Karin Szivatz
Das Hungerexperiment
Roman
EgoLiberaVerlag
Einbandgestaltung: Walter Janacek
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Printed in Germany 2013
Afrika könnte weite Teile Asiens miternähren, würden die fast unendlichen Ressourcen des Kontinents in gemeinverträglicher Weise in Wert gesetzt - und wäre nicht der Mensch dem Menschen ein Wolf.
Von Daniel Deckers
Aufgrund einer verheerenden Dürre sind in Äthiopien derzeit 4,5 Millionen Menschen auf Lebensmittelhilfslieferungen angewiesen. Doch der indische Farmpächter will in spätestens drei Jahren Millionen verdienen, indem er im Hungerland Äthiopien mithilfe von Kinderarbeit produzierte Lebensmittel exportiert. Im zwölftärmsten Land der Welt hat das 'Landgrabbing', der Wettlauf um riesige landwirtschaftliche Flächen, gerade erst begonnen.
„Die Lebensmittelpreise sind seit Ende 2010 dramatisch gestiegen, worunter besonders die an sich schon armen Familien litten und in die Not getrieben würden“, sagte Byrs. „In einigen Gegenden Kenias liege der Getreidepreis um 30 bis 80 Prozent höher als im Fünfjahresdurchschnitt.“
Kolonien – wo bleiben die ehemaligen Kolonialherren der dritten Länder, die einst das Land ausgebeutet hatten? Wäre es nicht an der Zeit, diese Regierungen heranzuziehen, damit sie ihre Verantwortung dem ehemals besetzen Land gegenüber wahr nehmen?
Brüssel, Frühjahr 2010
Eine dramatische Finanzkrise zieht den Mittelmeerstaat Griechenland in den Schuldensumpf. Mit mehr als 300 Milliarden Euro stehen die Hellenen weltweit in der Kreide und sind keinesfalls mehr imstande, sich aus diesem Sumpf aus eigener Kraft zu befreien. Die Spitzen der EU-Länder treten in Kürze zusammen um über den Rettungsplan des hoch verschuldeten Mitgliedes zu beraten.
Rom, Herbst 2010
Wie die FAO (Food and Agriculture Organization of the United Nations, die Welternährungsorganisation) meldet, bahnt sich Mitte des kommenden Jahres die schlimmste Hungerkatastrophe am Horn von Afrika an. Rund 10 Millionen Menschen werden in Ostafrika akut vom Hunger bedroht sein; rund ein Drittel davon werden Kinder sein. Die FAO fordert die Industriestaaten auf, vorzeitige Maßnahmen zu ergreifen, um diese Katastrophe abzuwenden.
In Äthiopien ist der Verbraucherpreisindex für Lebensmittel seit Mai im Vergleich zum Vorjahr um fast 41 Prozent gestiegen. Viele Familien gaben bereits vor der Preiserhöhung rund 80% für Lebensmitteln aus. Nach der Steigerung sind Lebensmittel in ausreichendem Maße nicht mehr finanzierbar.
Brüssel, Herbst 2010
Die Finanzminister der EU-Länder haben sich darauf geeinigt, dem sich dramatisch in der Finanzkrise befindlichen Griechenland eine Soforthilfe von 110 Milliarden Euro zuzusichern.
80 Milliarden Euro sollen von der Euro-Zone aufgebracht werden, 30 Milliarden vom IWF.
Rom, Frühjahr 2011
Die FAO sieht den trockenen Sommermonaten im Osten Afrikas mit Schrecken entgegen. Schon jetzt verlassen wegen der extrem gestiegenen Lebensmittelpreise viele Menschen in den Regionen Somalias und Djibutis ihre Heimat um in den Camps in Kenia Nahrung zu finden. Die UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees, das Uno-Flüchtlingshilfswerk) bereitet sich in Kenia inzwischen auf einen Flüchtlingsstrom aus den benachbarten Ländern vor. Die beiden Organisationen bitten die Welt dringend um finanzielle Hilfe, um das Überleben von Millionen von Menschen zu sichern.
Brüssel, Frühjahr 2011
Die Finanzminister der EU-Länder werden dem finanziell maroden Griechenland ein zusätzliches öffentliches Finanzierungsvolumen von 109 Milliarden Euro bis 2014 zubilligen. Voraussetzung dafür ist, dass die Finanzwirtschaft ihr vorgelegtes Angebot einhält und insgesamt Anleihen in Höhe von 135 Milliarden Euro, die bis 2020 fällig werden, verlängert. Der endgültige Finanzbedarf Griechenlands wird durch eine Kommission und dem IWF im Laufe des Sommers festgestellt werden. Dieses neue Programm kommt zum bereits laufenden Programm für Griechenland hinzu.
Michigan, USA, Sommer 2011
Ein neues, Millionen Dollar schweres NASA Projekt, das von der University of Michigan in Ann Arbor geleitet wird, beschäftigt sich seit drei Jahren mit der Frage, ob mikrobielles Leben im Salzwasser auf dem Mars möglich ist. "Falls wir Mikroben finden, die in Salzwasserlaken unter Mars-Bedingungen überleben und sich vermehren, hätten wir demonstriert, dass auch heute Mikroben auf dem Mars existieren könnten", sagte Renno, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Mars-Projektes.
Rom, Sommer 2011
Mehr als 12 Millionen Menschen aus den Ländern Somalia, Djibuti, Kenia, Uganda und Äthiopien sind durch die schlimmste Dürre seit 60 Jahren akut vom Hungertod bedroht. Rund 4 Millionen Kinder sind mangel- bzw. unterernährt; viele von ihnen werden die nächsten Wochen nicht überleben. Unzählige Familien machen sich in der Hoffnung auf ein wenig Nahrung auf den Weg in das Kenianische Flüchtlingslager Dadaab und sind oft mehrere hundert Kilometer bei 50 Grad Celsius zu Fuß durch die Wüste unterwegs. Die Wegstrecken sind bereits jetzt mit Toten gepflastert. Viele Nomadenstämme verlieren ihre Tiere und somit auch die Grundlage ihres Lebens. Die FAO benötigt rund 2 Milliarden Euro um eine Grundversorgung zu gewährleisten und dem Sterben ein Ende zu setzen.
Die Weltbank will 350 Millionen Euro bereitstellen. Zwölf Millionen davon sollen zur Soforthilfe eingesetzt werden, der Rest in langfristige Maßnahmen fließen. Die USA sagen 50 Millionen zu. Die EU stellt für humanitäre Hilfe insgesamt 340 Millionen Euro zur Verfügung.
Wien, Sommer 2011
Grünenchefin Eva Glawischnig fordert die österreichische Bundesregierung auf, die zugesagten 1,5 Millionen Euro auf 8 Millionen Euro Soforthilfe für Ostafrika zu erhöhen. Finanziert werden soll diese Summe durch die Einsparung zweier kleiner politischer Werbekampagnen.
Europäische Union, Jahresbeginn 2012
Griechenland, Italien, Portugal, Irland, Spanien und Zypern stecken in einer tiefen Finanzkrise. Hunderte Milliarden Euro fließen von Brüssel in die Staatskassen und maroden Banken.
Die Euro-Finanzminister beschließen, das Volumen des ESM auf 800 Milliarden Euro auszuweiten. Ausleihen kann der Fonds davon aber nur 500 Milliarden Euro – 200 Milliarden mehr als ursprünglich geplant.... http://www.focus.de/finanzen/
Wien, Sommer 2012
Große Dürreperioden lassen große Teile der Weizen- und Maisfelder in den USA, Afrika und Teilen Asiens vertrocknen. Die Getreidepreise steigen um rund 40%. Viele Menschen in der Dritten Welt gaben vor der Dürreperiode bereits 82% für Lebensmittel ihres Einkommens aus; durch die gesteigerten Getreidepreise drohen weiteren zwölf Millionen Menschen der Hungertod.
Caritas-Präsident Franz Küberl fordert die Regierungen auf, sich für strikte Beschränkungen für Terminhandel mit Nahrungsmittel einzusetzen. Es wurden sogar Stimmen laut, Grundnahrungsmittel von den Börsen zu nehmen, damit sich am Hungertod von Millionen von Menschen niemand mehr bereichern kann.
40 Prozent der US-Maisproduktion geht Niebels Ministerium zufolge in die Tanks von Kraftwagen. Die dortige Dürre hat die Maispreise nun massiv steigen lassen. "Gerade bei steigenden Lebensmittelpreisen kann Biosprit zu stärkerem Hunger in der Welt beitragen", warnte Niebel (Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, FDP, Deutschland) im Sender n-tv.’
Wien, Herbst 2012
Die österreichische Regierung entschließt sich nach zahlreichen Protesten (‚Mir wurscht-Kampagne'), die Entwicklungshilfe nicht zu kürzen und erneut 77 Millionen Euro für das Jahr 2013 aufzubringen.
Das Stammkapital des ESM beträgt 700 Milliarden Euro und wird von den 17 Mitgliedsstaaten der Eurozone gestellt. http://wirtschaftsblatt.at/home/dossiers/esm/1288573/Der-EuroRettungsfonds-ESM. Damit große Länder wie Spanien oder Italien unter den Rettungsschirm schlüpfen können, soll dieser auf 2 Billiarden Euro erweitert werden.
Wien, Mai 2013
Das Parlament spricht sich Ende Mai für die weitere Kürzung von Geldern für die Entwicklungshilfe aus. „….obwohl Österreich bei der humanitären Hilfe schon heute deutlich hinter vergleichbaren Industrieländern zurückliegt, sollen die Mittel für die direkte Entwicklungshilfe weiter beschnitten werden.“ Franz Küberl, Präsident Caritas Österreich
Konkret soll das operative Budget der „Austrian Development Agency <http://www.entwicklung.at/>“ (Entwicklungsagentur des Bundes) im nächsten Jahr auf 53 Mio. Euro gekürzt werden; 2010 waren es noch 85 Millionen.
Quelle: http://www.labournetaustria.at/entwicklungshilfe-proteststurm-gegen-geplante-kurzungen/
Wien, September 2013
Die Vereinten Nationen haben in Teilen Somalias eine offizielle Hungersnot erklärt. Das ist die höchste von fünf Alarmstufen in einem Frühwarnsystem der UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO). Eine Hungersnot ("Catastrophe") wird ausgerufen, wenn mehr als 30 Prozent der Kinder unterernährt sind und täglich zwei von 10.000 Menschen durch Lebensmittelknappheit ums Leben kommen. Die höchste Alarmstufe soll die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit wecken. Politische Vollmachten sind damit nicht verbunden.
http://www.kleinezeitung.at/nachrichten/chronik/afrika/index.do
1
China, Peking, Privaträume des Präsidenten
„Liebling! Kommst du ins Bett?“
„Sofort! Ich bin in einer Minute bei dir. Mach noch nicht das Licht aus, ich möchte mich noch kurz mit dir über etwas sehr Wichtiges unterhalten; sei so lieb!“
Rasch warf sie noch einen letzten Blick auf den Brief, den sie seit unbestimmter Zeit in Händen hielt. Sie hatte ihn gelesen, die Bilder angesehen und war dann gedanklich in eine andere Welt katapultiert worden. Sie könnte zwei Minute reglos verbracht haben, aber auch Stunden; sie wusste es nicht. Im Moment wäre in ihrem Kopf auch nicht der Platz für andere Dinge als diese Zeilen und diese Bilder gewesen.
Sie löschte das Licht im Wohnzimmer und eilte ins Schlafzimmer. Ihr Präsidentengatte las noch in ein paar Dokumenten und schien sie nicht wahr zu nehmen. Sie legte ihren Bademantel ab und schlüpfte nackt unter die Decke.
„Liebling, ich habe heute einen Brief bekommen.“
„Mmhhhhmm.“
„Ich muss mit dir über die Hungersnot ein Ostafrika reden.“
„Mmhhhmm.“
„Leg bitte deine Akten weg und hör mir zu.“
„Mmhhhmm.“
Jun sah ihren Mann fassungslos an. Mit einer schnellen Bewegung entriss sie ihm die Akten und schleuderte sie auf den Boden. Mit lauter Stimme fuhr sie den erschrockenen Mann an: “Ich sagte, ich müsse mit DIR reden und nicht mit der Wand. Du wirst mir jetzt ganz genau zuhören und mitdenken, hast du mich verstanden?“
Der kleine Mann hob beschwichtigend die Hände.
„Ja, natürlich, ist ja schon gut. Entschuldige bitte. Die Arbeit – du weißt.“
Er nahm die Lesebrille von der Spitze seiner Nase, drehte sich ein wenig zu ihr und legte den Kopf schief. In diesem Moment liebte Jun ihren kleinen Mann und großen Präsidenten.
„Ich mache es kurz: in Ostafrika sind zwölf Millionen Menschen vom Hungertod bedroht; ein Drittel davon sind Kinder. Die internationale Hilfe geht nur schleppend voran, obwohl nur etwas mehr zwei Milliarden Dollar benötigt werden. Sollten wir als Großmacht nicht mit gutem Beispiel voran gehen und eine Sofortfhilfeaktion starten? Wenn wir großzügig sind, können die anderen Großmächte nur mitziehen. Wie viel wird China zur Rettung unzähliger Menschen beitragen?“
„Ich weiß davon und diese Menschen tun mir auch sehr leid. Dennoch kann sich unser Volk einen solchen Luxus nicht leisten. Wir haben unter unseren eigenen Leuten viele Arme, die eine Spende ans Ausland nicht verstehen würden. Noch dazu hat erst gestern der Rüstungsminister eine nachvollziehbare Forderung von etlichen Millionen eingebracht. Diese Forderung hat Priorität, denn wir müssen vor fremden Mächten und Bomben auf der Hut sein – auch in Zeiten des Friedens, meine Liebe.“
Jun beugte sich mit straffem Oberkörper leicht nach vor und ließ den Kopf auf ihren Mann zuschnellen. „Habe ich richtig gehört? Die Rüstungsindustrie willst du füttern während Kinder verhungern?“
„So will es die Politik, meine Liebe. Das ist nicht meine Entscheidung, so will es das Volk.“
„Und auch wenn das Volk nicht möchte, dass ich dich ‚Arschloch’ nenne und jetzt ins Gästezimmer schlafen gehe, so werde ich es dennoch tun!“
Wutentbrannt sprang sie aus dem Bett, erwischte den Zipfel der Decke, nahm den Polster unter den Arm und war auch schon bei der Tür draußen. „Du hast nichts an, Liebling! Die Wachen....“ rief er ihr noch nach, doch sie kehrte nicht zurück. Die Gedanken an diesen hässlichen Streit sowie das Thema von sich schiebend stand er auf, hob die Akten auf und studierte sie im Licht der kleinen Leselampe weiter. Nach kurzer Zeit drehte er sich zur Seite und schlief bist zum nächsten Morgen, an dem ihn seine Amtsgeschäfte wieder erwarteten.
Russland, Moskau, Privaträume des Präsidenten
„Alexandr! Die Kinder möchten sich noch von dir verabschieden. Komm und gib ihnen einen Gutenachtkuss.“
Der Präsident sah widerwillig von seinen Dokumenten auf, seufzte und erhob sich schwer aus seinem Amtssessel. Nachdem er die beiden Buben geküsst und ihnen eine Geschichte vorgelesene hatte begab er sich wieder in seine Ausgangsposition zurück und las weiter. Seine Frau kam wenige Minuten nach ihm ins Büro und bat um eine kurze Unterredung.
Sie erzählte ihm von dem Brief Daniel Neumanns, einem Aktivisten, über die Hungernden in Afrika und dass jede Präsidentengattin angeschrieben wurde. Sie würde ihn bitten, wenigstens ein paar Kinder in Afrika zu retten; er bräuchte nur ein paar lächerliche Millionen spenden.
Alexandr sah sie kurz an und fragte bellend: „Wenn ich hungrige Mäuler in Afrika stopfe, wer stopft dann mein Loch im Staatsbudget? Im kommenden Winter sind Wahlen und die Schwarzen wählen mich nicht. Ich muss mein Volk, das mich wählt, zufrieden stellen und nicht irgend jemanden, der tausende von Kilometern weit weg und NICHT wahlberechtigt ist. Und jetzt lass mich arbeiten.“
„Aber Alexan…“
„Raus jetzt. Du verschwendest deine und meine Zeit. Ich habe nein gesagt und dabei bleibt es auch. Das wäre ja noch schöner, Nichtwähler zu füttern.“
Zornestränen rannen der Präsidentengattin über das runde Gesicht und hinterließen schwarze Spuren der Wimperndusche. Frustriert zog sie sich in ihr Zimmer zurück und las den Brief noch ein paar mal durch.
USA, Washington, Privaträume des Präsidenten
„Endlich hast du mal einen Abend frei! Darauf freue ich mich schon seit Wochen. Und was ist mit euch, Kinder? Freut ihr euch auch, einen ganzen Abend mit Daddy zu verbringen?“ „Jaaaaaaaaaa!“ tönte es wie aus einem Mund und die drei Mädchen hüpften um ihren Vater.
Lächelnd kniete er sich in die Schar und umarmte und küsste sie. „Wie lieb’ ich euch doch habe!“, gestand er aufrichtig. Ehefrau Sandra lächelte schwach. Ihr Mann erhob sich, legte seine Arme um ihre Taille, legte den Kopf schief und sah sie liebevoll an. „Was ist mit dir, Honey? Bedrückt dich irgend etwas?“ Sandra befreite sich aus der Umarmung und sah zu Boden. „Ich habe heute Bilder gesehen. In einem persönlichen Brief an mich. Hungernde Menschen. Verhungernde Kinder. Zwölf Millionen allein in Ostafrika. Ich sah in die Gesichter der sterbenden Kinder und sah darin die unseren. Bitte, lass uns ihnen hel...“
„So“, sagte er streng, „und jetzt ist Schluss mit den Amtsgeschäften. Ich habe heute einen einzigen Abend nach vielen Wochen wieder einmal frei und den will ich mir nicht mit schrecklichen Bildern und Visionen verderben lassen. Ganz sicher nicht. Ich möchte ihn mit meinen Liebsten verbringen, ist das klar?“
Ein gehauchtes „Ja, natürlich“ entwich ihren Lippen und sie setzte ihr professionelles First Lady Lächeln auf. „Worauf haben wir heute Abend Lust?“
‚Auf Kinderretten – für meinen Teil jedenfalls...’ dachte sie; doch dieser Gedanke blieb ein unausgesprochener Gedanke.
Österreich, Wien, Privaträume des EU-Präsidenten
Peter stand vor seinem Kleiderkasten und griff wahl- und lustlos nach dem nächstbesten Anzug. Er hatte die vielen öffentlichen Auftritte langsam satt, den täglichen Anzug, den täglichen Leistungskampf und auch das täglich gleich freundliche Gesicht, das er vor sich hertragen musste. Er sehnte sich nach Ruhe, Entspannung und Zeit, wieder einmal ein Buch zu lesen oder unerkannt ins Kino gehen zu können. Der Preis für seine steile Politkarriere war hoch – viel zu hoch und er spekulierte bereits damit, der Politik nach Ablauf seiner Amtsperiode zu entsagen. Geld war reichlich vorhanden und somit brauchte er sich auch keine Sorgen wegen eines Jobs machen. Helena, seine Sandkastenliebe und treue Ehefrau begrüßte sein Vorhaben. Doch an jenem Abend schien sie in Gedanken vertieft zu sein, die ihr nicht zuträglich waren. Sie sah besorgt aus und Peter fragte sich, ob er sie darauf ansprechen sollte. Im gleichen Augenblick jedoch eröffnete sie das Gespräch und hoffte inständig, dass sie ihm kein Problem unterbreiten würde.
„Wann wird die EU eigentlich effektive Maßnahmen gegen den Hungertod am Horn von Afrika unternehmen? Die paar Kröten, die ihr flüssig gemacht habt, können doch nicht alles sein! Das wäre ja wirklich lächerlich. Hier sterben Millionen von Menschen! Kinder, die der Dürre wehr- und hilflos ausgesetzt sind. Wir haben die moralische sowie religiöse Pflicht, sie vor diesem grausamen Tod zu bewahren.“
Peter schleuderte seine Anzugjacke wutentbrannt zu Boden und stampfte ein paar Schritte auf sie zu, sodass sein Gesicht nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt war. „Pflicht? Sagtest du soeben wirklich Pflicht? Ich habe täglich unzählige Pflichten zu erfüllen und ich kann dieses Wort schon nicht mehr hören! Jeder braucht etwas, jeder will etwas und ich soll ein Füllhorn haben, das nie leer wird. Griechenland hat die EU-Kasse geplündert, Portugal, Irland und Spanien strecken ebenfalls die Hände nach unserme Topf aus. Sag mir, woher ich Geld nehmen soll und ich gebe es den Armen in Afrika. Na los, sag es mir! Aber so lange dir keine Lösung eingefallen ist, belaste mich nicht zusätzlich damit. Ich habe nämlich keine Lösung parat und auch keine im Ärmel. Gewisse Dinge sind nun mal, wie sie sind; daran können wir nichts ändern. Und jetzt lass uns auf diesen blöden Empfang gehen, denn ich möchte schon wieder zu Hause sein und alles hinter mir haben.“
Stumm trug Helena noch etwas Lippenstift auf und folgte ihrem Mann im Cocktailkleid auf seinem Karriereweg.
Während der kurzen Zeit zwischen dem zu Bett gehen und dem Aufstehen verscheuchten die Bilder des Briefes Helenas Schlaf. Immer wieder sah sie ausgemergelte Kleinkinder, die stumm ihr kurzes Schicksal ertrugen. Mütter, die nun keine mehr waren, aber nicht trauern durften; zu viel Energie würde diese Trauer kosten. Sie würden trauern können wenn sie Lebensmittel bekamen oder in ihren eigenen Gräbern lagen.
Sie versuchte zu eruieren, wie viel ein Menschenleben wert sein mochte. Millionen von Euro, wenn man den Aufwand bedachte, den man für den Schutz ihrer Person sowie die ihres Gatten aufbrachte. Ein Präsident ist etliche Millionen wert, ein Äthiopier mit gleichem Gewicht, gleichem Alter, gleicher Statur und ähnlichen Genen nichts. Worin liegt der Unterschied? Die Fragen drehten sich im Kreis ohne eine logische Antwort zuzulassen.
Des Morgens, als Peter das Haus verlassen hatte, rief sie Daniel Neumann, den Verfasser des Briefes an. Die beiden hatten eine lange Unterredung und sie musste hören, dass die Lage noch um einiges dramatischer geworden war als im Brief geschildert wurde. Daniel wollte die First Ladies nicht zu sehr mit dem unbeschreiblichen Leid dieser Leute konfrontieren, hatte jedoch die Gabe, sich sehr plastisch in ihr Herz zu reden.
Als sie aufgelegt hatten wählte Helena die Nummer ihrer guten Bekannten Jun in China. Sie kannten einander von einigen Staatsbanketts und sonstigen politischen Veranstaltungen. Sie hatten bislang erst ein Mal telefonischen Kontakt, da Juns Englisch eine Katastrophe war. Helena verspürte jedoch das dringende Bedürfnis, mit Jun über die Lage in Ostafrika zu sprechen.
Die beiden telefonierten lange und legten beide mit sehr gemischten Gefühlen auf. Ohne jedoch weiter darüber nachzudenken wählten beide eine Nummer; Helena rief in Moskau an, Jun in Washington. Wenn alles gut gehen würde, hätten die vier Frauen am nächsten Tag um zehn Uhr MEZ eine Videokonferenz.
Während des Vormittags hatte Peter einige unangenehme Telefonate hinter sich zu bringen; eines davon war mit Daniel Neumann, dem Edelschnorrer, wie man ihn in Regierungskreisen wenig liebevoll nannte. Auf seinen Anruf nicht zu reagieren würde bei Bekanntwerden nicht gerade Begeisterungsstürme bei den WählerInnen auslösen. Er holte seinen Stresskiller und Seelentröster aus der Schublade, nahm einen kräftigen Schluck davon und genoss die brennende Schärfe. Nun war er für Neumann gerüstet.
Die beiden Männer verhielten sich anfänglich höflich und diplomatisch, doch schon bald gingen die Wogen hoch und Peter fühlte sich von diesem scheinheiligen Pharisäer derart provoziert und in die Enge getrieben, dass er stehend wild gestikulierte, sich den obersten Hemdknopf öffnete und ins Telefon brüllte.
Fragend steckte ein Mann der Security seinen Kopf durch den Türspalt, aber Peter brüllte auch ihn an, dass er verschwinden solle – und Neumann auch. Der Securitymann zog sich schnell zurück und hörte noch ein unfeines „Neumann, sie sind ein echtes Arschloch“ ehe er die Tür schloss. Er konnte sich gut vorstellen, wie sein Boss im Büro mit hochrotem Kopf in seiner Lade den Seelentröster suchte. Mit dir wird es noch ein böses Ende nehmen, dachte er und sein Kollege nickte beipflichtend als ob er die Gedanken zu gesprochenen Worten formuliert hätte.
Gleich nach diesem sehr unerfreulichen Telefonat hängte er das zweite unangenehme, mit seiner Mutter, an. Würde er diese beiden hintereinander geführt überleben, konnte ihn nichts mehr umbringen. Er ließ sich von den Vorwürfen seiner Mutter berieseln ohne zu wissen, worum es ging, gab ihr das Versprechen, sich sehr bald wieder zu melden und legte auf.
Lauernd hörte er auf seinen Herzschlag, spürte nach, ob seine Lebenspumpe noch schlug und stellte ironisch fest, ab sofort als unsterblich zu gelten. Als das Telefon einen eingehenden Anruf ankündigte hatte er die beiden zuletzt geführten Gespräche bereits verdrängt. Er konnte es sich nicht leisten, Energien an solch belanglose Dinge zu verschwenden. Vergangenes wird abgelegt und war somit vergessen. Energiefresser konnte sich der erfolgreiche Politiker nicht leisten.
Erstaunt stellte er am Abend des nächsten Tages fest, dass in in seinem Kalender eine Feier verzeichnet war. Sie sollte an einem Samstagabend in zwei Wochen bei Freunden stattfinden. Es handelte sich dabei um eine Halloweenfeier, die er allein mit Helena ohne die Kinder besuchen sollte. Es war auch nicht seine Schrift sondern die seiner Frau. Er erinnerte sich nicht, mit ihr darüber gesprochen zu haben und nahm sich vor, sie bei nächster Gelegenheit darauf anzusprechen. Er mochte es nicht sonderlich, übergangen zu werden.
An sich mochte er solche Parties nicht, aber ein klein wenig Privatleben musste auch ein EU-Präsident haben. Und schließlich war Halloween und ein wenig Entspannung konnte mit Sicherheit nicht schaden, würde Helena sagen. Seine Frau handelte meist in seinem Sinn und somit konnte er darauf vertrauen, dass es die richtigen Leute waren, mit denen er auch Spaß haben und sich so geben konnte, wie es seinem Naturell entsprach. Auf diversen Privatfeiern von Politikern musste er ohnehin den hölzernen Staatsmann spielen; Fehltritte durfte er sich nirgends leisten. Todmüde fiel er ins Bett und vergaß Helena zu fragen, bei wem die Party stattfinden würde.
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Die Amtsgeschäfte liefen im Moment reibungslos dahin, sodass die Tage im Flug vergingen und der Tag der privaten Halloweenfeier rückte näher. Helena erzählte nur kurz, dass es sich um eine sehr kleine Party von Christian und Doris handelte. Die beiden waren mit Peter bereits im Kindergarten befreundet und somit konnte er sich in ihrer Umgebung frei bewegen. Zu seiner Freude erfuhr er, dass nur die beiden sowie eine anderes, sehr vertrautes Paar anwesend sein würde. Eine kleine intime Feier zu sechst ohne Spektakel und Aufwand. Helena meinte, es wäre deshalb auch keine Security nötig und Peter stimmte ihr sofort zu. Er hasste es, ständig von seinen Männern umgeben und beobachtet zu werden. Als er sich um dieses hohe Amt beworben hatte, war das allerdings keine Überlegung wert. Heute fühlte er sich zunehmend eingesperrt und unwohl.
Sofort gab Peter dem Großteil der Wachmänner frei; nur eine handvoll Securities sowie der Chauffeur sollten arbeiten. Der Rest der Mannschaft sollte sich ins Halloweengetümmel auf Wiens Straßen stürzen oder ebenfalls privat feiern gehen können. Sie leisteten ohnehin sehr gute Dienste und hatten sich einen freien Abend durchaus verdient.
Die Wachmänner allerdings hielten dienstbefließen wegen der Freistellung mit dem obersten Boss ihrer Abteilung Rücksprache, ob das überhaupt verantwortbar wäre. Aufgeregt stürmte der Sicherheitschef in das Amtszimmer des Präsidenten. „Sag mir bitte, dass du meinen Männern nicht frei gegeben hast. Sag mir, dass es sich von ihnen um einen schlechten Scherz handelt. Oder von mir aus auch um einen schlechten von dir. Aber ich kann nicht annehmen, dass das dein Ernst sein soll. Ein öffentlicher Auftritt ohne Security? Niemals! Das kann und werde ich nicht verantworten.“ Energisch verschränkte er die Arme vor seiner breiten Brust, stellte die Beine etwas auseinander und präsentierte ein entschlossenes Gesicht.
Peter nahm die Brille von der Nase und rieb sich seufzend die Augen. „Nimm bitte Platz und markier' hier nicht den beißenden Rottweiler. Ich verstehe deine Sorge durchaus, aber in diesem Fall kannst du wirklich beruhigt sein. Diese Leute kenne ich seit ich drei Jahre alt bin und kann mich auf sie verlassen. Es weiß auch niemand von der kleinen Party und somit besteht keine Gefahr. Lass mich ein Mal feiern ohne von Argusaugen beobachtet zu werden. Du hast keine Ahnung, wie belastend das auf Dauer ist.“
Ohne über die Worte des Präsidenten nachzudenken, entgegenete der Sicherheitschef energisch: „Ich muss dich darauf aufmerksam machen, dass ich für deine Sicherheit verantwortlich bin und…“ Peter ließ ihn den Satz nicht beenden.
„Ja, ich weiß das und du leistest hervorragende Arbeit – im übrigen auch deine Männer. Aber lass mich bitte ein Mal im Jahr ohne Aufsicht ausgehen. Ich entbinde dich auch schriftlich von deiner Pflicht; ist das ein Angebot? Und als mein langjähriger Freund bitte ich dich, mir diesen Gefallen zu erweisen.“
Er lehnte sich zurück, schlug ein Bein über das andere und nahm das Ende des Brillenbügels zwischen die Lippen. Der Sicherheitschef dachte kurz nach, entspannte sich ebenfalls ein wenig und schlug vor: „Wir fahren in Zivil mit dir hin, durchsuchen das Haus und fahren dich nach der Party wieder nach Hause. Während der Feier postieren sich vier Mann rund ums Haus. Das gewährt dir größtmögliche Freiheit und mir größtmögliche Sicherheit. Was hältst du davon?“ Peter sprang auf, gab ihm sofort einen Handschlag und bat ihn somit auch gleich, sein Zimmer zu verlassen. „Danke, du bist ein wahrer Freund!“, rief er ihm noch nach. Und als die Tür von außen geschlossen wurde kam noch leise der Nachsatz "und ein kleiner Wixer, der sich wichtig machen will."
Am Abend des Festes konnte sich Peter nicht richtig entspannen. Der Tag war lang, die Amtsgeschäfte mühsam und teilweise nervenaufreibend. Jetzt liefen seine drei Kinder ständig herum, stritten sich, verpetzten einander, schlugen mit den Türen und standen ihm pausenlos im Weg,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Bildmaterialien: Rosel Eckstsein
Tag der Veröffentlichung: 19.04.2015
ISBN: 978-3-7368-9032-9
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dieses Buch ist all jenen gewidmet, denen hungernde Menschen nicht gleichgültig sind.