »an Saint Patrick’s Day ist das normal. Wenn Sie möchten, nehme ich Sie auf eine Warteliste-«

»Warteliste? Können Sie denn nicht mehr für mich tun?«

Auch wenn er mich ja sowieso nicht sehen konnte, hob ich die Schultern fast bis zu den Ohren. Celine warf mir von der Seite einen bestimmenden Blick zu und gab mir zu verstehen, dass ich das Gespräch abwürgen sollte. »Sie könnten es noch in den B&Bs etwas außerhalb versuchen«, sagte ich, während ich ihr zunickte.

Er seufzte leidend. »Dankeschön.«

»Gern geschehen. Und tut mir wirklich leid. Bye.«

Kaum hatte ich aufgelegt, klingelte das Telefon schon wieder. Ich holte kurz Luft und nahm ab.

»Central Hotel, Jolene-«

»Hier ist Mum.«

»Mum?«

»Du gehst ja nicht an dein Handy, wenn ich anrufe.«

Verstohlen schielte ich auf mein Smartphone, das einsatzbereit neben mir lag. Sie hatte mich heute Morgen schon ein paar Mal angerufen, doch ich hatte absichtlich nicht abgehoben, nachdem ich die Titelseite der Tageszeitung gesehen hatte. Ich wusste, dass Mum ihren Arbeitstag immer damit begann, sie kurz durchzublättern. Ich sah sie förmlich vor mir, mit ihren streng zu einer Banane hochgesteckten Haaren, ihrer dünnen, knallroten Lesebrille und dem gleichfarbigen Lippenstift, wie sie sich die Titelseite ansah und sich dabei an ihrem Kaffee verschluckte. »Es ist lautlos und in meiner Tasche.«

»Was wird das mit diesem Rockstar, Schatz?« Ihr Ton war an der Oberfläche fast überfreundlich, doch ich konnte das Warnende darin deutlich hören. 

Ich presste die Lippen aufeinander und schloss für einen Moment die Augen. Mein erster Impuls war gewesen, die Sache herunterzuspielen. Doch ich erinnerte mich wieder daran, was Cedric gesagt hatte. Manchmal muss man es knallen lassen. Ich musste endlich damit aufhören, es dauernd allen recht machen zu wollen.

»Ich nehme an, du hast es bereits in der Zeitung gelesen, Mum?«

»Ja, aber das ist doch sicher nicht die Wahrheit, oder? In der Zeitung steht nie die Wahrheit.«

»Wieso liest du sie dann?«

»Jetzt lenk nicht vom Thema ab. Diese Fotos... Wie konntest du nur in so was reingeraten?«

Ich wusste genau, dass es ihr nicht um mich ging, sondern um ihren Ruf als Juristen, für den eine Skandal-Tochter äußerst ungünstig sein konnte. 

Ich nahm all meinen Mut zusammen. »Und wenn ich ihn liebe, Mum?«, sagte ich schnell, bevor mein Hirn meinem Mund einen Riegel vorschieben konnte. Es wäre leichter gewesen, meiner Mutter mit einer Aussage die Stirn zu bieten, die keine Lüge war.

Im Augenwinkel sah ich, wie Celine kurz innehielt und verwundert zu mir herüberblickte.

»Diesen Rockstar?«, rief sie empört. »Das kann doch nicht dein Ernst sein! Warum suchst du dir nicht einen...«

»Einen Anwalt? Einen Banker? Einen Arzt?« Ohne eine Antwort abzuwarten, knallte ich den Hörer auf die Gabel. Und es fühlte sich verdammt gut an, wie Cedric gesagt hatte. Bisher hatten meine Eltern mir immer zwischen den Zeilen zu verstehen gegeben, was sie gut für mich fanden und was nicht, wenn auch sehr deutlich. Und ich hatte es in mich hineingefressen und mich dafür gehasst, dass ich nicht so war, wie sie mich wollten. Zum ersten Mal hatte es so etwas wie eine Eskalation gegeben. Mein Herz raste.

»Ich kann den Telefondienst nicht weiter übernehmen«, sagte ich zu Celine und eilte ins Personalzimmer, wo ich mich umzog, um irgendetwas anderes zu machen. 

Mit gemischten Gefühlen ließ ich mich nach Feierabend durch die Stadt treiben, die mir heute besonders grau und verregnet erschien. Irgendwann blieb ich stehen und lehnte mich gegen die Mauer, um auf den Fluss hinunterzublicken. Die überschwänglichen Gefühle des gestrigen Abends verblassten allmählich und konnten nicht mehr die Trauer über den Verlust meiner besten Freundin betäuben. Zudem war ich schrecklich verwirrt von dem Telefongespräch mit meiner Mutter. Ich hatte mich mit ihr gestritten und sie dabei auch noch belogen.

Cedric würde ab jetzt in England von einer Stadt zur anderen reisen und ich hatte keine Ahnung, wann ich ihn wieder sehen würde. Sicherlich irgendwann innerhalb der nächsten zwei Monate, das war gewiss, sofern er sich das mit unserer Abmachung nicht anders überlegte. 

Ich freute mich auf unser nächstes Treffen. Dieses Fake-Rockstar-Freundinnen-Leben war jetzt das einzig Abwechslungsreiche an meinem sonst tristen Dasein. Immer wieder kontrollierte ich mein Handy, auf dem nichts passierte. In zwei Monaten würde es hoffentlich wieder bergauf gehen, wenn Cedrics Plan funktionierte, ich auflösen konnte, dass ich alles nur getan hatte, damit Drew ihr Date bekam, sie mir verzeihen würde und alles wieder beim Alten war. So würde es jedenfalls in einem Film ausgehen. Nun ja, zumindest in einem Musical oder einem seichten Theaterstück. Alle würden sich am Ende in den Armen liegen und über die Missverständnisse lachen.

Als hätte der Tag nicht schon genug Stunden gehabt, die ich totschlagen musste, konnte ich die ganze Nacht nicht schlafen. Erschwerend kam hinzu, dass ich die ganze Zeit an Cedric hatte denken müssen und bei World of Warcraft nur Mist gebaut hatte, weshalb ich es letztendlich ausgeschalten hatte. Mit schweren Augenlidern lief ich am Morgen durch das Tor des Trinity Colleges, denn um acht Uhr hatte ich meine erste Vorlesung. Wie jeden Montag bog ich gleich scharf nach rechts ab, um direkt auf das Unigebäude zuzusteuern, in das ich musste, als ich sah, wie Jeremy über den großen Platz in meine Richtung lief. Ich machte eine spontane Kehrtwende und wollte wieder in den Schutz der Tormauern verschwinden, als er mir schon zurief: »Hey, Jolene!«

Ich drehte mich zu ihm um und tat überrascht. Mit ein paar Schritten war er bei mir, seine schmale Kunststoff-Umhängetasche diagonal über dem Oberkörper hängend und die Hände locker in den Hosentaschen. Ausnahmsweise sah er einmal ausgeschlafener aus als ich, obwohl er sicher im Gegensatz zu mir die ganze Nacht gezockt hatte. Er war der nerdigste Nerd des Jahrgangs und seit dem ersten Tag an der Uni stand ich auf ihn, doch leider wurden meine Gefühle nicht erwidert, wie er mir irgendwann während einer LAN-Party gestanden hatte. Erklärt, traf es wohl besser. Wie alles andere im Leben teilte er Frauen in verschiedene Kategorien nach Haarfarbe, Größe und was weiß ich noch alles ein, und auch wenn ich nett war, so sagte er, passte ich leider nicht in seine bevorzugte Kategorie. 

Er hatte wahrscheinlich keine Ahnung, wie er mich mit seiner nüchternen Antwort vernichtet hatte. Ich hatte ganze zwei Wochen meine Wohnung nicht verlassen und mit Drew Tag und Nacht Serien geschaut. Trotz allem verstanden wir uns inzwischen wieder blendend und therapierten uns gegenseitig von userer Spielsucht, indem wir jeden Samstag konsequent mit ein paar anderen Leuten ausgingen, um nicht zuhause vor dem PC zu versauern. Ein wenig knisterte es bei mir noch immer jedes Mal, wenn ich ihn sah, doch heute ließ seine Erscheinung aus einem anderen Grund mein Herz schneller schlagen.

»Hey«, sagte ich so unbefangen wie möglich.

»Hey, du warst gestern Abend einfach offline.«

»Ich hatte einen Durchhänger«, sagte ich abtuend.

»Was ist denn da los, mit dir und Drew?«

»Sie hat’s dir wahrscheinlich schon erzählt, oder?«

»Bist du jetzt richtig fest mit diesem Rockstar zusammen?«

Ich nickte, das war einfacher, als mit Worten zu lügen.

Jeremy sah mich weiterhin fragend an, als ließe er das als Antwort nicht gelten. Er provozierte es so lange, bis ich sagte: »Eins.« Eins stand für Ja, null für Nein, und etwas dazwischen gab es für Jeremy nicht.

»Drew ist ziemlich fertig.«

Meine Augen wurden feucht, doch ich zuckte die Achseln. »Man kann sich nicht aussuchen, in wen man sich verliebt.«

»Aber... das ist doch normalerweise gar nicht deine Art. Rpckstars... Die Fotos in der Zeitung und das alles.«

»Ich muss zur Vorlesung«, sagte ich hastig. Ich warf ihm einen entschuldigenden Blick zu und setzte meinen Weg fort. Der Nächste, den ich belogen hatte. Jeremy gehörte zu meinem engsten Freundeskreis. Das hieß, sie würden mich jetzt alle dafür hassen, was ich Drew antat.

Fünf Freunde hatte ich verloren, dafür hatte ich Hunderte andere dazugewonnen. In der Aula schaffte ich es kaum, rechtzeitig zu meinem Hörsaal vorzudringen, der nur am gegenüberliegenden Ende des Raumes lag. Alle wollten mit mir reden und mich zu Cedric befragen. 

»Jolene! Wie ist Cedric so in echt?«

»Wie hast du ihn kennengelernt?«

»Bringst du ihn mit zur Semesterabschlussparty?«

Ich grinste breit vor Überwältigung und antwortete freundlich auf die verschiedensten Fragen, während ich mich, umgeben von einem Bulk aufgeregter Mädels Zentimeter für Zentimeter voran arbeitete.

4

 

Beim Joggen kam irgendwann der Moment, in dem man nur noch glücklich war und das Gefühl hatte zu fliegen. Genauso war es beim Abrocken auf einer Bühne. Irgendwann verschmolz der Herzschlag mit dem Bass. Dann begann es, wie eine außerkörperliche Erfahrung, eine Explosion der Endorphine, und alles spielte sich wie ein Traum um einen herum ab. Man vergaß die Anstrengung, die unerträgliche Hitze der Leuchtstrahler, die Sorgen und Ängste des realen Lebens, und man ging einfach ab. Traf punktgenau jeden Ton, spielte das schnellste Gitarrensolo so fehlerfrei wie noch nie, baute im Laufen einen spontanen Salto ein, der perfekt gelang. Das Adrenalin machte beinahe alles möglich.

Cedric verstand nicht genau, was da geschah, doch er liebte es. Die zwei Zugabenrunden, die sie gerade gespielt hatten, waren nicht für die Fans gewesen. Er hatte sie genauso gewollt, er war süchtig danach. 

»Lasst ordentlich die Fetzen fliegen für Maxwell«, brüllte er ins Mikrophon, »an Percussion und E-Gitarre!« Das gesamte Stadion kreischte und applaudierte zur Antwort.

»Gebt alles... Und wenn ich sage alles, dann meine ich alles! Für Daniel am Keyboard!« 15000 Menschen jubelten ihm lauthals entgegen und brachten das Gebäude zum Beben.

»Bringt die Wände zum Einstürzen für unseren Schlagzeuger Ryan!« Das Publikum gehorchte.

»An der Bass Gitarre und E-Gitarre, Adrew!« Andrew hatte nach ihm die meisten Fans, weshalb ein Anstieg in der Lautstärke hörbar war.

»Last but not least«, übernahm Andrew, der an einem Mikrofon schräg hinter ihm stand, mit tiefer Stimmlage nun die Ansage. Er streckte die Arme aus und richtete sie auf ihn, während er aus ganzer Kehle brüllte: »Ceeeeedriiic!«

Auch wenn man es nicht für möglich halten sollte, schwoll das Tosen der Menge in einem fast bedrohlichen Ausmaß noch einmal deutlich an. Auch die Tonlage änderte sich, da sich nun wesentlich mehr weibliches Gekreische unter die Jubelrufe mischte als vorher.

Cedric winkte seine Bandkollegen zu sich nach vorne, wo sie sich alle kumpelhaft an den Schultern ineinander hakten und sich ein paar Mal verbeugten.

»Auf Wiedersehen, Birmingham!«, brüllte er ins Mikrofon und streckte zum Gruß die Hand in die Höhe, bevor er mit einigem Abstand hinter den anderen die Bühne verließ.

Auf der untersten Stufe des Bühnenabgangs wartete eine Journalistin mit Kameramann. Sie war hübsch, doch mit Journalistinnen durfte er sich unter keinen Umständen einlassen, das sah sogar er ein. Ein Jammer, denn ihr Dekolleté zeigte genau so viel von ihrem üppigen Busen, dass man Lust bekam, ihr das Shirt vom Leib zu reißen. Sie hatte Andrew festgehalten und hielt ihm ihr Mikrofon hin. Cedric stellte sich dazu.

»Jetzt ist auch Cedric bei uns«, sagte sie voller Begeisterung, während sie das Mikrofon wieder an sich nahm. »Eure dritte Tournee-Station, Cedric! Wie ist die Stimmung?«

Hoffentlich sah man auf dem Band nicht, dass er ihre Oberweite anstarrte, überlegte er. Was hatte sie gesagt? Zum Glück hatte er das letzte Wort noch im Ohr. Stimmung war das Stichwort.

»Die Stimmung ist der absolute Wahnsinn! Die Fans sind gut drauf, wir sind gut drauf. Da kann man nur abrocken!«

»Und hinter der Bühne?«, fragte sie charmant.

»Da ist bei uns sowieso immer gute Stimmung.Die Party fängt gerade erst an, stimmt’s, Andy?« Er legte den Arm um die Schulter seines Bandkollegen, der die Geste erwiderte.

»Stimmt genau«, sagte dieser.

Da sie schon vor dem Konzert ein längeres Interview gegeben hatten, reichte ihr die kurze Aufnahme. Cedric sah ihr nach, als sie den Gang entlang davonlief. Sobald sie außer Sichtweite war, ließ er noch einmal Adrenalin frei und verschaffte sich unsanft einen Durchgang an Andrew und Cameron vorbei. Cameron, ihr Manager, hätte von der Statur her auch als Bodyguard durchgehen können. Doch der Wucht von Cedrics Bewegung konnte er nicht standhalten und wurde durch einen Stoß gegen seine Schulter zur Seite gedreht. 

So viel zum Thema Stimmung hinter der Bühne, dachte Cedric. Seit Andrew und Cameron die Fotos von ihm und Jolene gesehen hatten, machten sie beide ihm das Leben zur Hölle. Doch was sollte er ihnen sagen? Er würde ganz sicher nicht zugeben, dass er sie noch nicht rumgekriegt hatte. Vor ein paar Tagen hatte es noch Spaß gemacht, jetzt versaute es ihm die Stimmung. 

»Cedric!«, rief Cameron, »wir haben noch ein Meet & Greet!«

»Ich weiß«, feuerte er mürrisch zurück, ohne sich umzudrehen.

Die kleine Blondine passte perfekt in sein Beuteschema. Das sah er schon von Weitem, als er viel zu spät beim Meet & Greet aufkreuzte. Er gab ein paar Autogramme, ließ sich mit den glücklichen Gewinnern des Radiogewinnspiels in einer herzlichen Umarmung ablichten und beugte sich ganz am Ende noch einmal zu der Schönheit herunter.

»Ich habe noch einen Extrapreis für dich«, raunte er ihr zu, so dass niemand sonst in dem trostlosen, fensterlosen Umkleideraum es hören konnte.

Sie sah ihn zuerst verwirrt an, doch dann schien sie zu begreifen. »Oh«, hauchten ihre himmlischen, zarten Lippen, und am liebsten hätte er sie gleich jetzt und hier geküsst. Stattdessen flüsterte er ihr den Namen des Hotels, in dem sie untergebracht waren, und seine Zimmernummer ins Ohr.

 

5

 

Journalisten vor meiner Haustür. Ich konnte es nicht fassen, egal, wie oft ich aus dem Fenster sah. Es war wohl ein Fehler gewesen, mich von Cedric heimchauffieren zu lassen. Irgendjemand in der Nachbarschaft musste es gesehen und ein Foto von seiner Limousine, die vor meiner Wohnung parkte, an die Zeitung geschickt haben. Man sah darauf, wie ich gerade ausstieg - keine Ausreden also.

Sie wussten inzwischen auch, wer ich war, denn die Tatsache, dass diese Wohnung der bekanntesten Anwältin der Stadt gehörte, hatte sich bis zu den Journalisten herumgesprochen. Meine Mutter musste bereits im Dreieck springen. 

Gestern trat ich aus der Unibibliothek in die Nachmittagssonne hinaus und musste mit ansehen, wie sie ein paar meiner Kommilitoninnen ausfragten, diese Paparazzi. Bis jemand vom Sicherheitsdienst auftauchte und sie wegschickte. Ich war nirgendwo mehr sicher, nirgendwo mehr ich selbst. Sobald ich meine Wohnung verließ, war ich gezwungen mitzuspielen.

Also verließ ich sie nicht. Das Gute daran war, ich musste meinen Lebensstil dafür kaum ändern. Auf meinem Schreibtisch stapelten sich die Pizzakartons und die Plastikbehälter vom Asia-Lieferservice nur einfach noch höher als sonst. Mittendrin saß ich an meiner Tastatur und versank in meiner Computerwelt.

Nicht einmal samstags musste ich vor die Tür, da der Pubabend sowieso ausfiel, solange Drew und ich nicht miteinander sprachen. Ab und zu ging ich jedoch spazieren, um kurz darauf mit Supermarkttüten zurückzukommen, damit die Journalisten nicht noch auf die Idee kamen, ich wäre gestorben, und die Polizei riefen. Vorher schminkte ich mich, stylte aufwendig meine Haare, zog mich schick an und setzte wie Paris Hilton meine Sonnenbrille auf. Die Fotos konnte ich mir danach auf den Facebookseiten der Klatschmagazine ansehen. 

Das war als Zeitvertreib für eine Weile ganz witzig, aber ich hielt es gerade mal bis Samstag aus, bevor ich einen herannahenden Nervenzusammenbruch spürte. Es fing an, als ich World of Warcraft einschaltete und bemerkte, dass Jeremy nicht online war. Das war noch nie vorgekommen. Verdammt, er war der größere Nerd von uns beiden! Seit wann hatte er mehr Sozialleben als ich? Es war nicht das Gleiche, ohne ihn zu spielen, und so klickte ich eher lustlos auf der Tastatur herum, bis mein Blick irgendwann vom Bildschirm weg glitt und an der Mülldeponie neben mir hängen blieb, wo sich schon die ersten Fliegen eingefunden hatten. »Hallo«, hörte ich mich nur zu ihnen sagen, und dann war es vorbei. Bereits die zweite Silbe ging in ein leises Wimmern über. Ich konnte nur noch eines denken, und der Gedanke zerfraß mich: Meine Eltern hatten recht. Ich war Abschaum. Genau so, wie ich hier saß, hatten sie es sich immer vorgestellt, das Leben einer Informatikstudentin. Und ich erfüllte ihre Horrorvision einer Tochter zu hundert Prozent.

Ich wollte mich gerade heulend aufs Bett werfen, als ich eine SMS bekam. Ich hoffte, dass es Jeremy oder jemand von den anderen war. Ein extrem naiver Teil von mir hoffte sogar, dass es Drew war. 

Weder noch. Niemand Geringeres als Cedric schrieb mir. Ach ja, da war ja was, ich hatte einen Rockstar als Freund. Er fragte, ob ich zu seinem Konzert in London kommen könnte. Die Kosten würde er natürlich übernehmen. Zum Glück würde diese SMS nie jemand außer mir lesen. So trocken und gefühllos, wie sie geschrieben war, fast wie ein Geschäftsbrief, wären wir sofort aufgeflogen. Dennoch munterte sie mich ein bisschen auf. 

London? Auch wenn er mich gefragt hätte, ob ich ihn in der Hölle besuchen würde, hätte ich jetzt ja gesagt. Ich musste dringend hier raus.

Ich googelte schnell die Tourdaten der Lonely Lions. War Cedric nicht mehr ganz bei Trost? In welch einer Welt lebte er?

Das ist schon übermorgen, schrieb ich zurück.

Stimmt :-), kam nur als Antwort zurück. Na toll, so spontan würde Celine sicher keinen Ersatz für mich finden.

Doch ich sollte mich irren. Sobald ich sagte, dass es um Cedric ging, hatte Celine vollstes Verständnis und wiegelte ab, dass sie das schon irgendwie geregelt bekam. Der Rockstar-Bonus, nicht zu fassen.

Einen Tag später saß ich in meinem neuen Paris-Hilton-Style (abgesehen von der Haarfarbe) im Flugzeug und rüstete mich innerlich für den bevorstehenden Abend. Vor den Kameras musste ich mitspielen, doch ich durfte nicht wieder schwach werden, wenn ich mit Cedric allein war. Ich fragte mich zwar, wie mir das gelingen sollte, da schon der Gedanke an seine Berührungen und seinen großen, schlanken, aber doch durchtrainierten Körper genügte, dass ich mir unterbewusst über die Lippen leckte. Ich tat das alles nur für Drew, erinnerte ich mich. Ich wollte am Ende nicht vor ihr stehen und ihr beichten müssen, dass ich mit ihm geschlafen hatte.

Die Adresse der Konzerthalle hatte ich mir aufgeschrieben und war drauf und dran, zum Taxistand zu marschieren, doch kurz, nachdem ich den Sicherheitsbereich verlassen hatte, wurde ich abrupt gestoppt. Zwei starke Männerhände lagen auf meinen Schultern. Mein erster Gedanke war, dass ich eine Absperrung übertreten hatte. Verunsichert kletterte mein Blick langsam an der unglaublich breiten, bulligen Brust hoch bis zum Gesicht des... Gorillas? Der Mann mit der Statur eines Weltmeisters im Boxkampf hatte ein plattes Gesicht mit Knollnase und war ziemlich braungebrannt.

»Hi. Ich soll dich abholen«, brummte der Kerl.

»Mich? Das muss ein Irrtum sein«, brachte ich nur mit piepsiger Stimme hervor.

»Ich bin Godzilla.« Auf einmal blitzte etwas Freundliches in seinen Augen auf und sein Gesicht sah für den winzigen Bruchteil einer Sekunde weich, fast sogar niedlich aus. »Aber du kannst auch Tom zu mir sagen. Ich bin Cedrics-«

Schoßhündchen?, schoss es mir durch den Kopf, doch ich hatte viel zu viel Respekt vor diesem Hühnen, um einen fiesen Gedanken auszusprechen.

»Bodyguard«, beendete er.

»Oh. Okay. Er hätte niemanden schicken müssen. Ich wäre schon alleine zum Konzert gekommen.«

»Sicher ist sicher«, brummte Tom und nahm meinen kleinen Rucksack. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.

Kann Cedric denn jetzt überhaupt allein aufs Klo gehen, wenn ich seinen Bodyguard bei mir habe? Verdammt, gerade jetzt fielen mir so viele Sprüche ein, wo ich mich einfach nicht traute, sie auszusprechen. Tom verwickelte mich im Auto - er fuhr diesmal selbst - stattdessen in langweiligen Small Talk, während ich mich die ganze Zeit fragte, was es zu bedeuten hatte, dass Cedric mir Personenschutz schickte. Ich konnte nicht umhin, mich ein wenig geschmeichelt zu fühlen, und ein wohliges Bauchkribbeln nicht verhindern. 

»Ich weiß, dir wäre es lieber gewesen, wenn Cedric dich selbst abgeholt hätte«, sagte Tom mit einem durchschauenden Grinsen.

Ich wollte vehement widersprechen, doch im Lauf der Unterhaltung hatte ich feststellen müssen, dass Tom tatsächlich davon ausging, dass ich und Cedric fest zusammen waren.

»Ja«, sagte ich und täuschte ein leises Seufzen vor. »Aber ich werde ihn ja gleich sehen.«

Schon lange bevor der Koloss von einer Konzerthalle vor uns auftauchte, war der Weg von Postern der Lonely Lions gespickt. Plötzlich wurde mir wieder bewusst, wo ich war und wen ich gleich treffen würde. Mein heftiger Herzschlag erinnerte mich nur allzu deutlich daran. 

Auf der Zufahrtstraße zur Halle musste Tom auf Schrittgeschwindigkeit herunterbremsen und immer wieder mehrmals hintereinander hupen. Aufgetakelte Mädchen in löchrigen Jeans und Fan-T-Shirts verstopften uns den Weg, obwohl es bis zum Konzert noch Stunden waren. Mit genervtem Gesichtsausdruck murmelte Tom immer wieder Schimpfworte vor sich hin, weil die Fans keine Anstalten machten, zur Seite zu gehen. Stattdessen kamen sie näher und gafften durch die getönten Scheiben. Ich zuckte zusammen, als jemand mit der flachen Hand gegen die Beifahrerseite schlug. 

»Keine Angst«, brummte Tom, »sind aus Panzerglas.«

Ich war froh, das zu hören, und dennoch fühlte ich mich unbehaglich, als sich immer mehr Gesichter wie aufgeregte Fratzen dicht vor meinem Fenster aneinander drängten und mir in die Augen sahen. Auf einmal blitzte eine Kamera. Sie mussten mich erkannt haben. Immer mehr Fotos wurden geschossen. Ich schloss die Augen hinter meiner Sonnenbrille und betete, dass es schnell vorbei gehen würde. Tom schaltete das Radio an, wohl um mich zu beruhigen. With or without you von U2 drang leise aus den Lautsprechern, und der Bodyguard summte dazu.

Wir fuhren in den von einem Eisenzaun verschlossenen und mit schwarzen Planen zusätzlich abgedeckten Hinterhof. Hier atmete ich erst einmal auf, während Tom ums Auto herum kam und mir die Tür öffnete. Seine beeindruckend breite Statur, die beinahe unmenschlich wirkte, empfand ich inzwischen nicht mehr als beängstigend, sondern ich war auf einmal dankbar dafür und fühlte mich beschützt. Er reichte mir meinen Rucksack, und mit flatterndem Herzen folgte ich ihm durch eine Hintertür in die Halle. Wieso war ich so nervös, nun, da ich in Sicherheit war? Konnte es denn überhaupt noch aufregender werden?

Mit breitbeinigem Gang lief Tom vor mir einen grauen, mit Neonröhren beleuchteten Korridor entlang, ohne sich noch einmal umzuwenden. Da mein Magen sich auf einmal krampfhaft zusammenzog, hatte ich Mühe, ihm zu folgen. Verdammt, wohin war meine Gelassenheit verschwunden? Inzwischen spürte ich meinen Herzschlag schon an den Schläfen.

Die Hitze schoss mir in den Kopf, als Tom stehen blieb und eine schwere, graue Tür zu seiner Linken öffnete. Ich erwartete, gleich vor Cedric zu stehen, und ich war weiß Gott nicht bereit dafür. Mein Körper spielte völlig verrückt bei der Vorstellung. Dennoch stellte ich mich neben den Bodyguard, so dass ich einen Blick in den Raum werfen konnte. Er war leer. Das hieß, niemand hielt sich darin auf. Doch ich hatte sofort den Duft von Cedrics Aftershave in der Nase. Für einen Moment glaubte ich, er stünde hinter mir, was mich erschrocken herumfahren ließ. 

»Das ist Cedrics Umkleide«, erklärte Tom.

»Cedric’s Umkleide?«, fragte ich ungläubig. 

»Was hast du denn erwartet? Fühl dich wie zuhause«, sagte Tom mit einem breiten Grinsen. Mit leiser Verblüffung bemerkte ich noch einmal die Ähnlichkeit von Toms Gesicht mit dem eines Gorillas, bevor er die Tür hinter mir schloss.

Toms verheißungsvoller Gesichtsausdruck hatte mir wieder klar werden lassen, wie glücklich ich mich eigentlich schätzen sollte. Dies war nicht einfach nur Cedrics Umkleide. Für die Mädels da draußen war es der eine unerreichbare Ort, von dem sie alle träumten. Und ausgerechnet ich stand nun hier zwischen Cedrics Klamotten, seiner Reisetasche, einem leeren, geöffneten Gitarrenkoffer, seiner Jacke, seinem Handy, das auf einem Tisch lag, und konnte seinen Geruch einatmen. Mit einem leichten Gefühl von Schwindel ließ ich mich auf die einfache Holzbank unter der Garderobe sinken und nahm ein weißes, achtlos hingeworfenes T-Shirt in die Hand. Mit Verwunderung ertappte ich mich dabei, wie ich daran roch, und warf es dann schnell wieder zurück auf die Bank. Wie gut, dass ich ein wenig Zeit für mich hatte, um mich zu sammeln.

Leider gelang mir das überhaupt nicht, was möglicherweise an der von Cedric aufgeladenen Umgebung lag. Der Raum hatte auch kein Fenster, das ich aufmachen konnte, obwohl mir frische Luft wirklich gut getan hätte. Ich musste hier raus. Natürlich konnte ich nicht weit weggehen. Der Hinterhof war der reinste Fuhrpark, voller Autos und Lieferwagen, und war nicht gerade einladend. Doch außerhalb der Grenzen der Halle würde ich sofort zerfleischt werden. Ich bekam eine Ahnung davon, wie Cedrics Leben sich anfühlen musste, und verstand einmal mehr seinen Brass auf den Ruhm, zumindest auf die Schattenseiten davon. Vielleicht tat ich das alles ja doch nicht nur für Drew. Vielleicht tat ich es auch ein klein wenig für Cedric. Ich hoffte, dass sein Plan funktionieren und er durch unsere Show tatsächlich ein wenig Ruhe von den Fans bekommen würde. Die kurze Fahrt durch die aufgeregte Meute hatte mir bereits gereicht. Cedric musste längst unter Albträume leiden.

Vorsichtig öffnete ich die Tür der Garderobe und trat hinaus ins Dunkle. Mit einem kurzen Flackern sprangen die Neonröhren an, so dass ich den riesigen, kühlen Gang mit seinen Rohren und uneinladenden Türen sehen konnte. Auf gut Glück lief ich in die Richtung, in die ich vorhin mit Tom gelaufen war. Kaum war ich ein wenig tiefer in die Halle vorgedrungen, hörte ich leise Bassgeräusche. Ich ballte nervös meine schwitzigen Hände zu Fäusten und folgte dem Geräusch, das zunächst lauter und dann wieder leiser wurde, bis ich vor einer Doppeltür stand. Sie führte in einen weiteren, kürzeren Korridor, an dessen Ende sich ebenfalls eine Doppeltür befand. Darüber stand in großen Buchstaben Halle. Ich nahm an, dass die Tür später verschlossen sein würde, denn als ich hindurch ging, stand ich im riesigen Eingangsbereich. Vor den Glastüren liefen Angestellte in einheitlichen blauen T-Shirts mit irgendeiner Aufschrift herum. Und vor den Absperrungen, die sich in einiger Entfernung vor der Eingangstür befanden, konnte ich die Fans sehen. Bei ihrem Anblick lief mir ein Schauer über den Rücken, und fast wäre ich wieder zurück ins Backstage gegangen, überlegte es mir dann aber doch anders. Denn während ich keine Ahnung hatte, wie ich vom Backstage aus in den Konzertsaal kam, war hier alles ausgeschildert. Seltsamerweise hatte ich das Gefühl, dass ich hier nichts verloren hatte, und lief deshalb eiligen Schrittes die Treppe hinauf, die einem Schild nach zu den Rängen A - E führte. Oben wählte ich eine beliebige Tür, und sobald ich sie öffnete, fuhr mir der schrille Ton einer aufjohlenden E-Gitarre in Mark und Bein, so dass ich mir im Affekt die Ohren zuhielt. Der plötzlich viel lautere Bass ließ meine Knochen erzittern.

Ich trat vor ans Geländer des Balkons, auf dem ich mich fand, damit ich hinunter auf die Bühne blicken konnte. Ich merkte, wie meine Nervosität von mir abfiel, denn hier oben hatte ich das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben. Nach wenigen Takten bemerkte ich, dass es nicht wirklich ein Lied war, den die Jungs zum Besten gaben, sondern nur einzelne Bruchstücke verschiedener Songs. Vergeblich suchten meine Augen die Bühne nach Cedric ab, bis ich bemerkte, dass er am anderen Ende der Halle stand und den anderen mit den Händen Anweisungen gab. Dazwischen sprach er immer wieder mit einem Soundtechniker, der auf einem hohen Podest hinter seinem Mischpult saß.

Ich fragte mich, was es war, das mir jedes Mal einen kleinen Schock versetzte, wenn ich Cedric sah. Es ließ sich nicht festmachen, weder an seinem makellosen Körperbau noch an seinen Haaren oder der schönen Kopfform. Etwas anderes konnte ich von hier oben nicht sehen, es konnte also auch nicht an seinem Gesicht oder seinen Augen liegen. Jedenfalls nicht nur. Es war die gleiche Art der Erschütterung, die durch meinen Körper ging, als ich vorhin sein Aftershave gerochen hatte.

Doch irgendetwas musste es schließlich sein, was Hunderttausende von jungen Frauen dazu brachte, bei seinem Anblick den Verstand zu verlieren.

Ich verdrängte den schmerzhaften Gedanken an Drew, und während ich weiter über Cedrics magische Anziehungskraft philosophierte, sah er hochkonzentriert dabei aus, wie er den anderen beim Soundcheck zuhörte. Schließlich nickte er, senkte den Kopf noch einmal und lauschte, nickte wieder und joggte dann nach vorne zur Bühne. Mit drei großen Schritten rannte er die seitliche Treppe hinauf. Bei einem Mikrofonständer, der ganz vorne in der Mitte stand, ging er in die Hocke und machte sich an den Kabeln zu schaffen, während der Gitarrist rechts von ihm weiterhin sein Solo übte.

Cedric stand auf, und endlich hatte ich den Blick frei auf sein Gesicht, das mir noch einmal einen zusätzlichen Schauer über den Rücken jagte, auch wenn er so weit weg war, dass ich seinen starken Ausdruck nur schemenhaft erkennen konnte. Er wirkte seltsam vertraut und doch hatte ich das Gefühl, dass mein Gehirn ihn nirgendwo einordnen konnte. Als wäre er nicht von dieser Welt.

Cedric öffnete den Mund, und auf einmal war seine Stimme in der ganzen Halle zu hören. Obwohl er nur einzelne Zahlen und seltsame, undefinierte Laute ins Mikrofon sprach, löste ihr Klang ein Kribbeln in meiner Brust aus, als hätte ich eine ganze Vitamin-Brausetablette am Stück verschluckt.

Er sah auf und auf einmal entdeckte er mich. Mein Anblick schien ihn für einen Moment aus dem Konzept zu bringen. Doch ich war mir sicher, dass er nicht, wie ich, das Gefühl hatte, dass sämtliche Sicherheitsdrähte bei ihm durchbrannten. Dafür wirkte er zu gelassen. Ihm blieb lediglich der Mund halboffen stehen und seine Augen schienen nach einem kurzen Moment der Überraschung viel weicher als vorher zu werden. Nicht so weich jedoch wie die Butter, die sich dort befand, wo vor einer Sekunde noch meine Knie waren.

Ich winkte lässig, um meine Nervosität zu überspielen. Cedric grinste zu mir hoch, bevor er sich wieder ganz dem Mikrofon widmete. Nun endlich gab ich meinen Knien nach und ließ mich auf einen der Plastikstühle hinter mir fallen. Den Rest des Soundchecks verfolgte ich im Sitzen, was mir mein Pulsschlag und sämtliche weitere Körperfunktionen, die durch den Blickkontakt mit Cedric in Aufruhr geraten waren, zu danken schienen.

Ich hatte mich wieder beruhigt, als die Geräusche von der Bühne allmählich verstummten und Cedric, eine Wasserflasche am Mund, mir ein Zeichen gab, dass ich herunterkommen sollte. Die Suche nach dem Weg über verschiedene Treppen nach unten lenkte mich ab, so dass ich relativ gefasst wirkte, als ich zu ihm und den anderen auf die Bühne kam. Ich wollte mich gerade bewundernd umsehen, da zog Cedric mich stürmisch an sich und ich spürte nur noch seine Lippen auf meinen, dann seine Zunge in meinem Mund und seine Hand fest auf meiner linken Pobacke. Ich schnappte mitten im Kuss nach Luft. Alles geschah so plötzlich, dass ich den Kuss gar nicht genießen konnte, und als mein anfänglicher Schreck endlich verflog, war es schon wieder vorbei und ich musste mich mit dem Prickeln auf meinen Lippen begnügen, das er hinterlassen hatte.

Verwirrt sah ich mich um. Nur die anderen Bandmitglieder und ein mir unbekannter, breitschultriger Mann, der jedoch mit Cedrics Gorilla nicht mithalten konnte, standen mit uns auf der Bühne. Sonst war in der Halle niemand. Selbst der Soundtechniker hatte seinen Posten bereits verlassen. Vor wem zog er diesmal eine Show ab? Mit großen, fragenden Augen sah ich ihn an, doch Cedrics Blick wanderte langsam an meinem Dekolleté hinab. Seine schönen Augenbrauen zogen sich näher zusammen, bis eine V-förmige Falte in ihrer Mitte entstand. 

»Du hast keinen Backstagepass.« Fragend sah er mir jetzt wieder in die Augen, als könnte ich etwas dafür. »Hier, nimm erst mal meinen.« Er zog sich seinen Backstage-Pass, der an einem breiten, hellblauen Band um seinen Hals hing, über den Kopf und hängte ihn mir um. Obwohl er es dieses Mal nicht bewusst tat, löste die leichte Berührung seiner Hand ein kribbeliges Gefühl an meinem Hals aus.

»Cameron.« Cedric drehte sich zu dem Mann um, den ich nicht kannte. Erst jetzt fiel mir auf, dass er und auch die anderen mich anstarrten, als käme ich vom Mars. Von einem Moment auf den anderen fühlte ich mich unbehaglich. Ganz bewusst mied ich den Blick von Andrew. »Kannst du Jolene bitte einen Backstage-Pass besorgen?«

Camerons Blick nach zu urteilen schien er Cedric die Anweisung übel zu nehmen. Hatte er mich vorher schon wie einen Fremdkörper angesehen, musterte er uns beide nun aus eng zusammengekniffenen Augen. Cedric schien mein entstandenes Unwohlsein zu spüren und trat näher an mich heran. Entschuldigend und aufmunternd zugleich lächelte er mich an. Ich lächelte zurück, denn es tat mir leid, wie seine Bandkollegen mit ihm umgingen.

Er legte die Hand an meinen Rücken und verließ mit mir die Bühne. Durch einen seitlichen Ausgang kamen wir zurück ins Backstage. Während er mich den Gang entlang führte, sagte keiner von uns ein Wort. Ich hob mir meine Frage auf, bis wir in seiner Garderobe standen.

»Wieso hast du mich geküsst?«

»Ich verstehe die Frage nicht.«

»Ich dachte, wir machen das für die Presse? Ich habe aber keine Journalisten gesehen.«

Mit einem Blick, der zugleich amüsiert und ungläubig aussah, drehte er sich zu mir um. Er kam zurück zur geschlossenen Garderobentür, wo ich stehen geblieben war, und stützte sich neben meinem Kopf mit der Hand auf. Mein Atem wurde automatisch schneller, und für mehrere Sekunden glaubte ich, dass er mich gleich küssen würde. Doch Cedric schien selbst nicht genau zu wissen, was er vorhatte. Er sah mir beinahe analytisch in die Augen, als versuchte er ebenfalls zu verstehen, was in meinem Kopf vorging.

»Hat es dir nicht gefallen?«, fragte er dann ernst, es klang beinahe angepisst.

Völlig überrascht öffnete ich den Mund, brachte aber nichts heraus. Ich konnte nicht abstreiten, dass es mir gefiel, von ihm geküsst zu werden. Indem ich nichts sagte, hatte ich mich verraten. Das begriff ich im selben Moment, als Cedric sich bereits zu mir herunter beugte und sanft seine Lippen auf meinen Mund legte.

Widerstand war zwecklos, nachdem ich ja indirekt zugestimmt hatte. Insgeheim hatte ich mich nach der Berührung seiner Lippen gesehnt, seit sie auf der Bühne meinen Mund verlassen hatten. Der Kuss war zärtlich und verführerisch und zog mich langsam aber sicher in einen Sog. Mein verräterischer Mund sprach eine eindeutige Sprache: Ich wollte mit jeder Sekunde mehr. Cedric wurde mutiger und begann, meinen Lendenbereich erst sanft, dann intensiver zu streicheln und zu kneten. Ich spürte, wie mein Unterleib gefährlich erzitterte. Wie, um alles in der Welt, kam ich hier wieder raus?

6

 

Vollkommen voneinander eingenommen, schraken wir beide gleichzeitig zusammen, als jemand gegen die Tür klopfte, an der ich lehnte. Unsanft wurde ich in die Wirklichkeit zurück gerissen. Mit resigniertem Blick öffnete Cedric die Tür. Draußen stand Cameron und musterte uns abschätzig. Er streckte Cedric die Hand entgegen, an der ein Band mit einem Backstagepass baumelte, wirkte dabei jedoch nicht sonderlich motiviert. 

»Danke«, sagte Cedric kühl, und ich nutzte die Gelegenheit, um mich aus seiner Umarmung zu lösen. Ich entfernte mich ein paar Schritte und blieb in der Mitte des Raumes stehen. Während die beiden Männer noch wenige Worte miteinander wechselten, war ich nahe dran, mir selbst ein Veilchen zu verpassen. Die Gedanken an Drew holten mich wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Die Ärmste musste am Boden zerstört sein. Es war schlimm genug, dass sie sich wahrscheinlich all die Dinge ausmalte, die ich mit Cedric erlebte. Und ich war dabei, ihrer Fantasie auch noch gerecht zu werden. Ich schickte ein schnelles Dankesgebet zum Himmel für die Unterbrechung, die genau zur rechten Zeit gekommen war, da Cedric bereits die Tür wieder schloss.

»Wer ist das?«, fragte ich möglichst ernst und sachlich, um die romantische Stimmung, die noch immer in der Luft lag, so gut es ging zu vertreiben.

»Cameron. Unser Manager.«

»Es liegt an mir, oder? Dass sie so...« Ich suchte nach dem richtigen Wort.

»Anstrengend sind?«, ergänzte Cedric mit einem Anflug von Bitterkeit in der Stimme. »Ja, sie glauben mir nicht, dass wir beide-« Er räusperte sich.

Plötzlich wurde mir einiges klar. »Sie glauben, dass wir wirklich zusammen sind?«

Cedric lachte ironisch. »Sie glauben es mir nicht. Das ist das Problem.«

Ich ließ mich auf die Bank sinken. »Also müssen wir ihnen jetzt auch was vorspielen.«

»Ja«, sagte er zögerlich. »Tut mir wirklich leid. Aber das Ding ist, sie würden mich köpfen, wenn ich dem Erfolg der Band absichtlich schade.«

»Du meinst, wenn du den Fans nur vorspielst, dass du vergeben bist.«

»Ganz genau. Sie würden es nur akzeptieren, wenn ich wirklich eine Freundin hätte.«

Ich nickte abwesend. »Okay. Dann spielen wir ihnen etwas vor. Aber«, begann ich und funkelte ihn ernst an, »und das meine ich todernst. Zwischen uns darf nichts passieren. Drew würde mir nicht verzeihen. Sobald die Tür zu ist, sind wir Geschäftsleute.« Zur Verdeutlichung zeigte ich auf die Tür der Garderbe.

Nach einem kurzen Moment, in dem er meine Aussage verarbeitete, nickte er einsichtig. »Alles klar.«

Seltsamerweise hatte ich den Eindruck, dass Cedric es daraufhin recht eilig hatte, die Garderobe wieder zu verlassen. Er brachte mich in einen größeren Aufenthaltsraum, in dem ein Caterer gerade ein asiatisches Buffet aufbaute. Ich staunte nicht schlecht. Die Jungs ließen es sich gut gehen.

Dankbar nahm ich Cedrics Einladung an und bediente mich bei den verschiedenen, exotisch duftenden Speisen. Als der Keyboarder mit seinem Teller neben mir auftauchte, warf ich ihm von der Seite ein schüchternes Lächeln zu. Zu meiner Überraschung lächelte er zurück.

»Ich bin Dany«, stellte er sich vor.

»Jolene«, sagte ich mit einem nebensächlich Nicken, da ich mir sicher war, dass ihm mein Name bereits bekannt war. 

»Sag mal, wie ist das eigentlich mit dir und Cedric? Er hat dich im Hotel einfach geküsst und jetzt seid ihr richtig zusammen?«

Die Frage wirkte nicht aufdringlich, sondern schien ernst gemeint, so als ging er davon aus, dass es wirklich so geschehen war. Ich zuckte mit den Achseln und sagte grinsend: »Ja.«

Nachdem wir am Buffet vorbei waren, blieben wir zusammen an der Seite stehen und unterhielten uns weiter. Dany wirkte entspannt und schien nur ein wenig Small Talk zu suchen.

»Und du warst vorher gar kein Fan von uns?«

»Nein. Ich kannte keines eurer Lieder«, beteuerte ich. »Aber jetzt kann ich die meisten mitsingen«, fügte ich schnell hinzu und setzte ein verliebtes Lächeln auf.

Andrew lief mit seinem vollen Teller an uns vorbei und musste den letzten Teil der Unterhaltung mitbekommen haben. Er schüttelte abwertend den Kopf. »Lass dich nicht verarschen, Jolene.«

Irritiert sah ich ihm nach, wie er auf eine Sofaecke zusteuerte, auf dem Cameron und der Schlagzeuger saßen.

»Wieso sagt er so etwas?«, fragte ich an Dany gewandt. Ich sah, dass die Situation ihm unangenehm war, blickte ihn aber weiterhin unschuldig an. »Wieso ist er so gemein zu Cedric?«

Dany hob die Schultern bis zu den Ohren und lachte nervös. »Das ist alles noch recht neu für uns. Cedric hatte bisher nie eine feste Freundin, seit wir ihn kennen. Genau gesagt, ist er noch nie mit der gleichen Frau zwei Mal ins Bett gegangen. Sieh es als Kompliment«, fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu.

Ich versuchte, zu lächeln. Aus irgendeinem Grund brachte ich es nicht über mich, das verletzte Mädchen zu spielen, was wahrscheinlich glaubwürdiger gewesen wäre, angesichts der Dinge, die er mir gerade über Cedric gesagt hatte.

Ein mulmiges Gefühl in meinem Bauch blieb, auch nachdem Dany sich entschuldigt hatte, um sich zu den anderen zu setzen. Das war der Moment, in dem mir klar wurde, dass nicht alles nur ein Schauspiel war. Es störte mich, was Dany gesagt hatte. Ich war sicher nicht eifersüchtig auf Cedrics Groupies, doch konnte er wirklich so eiskalt sein?

Während ich zu Cedric lief, der an einem Stehtisch am Fenster stand und mich zu sich winkte, fragte ich mich, ob ich Drew von diesen Dingen erzählen sollte. Eigentlich war das alles nicht weiter überraschend. Es lag viel mehr auf der Hand, Cedric war immerhin ein Rockstar. Doch Drew neigte dazu, ihn zu idealisieren. Nun, zunächst einmal musste sie erst wieder mit mir reden, damit ich ihr überhaupt etwas erzählen konnte.

Cedric hatte uns zwei Flaschen Wasser besorgt. Ich musterte den sparsam bestückten Teller, der vor ihm stand.

»Das erklärt, weshalb du so dünn bist.«

Er musste grinsen. »Vor einem Konzert esse ich nicht viel.«

Wenn ich ihn mir so ansah, brachte ich den sympathischen Ausdruck seiner Augen einfach nicht mit der Aussage von Dany zusammen. Woher wollte der Keyboarder denn überhaupt wissen, dass Cedric mit keiner Frau mehr als einmal geschlafen hatte?

»Und nach einem Konzert?«

»Habe ich meistens keine Zeit zum Essen.« Mit einem verschmitzten Funkeln in den Augen fügte er hinzu: »Da mache ich meistens andere Dinge.«

Mir schoss sofort die Hitze in den Kopf. Geistig öffnete ich die Klappe des Papiermülls in meinem Gehirn, zerknüllte meine Gedanken von gerade eben und warf sie hinein.

»Was soll ich während des Konzertes machen?«, wechselte ich das Thema. 

Cedric machte einen nachdenklichen Gesichtsausdruck. »Wir haben eine VIP-Loge, von der aus du zusehen könntest. Aber ich denke, es ist besser, wenn du hinter der Bühne bleibst.«

Ich nickte. Ich war nicht scharf darauf, vor Cedrics Fans auf dem Präsentierteller zu sitzen.

Cedric war mit seinen zwei Schrimps-Spießen weit vor mir fertig. Ich ließ jeden Bissen genüsslich auf der Zunge zergehen, und er wartete geduldig, dass auch ich mit meinem Teller fertig wurde. Ich warf einen Blick zur Seite, wo der Rest der Band saß. Aus irgendeinem Grund war mir Cameron unsympathisch, und es reizte mich unheimlich, seine Meinung von Cedric zu widerlegen.

»Oh mein Gott, das Hähnchen ist unglaublich lecker«, sagte ich. »Willst du probieren?«

Cedric verzog das Gesicht.

Ich nahm etwas von dem Gericht auf die Gabel und ließ sie über dem Teller in seine Richtung zeigen. Ich setzte ein breites Grinsen auf und sagte mit geschlossenen Zähnen: »Das machen Pärchen so.«

Auf einmal veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Seine Brauen legten sich tiefer über seine Augen, und er nahm die Gabel aus meiner Hand und legte sie zurück auf meinen Teller. Verwirrt blickte ich ihn an, während er um den Tisch herum kam und die Hand um meine Taille legte. Schneller, als ich es begriff, hatte er mich an sich gezogen und sich mit mir zum Fenster gedreht. Er nahm mein Gesicht zwischen beide Hände und näherte sich ihm mit seinem. In freudiger Erwartung begann mein Herz, zu rasen. Meine Augen fixierten seinen fein geschnittenen, roten Mund. Ich wusste, dass er mich gleich küssen würde. Doch vorher trat er näher und presste mir seinen Oberschenkel hart zwischen die Beine, was mich unglaublich erregte.

Ein leises Stöhnen verließ meinen Mund, bevor Cedric ihn mit seinem verschloss. Die anderen saßen zum Glück zu weit weg, um es zu hören. Unwillkürlich streckte ich ihm meine Hüfte entgegen, während seine Zunge unverschämt tief in meinen Mund eindrang. Doch ich liebte es und ließ mich auf das Spiel ein.

Er ließ von mir ab und sah mir in die Augen, während seine Hände noch immer auf meinen Wangen lagen. »So etwas machen Pärchen«, sagte er mit einem schiefen Lächeln und zog ein paar Mal neckend die Augenbrauen nach oben.

»Nein«, widersprach ich, »eben nicht. So etwas machen Rockstars vielleicht mit ihren Groupies. Aber nicht frisch Verliebte.«

»Was?«, sagte er mit leichter Empörung.

Ich musste lachen. Dann ließ ich meine Hände in seine Haare gleiten und schloss die Finger sanft um seine lockigen Strähnen. Ich biss mir vor Aufregung grinsend auf die Unterlippe, bevor ich ihn langsam zu mir herzog. Meine Lippen spielten mit seinen, entfernten sich immer wieder, ohne einen tieferen Kuss zuzulassen. Ich merkte, wie Cedrics Schultern locker wurden und er sich immer mehr in den Kuss hinein entspannte. Er überließ mir die Führung. Irgendwann spürte ich seine Hände an meiner Lende, wie sie sich den Weg unter mein T-Shirt suchten. Doch so zärtlich und vorsichtig wie jetzt hatten sie mich noch nirgendwo berührt.

»Sucht euch ein Zimmer!«

Wir öffneten beide gleichzeitig die Augen und sahen den Schlagzeuger, der an uns vorbei lief. Er hatte sich gerade etwas zu trinken geholt.

Als wir uns wieder ansahen, mussten wir lachen.

»Siehst du? So sieht das aus, wenn man verliebt ist.«

Cedric machte einen nachdenklichen Gesichtsausdruck. »Ich habe es noch nicht so ganz verstanden. Zeig noch mal, wie das geht.«

Ich wäre seiner Bitte nur allzu gerne nachgekommen. Doch stattdessen boxte ich ihn leicht in die Bauchmuskeln. In meinem Magen wirbelten bereits genug Schmetterlinge umher. Das war nicht gut.

Da ich es seltsam fand, Cedric dabei zuzusehen, wie er sich für das Konzert fertigmachte, ließ ich ihn nach dem Essen in der Garderobe alleine. Im Gang stieß ich auf Tom, der wie ein Wachhund vor Cedrics Tür stand. Ich lächelte und ging an ihm vorbei, doch während ich ziellos den Korridor hinunterlief, hörte ich auf einmal leise, langsame Schritte. Ich lauschte eine Weile, bevor ich stehen blieb und einen Blick über die Schulter riskierte. 

Ich hatte richtig gehört. Tom schlich hinter mir her. Doch jetzt, da ich ihn verdutzt anblinzelte, war er stehen geblieben und sah mich ebenfalls an. 

»Folgst du mir etwa?«, fragte ich.

Er verschränkte die Hände vor dem Bauch. »Tu einfach so, als wäre ich nicht da.«

»Was? Das kann ich nicht. Und außerdem... Im Backstage bin ich doch sicher, oder?«

Tom ließ sich nicht abschütteln. Er bestand darauf, mir auf Schritt und Tritt zu folgen - ich vermutete, dass er die Anweisung dazu von Cedric bekommen hatte. Doch ich konnte nicht einfach so tun, als wäre er mein Schatten, und so verbrachte ich die Zeit bis zum Konzert damit, mit ihm zu plaudern. Er war ein netter Kerl, ein paar Jährchen älter als ich, und es fiel mir nicht schwer, mich ihm zu öffnen. Beinahe hätte ich ihm die ganze Geschichte von Cedric und mir und unserer Abmachung erzählt.

7

 

Cedric sah auf die Uhr. Zwei Jahre nach dem großen Durchbruch der Lonely Lions wusste er, dass Lampenfieber unheilbar war. Doch es hatte sich verändert. Er bekam keine weichen Knie mehr, und der voranschreitende Zeiger ließ seine Nervosität nicht mehr ins Unermessliche wachsen. Er ließ sich von der Uhr nicht mehr stressen. Im Gegenteil, die Minuten, die verstrichen, verlieh ihm ein Gefühl von Macht. Denn inzwischen war ihm bewusst, dass alle da draußen nur auf ihn warteten.

Doch was war mit Jolene? Fieberte sie seinem Auftritt auch entgegen wie all die anderen? Oder war sie wirklich die kühle Geschäftsfrau, als die sie sich gab? Er wurde aus ihr nicht schlau. Die Art, wie sie auf seine Küsse reagierte, stand in völligem Gegensatz zu ihren Worten.

Zehn Minuten nach sieben verließ er seine Umkleide. Die komplette Band wartete bereits ein Stück den Gang hinunter auf ihn. Er konnte die Fans durch die Wände der Halle hören. Immer wieder riefen sie seinen Namen. 

»Ced-ric!« - drei mal klatschen - »Ced-ric!« - und so weiter.

Er fühlte sich erfrischt und energiegeladen, und mit jedem Schritt in Richtung Bühne wurde dieses Gefühl stärker. Allen Meinungsverschiedenheiten zum Trotz, klatschte er sich mit jedem der anderen ab. Andrew sah er ein wenig länger in die Augen, der ihm daraufhin verstehend zunickte. Der Groll, den sie aufeinander hatten, musste - und würde - hinter der Bühne bleiben.

»Dann lasst uns mal London so richtig einheizen!«, feuerte er seine Bandkollegen an. Er blickte noch einmal in ihre freudigen Gesichter und strahlende Augen, bevor er durch die Tür vorausging, die Cameron in diesem Moment öffnete.

Sie folgten einem schmaleren, kürzeren Gang, und als Cameron die nächste Tür öffnete, wurden die Rufe der Fans von einem Moment auf den anderen ohrenbetäubend laut. Sie betraten einen von einzelnen Bodenstrahlern schwach beleuchteten Raum, der nur durch einen dicken, schwarzen Vorhang von der Bühne abgetrennt war. Zwei Rowdys versorgten sie mit Bodypacks, während Cedrics Herzschlag sich dem rhythmischen Klatschen des Publikums anpasste. Einer der Helfer befestigte mit hastigen Bewegungen das Empfangsgerät an Cedrics Hosenbund. Während er sich die Ohrhörer in die Ohren stöpselte, entdeckte er Jolene. Sie saß in der Nähe der Bühne auf einer unbenutzten Lautsprecherbox und unterhielt sich mit Godzilla, der mit verschränkten Armen da stand, doch ihre Augen waren auf Cedric gerichtet. Sie leuchteten. Seine gute Laune bekam noch einen Schub.

Die Rowdys reichten Maxwell eine E-Gitarre und Dany seinen Bass. Cedric atmete noch einmal durch und gab den anderen ein Zeichen, die daraufhin in kurzen Abständen durch den schwarzen Vorhang schlüpften. Wie erwartet schwoll das rhythmische Klatschen sogleich zu einem tosenden Applaus, begleitet von kreischenden Jubelschreien, an. Cedric betrat die Bühne wie immer als Letzter, doch auf dem Weg zum Bühnenaufgang machte er noch einen Abstecher zu seiner vermeintlichen Freundin und gab ihr einen flüchtigen, aber intensiven Kuss. Er freute sich, als sie ihn erwiderte, wenn auch schüchterner diesmal. Sie musste denken, dass er es wegen Cameron tat, der in der Nähe stand. Doch in Wahrheit brauchte er die Bestätigung, dass ihre leuchtenden Augen ihm gegolten hatten. Und das hatten sie. Weiß Gott, das hatten sie. Ihr Kuss bezeugte ihm dies. Und er würde sie auch ins Bett kriegen.

Er hatte nicht erwartet, dass das Ganze sich so lange hinziehen würde. Und er hatte Andrew und den anderen nicht auf die Nase binden wollen, dass er die Kleine nur deshalb noch nicht abgeschossen hatte, weil er sie noch nicht rumgekriegt hatte. Er wollte es sich ja selbst nicht einmal eingestehen. Also hatte er ihnen erzählt, dass mehr daraus geworden war. Es war ihm egal, ob sie ihm glaubten oder ob sie, wie Andrew, dachten, dass er wirklich der Band schaden wollte. Hauptsache, sie kannten den wahren, peinlichen Grund nicht. Es würde ohnehin nicht mehr lange dauern, und dann würde die ganze Sache schnell wieder vergessen sein.

Das vertraute hohe Kreischen einer wild gewordenen Masse empfing ihn, als er kurz vor seinem Einsatz auf die Bühne rannte. Die anderen hatten den Song bereits angespielt.

»Guten Abend, London!«, rief er gut gelaunt ins Mikrofon, und eine Flutwelle aus lautstarker Begeisterung überschwemmte ihn. Wenige große und unzählige kleine Stofftiere regneten auf ihn ein und landeten vor seinen Füßen. Er kickte einige davon zur Seite, während er beim Singen über die Bühne rannte. Zwanzigtausend Händepaare gehorchten seiner Aufforderung, als er in einer Gesangspause seine Hände über dem Kopf zusammenschlug. 

Hin und wieder riskierte er während des Konzertes einen Blick durch den Spalt zwischen Vorhang und Bühnenwand, wo Jolene saß und zusah. Sie war heute ein zusätzlicher Ansporn für ihn. Die Fans schienen das zu spüren. Die Stimmung in der Halle schien noch aufgeheizter als bei den bisherigen Konzerten der Tour.

Doch Cedric wollte nur eine Person im Raum beeindrucken. Er wollte, dass Jolene heute bei ihm schwach wurde.

Etwa nach der Hälfte des Konzertes nahm Cedric den Mikrofonständer in die Hand und trat, einer spontanen idee folgend, ganz nach vorne an den Bühnenrand. »Das nächste Lied ist Discover«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Und«, begann er, doch er kam gegen die Fans nicht an, die auf einmal laut jubelten und kreischten. Mit Discover, einer ruhigen und gefühlvollen Liebesballade, hatten sie bisher einen ihrer größten Hits gelandet.

Er musste grinsen und wartete, dass die Aufregung wieder etwas abflachte. »Und ich möchte das Lied heute einer ganz besonderen Person widmen. Einer Person, die auch hier ist - hinter der Bühne«, fügte er hinzu. »Ich widme das Lied meiner Freundin, Jolene.«

Wie erwartet, blieb der Applaus der Fans aus. Cedric schloss die Augen, umgriff das Mikrofon mit beiden Händen und wartete darauf, dass Maxwell mit der Gitarre den Song anspielte. Doch stattdessen drang ein bisher völlig unbekanntes Geräusch an seine Ohren. Wie ein leises Donnergrollen begann es ganz hinten, am anderen Ende der Halle. Dunkle Buhrufe waren zu hören und schlichen sich wie ein tiefer Nebel über die Köpfe der Fans langsam zu ihm nach vorne.

Cedric wusste, dass es nichts mit ihm zu tun hatte. Er ließ die Augen geschlossen, hielt es aus und wartete, dass Maxwell endlich dieses verdammte Intro spielte. Nach einer gefühlten Ewigkeit drangen die hellen, harmonischen Gitarrenklänge an sein Ohr. Cedric hielt sich daran fest, doch die Buhrufe waren nicht zu überhören.

Er war fest entschlossen, diesen Song zu singen, auch wenn er sich in diesem Moment inmitten von zwanzigtausend  Menschen, plus diejenigen auf der Bühne, mutterseelenallein fühlte. Ein Schweißfilm bildete sich unter seinen Händen, die sich immer mehr verkrampften. Er würde standhalten. Niemand schrieb ihm vor, wie er sein Leben zu leben hatte. 

Er versuchte die Schmährufe auszublenden. Der Song hatte nur drei Minuten und achtundzwanzig Sekunden. Das war auszuhalten.

Scheiß drauf. Fünf Sekunden, bevor er seinen Einsatz hatte, brannte bei ihm eine Sicherung durch. Er entfernte die Hände vom Mikrofon, wandte sich vom Publikum ab und verließ mit zügigen Schritten die Bühne. Maxwell spielte weiter, doch brach dann ab. Die Buhrufe des Publikums verwandelten sich in verwirrtes Stimmengemurmel, immer mal wieder kreischte jemand »Cedric!«

Doch Cedric drehte sich nicht mehr um. Er nahm im Vorbeigehen Jolenes Hand und zog sie mit sich, als er auf die Tür ins Backstage zusteuerte. Godzilla setzte sich ebenfalls in Bewegung.

»Wo willst du hin?«, hörte er Cameron rufen.

Der Manager folgte ihnen bis in den Gang, der zu Cedrics Garderobe führte. Er schimpfte jetzt wie ein Rohrspatz: »Cedric! Komm sofort zurück! Das geht zu weit!«

 

8

 »Cedric! Wir haben einen Vertrag!«

Mit einem Mal wurde mir klar, dass es ein unschätzbarer Vorteil war, dass Cedrics Bodyguard noch um einiges muskulöser war als sein Manager. Ich machte drei Kreuze, als wir endlich in der Umkleide angekommen waren und Cedric die Tür schloss, während Tom davor stehen blieb. Er würde sich schon um Cameron kümmern. Ich hatte noch überhaupt keine Zeit gehabt, die Dinge zu verarbeiten, die in den letzten fünf Minuten geschehen waren. Gerade war ich noch am Dahinschmelzen gewesen, weil Cedric mir ein Lied widmete - auch, wenn es nur zu unserer Show gehörte. Und dann rannte er auf einmal mit mir vor Cameron davon.

Der Manager war verstummt. Aus dem Flur war nicht das leiseste Geräusch zu hören. Zuletzt hatte ich gesehen, wie er fluchend mit der Faust durch die Luft wirbelte, kurz bevor ich hinter Cedric in die Garderobe geschlüpft war.

Ich legte mir die Hand auf meinen schwer atmenden Brustkorb. Sobald ich mich selbst etwas beruhigt hatte, fiel mein Blick auf Cedric. Er hatte sich in einer Ecke des Raumes von mir abgewandt mit breiten Beinen auf einem Stuhl niedergelassen, die Ellbogen auf den Oberschenkeln aufgestützt, und hielt mit verkrampften Fingern sein Gesicht zwischen beiden Händen.

Ich wusste nicht, welcher Sturm gerade in seinem Inneren tobte, der ihn dazu veranlasst hatte, wortlos von der Bühne zu gehen. Doch ich war die Einzige, die in diesem Moment etwas tun konnte. Ich wollte die Hände über meinem Kopf zusammenschlagen. Wie war ich nur in diese Situation geraten? Ich war nicht gerade eine begnadete Psychologin. Mit einem Computer, den es zu reparieren galt, hätte ich mich jetzt weitaus wohler gefühlt. Aber ein Rockstar, der eine Blockade hatte? Bisher hatte ich nur immer Drew bei Liebeskummer beistehen müssen, und dabei musste ich nichts weiter tun, als ihr zuzuhören. 

Zögerlich ging ich auf ihn zu und streckte die Hand aus, doch bevor ich seine Schulter berührte, hielt ich inne. Cedric schien völlig weggetreten. Aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, mit der Hand über einer heißen Herdplatte zu schweben.

Schließlich legte ich sie auf seiner Schulter ab. Es passierte nichts.

»Cedric«, flüsterte ich nach einer Weile. Wieder nicht die geringste Reaktion. Doch als ich schon nicht mehr damit rechnete, griff er nach meiner Hand, die noch immer auf seiner Schulter lag, und hielt sie fest. Mehr nicht.

Mein Atem wurde schneller. Ich spürte, dass ich es hier mit einer tickenden Zeitbombe zu tun hatte. Mit einer Mischung aus Verwunderung und Angst starrte ich unsere beiden Hände an, die übereinander lagen. Dann passierte, wovor ich mich die ganze Zeit insgeheim gefürchtet hatte. Cedric sprang auf und fuhr herum. Mein Herz blieb stehen, da ich keine Ahnung hatte, was als Nächstes kommen würde.

Ich verstand nicht, weshalb er sich auf mich stürzte, mich mit beiden Händen umfasste und mich wild und fordernd küsste. Ich wusste nicht, weshalb er diese Grenze überschritt. Was hatte das Ganze mit mir zu tun? Mir kam es vor, als klammerte er sich in diesem Moment an mir fest. Ich wagte ich es nicht, ihn in die Schranken zu weisen. Nicht so, wie er gerade drauf war.

Ich versuchte, mich zurückzuhalten, doch es fiel mir schwer. Ich konnte die Hände nicht von seinem T-Shirt lösen, das an seinem Rücken von der Anstrengung des Konzertes nass geschwitzt war. Sein Körpergeruch war betörend. Der Kuss schmeckte in völligem Kontrast dazu nach frischer Minze.

Draußen wurde es auf einmal laut. Cameron schrie auf Cedric ein, doch Tom schien ihn von der Tür fernzuhalten.

Cedric ignorierte den Tumult eine Weile, doch dann ließ er ruckartig von mir ab, gab mir meinen Rucksack, packte seine Reisetasche und zog mich an der Hand in Richtung Tür. Er hielt kurz inne, um sich zu sammeln, bevor er sie öffnete, ohne zu zögern einen Haken schlug und in Richtung Ausgangstür steuerte, die in den Hinterhof führte.

»Wo willst du hin?«, rief Cameron.

Cedric antwortete nicht. Er lief so schnell, dass ich beinahe rennen musste. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Cameron uns hinterher hetzen wollte und von Tom in die Mangel genommen wurde.

»Cedric! Was soll ich den Fans sagen?«

»Sag ihnen, das Konzert ist vorbei.«

Tom trat ein paar Sekunden nach uns aus der Hintertür der Halle und zückte noch in der gleichen Bewegung den Autoschlüssel, um den Wagen zu öffnen. 

»Wohin fahren wir?«, fragte ich.

»Zum Hotel«, sagte Cedric knapp. Er wirkte nicht gerade, als hätte er jetzt Lust auf eine Unterhaltung, also hielt ich die gesamte Fahrt über den Mund.

Ungläubig sah ich aus dem Fenster, als Tom das Auto vor dem Eingang des Hotels abstellte. Wir wurden bereits erwartet. Eine Meute Fans, die wohl keine Karten mehr für das Konzert bekommen hatten, saßen vor der Tür und standen nun auf. Auch ein paar einzelne Journalisten befanden sich darunter. Na bitte. Ich würde hier also doch noch in die Zeitung kommen.

Tom stieg aus, und ich blickte fragend zu Cedric. Er bedeutete mir mit einem knappen Kopfschütteln, sitzen zu bleiben. Ich sah zu, wie ein paar der Journalisten nun auf das Auto zugelaufen kamen. Unterdessen stellte sich Tom mit ausgebreiteten Armen vor die Fans und versuchte sie davon abzuhalten, das Gleiche zu tun. Cedric beobachtete die Szene, genau wie ich.

Dann nickte er. »Jetzt.«

Er stieg als Erster aus, und sofort begann es draußen, unaufhörlich zu blitzen. Sowie er auf meiner Seite des Autos ankam, stieg auch ich aus. Cedric legte mir den Arm um die Schulter und führte mich mit eiligen Schritten auf den Eingang und den Bulk aus Fans zu. Ich vertraute ihm. Und Tom.

Der Bodyguard hatte es geschafft, dass die Fans einen ordentlichen Durchgang bildeten. Doch sobald Cedric und ich uns ihnen näherten, brach das absolute Chaos aus. Ein Mädel trat aus der Reihe, rannte auf Cedric zu, und sofort stürmten auch die anderen los.

Cedric zog mich enger an sich. Irgendwie schaffte Cameron es, vor allen anderen bei uns zu sein. Ich hatte keine Ahnung wie, doch wir kamen unversehrt durch die aufgeregte Meute. Fast, jedenfalls. Einmal wurde ich von der Seite angespuckt, genau ins Gesicht. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, doch ich war ohnehin wie erstarrt. Ich verlor in dem Tumult völlig die Orientierung, sah nur Toms starken Rücken und seine Arme, mal vor uns, mal neben uns, sah wild gewordene Tussis, hörte sie schreien, und klammerte mich an Cedric, der mich durch das Gemenge hindurch buxierte.

Der ganze Stress war mit einem Mal wie weggeblasen, als wir in unserem Zimmer standen. Tief beeindruckt sah ich mich in der prachtvollen Suite um. Ich musste mir eingestehen, dass ich das Drama von gerade eben sofort wieder mitmachen würde, wenn das hier dafür der Preis war. Das Zimmer hatte eine hohe Decke und eine halbrunde Fensterfront mit direktem Blick auf das London Eye, doch trotz der klassischen Architektur des Gebäudes war die Einrichtung hochmodern. Von der Tagesdecke auf dem Bett bis zu den schweren, langen Vorhängen war alles in den Farben Weiß und Rot gehalten. Am Boden stand ein stolzer Flachbildschirm, aber das Bett dominierte den Raum und wirkte mit seinen hoch aufgetürmten Kissen unglaublich einladend - erst recht, als Cedric sich darauf fallen ließ, die Hände auf die Augen legte und sagte: »Scheiße!«

Ich verschwand kurz im Badezimmer, musterte sehnsüchtig die riesige Eckbadewanne und vertrieb die heißen Fantasien, die augenblicklich an mir vorüberliefen, bevor ich mir mit ein paar Spritzern Wasser die längst getrocknete Spucke aus dem Gesicht wusch. Zurück im Zimmer zögerte ich. Das Bett war eindeutig groß genug, so dass wir beide in einigem Sicherheitsabstand darauf liegen konnten. Genüsslich ließ ich mich in die Kissen fallen.

Cedric nahm mich gar nicht zur Kenntnis, sondern starrte völlig regungslos die Decke an. 

»Wieso hast du das gemacht?«, fragte ich.

Ich dachte schon, er wäre wieder in seine Schockstarre verfallen, doch dann antwortete er: »Ich weiß es nicht.« Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er den Kopf schüttelte und wiederholte: »Ich weiß es nicht. Aber Cameron hat allen Grund, sauer auf mich zu sein.«

»Danke für das Lied«, sagte ich ironisch, da mir nichts anderes darauf einfiel. Ich spürte, wie das Bett erzitterte, und als es nicht aufhörte, blickte ich zur Seite. Cedric lachte stumm. Fasziniert betrachtete ich ihn, da ich ihn noch nie so ausgelassen gesehen hatte.

»Welches Lied?«, brachte er gerade so hervor.

Jetzt musste auch ich lachen.

»Wir haben nur ein Bett«, sagte er auf einmal und sah mich ernst an. Er hatte sich zur Seite gedreht und das Gesicht auf der Hand aufgestützt.

»Stimmt. Wo schläfst du?« Ich konnte gerade einfach nicht ernst sein. Dafür hatte ich zu viel Spaß. Und Cedrics verdutzter Gesichtsausdruck war es absolut wert.

»Ich schlafe hier«, sagte er und klopfte mit der flachen Hand auf die Stelle direkt vor seiner Brust.

»Wenn du schön brav dort liegen bleibst, ist das auch okay.«

Mit einem ungläubigen Kopfschütteln sah er mich an. »Du willst nicht wirklich, dass ich auf meiner Seite liegen bleibe. Oder?«

Mein Lachen verwandelte sich in ein nervöses, unkontrolliertes Kichern. Es lag an dem veränderten Ton in seiner Stimme. Beinahe verrucht, auf jeden Fall aber verdammt sexy und verführerisch. Doch ich hatte dazugelernt.

»Doch«, sagte ich schnell, bevor ich wieder unentschlossen wirkte, »doch, das will ich.«

»Bist du dir da ganz sicher?«

»Ja.«

»Nein, bist du nicht.«

Ich wusste nicht, ob sein wissender Blick geschauspielert war, oder ob ich in diesem Moment wirklich so leicht zu durchschauen war. Denn ich war mir nicht im Geringsten so sicher, wie ich tat. Eher ziemlich unsicher. 

»Doch«, sagte ich und versuchte ein Pokerface.

»Wieso?«, fragte er herausfordernd.

»Das weißt du. Wegen Drew.« Irgendetwas schien in diesem Moment in meinem Gehirn nicht richtig zu funktionieren. Während ich meine Begründung beinahe mechanisch wiedergab, meldete meine Festplatte: Drew - dieser Dateiname ist unbekannt. Mit anderen Worten: Ich hatte plötzlich keinen Zugriff mehr auf die Gedanken und Gefühle, die ich mit diesem Namen verband. Ich hatte wohl zu viel damit zu tun, die Information zu verarbeiten, dass Cedric neben mir im Bett lag. Es war jedenfalls alles, was mich in diesem Moment interessierte.

Tausende von Fans gingen in diesem Moment sauer und enttäuscht nach Hause, weil Cedric das Konzert vorzeitig abgebrochen hatte. Und wo war er jetzt? Er lag neben mir. In einem Bett, das aus einem Walt Disney Märchen hätte stammen können! Ich konnte meine Augen nicht von ihm abwenden, und er wollte mit mir schlafen.

Nein, ich war mir definitiv nicht mehr sicher, was ich wollte.

Meine Festplatte suchte noch immer nach der Information, die mit dem Namen Drew verbunden war. Ich wusste, dass die einzige Möglichkeit, unsere Freundschaft zu retten, darin bestand, das hier durchzustehen, ohne mit Cedric zu schlafen. Doch das war ein viel größerer Preis, als ich bisher angenommen hatte. Und wer garantierte mir überhaupt, dass Drew mir am Ende glauben würde? Und selbst wenn, woher wollte ich wissen, dass sie mir alles andere verzeihen würde? Die unzähligen Küsse mit Cedric? Die Tatsache, dass ich ihm so nahe sein durfte? Am Ende wäre ich die Verliererin und wüsste nicht einmal, wie es war, mit ihm zu schlafen.

Ich bewunderte meine eigenen Gedankengänge, noch während sie passierten, aus einer gewissen Distanz heraus. Waren es die Hormone, die mein System auf einmal so verrückt spielen ließen? Allen Systemfehlern zum Trotz erinnerte ich mich an meinen Vorsatz, nicht schwach zu werden. Und ich erinnerte mich an die Entschlossenheit, mit der ich ihn gefasst hatte.

»Was, wenn es unser Geheimnis bleibt?«, fragte Cedric. Seine Augen funkelten verheißungsvoll. Die Information wurde direkt an meinen Unterleib gesendet, der sich vor Verlangen zusammenzog. 

Ja, was wenn?

Er fügte hinzu: »Drew muss es nie erfahren.«

Was für ein verlockender Gedanke. 

Ich hatte einen Bruchteil einer Sekunde zu lange überlegt. Doch vielleicht war es auch die sanfte Öffnung meiner Lippen und die Weichheit, die sich spürbar über meinen Blick legte, die Cedric dazu veranlasste, den ihm zugewiesenen Platz zu verlassen und näher zu mir zu rutschen.

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Tag der Veröffentlichung: 15.05.2016

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