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Leseprobe

 

 

 

Professor Eberbach auf Froschjagd

 

(Ausschnitt) 

 

 

Folgendes hatte sich in einer Biologiestunde von Professor Eberbach zugetragen: Seine monotone Vortragsart hatte Jean-Jacques wie gewöhnlich eingelullt. Wenn Eberbach Jean aus seinen Träumen reißen wollte, schrie er gewöhnlich: „Schant Schack!“

   Die zweifach falsche Aussprache des Vornamens von "Jean-Jacques" klang dann so scharf wie ein Pistolenschuss. Auch dieses Mal, als das grelle „Schant Schack!“ in seinen Ohren klirrte, war Jean wie gewünscht erschrocken zusammengezuckt. Das Baumhaus, in dem er noch soeben ein spannendes Buch gelesen hatte, verblasste und wurde zu einer Anklageschrift in einem Gerichtssaal. Die stechenden Augen des unbarmherzigen Richters durchbohrten ihn.

  „Das Klassenzimmer ist kein Schlafsaal für Clochards!“, säuselte nun der Jäger mit einem triumphierenden Grinsen. „Wenn du pennen willst, Schant, bleib doch auf deiner Stammbank liegen. Das Gymnasium ist zu anstrengend für dich. Versuch es doch in einer Baumschule!“

  Die Schüler brüllten, tobten, trommelten auf die Bänke. Eberbach bedankte sich mit einer beschwichtigenden Geste für den ohrenbetäubenden Applaus.

  Jean stand auf und blieb solange stumm stehen, bis der Lärm verebbt war. Die Schüler drehten sich alle nach ihm fragend um. „Was hat denn der Blödmann vor?“, flüsterte Hans Karl ins Ohr. Der zuckte nur mit den Schultern und antwortete leise: „Keine Ahnung!“

  Als es im Klassenzimmer so still geworden war, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören, erklang Jeans dunkle Bassstimme:

  „Frère JacquesFrère Jacques, dormez-vousdormez-vous … 

  Eberhaus starrte Jean entgeistert an. Sein Gesicht verfärbte sich blutrot. Als Jean mit kräftiger Stimme die zweite Strophe in Angriff nehmen wollte, brannten dem Eber endgültig die Sicherungen durch.

   „Schant!“, donnerte er. Die Fensterscheiben klirrten und die Eingangstüre schepperte.

  „Hör sofort auf!!!“, kreischte er.

  Jean verstummte.

  „Warum hast du gesungen?!“ Die Lippen des Professors bebten und die Nasenflügel flatterten.

  „Sie haben mir doch befohlen zu singen“, antworte Jean mit einem unschuldigen Engelsblick.

  „Ich soll dir befohlen haben zu singen?!“, entgegnete der Professor außer sich. Er wandte sich der Klasse zu und fragte: „Hab ich in dieser Stunde das Wort singen in den Mund genommen?"

  „Nein, Herr Professor!“, riefen die Schüler wie aus einem Munde.

  Nur Karl schwieg. Er ahnte, was Jean beabsichtigte, weil er französische Verwandte hatte, und Französisch ziemlich gut beherrschte.

  Jeans Augen funkelten siegesgewiss. „Sie haben mich Schant genannt. Ich heiße aber Jean, wenn sie nur den ersten Teil meines Vornamens aussprechen. Wenn Sie jedoch Schant statt Jean sagen, ist das der Imperativ von chanterChante entspricht dem deutschen Imperativ von singen, also sing!

  Eberbach holte tief Luft und schrieb dann an die Tafel:

 

Jean/Schant

Chante!/sing!

 

  „Jean hat recht“, sagte er schließlich mit einem verkrampften Lächeln. „Wenn man das J von Jean wie ein Sch ausspricht und dann auch noch ein anhängt, wie ich das zu tun pflege, um Jean aufzuwecken, bedeutet Schant  auf Deutsch sing!“

  Der Professor räusperte sich.

  „Jetzt aber Schluss mit dem Französisch-Unterricht. Sonst wird Kollege Berger, der das Glück hat, euch in die Geheimnisse der französischen Sprache einzuweihen, glauben, dass ich ihm Konkurrenz machen will!“

  „Jean Jacques?!“, sagte er nun in korrekter Aussprache mit einem süßlichen Lächeln.

  „Oui, Herr Professor. Soll ich weiter singen?“

  „Nein, danke Jean. Auf diesen Ohrenschmaus werden wir heute leider verzichten müssen!“

  Er lächelte gönnerhaft.

  „Jean-Jacques?!“

  „Oui, Monsieur?“

  „Kannst du mich jetzt richtig verstehen?“

  „Gewiss, Herr Professor“, antwortete er zögernd.

  „Könntest du mir großzügigerweise deine Hausübungen anvertrauen?“

  Jean blickte betroffen zu Boden. Er hat es doch geahnt! Das ist also die Retourkutsche. Gemeiner Kerl!

  „Na, Jean; sollten wir noch immer Verständigungsprobleme haben?“

  „Nein, keineswegs", erwiderte Jean mit einem gequälten Lächeln. „Ich habe aber leider ...“

 „Keine Zeit gehabt“, setzte der Professor fort, „die lästigen Hausübungen vollständig zu machen ...“ Er lächelte verständnisvoll.

  „Aber das macht doch nichts Jean. Wir sind doch schon mit kleinen milden Gaben zufrieden. Zeig nur her, was du hast. Den Rest kannst du, wie gewöhnlich, mit Zinsen bis zur nächsten Biologiestunde nachreichen.“

  Jean beugte sich wütend über seine Tasche. Mit Zinsen bedeutete, dass er nicht nur die fehlenden Hausübungen nachbringen musste, sondern auch noch Sonderübungen aufgebrummt bekam, für die er mindestens sechs Nachmittagsstunden verschwenden musste.

  Die ganze Klasse beobachtete gespannt, wie Jean in seiner abgeschürften Ledertasche herumwühlte: Ein in Zeitungspapier eingewickelter Gegenstand fällt zu Boden und platzt auf. Einige grob geschnittene Butterbrote ohne Wurst kommen zum Vorschein. Jean rafft sie hastig zusammen, und lässt sie errötend in seinem Bankfach verschwinden. Er seufzt erleichtert, als er schließlich ein zerknittertes mit Fettflecken verziertes Heft herauszieht. Als er es auf die Bank legen will, stößt er versehentlich mit dem Ellbogen gegen die Tasche. Der ganze Inhalt fällt polternd zu Boden. Ein Einmachglas zerspringt klirrend. Eine Wasserlache dehnt sich auf dem Fußboden aus. Alle Schüler springen auf, um besser sehen zu können. Tosendes Gelächter erfüllt den Klassenraum.

  „Ruhe! Ruhe!“, tobt Eberhaus. Seid sofort still!“ Vergeblich. Seine zornigen Schreie gehen im ohrenbetäubenden Tumult unter.

  Harald, der vor Jean sitzt, spürt plötzlich, wie kaltes Wasser in seine Sandalen rinnt. Er zieht sie aus, um besser plantschen zu können. Da fühlt er, wie etwas Kühles und Weiches über seine nackten Füße kriecht.

  „Dieter“, haucht er mit bebender Stimme seinem Sitznachbarn ins Ohr. „Schau doch mal, was da über meinen Fuß krabbelt!“

  Er bückt sich und kichert. Kurz darauf taucht er mit geschlossenen Händen auf. Er öffnet sie vorsichtig. Schwupps! Ein großer grünlich glänzender Frosch plumpst auf Haralds Biologieheft.

  „Ein Frosch! Ein richtiger Frosch!“, johlt die ganze Klasse. Stühle fallen krachend um. Bänke werden umgestoßen. Schüler rempeln sich an, treten sich auf die Füße, springen hoch, um besser sehen zu können; schreien und beschimpfen sich. Die Klasse hat sich in einen brodelnden Hexenkessel verwandelt.

  Eberbach rauft sich die spärlichen Reste seiner längst vergangenen Haarpracht. Der Frosch dominiert das Unterrichtsgeschehen. Er hat ihn ausgebootet. Niemand schenkt ihm mehr Beachtung.

  „Lasst den Frosch in Ruhe!“, schreit schließlich Jean zornig. Er hebt drohend seinen Stowasser, das Lateinwörterbuch, hoch. „Ihr werdet das arme verängstigte Tier zerquetschen! Geht sofort zurück; sonst werde ich euch auf eine verdammt unangenehme Art und Weise Latein einbläuen!“

  Die Schüler weichen sofort zurück. Sie wissen, dass es Jean mit seiner Drohung ernst meint. Jeans Hände nähern sich vorsichtig dem heftig atmenden Frosch. Nur noch wenige Zentimeter trennen ihn vor dem armen Tier. Er greift blitzschnell zu. Nicht schnell genug! Mit einem weiten Sprung bringt sich der Frosch in Sicherheit und landet weich im Ausschnitt von Beates Bluse. Sie schreit in Panik „iiih!“ und schüttelt sich. Der Frosch macht einen gewaltigen Satz über die Köpfe der Schüler und plumpst auf das geöffnete Klassenbuch auf dem Lehrerpult.

  Eberbach starrt entgeistert auf den großen Frosch, der mit großem Interesse die Eintragungen zu lesen scheint.

  Na warte! , denkt er ergrimmt. Dir werd ich gleich das Handwerk legen! Welch pralle Schenkel! Er sieht sie schon goldgelb in der Pfanne brutzeln. Die Krallen schließen sich über das in Angststarre verfallenen Tier.

  „Ich hab ihn!“, schreit Eberbach erleichtert. Er öffnet ein wenig die Hände, um festzustellen, ob er den Störenfried nicht zerdrückt hat. Dieser quetscht sich aber wie eine Schlange durch den Spalt, prallt gegen die Brille des Professors und landet wieder auf dem Lehrerpult. Die sofort nachstoßenden Habichtsklauen verfehlen ihn nur knapp. Der Frosch springt auf den Fußboden und hüpft in Richtung der Klassentür. Eberbach hechtet ihm nach und macht eine glatte Bauchlandung …

  Die Schüler sind in Ektase. Sie grölen, trommeln mit den Fäusten auf die Tische und mit den Füßen auf das Parkett. Bilder fallen herunter, Bücher und Hefte segeln durch das Klassenzimmer, ein Kartenständer fällt krachend zu Boden ...

  Plötzlich wird die Tür aufgerissen. Der Direktor! Der Höllenlärm verstummt schlagartig. Er blickt fassungslos auf Professor Eberbach, der sich mühsam mit krebsrotem Gesicht aufrappelt.

  „Was geht hier vor?! Kollege Eberbach. Hier sieht es ja wie auf einem Schlachtfeld aus! Ich habe den Lärm bis in die Direktion gehört!“

  „Dieser Schant ... dieser Französe ... äh, ich meinte Franzose“, stottert er, „hat einen lebenden Frosch losgelassen. Die Schüler waren nicht mehr zu bändigen, weil das elende Mistvieh im Klassenzimmer herumsprang!"

  Der Direktor runzelte verständnislos die Stirn.

  „Ein Frosch?“

  „Ja, ein springlebendiger Teichfrosch. Ich hab ihn gerade noch erwischt!“ Er deutet mit dem Kopf auf seine geschlossenen Hände.

  Die Pausenglocke läutete.

  „Kommen Sie mit, Herr Kollege. Wir müssen überlegen, was in dieser Angelegenheit zu tun ist!“

  Der Direktor verlässt den Raum, ohne Jean eines Blickes zu würdigen. Eberbach folgt seinem Chef mit gefalteten Händen und gesenktem Haupt.

  

Der Direktor hat beschlossen, eine Disziplinarkonferenz anzuberaumen. Er leitete sie mit folgender Rede ein:

 

 

 

„LIEBE KOLLEGEN!

 

  Schülerscherze gehören zum Schulalltag. Das war immer so und wird auch so bleiben. Bestimmt könnte jeder von uns ein paar Beispiele zum Besten geben, wie er diesen oder jenen Professor zur Weißglut gebracht hat. Lachen ist ja bekanntlich gesund. Ich meine aber, dass es Grenzen gibt. Streiche, die die Autorität und das Ansehen eines Lehrers untergraben, oder solche, die gesundheitlichen oder materiellen Schaden zur Folge haben, sind aber keinesfalls tolerierbar.

  Wir können zwar dem Schüler Jean-Jacques nur den Vorfall mit dem Frosch zur Last legen, aber, es ist doch seltsam, dass es früher, als dieser Franzose noch nicht Schüler dieser Anstalt war, gemeine Scherze dieser Art bei uns nie gegeben hat.

  Ich möchte nur drei Fälle ins Gedächtnis rufen, die sich alle nach dem Erscheinen von Jean-Jacques in unserem Gymnasium ereignet haben:

  Kollege Semmelweich hat sich aufgrund eines angesägten Stuhlbeines so verletzt, dass er sechs Wochen arbeitsunfähig gewesen ist.

   Mehrere Kollegen und Kolleginnen wurden mit versteckter Kamera auf dem stillen Örtchen fotografiert. Wir haben ja alle noch das Gelächter der Schüler im Ohr, als Abzüge dieser Schnappschüsse unter den Klassenbänken zirkulierten. Besonders gemein war jenes Foto, das ins Internet gestellt wurde. Es zeigte unseren bereits pensionierten Studienrat Geylfried mit einer Pornozeitschrift in der Hand, die er dem Schüler Robert abgenommen hatte. Dieser war beim Studium einer bezaubernden jungen Eva so in Trance versetzt worden, dass ihm nicht mehr bewusst gewesen ist, dass er sich noch im Unterrichtsraum befand.

  Die englische Pfeife von Professor Knorr, auf die er so stolz gewesen ist, ist sicherlich nicht durch den herrlichen Tabak, der unserem ehemaligen Raucherzimmer eine ganz besondere Duftnote verliehen hatte, explodiert. Sein stattlicher Vollbart, den er jahrzehntelang gehegt und gepflegt hatte, war so versengt, dass nur eine Vollrasur Abhilfe schaffen konnte. Seit jenem Anschlag lässt er sich nicht mehr fotografieren!

  Schließlich möchte ich noch darauf hinweisen, dass wir vor wenigen Wochen vom zweiten Bombenfehlalarm in der Geschichte unseres Gymnasiums heimgesucht worden sind. Der erste fand statt, nachdem Jean-Jacques seine ersten drei Wochen am Ettensteiner Gymnasium verdöst hatte! Zufall? Vielleicht!

   Jean ist auch an jenem Wiener Gymnasium, das er nach einem einjährigen Aufenthalt verlassen hat, um uns mit seiner Anwesenheit zu beglücken, kein unbeschriebenes Blatt gewesen. Kollege Zack, ein Studienkollege von mir, ist dort Direktor. Ich habe ihn vor zwei Tagen wegen Jean-Jacques angerufen. Er hat mir lachend mitgeteilt, dass er und alle Kollegen heilfroh seien, dass Jean-Jacques ihr Gymnasium verlassen hat. Er hat sich zwar wie ein Durchschnittsschüler verhalten, aber es ist allen klar gewesen, dass er es faustdick hinter den Ohren hat. Er ist ein Freigeist, der sich um keinen Preis anpassen will. Man hat ihm zwar nur harmlose Delikte nachweisen können, aber der gesamte Lehrkörper ist überzeugt, dass die Mehrzahl der groben Scherze, die sich seltsamerweise alle in der Zeitspanne ereignet haben, in der er Schüler jenes Gymnasium gewesen ist, von ihm ausgeheckt worden sind. Auf jeden Fall haben sich dort nach seinem Fortgang keine vergleichbar groben Scherze mehr ereignet.“

  Direktor Stein räusperte sich und fuhr dann fort:

  „Die Eltern der Schüler unseres Gymnasiums schätzen Sie, liebe Kollegen. Viele von Ihnen waren auch Schüler dieser Anstalt. Sie vertrauen darauf, dass hier noch Zucht und Ordnung vorherrschen. Um diesem guten Ruf gerecht zu werden, müssen wir im Falle des Schülers Jean-Jacques ein Exempel statuieren. Das Ansehen unseres Gymnasiums steht auf dem Spiel. Wir sind Kollege Eberbach Beistand schuldig. Sein Unterricht ist für uns alle beispielhaft. Wenn er unterrichtet, kann man im Klassenraum keine Stecknadel fallen hören. Ja, wenn man an der Klassentür vorbeigeht, hat man den Eindruck, dass er allein in der Klasse ist! Bei meinen Besuchen konnte ich immer wieder feststellen, dass Kollege Eberbach ein ausgezeichneter Pädagoge ist. Die Schüler schreiben ruhig mit, heben diszipliniert die Hand, wenn sie etwas sagen wollen, und reden nur, wenn es ihnen der Professor gestattet. Und dann der Unterrichtsertrag! Ich habe immer wieder feststellen können, dass die Schüler den durchgenommen Stoff fast wörtlich wiedergeben können!

  Jean-Jacques hat unseren geschätzten Kollegen nicht nur in der 9A, sondern in der ganzen Schule und darüber hinaus lächerlich gemacht. Dazu kommt noch, dass sich Kollege Eberbach beim Einfangen des Frosches auch noch das rechte Knie verletzt hat.

  Wenn wir Scherze dieser Art tolerieren, können wir hier bald ein Irrenhaus aufmachen! Eine solche Unverschämtheit und Respektlosigkeit können wir uns nicht bieten lassen! Wir müssen ihm deutlich zeigen, dass man sich bei uns nicht so aufführen darf. Er wird uns dafür einmal dankbar sein. Gehorsam, Disziplin, Ordnung, Fleiß und Sauberkeit sind die wichtigsten Tugenden. Früher wurden diese spätestens in der Grundschule vermittelt und bei der militärischen Ausbildung vertieft. Heutzutage hoffen verzweifelte Eltern, dass wir ihren Kindern, die in den Kuschelecken der Kindergärten und Grundschulen antiautoritär verwöhnt wurden, jene Werte beibringen. Für die Knaben bleibt als letzte Chance nur noch der Militärdienst, aber der ist ja leider heutzutage in Deutschland nicht mit dem vergleichbar, der den jungen Leuten in den ersten Jahrzehnten der Nachkriegszeit angeboten wurde. Einen Jean hätte man innerhalb weniger Wochen gezähmt und auf ein erträgliches Maß zusammengestutzt. Zucht, Ordnung und vor allem Disziplin fehlen der heutigen Jugend! Wir müssen einen Beitrag leisten, dass das Heer von ewigen Protestierern, Wehrdienstverweigerern, beruflichen Sozialhilfeempfängern, Gammlern, Drogensüchtigen, Punks und Glatzen, die empfänglich für radikale Ideen, wie die des IS sind, nicht noch größer wird. Zu erwähnen ist noch, dass Jean der einzige Schüler der Klasse ist, der sich vom Religionsunterricht abgemeldet und nicht am Konfirmandenunterricht teilgenommen hat.

  So, das ist alles, was ich Ihnen, meine geschätzten Kollegen, zu bedenken geben wollte, ehe wir ein Urteil, äh, ich meinte natürlich eine Entscheidung fällen! Kollege Wachtel, holen Sie doch bitte den Schülervertreter herein!“

  Als dieser Platz genommen hat, hebt Kollege Kirsch die Hand. Der Direktor erteilt ihm sichtlich erstaunt das Wort; denn es ist das erste Mal, dass er sich bei einer Konferenz zu Wort gemeldet hat.

  Kirsch steht auf. Professor Hinterhäuser, der bei Konferenzen stets eine Zeitung oder ein Buch zu lesen pflegt, legt seine Lektüre beiseite, blickt interessiert in Richtung des Kollegen Kirsch.

  „Der Schüler Jean-Jacques hat mich gebeten“, beginnt Professor Kirsch, „seine Verteidigung zu übernehmen. Wir kennen ihn erst wenige Monate. In einer solch kurzen Zeitspanne ist es schwer, sich ein gerechtes Bild über einen jungen Menschen zu machen. Wir sehen Jean nur ein paar Stunden in der Woche, und dann auch nur in der Schule. Ich kann ihn also nur so beschreiben, wie ich ihn in meinen Stunden erlebt habe. Ich schätze seine offenen ehrlichen Aussagen. Er kritisiert gerne andere, gibt aber auch seine Schwächen zu. Das ist in seinem Alter ein Zeichen von bemerkenswerter Reife. Jean hat mir gegenüber nur Andeutungen über sein Zuhause gemacht. Er scheint auf jeden Fall sehr oft alleine zu sein.

  Ich habe ihn gefragt, ob er das Glas mit dem Frosch absichtlich fallengelassen hat. Er hat das empört zurückgewiesen. Er sei doch kein Tierquäler. Er habe den Frosch in der Tasche gehabt, weil Professor Eberbach die Schüler gebeten habe, Amphibien mitzubringen.“

  Professor Kirsch hielt einen Augenblick inne, und fuhr dann mit fester Stimme fort: „Ich bin überzeugt, dass Jean die Wahrheit gesagt hat. Solange keine konkreten Beweise vorliegen, können und dürfen wir ihn für die anderen Ereignisse, die Sie Herr Direktor erwähnt haben, nicht verantwortlich machen. Stellt Sie sich vor, wie lächerlich wir uns machen, wenn eines Tages herauskäme, dass Jean mit jenen Streichen nichts zu tun gehabt hat!“

 

   Professor Kirsch setzt sich. Im Konferenzraum herrscht betretenes Schweigen. Der Direktor schreibt etwas mit gerunzelter Stirn in sein Notizbuch und sagt dann sichtlich verärgert:

  „Möchte der Schulsprecher etwas zum Fall Jean-Jacques sagen?“

  Der Zwillingsbruder von Gregor, Willi, erhebt sich.

  „Ich freue mich, dass Professor Kirsch so positiv über Jean-Jacques gesprochen hat. Als Schulsprecher habe ich die Aufgabe, Jean zu vertreten und zu verteidigen. Ich muss gestehen, dass mir diese Aufgabe heute schwerfällt. Jean ist ein Sonderling. Er weigerte sich, mit mir über die Froschgeschichte zu reden. Ja, er machte sogar mit dem Finger ein eindeutiges Zeichen und ließ mich einfach stehen.

  Jean ist bei seinen Klassenkameraden äußerst unbeliebt. Er sucht keinen Kontakt und hat so natürlich keine Freunde, weder in der Klasse noch in der ganzen Schule. Bei Schulveranstaltungen sondert er sich ab. Ebenso ist er bei Fußballspielen immer nur Zuschauer. Professor Springbein kann dies sicherlich bestätigen!“

  Der so Angesprochene nickt und sagt mit einem breiten Grinsen: „Jean ist ein typischer Feiertagsmensch. Er will sich um keinen Preis körperlich anstrengen! Sogar das Duschen ist ihm zu viel. Wir sind ihm aber alle dankbar, wenn er sich nicht umzieht!“ Er macht eine Grimasse und hält sich die Nase zu.

  Der Lehrkörper bricht in schallendes Gelächter aus. Nur die Gesichter von Professor Kirsch, Frau Professor Fröhlich und Professor Hinterhäuser bleiben ernst.

  Nachdem sich das Gelächter gelegt hat, fährt Willi grinsend mit seiner Rede fort:

  „Ich kann leider nichts Positives über Jean sagen. Er ist nicht nur unbeliebt, sondern auch gefährlich. Wenn er in Zorn gerät, ist er unberechenbar. Wir fürchten uns vor ihm. Er ist ein Schlägertyp. Jean ist nicht nur körperlich sehr stark, sondern verfügt auch noch über äußerst gute Judokenntnisse. Mehrere Male hat er bewiesen, dass er es mit jedem noch so muskulösen Schüler der höheren Klassen aufnehmen kann. Ein Schüler, dessen Name ich nicht preisgeben darf, weil er sich vor der Rache Jeans fürchtet, behauptete, dass er beweisen könne, dass Jean hinter den anonymen Bombendrohungen steckt. Ich meine daher, dass es in diesem Falle auch im Interesse der Schüler liegt, Jean eine spürbare Lektion zu erteilen. Wo es keine Disziplin und Ordnung gibt, kann auch nicht erfolgreich gelernt werden!“ Nach diesen Worten setzt er sich. 

   Nachdem der Beifall verstummt war, nickte der Direktor Willi anerkennend zu.

  „Da sieht man mal wieder, dass nicht alles, was wir hier tun, vergeblich ist. Die heutige Jugend ist besser als ihr Ruf! Willi hat das Zeug zu einem guten Pädagogen. Ich würde mich sehr freuen, ihn hier eines Tages als Kollegen begrüßen zu dürfen!“

   Wieder zollt der Lehrkörper Willi ohne jene drei Professoren tosenden Beifall. Willi bedankt sich mit einem bescheidenen Lächeln.

  Professor Wehrenpfennig, der freiwillig ein Jahr länger in der Bundeswehr gedient hat, und sich bemüht, den Schülern den Wehrdienst schmackhaft zu machen, meldet sich zu Wort und erhebt sich zackig:

  „Ich kann leider nur das bestätigen, was Sie geehrter Herr Direktor und der Schulsprecher gesagt haben. Er hat mir frech ins Gesicht geschleudert, dass der Wehrdienst merde sei. Er lasse sich nicht zu einem gehorsam blökenden Schaf trimmen. Er ziehe den Zivildienst vor. So würde er wenigstens etwas Nützliches für die Allgemeinheit tun. Wir müssen ihm zeigen, dass wir uns seine Respektlosigkeit und seine Frechheiten nicht gefallen lassen!“

  Wieder tosender Beifall mit drei Ausnahmen.

  „Ich glaube, wir können jetzt abstimmen“, sagt der Direktor, indem er etwas in sein Notizbuch schreibt, „oder will noch jemand etwas sagen?“ Er übersieht Kollegin Fröhlich, die ganz hinten ihre Hand zaghaft in die Höhe hebt. 

  „Also niemand. Kollege Eberbach. Sie können jetzt ihren Antrag stellen!“

  Er erhebt sich schwerfällig.

  „Ich beantrage, dass dem Schüler Schant, ich meine Jean-Jacques, der Schulausschluss angedroht wird!“

  „Wer ist dagegen?“, fragt der Direktor.

  Im Hintergrund erhebt sich wieder die Hand, die ignoriert worden ist, und danach die von Professor Kirsch. Es folgen vier weitere. Darunter die von Professor Hinterhäuser. Der Direktor notiert mit Stirnrunzeln, sichtlich verärgert, die Namen der sechs abtrünnigen Professoren.

  „Der Antrag ist somit mit sechs Gegenstimmen angenommen. Ein klares Ergebnis; dennoch bedauerlich, dass nicht der ganze Lehrkörper Professor Eberbach unterstützt hat!“

 

 

  Eine Woche später sind alle Klassen in der ersten Stunde im Festsaal versammelt. Eine Theateraufführung soll besprochen werden. Wie gewöhnlich ist den Professoren nicht aufgefallen, dass Jean fehlt. Als sich zehn Minuten nach Unterrichtsbeginn die Tür des Festsaales öffnet, und Jean hereinkommt, nicken sich die Professoren Springbein und Eberbach zu.

  „Unser Froschkönig beehrt uns mit seinem Besuch! Herzlich willkommen!“, ruft Eberbach grinsend.

  Die Schüler drehen sich lachend um und betrachten Jean schadenfroh.

  „Komm bitte nach vorne!“, sagt Springbein mit einem jovialen Lächeln.

  Jean geht zögernd auf dem Mittelgang auf die beiden Professoren zu. Er spürt, dass sie etwas Böses im Schilde führen. Er bleibt zögernd vor den beiden stehen.

  „Einen schönen guten Morgen Jean-Jacques!“, sagt Eberbach mit einem hinterhältigen Lächeln. „Wir befürchteten schon, dass wir heute auf deine Anwesenheit verzichten müssten. Wie nett von dir, dass du doch noch vorbeigeschaut hast!“

  Professor Springbein raunt seinem Kollegen etwas ins Ohr. Dieser nickt grinsend.

  „Jean“, sagt Eberbach freundlich. „Dreh dich doch bitte mal um!“

  Jean starrt ihn verständnislos an. Wenn er nur wüsste, welche Gemeinheit die beiden ausgeheckt haben!

  „Nun mach schon!“, befiehlt Professor Springbein.

  Jean dreht sich zögernd zu den Schülern um. Er spürt die stechenden Blicke, die seinen Nacken durchbohren.

  „Unglaublich!“, hört er Springbein ausrufen. „Da sind ja richtige Jahresringe auf dem Hals. Jean spürt, wie ihm das Blut in den Nacken schießt und die Ohren zu glühen beginnen.

  „Da hilft nur noch die Waschstraße!“, feixt Eberbach. „Du kannst Platz nehmen!“

  Jean geht langsam mit gesenktem Haupt auf die Eingangstür zu,  vorbei an den hämisch grinsenden kichernden Fratzen seiner Klassenkameraden und aller anderen anwesenden Schüler.

  „Wasser ist zum Waschen da ...“, hörte er den Eber singen. Fast alle Schüler stimmen sogleich begeistert ein:

 

Wasser ist zum Waschen da,

falleri und fallera,

auch zum Zähnpützen

kann man es benützen.

Wasser säuft das liebe Vieh,

fallera und falleri,

auch die Feuerwehr

benötigt Wasser sehr ...

 

  Karl und Hans schweigen. Doris und Christine, die mit den anderen Schülerrinnen und Schülern der 8A hinten im Festsaal sitzen, drehen sich betroffen nach Jean um. Er sitzt mit hängendem Kopf auf einem Stuhl in der letzten Reihe und wischt sich verstohlen die Tränen ab ...

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Hilfe, Brutus ertrinkt!

 

 

 

  „Jetzt Karl!“, ruft Doris aufgeregt und zeigt auf einen Schwarm silbrig glitzernder kleiner Fische.

  Er ergreift vorsichtig die lange Haselnussrute und stemmt die Füße gegen den Boden. Er muss ganz ruhig bleiben. Eine kleine Bewegung genügt, um die scheuen Fische zu vertreiben. Das grüne quadratische Netz aus engmaschigem grünem Fliegendraht, das am Ende einer langen Haselnussrute hängt, hebt sich langsam. Die Fische schweben noch immer über dem Netz. Fast unmerklich nähert sich das nach unten gewölbte Drahtgeflecht der Wasseroberfläche. Karl hält den Atem an. Auf seiner Stirn bilden sich dicke Schweißperlen. Jetzt! Ein kurzer kräftiger Ruck und dann zappeln gut hundert Fische auf dem Netz.

   „Super!“, ruft Hans und schlägt seinem Freund begeistert auf die Schultern. „Solch einen tollen Fang haben wir noch nie gemacht!“

  Doris und Christine nicken zustimmend.

  „Glück gehabt!“, entgegnet Karl. „Gestern sind sie mir alle entwischt!“ Er schwenkt das Netz vorsichtig ins seichte Wasser und steckt das Ende der Rute in den Sand. Die vier Freunde beugen sich über den Fang. Der geringe Betrag für den Kauf des Fliegendrahtes hat sich wirklich gelohnt!

  Christines grüne Katzenaugen funkeln Karl anerkennend an.

  „Du hast zwei Molche gefangen“, sagt er mit niedergeschlagenem Blick. „Das ist mir noch nie geglückt. Doris und Hans haben Kaulquappen aus dem trüben Wasser gefischt. Wir alle haben heute einen guten Tag gehabt!“

  Doris streicht sich ihre langen schwarzen Haare aus dem Gesicht.

  „Nehmen wir alle Fische mit?“

  „Das wird wohl kaum möglich sein“, meint Karl lächelnd. „Bedenke, dass wir nur noch ein leeres Aquarium haben!“

  „Wir könnten doch auch Einmachweckgläser nehmen", schlägt Hans vor. „Bei uns zu Hause stehen davon seit vielen Jahren jede Menge im Keller herum!“

  Christine lächelt geringschätzig.

  „Wie gescheit doch mein lieber kleiner Bruder wieder einmal ist! Ich glaube, es wäre sinnvoller, dich einzumachen; da ist wenigstens etwas dran!“

  „Sehr witzig, schönes Mädchen!“, schnauft er, indem er über seinen prallen Bauch streicht. „Du hast ein entzückendes Kleid an; leider schon etwas dreckig!“ Er pfeift schäbig grinsend einige Takte aus dem Donauwalzer. „Es ist Damenwahl. Hier ist ein schönes Molchmännchen. Willst du es nicht zum Tanz auffordern?“

  „Hör sofort mit dem dämlichen Quatsch auf!“, faucht Christine mit gefährlich funkelnden Augen. „Sonst wirst du gleich alleine tanzen!“

  Hans grinst und weicht vorsichtshalber einige Schritte zurück. Er kennt sein Schwesterchen nur zu gut. Aus leidvoller Erfahrung weiß er, dass es jetzt besser ist zu schweigen. Er hat schon oft genug mit ihren scharfen Krallen und dem schnellen Fuß schmerzhafte Bekanntschaft gemacht.

  „Seid doch friedlich!“, mischt sich Karl ein. „Wir brauchen die Fische nicht einzuwecken. Es genügt, wenn wir drei schöne Paare mitnehmen. Stichlinge vermehren sich schnell genug. Gestern hat ein Lastwagen eine Ladung alte Fenster in die Müllgrube gekippt. Viele Scheiben sind ganz geblieben. Es sind starke Gläser; ideal für Aquarien.“

  Er wählt drei schöne Paare und gibt sie in einen mitgebrachten Plastikeimer. Die anderen Fische entlässt er mit einem Seufzer in die Freiheit.

 

 

 Die vier Freunde halten sich gern beim Schlossgraben auf. Es ist ihr Reich. Die Bewohner des nahen Städtchens Ettenstein meiden diese Gegend, weil es dort nur stinkenden Sumpf, dorniges Gestrüpp und im Sommer unzählige Stechmücken gibt. Nur im Frühling und Herbst bahnen sich gelegentlich Angler einen Weg durch den verfilzten Auwald und werfen im Schlossgraben ihre Angeln aus. Zu diesen zählt ein großer bärtiger Mann, der allerdings in großen zeitlichen Abständen das ganze Jahr über, immer an derselben uneinsichtigen Stelle, mit einer Angel in der Hand, auf dem Stamm einer halb im Wasser liegenden Trauerweide sitzt. Er trägt bei jedem Wetter eine dunkle Brille und einen breitkrempigen Hut, den er so tief ins Gesicht zieht, dass man sein Gesicht nicht erkennen kann. Sobald Mücken auftauchen, hüllt er sich mit dem Rauch seiner Pfeife ein. Sein Stammplatz ist aber glücklicherweise weit von jenem Abschnitt des Grabens entfernt, wo sich die vier Freunde gewöhnlich aufhalten. Karl, Hans und die beiden Mädchen sind auf diesen seltsamen Angler zufällig bei der Suche nach Pilzen gestoßen. Sie hatten sich mühsam durch verwachsenes dorniges Gebüsch gezwängt, als sich plötzlich vor ihnen ein grüner mannshoher Tunnel auftat. An den frischen Schnittstellen konnten sie erkennen, dass sich hier jemand vor kurzer Zeit mit einem Buschmesser einen Weg gebahnt haben musste. Neugierig geworden, folgten sie auf leisen Sohlen dem Weg. Er führte, wie sie vermutet hatten, zum Graben. Als sie nur noch wenige Meter vom Wasser entfernt waren, erblickten sie plötzlich nach einer Wegbiegung, wenige Meter vor ihnen, jenen bärtigen Mann mit dem breitkrempigen Hut und einer Pfeife im Mund. Die Angelrute ruhte auf einer in den Schlamm gestoßenen Astgabel. Der Mann schaute aber nicht in Richtung der Angelschnur und des Schwimmers, sondern betrachtete einen großen ovalen bräunlichen Gegenstand, den er an einer silbernen Kette am Hals trug. Der Angler war so in Gedanken versunken, dass er die Anwesenheit der vier Kinder noch nicht bemerkt hatte. Als er sich ein wenig zurücklehnte, funkelte das Schmuckstück in der Sonne. Christine, die einige Schritte vor ihren Freunden stand, sah nun deutlich, dass es ein bräunlicher Stein war, in dem ein Auge eingefügt war. Sie zuckte zusammen, als es hinter ihr knackte: Es war Doris, die auf einen trockenen Ast getreten war!

  Sofort wandte er sich um. Obwohl seine Augen durch den Hut und die Brille verdeckt waren, war sein Blick so furchterregend, dass die Vier vor Schreck gelähmt, wie angewurzelt auf derselben Stelle verharrten. Aber, als er mit einem mörderischen Grinsen eine Machete hervorzog, liefen sie schreiend in Panik davon. Der Mann hatte kein Wort gesagt, und war ihnen auch nicht gefolgt.

  Als sie sich in Sicherheit fühlten, und sie sich beruhigt hatten, lachten sie über den Vorfall. Der Mann war wahrscheinlich ein harmloser Angler gewesen, der ihnen einen Schrecken einjagen wollte, damit sie nie wieder seine Ruhe störten. Sie beschlossen aber sicherheitshalber, in Zukunft einen großen Bogen um jenen seltsamen Angler zu machen.

  Christine wälzte sich  in der folgenden Nacht unruhig in ihrem Bett hin und her. Der große ovale Gegenstand, den jener Angler in der Hand gehabt und betrachtet hatte, ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie war sich sicher, ihn irgendwo schon einmal gesehen zu haben. Schließlich überwältigte sie doch die Müdigkeit. Sie schreckte aber nach nicht einmal einer Stunde aus dem Schlaf auf, und erinnerte sich, von einem großen braunen Auge, dessen Pupille  sich zusammenzog und sich dann wieder weitete, geträumt zu haben. Da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Natürlich! Das berühmte Foto von der Großmutter ihrer Mutter! Sie trägt eine lange silberne Halskette. Unten hängt ein großer hellbrauner ovaler Bernstein, in den ein Auge eingefügt ist. 

  Sie schleicht ins Wohnzimmer und findet dann auch nach kurzer Suche in einer Schublade das gesuchte Foto. Es ist leider nur eine Schwarz-Weiß-Fotografie; aber die Halskette ist so, wie sie sie in Erinnerung hat: Unten hängt ein großer ovaler Bernstein, in dem ein Auge eingearbeitet ist. Es ist so perfekt gestaltet, dass man den Eindruck hat, dass es lebt!

  Sie kennt die Geschichte von diesem einzigartigen Bernstein. Die Urgroßmutter Bertha aus Königsberg hat sie ihrer Tochter und diese Christines Mutter erzählt. Schließlich haben auch Christine und Hans  erfahren, wie die Kette in den Besitz von Bertha gelangt ist: Bertha ist einmal an einem frostigen Abend, kurz vor Weihnachten, am Schlossteich von Königsberg spazieren gegangen. Plötzlich vernimmt sie ein leises Wimmern. Als sie dem Geräusch nachgeht, entdeckt sie in einer Ecke unter Karton und Decken eine ältere Frau, die dort offensichtlich ihren Schlafplatz hat.

  Berthas Mann war gar nicht begeistert, als sie mit dieser Frau in zerlumpten schmutzigen Kleidern auftauchte. Er wollte sie in einem Obdachlosenheim unterbringen; aber Bertha bestand darauf, die arme Frau, deren Gesicht und Hände blau angelaufen waren, in dem geräumigen Haus unterzubringen. Als sie sie aufgepäppelt und gesund gepflegt hatten, stellte sich heraus, dass sie sehr gut kochen konnte, und eine fleißige, freundliche und dankbare Person war. Schließlich wurde der Vorschlag von Bertha, die Frau als Hausgehilfin und Köchin aufzunehmen, von allen Familienmitgliedern angenommen. Alle sind sehr traurig gewesen, als sie im Jahre 1934 an einer Lungenentzündung verstarb. Kurz vor ihrem Tod hatte sie Bertha ihre Halskette mit dem Bernstein, in dem ein seltsam lebendig wirkendes Auge eingefügt war, geschenkt. Sie soll sie immer tragen. Der Bernstein wird sie beschützen. Bei Gefahr wird er aufleuchten. Wenn sie dreimal mit dem Finger um die silberne Einfassung kreist, öffnet sich der hintere Teil des Bernsteins. Dort wird sie eine wichtige Botschaft finden. Tatsächlich klappte er hinten auf, als Bertha dreimal mit dem Finger um die Einfassung gekreist war. Mit einem Vergrößerungsglas konnte sie ein eingraviertes Kreuz und folgende Worte erkennen:

 

Wenn du ein guter Mensch bist, wird dich dieser Bernstein beschützen und führen; bist du jedoch ein böser, werde ich dich dorthin bringen, wo du  deine verdiente Strafe bekommst!

 

  Bertha hat diese Kette immer getragen. Der Bernstein hat immer wieder für Aufsehen gesorgt. Schon das Auge an sich war außergewöhnlich; aber dazu kam noch, dass sich die Pupille, wie bei einem echten Auge, den Lichtverhältnissen durch Ausdehnen oder Zusammenziehen anpasste. Man sprach daher vom "magischen Auge" Berthas.

  Als sich 1944 britische Bomberflotten mit Phosphorbomben an Bord Königsberg näherten, leuchtete das Bernsteinauge zum ersten Mal auf. Bertha floh mit allen Familienangehörigen aus der brennenden Stadt. In dem unbeschreiblichen Inferno der verglühenden Häuser und im Chaos der flüchtenden Menschenmassen, hat sie erst Tage später, als sie sich bei Verwandten auf dem Lande in Sicherheit glaubte, das Fehlen der Bernsteinkette bemerkt. Sie erinnerte sich dann, dass sie sie kurz vor der Flucht im Badezimmer abgenommen und in ein Kästchen gelegt hatte. Wegen der Bombardierungen Königsbergs war es nicht möglich gewesen, zurückzukehren; außerdem hatte sie von Nachbarn, die später aus der Stadt geflohen waren, erfahren, dass ihr Haus abgebrannt und eingestürzt sei. Sie ist über den Verlust sehr traurig gewesen; aber sie hatte noch ein Schwarz-Weiß-Foto von der Halskette.

   Alle Familienangehörigen sind unbeschadet in den von den Amerikanern besetzten Teil Deutschlands gelangt. Bertha ist überzeugt gewesen, dass der gute Geist jener alten Frau, die sie vor dem Erfrierungstod bewahrt hatte, ihr und ihrer gesamten Familie bei der geglückten Flucht in den Westen Deutschlands beigestanden hatte …

 

   Als Christine am nächsten Tag Hans und dann Karl und Doris das Foto zeigte, und ihnen die Geschichte von Berthas Bernsteinkette erzählte, waren alle tief beeindruckt, meinten aber einstimmig, dass sie es für mehr als unwahrscheinlich hielten, dass trotz der unbestreitbaren Ähnlichkeit, jener seltsame Angler dieselbe Bernsteinkette getragen haben könnte. Da niemand von ihnen bereit war, jenen furchteinflößenden Unbekannten zu fragen, wie er in den Besitz der Bernsteinkette gekommen war, beschlossen sie, die Sache ad acta zu legen.

 

   Der Schlosspark, umgeben von einem inneren und äußeren Graben, umfasste ungefähr dreißig Hektar. Er war so stark verwildert, dass er wie ein verwachsener Urwald aussah. Er gehörte, zusammen mit zweihundert Hektar Wiesen und Ackerland jenseits des äußeren Grabens, dem Grafen Herbert Laurin. Er hat den Besitz von seinem Vater, Graf Hans Laurin geerbt. Der Großvater, Friedrich Wilhelm Laurin, der das Schloss mit den Agrarflächen einst gekauft hat, ist mit Claus Schenk Graf von Stauffenberg befreundet gewesen, und hat ihn bei seinem Widerstand gegen den Nationalsozialismus unterstützt. Nach dem missglückten Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 in der Wolfsschanze bei Rastenburg, Ostpreußen, hat er sich mit seiner Frau und seinem Sohn mit gefälschten Papieren nach Argentinien in Sicherheit bringen können. Jedoch sein gesamter Besitz in Ettenstein und auch das Gut Raddeilen im Memelland, seit vielen Generationen im Besitz der Familie Laurin, wurden auf Anordnung Hitlers enteignet und treuen Hitleranhängern geschenkt. Nach dem Sieg über Hitlerdeutschland lag das Schloss Ettenstein mit den gesamten Agrarflächen im Gebiet der späteren DDR. Das Gut Raddeilen im Memelland wurde Teil einer russischen Kolchose, die mehrere Tausend Hektar Land umfasste. Ebenso wurde der Besitz des Grafen Friedrich Wilhelm Laurin in Ettenstein verstaatlicht, aber nur zum Teil landwirtschaftlich genutzt.

 

  Das Schloss mit dem Park und ein Teil der Agrarflächen jenseits der Gräben waren in der Ära der DDR als militärisches Sperrgebiet gekennzeichnet. Das gesamte Gebiet war mit zwei hohen elektrischen Zäunen abgesichert gewesen. Alle hundert Meter hatten sich Wachtürme befunden, die Tag und Nacht mit schwer bewaffneten Wächtern besetzt gewesen waren. Niemand hatte Genaueres über die Nutzung des Sperrgebietes gewusst; aber es musste von hoher militärischer Bedeutung gewesen sein, weil mehrere Male im Monat Staatslimousinen mit dunklen Scheiben, eskortiert von bewaffneten Soldaten auf Motorrädern, die  streng bewachten Einfahrtstore passiert hatten. In den vielen Jahren bis zum Fall der Berliner Mauer hatte man  aber nur das Schloss genutzt. Der große Park wurde sich selbst überlassen.

  Als schließlich die DDR mit der BRD vereinigt wurde, war es Graf Hans Laurin nach langen zähen Verhandlungen mit den zuständigen deutschen Behörden gelungen, seinen gesamten geerbten Besitz in Ettenstein zurückzubekommen. Seine Bemühungen, auch die Eigentumsrechte für das Gut Raddeilen, das nun im Staatsgebiet von Litauen liegt, wiederzuerlangen, scheiterten jedoch. Die zuständigen litauischen Behörden begründeten ihre Ablehnung mit der fadenscheinigen Erklärung, dass nur litauische Staatsbürger ihren verstaatlichten Besitz zurückbekommen könnten.

 

   Das Schloss hat sich bei der Übergabe in einem sehr schlechten Zustand befunden. So mussten vor allen Dingen die Dächer komplett erneuert werden. Niemand weiß, wie viel Geld der schon verstorbene Graf Hans Laurin und sein Sohn Herbert für die Renovierung des Schlosses ausgegeben haben. Es müssen aber Unsummen gewesen sein. Graf Herbert Laurin soll durch Immobiliengeschäfte steinreich geworden sein. Er hat seinen Hauptwohnsitz in Miami. Dort soll er eine Luxusvilla mit einem parkartigen Garten, Swimmingpools und eine riesige Golfanlage besitzen.

  Der innere Graben umschließt das auf einer felsigen Anhöhe gelegene Schloss mit dem kleineren Teil des Parks. Der äußere, der über Schleusen von der Oder gespeist wird, umfasst den weit größeren Parkbereich. Er ist ziemlich breit, aber in weiten Bereichen stark versumpft. Beide Gräben sind durch ein Kanalsystem miteinander verbunden. An den Uferzonen haben sich dichte Schilfgürtel gebildet, die im Laufe der vielen Jahre, in denen der Park sich selbst überlassen  gewesen war, an manchen Stellen schon zusammengewachsen sind.

  Graf Herbert Laurin hat die Bewohner der Stadt Ettenstein vor den Kopf gestoßen, weil er nur ortsfremde Firmen für die Renovierungsarbeiten herangezogen hat. Diese müssen sehr umfangreich gewesen sein; denn erst nach sechs Jahren ist der Arbeitslärm im Schloss verstummt. Mit Ausnahme von Paul Rousseau, dessen Vater mit der Familie Laurin befreundet ist, hat kein Ettensteiner jemals das Schloss von innen gesehen. Die Arbeiter jener Firmen haben sich nur selten in der Stadt blicken lassen. Wenn einige von ihnen vor der Heimfahrt in einer der vielen Kneipen der Stadt einkehrten, um ein Glas Bier zu trinken, sind sie, wenn man sie fragte, welche Arbeiten sie im Schloss vornehmen, sehr wortkarg gewesen. Der Graf habe angeordnet, niemandem zu erzählen, wie es im Schloss aussieht, und welche Arbeiten dort verrichtet werden. Sollte ihm zu Ohren kommen, dass sich jemand an diese Abmachung nicht gehalten habe, würde er sofort veranlassen, dass sich derjenige nicht mehr im Schloss blicken lassen darf. Trotzdem ist durchgedrungen, dass das Schloss nach Abschluss der Arbeiten innen und außen wieder wie auf den alten Ölgemälden im Ettensteiner Stadtmuseum aussieht. Es ist auch bekannt, dass der Graf, jedes Jahr im Herbst, eine Jagd mit Freunden im Schlosspark durchführt. Die Jagdbeute soll hauptsächlich aus Wildschweinen, die sich in der  Ära der DDR ungestört vermehren konnten, bestehen.

 

 

  Karl blickte nachdenklich in Richtung des Schlosses. Die Türme des Schlosses und der obere Teil des Schutzwalles, von Efeu und wildem Wein überzogen, überragten die Kronen mächtiger hoher Bäume. Wie gern würde er durch den verwilderten Park streifen. Der elektrische Zaun mit dem Minengraben aus der Zeit der DDR existierte zwar nicht mehr, aber der breite versumpfte Graben war ein gefährliches Hindernis. Außerdem hatte der Graf beim Graben große Warnschilder mit folgender Aufschrift aufstellen lassen:

 

 

Achtung! Bissige Wachhunde!

Schwimmen im Graben und Betreten

des Schlossparks

strengstens verboten!

Lebensgefahr wegen gefährlicher Sumpfgebiete!

 

  

  Die angeblich gefährlichen Hunde machten Karl und seinen Freunden jedoch keine Sorgen; denn nur im Herbst, wenn die Jäger auf der Pirsch waren, vernahmen sie Hundegebell jenseits des äußeren Grabens. Sie waren sich sicher, dass der Graf die bissigen Wachhunde nur erfunden hatte, um ungebetene Besucher abzuschrecken. Karl und seine Freunde sind zwar gute Schwimmer, aber sie wissen aus leidvoller Erfahrung, wie gefährlich es sein kann, in dem sumpfigen und stark verwachsenen Gewässer zu schwimmen. Nie werden Hans und er das fürchterliche Schnauben und Grunzen und dann jene entsetzliche Fratze mit rotgeränderten Augen und bleckenden Raubtierzähnen, die zwischen dem Schilf auf der anderen Seite des Grabens aufgetaucht war, vergessen!

  Die Angst hatte sie so gelähmt, dass sie beinahe ertrunken wären; aber irgendwie haben sie dennoch mit letzter Kraft das andere Ufer erreicht. Mit schlotternden Knien sind sie aus dem Wasser gestiegen und haben erst viel später bemerkt, dass sich Blutegel an ihren Gesäßbacken und Oberschenkeln festgesetzt hatten.

  Hans hat später behauptet, er habe auf dem Kopf der Bestie zwei kurze spitze Hörner gesehen. Die beiden Mädchen haben sie ausgelacht. Auf solch haarsträubende Lügengeschichten fallen sie nicht mehr rein. Zu oft haben die beiden Scherzbolde versucht, ihnen einen Bären aufzubinden!

  Die beiden schwuren jedoch Stein und Bein, diesmal, ausnahmsweise, nicht geflunkert zu haben; aber Doris hat nur belustigt gekichert, und mit den Fingern über ihrem Kopf zwei kleine Hörner andeutend, mäh, mäh gemacht.

  Sie haben daraufhin nur noch mutlos mit den Schultern gezuckt. Vielleicht ist die furchteinflößende Fratze nur ein morscher von roten Pilzen durchzogener Ast gewesen? Aber woher sollten die schrecklichen Laute, die sie vernommen haben, gekommen sein?! Alles nur Einbildung?!

  Wenige Tage später berichtete ein Spaziergänger, der seinem wie verrückt bellenden Hund nachgefolgt war, dass er auf der anderen Seite des Grabens ein unheimliches Wesen erblickt habe. Auch zwei Landwirte, deren gepachtete Felder und Wiesen bis zum äußeren Schlossgraben reichen, bestätigten, dass sie ebenfalls jenseits des Grabens zwischen dem Schilf ein seltsames behaartes Wesen, das grässliche Laute ausgestoßen habe, erblickt hätten.

  Viele Bewohner von Ettenstein halten es für ganz normal, dass das meist unbewohnte Schloss von Gespenstern heimgesucht wird. Ja, man ist sogar stolz darauf, dass es in ihrer abgeschiedenen unbedeutenden kleinen Grenzstadt ein richtiges Spukschloss gibt. Wer das Gruseln einmal hautnah erleben will, soll nach Ettenstein kommen. Die Gruselgeschichten, die in den Gasthäusern kursieren, lassen garantiert die Haare zu Berge stehen und das Blut in den Adern erstarren! Was man dort zu hören bekommt, übertrifft so manchen Horrorfilm ...

  Der seltsame Vorfall hielt die vier Freunde natürlich nicht davon ab, sich fast jeden Tag beim Graben aufzuhalten. Dennoch zuckte Karl zusammen und fuhr erschrocken herum, als er eines Tages hinter sich einen grunzenden Laut vernahm. Es war jedoch nur Christine, die ihn spitzbübisch lächelnd anblickte.

  „Na, winkt dir wieder einmal der Teufel oder das Gespenst von drüben zu!“, sagte sie mit einem unüberhörbar spöttischen Unterton.

  „Mach dich nur lustig über mich!“, entgegnete er, verlegen zu Boden blickend. „Eines Tages, wird er auch dich begrüßen!“

  „Ich freue mich schon sehr darauf!“, antwortete sie mit einem schwärmerischen Augenaufschlag. „Es wird bestimmt geil sein, seine Bekanntschaft zu machen. Nach euren Beschreibungen, muss er oder es sehr süß ausschauen!“

  Karl grinste hämisch.

  „Ja, wirklich süß. Es gibt da gewisse Ähnlichkeiten ...“

  „Was willst du damit andeuten?!“, fiel sie ihm ins Wort. Ihre grünen Katzenaugen zogen sich gefährlich zusammen.

  Karl hob beschwichtigend die Hände.

  „Och, gar nichts ...“

  „Das will ich auch hoffen!", faucht sie zurück, bückt sich, hebt einen Kieselstein auf und schleudert ihn in Richtung des Schilfgürtels auf die andere Seite des Grabens, wo die beiden Jungs das furchterregende Wesen gesehen haben wollen. Der Stein klatscht zwischen Seerosenblättern ins Wasser. Doch was ist das?! Ihr stockt der Atem. Die Blätter heben sich langsam und ein schreckliches grün behaartes Ungetüm taucht auf.

  „Das Gespenst!“, schreit Hans entsetzt. Nichts wie weg! Es schwimmt auf uns zu!“

  Die Vier lassen die Netze und Angeln fallen und stürmen Hals über Kopf davon. Doris kommt nicht sehr weit. Sie stolpert über eine Wurzel und fällt der Länge nach in einen Tümpel. Als sie sich schließlich, von Kopf bis Fuß mit Schlamm besudelt, halb benommen aufrappeln kann, vernimmt sie hinter sich höhnisches Gelächter. Kalte Schauer laufen ihr über den Rücken, und sie spürt, wie sich ihre Nackenhaare aufstellen. Sie dreht sich langsam mit angstgeweiteten Augen und zitternden Knien um. Es gibt kein Entrinnen! Doch ... sie glaubt ihren Augen nicht zu trauen ... nicht der Leibhaftige steigt auf der anderen Seite des Grabens aus dem Wasser, sondern Brutus! Sein Kopf ist rot gefärbt und der Rücken mit grünen Algen überzogen. Das kann nur die Ritterbande gewesen sein! Gemeine Tierquäler! Das sollen sie büßen!

  Sie eilt ihren Freunden nach und bringt sie schließlich lachend zurück.

  „Ein schöner Schlossgeist!“, sagt sie, belustigt auf Brutus weisend, der die vier Freunde sofort mit kläglichem Meckern begrüßt.

  Christine kichert. Karl und Hans grinsen verlegen.

 

  „Wir sind der Ritterbande zu Dank verpflichtet!“, meint Hans schließlich. „Unser Brutus sieht jetzt wirklich hübsch aus. Hab` ich nicht recht Schwesterchen?“

  „Ausnahmsweise!“, entgegnet  Christine. Er erinnert mich an jemanden ...“

  „Hoffentlich haben die Ritter ihn wenigstens mit einer abwaschbaren Farbe behandelt“, erwidert er, ohne auf ihre Anspielung einzugehen.

 

 

  Die Ziege auf der anderen Seite des Grabens weiß sehr wohl, dass sich die vier Zweibeiner über sie lustig machen. Sie hasst kaltes Wasser. Diese gemeinen hinterlistigen Zwillinge! Der Tag der Rache wird bestimmt noch kommen! Dann werden sie nicht so glimpflich davonkommen wie bei ihren früheren Schandtaten! Sie ist heilfroh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Niemand wird sie dazu bringen, zurückzuschwimmen! Warum sollte sie auch. Soweit das Auge reicht, saftiges Gras und herrlicher Löwenzahn! Sollen doch die Vier das entsetzlich kalte und schmutzige Wasser genießen. Sie wird sich rechtzeitig in Sicherheit bringen!

  Doris und Karl haben ihr, dem Geschlecht nach ein Ziegenmädchen, den Namen des Caesar Mörders Brutus verpasst, weil ihrer Meinung nach, nur dieser zu einer solch gemeinen hinterlistigen stinkenden Ziege, die sie jeden Morgen vor Schulbeginn auf eine Wiese führen müssen, passt. So wurde aus ihr ein Ziegenbock.

 

  

 Die Ritterbande besteht aus drei Jungs und einem Mädchen. Die vier Freunde nennen sie so, weil sie sich immer in einer Burgruine treffen. Gregor und Willi sind Zwillinge. Ihre Eltern bewirtschaften Felder und Wiesen, die ihnen Graf Laurin verpachtet hat. Peter und Inge sind Kinder eines benachbarten Bauern, der eigenes Land besitzt.

 

  Die Eltern von Christine und Hans haben eine Wiese, die an die Felder der beiden Bauern grenzt. Jeden Morgen vor Schulbeginn müssen sie Brutus auf jene Weide führen und am Abend wieder zurückbringen. Das ist jedoch leichter gesagt als getan. Sie hassen diesen Auftrag; denn Brutus pflegt zu tun, was ihm beliebt. Wenn er z.B. saftigen Löwenzahn oder Klee am Wegrand entdeckt, hilft kein Zerren an der Leine oder Stockhiebe, um ihn zum Weitergehen zu bewegen. Auf dem Hinweg ist das ein schweißtreibendes Problem, weil sie ja rechtzeitig um acht Uhr in der Schule sein müssen. Wegen Zuspätkommens müssen sie immer wieder Eintragungen ins Klassenbuch und Strafaufgaben in Kauf nehmen.

  Die Ritterbande reitet oft auf ihren Ponys an jener Wiese vorbei. Den Zwillingen bereitet es diebische Freude, den an einem Pflock angebundenen Brutus zu ärgern. Sie bewerfen ihn mit Erdklumpen und Steinen, wenn er sich zum Fressen anschickt. Manchmal hetzen sie ihn solange im Kreis herum, bis sich die Leine soweit um den Pflock gewickelt hat, dass Brutus die noch nicht abgerupften frischen Kräuter nur noch beschnuppern kann.

  Ein paar Stunden später, wenn sie von ihren Streifzügen zurückkommen, halten sie dem ausgehungerten kläglich meckernden Tier frische saftige Kräuter hin, die sie aber blitzschnell zurückziehen, sobald er gierig zulangen will. Manchmal lassen sie ihn gewähren; allerdings hat er an solch milden Gaben keine große Freude, weil sich zwischen verführerisch duftenden Halmen, heimtückisch getarnt, Disteln, dornige Zweige oder sogar scharfe Chilischoten befinden.

   Brutus frisst Karotten leidenschaftlich gern; aber auch die bekommen ihm nicht, wenn die Zwillinge die gütigen Spender sind; denn sie sind gewöhnlich mit Pfefferkörnern oder scharfem französischem Senf aus Dijon gefüllt.

  Die Zwillinge wurden von Tag zu Tag dreister. An einem sonnigen Nachmittag kommen sie auf die Idee, mit Brutus Stierkampf zu spielen. Einer der beiden nähert sich ihm, brüllt ihn herausfordernd an und schwenkt wie ein Torero ein rotes Tuch. Der andere bewirft das ratlos dastehende Tier mit Steinen und sticht es mit einem langen vorne zugespitzten Stock ins Hinterteil.

   Brutus stürmt wütend mit gesenkten Hörnern auf die beiden Peiniger zu. Bevor er sie jedoch erwischen kann, strafft sich die Leine. Der plötzliche Ruck schleudert ihn zu Boden. Nachdem sie diese gemeine Tortur mehrere Male wiederholt haben, setzen sie schließlich in Siegerpose einen Fuß auf das total erschöpfte keuchende Tier und kraulen seinen Bart.

  An einem anderen Tag hat Gregor eine neue Idee: Er pirscht sich als Veterinär vorsichtig an seinen Patienten heran. Als der Doktor dicht hinter ihm ist, dreht er sich zu seinen Freunden um, hebt grinsend eine große Stopfnadel, deren Öse in einem Korken steckt, drückt prüfend auf die Spritze, sticht dann blitzschnell zu und türmt in Richtung des rettenden Drahtzaunes. Diesmal macht ihm aber Brutus einen Strich durch die Rechnung:

  Er bäumt sich auf und springt dem hinterlistigen Peiniger nach. Dieser stolpert über einen im Gras

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 02.10.2020
ISBN: 978-3-7487-5945-4

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