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Wenn die Mauersegler kreisen

 

Wenn die Mauersegler kreisen

 

 

 

Stefan fühlte sich elendig, als er aufwachte. In einer Stunde muss er in der Schule sein; dann geht der ganze fürchterliche Trott von neuem los! Wie jeden Mittwoch wird er seinen Dienst Punkt sieben Uhr fünfundvierzig mit einer Gangaufsicht im ersten Stock des Gymnasiums beginnen. Sollte er sich um zwei oder drei Minuten verspäten, müsste er mit einer scharfen Rüge des patrouillierenden Direktors Hummer rechnen. In seiner bisherigen Schullaufbahn ist ihm ein solch peinliches Missgeschick nur einmal passiert: Er hatte die Dauer eines unaufschiebbaren Bedürfnisses falsch eingeschätzt!

  Der Zeiger des grässlich laut tickenden Weckers bewegte sich unerbittlich weiter. Nur noch sechsundvierzig Minuten, und er wird wieder den vom Fernsehgenuss gezeichneten Pickelgesichtern der 4E gegenüberste­hen.

  Seine Füße drückten sich bleiern in die Matratze. Sie reagierten in keiner Weise auf das mahnende Ticken des Weckers. Er war körperlich in bester Ver­fassung, aber er fühlte sich dennoch völlig ausgelaugt. Was ihm so zu schaf­fen machte, war normalerweise kein Problem, sondern ein besonderer Anlass zur Freude. Es hing mit jenem Blatt Papier zusammen, das ihm Direktor Hummer im allgemeinen Teil der Beurteilungskonferenz feierlich mit den herzlichsten Glückwünschen überreicht hatte. Die Kollegen hatten brav ge­klatscht, und er hatte das Papier artig dankend aus der Hand des gönnerhaft lä­chelnden Direktors entgegengenommen. Von nun an war er nicht nur pragma­tisiert, sondern auch schulfest. Beruflich war er somit bis zur Pensionierung völlig abgesichert.

  Er hatte diese wohltuende Sicherheit planmäßig vorangetrieben. Zuerst war er der Partei des Direktors, die diesen in seinen bequemen Sessel gehoben hatte, beigetreten. Dann hatte er alle möglichen bezahlten und unbezahlten Schultätigkeiten diensteifrig mit größter Selbstverständlich­keit übernommen. Fortbildungskurse hatte er grundsätzlich nur während der Ferien besucht. Keine noch so hartnäckige Erkältung hatte ihn aufhalten können, seinen Dienst zu versehen. Der Direktor weiß, dass er mit ihm jeder­zeit, natürlich auch an unterrichtsfreien Tagen und in den Ferien, rechnen kann. Der Stadtschulrat hatte ihm schon fünfmal „Dank und Anerkennung“ für sein außergewöhnliches schulisches Engagement ausgespro­chen. Der Di­rektor hatte ihm unter vier Augen mitgeteilt, dass er, Stefan Haussmann, gute Chancen habe, Nachfolger des pensionsreifen Administrators Witte zu werden.

  Je mehr er über seine schulischen „Erfolge“ nachdachte, umso elendi­ger fühlte er sich. Er kam sich irgendwie verkauft vor. Er hatte das bedrückende Gefühl, in eine Falle getappt zu sein, aus der  es kein  Entrinnen gibt.

  Stefan wischte sich mit dem Handrücken die Schweißperlen aus der Stirn. Er hatte geglaubt, dass er sich nach der endgültigen beruflichen Absiche­rung endlich frei fühlen würde. Genau das Gegenteil war der Fall! Tag für Tag, noch mindestens dreißig endlose Jahre, würde er in demselben Gymnasium sei­nen Dienst versehen. Nichts würde sich mehr verändern. Jahraus, jahrein würde er Französisch und Geschichte unterrichten, Schularbeiten ausarbeiten, benoten, korrigieren, sup­plieren, prüfen, eintönige Konferenzen über sich ergehen lassen; schließlich die lang herbeigesehnten Sommerferien ...

  Er ballte die Hand zur Faust. „Nein, nein!“, schrie er. So konnte und wollte er nicht weiterleben. Sein im Zimmer umherschweifender Blick blieb an einem Bild, das über der Kommode an der Wand hing, hängen. Es zeigte die Ka­thedrale Notre-Dame mit der Seine im Vordergrund. Wie glücklich und frei hatte er sich damals als Student in Paris gefühlt! Mit einem Satz sprang er aus dem Bett und riss das Fenster auf. Ein betäubender honigartiger Duft schlug ihm entgegen. Er wusste sofort, dass der Wohlgeruch von den kleinen gelben Blüten der Ölweide, die in dem Grünstreifen vor dem Fenster stand, ausging. Er liebte diesen im warmen Süden beheimateten Baum. Mit seinen lanzettförmigen silbrigen Blättern sieht er wie ein Olivenbaum aus.

  Ein leises Zirpen drang an sein Ohr. Gespannt blickte er nach oben in den zartblauen Morgenhimmel. Da! Ein Mauersegler! Er kreiste hoch über ihm, manchmal mit den sichelförmigen Flügeln wippend, über die Häusertürme der Stadt.

  Ein verrückter Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Er verwarf ihn sofort. Dennoch erfüllte ihn ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Ja, er wird es wagen! Zum Teufel mit der absoluten beruflichen Sicherheit! Zum ersten Mal in seiner schulischen Laufbahn fühlte er sich frei. Alle Ängste und Sorgen waren plötzlich wie weggeblasen.

 

  Stefan lächelte in sich hinein, als die Maschine der Air-France über die Piste raste, abhob und ihre Nase sich steil nach oben richtete.

  Vom Balkonfenster seiner Wohnung in Wien konnte er das silbrig blaue Band der Donau und die Türme der UNO-City, The Vienna International Centre, erkennen. Fünfmal wöchentlich war er in der Früh und zurück am Nachmittag an jenen Glastürmen vorbeigefahren. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. 13.05 Uhr. Er würde jetzt, von den vorangegangenen Stunden schon ziemlich gezeichnet, versuchen, die ferienreifen Schüler der 6C mit französischen Chansons einzulullen. Die Noten standen schon fest. Warum sollten sie ihm noch bei achtundzwanzig Grad Raumtemperatur ihre Aufmerksamkeit schenken!? Wie sehr hatte er sich im vorigen und im jetzigen Schuljahr bemüht, diesen lethargischen Haufen in die Schönheiten der französischen Sprache und Kultur einzuweihen! Der Französisch-Unterricht war an ihnen vorbeigeplätschert, ohne bemerkenswerte Spuren zu hinterlassen. Vor zwei Wochen hatte sich der Schüler Manfred Klingler aus der 8A nach England abgesetzt. Er hatte seinen  Eltern mitgeteilt, dass er, obwohl er den schriftlichen Teil der Matura bereits positiv abgeschlossen hatte, nicht mehr gewillt sei, den mündlichen Teil der Reifeprüfung über sich ergehen zu lassen. Er verzichte gerne auf das Maturazeugnis. Diesen Wisch benötige er nicht, weil er Matrose werden möchte. Die entsetzten Eltern des Schülers hatten alle Überredungskünste eingesetzt, um Manfred von seinem wahnsinnigen Entschluss abzubringen. Dieser hatte sich jedoch nicht überzeugen lassen. Er habe sich alles genau überlegt. Er sei zwanzig Jahre alt; also volljährig. Er wolle das tun, was er für richtig halte.

  Alle Kollegen, die Klingler unterrichtet hatten, hatten dessen Kurzschlussreaktion bedauert. Manfred war nie ein guter Schüler gewesen. Er hatte zweimal eine Schulstufe wiederholen müssen, aber im letzten Schuljahr wa­ren seine Leistungen zufriedenstellend gewesen. Alle Kollegen waren sich ei­nig, dass Klingler mit großer Wahrscheinlichkeit auch alle mündlichen Prüfungen bestanden hätte. Manfred war ein ruhiger, unauffälliger Schüler ge­wesen. Nie hatte er sich den Anordnungen der Lehrer widersetzt. Kein Kollege hatte ihm solch einen Entschluss zugetraut. Auch er, Stefan Haussmann, war völlig fassungslos gewesen, als er von der Sache erfahren hatte.

  Nun handelte er als Professor ähnlich wie der Schüler Klingler, und er fühlte sich sogar noch wohl dabei! Auch den Kündigungszeitpunkt hatte er äußerst ungünstig gewählt. Nur noch zwei Wochen trennten ihn von den Sommerferien. Der Stadtschulrat hätte ihm noch zwei Monate das Gehalt zahlen müssen, wenn er mit Anfang September gekündigt hätte. Er hätte auch noch genügend Zeit gehabt, um seinen folgenschweren Entschluss zu überdenken; aber gerade das hatte er mit der übereilten Kündigung verhindern wollen. Er kannte sich nur zu gut. Zwei Monate sind eine lange Zeit. Die mahnende Stimme der Vernunft, der er bisher immer gefolgt war, hätte ihn zermürbt. Die aufkommenden Zweifel hätten ihm bis September die Kraft entzogen, sein Vorhaben durchzuziehen. Er hatte sich auf ein Abenteuer mit einem sehr fraglichen Ausgang eingelassen; dennoch fühlte er sich so stark und zuversichtlich wie schon lange nicht mehr.

  Der Flug nach Paris und die Landung auf dem Flugplatz Charles de Gaulle verliefen problemlos. Ein Taxi brachte ihn zum Gare du Nord. Er hatte bei seinem Studienaufenthalt in Paris festgestellt, dass man in der Nähe dieses Bahnhofs verhältnismäßig preisgünstig Hotelzimmer finden kann. Er ging zur Touristeninformation und ließ sich ein einfaches Zimmer im Hotel Monpassant reservieren. Da er noch essen gehen wollte, hatte er mit dem Fräulein an der Rezeption des Ho­tels vereinbart, dass er bis neunzehn Uhr Zeit habe, im Hotel zu erscheinen.

  Haussmann gab seine beiden schweren Koffer und die prall gefüllte Handtasche in ein Schließfach und fuhr dann mit der Métro ins Quartier Latin. Dort gibt es eine große Zahl von kleinen gemütlichen Restaurants, in denen man gut und preisgünstig essen kann.

  Die vielen malerischen Seitengässchen des Boulevard Saint-Michel waren noch belebter als in seiner Studentenzeit. Ein appetitlicher Duft, der von den zahlreichen griechischen, türkischen, italienischen und afrikanischen Restaurants ausging, schwebte in der Luft. Maschinenmenschen, umgeben von einer Schar Schaulustiger, verharrten minutenlang in lebloser Haltung, um dann plötzlich ruckartige Bewegungen mit den Händen und dem Kopf zu machen. Scherenschnittkünstler, vor allem aus dem asiatischen Raum, fertigten für wenig Geld Portraits für willige Touristen an. In einem Kellertheater wurde La Cantatrice Chauve von Ionesco gespielt. Bei „Shakespeare & Company“, ei­nem Buchladen, der hauptsächlich englischsprachige Literatur anbietet, herrschte noch immer das wohltuende Durcheinander von früher. Auf abgewetzten Sesseln und Sofas in stillen Winkeln kann man ungestört schmökern. Auch Hemingway und andere berühmte Schriftsteller der Lost Generation wie F. Scott Fitzgerald, James Joyce und T.S. Eliot sind hier früher ein-und ausgegangen. An einer Wand hängt ein Foto von Ernest  Hemingway. Der Geschäftsleiter, ein greiser spindeldürrer Engländer mit Ziegenbart, saß vor dem Eingang und ver­zehrte mit sichtlichem Genuss, von Zeit zu Zeit in Richtung der Türme von Notre-Dame auf das gegenüber liegende Seine-Ufer blickend, Ham und Eggs direkt aus der Pfanne.

  Stefan durchquerte den kleinen hübsch angelegten Park seitlich der Kirche St. Ju­lien le Pauvre, genoss einige Minuten auf einer Parkbank den Blick auf die Kathedrale Notre-Dame jenseits der Seine, ging dann auf der Uferstraße den Fluss entlang und stöberte in dem bunt gemischten Sortiment der Bouquinisten. Unter einem Haufen alter Ausgaben der Werke von Jules Verne stieß er auf einige Bücher des peruanischen Science-Fiction-Autors Manuel Quiroz-Santander. Er stieß einen Freudenschrei aus, als er auf ein Exemplar seines letzten Buches stieß. Es war zwar etwas abgegriffen, aber alle Seiten waren vorhanden.  Stefan hatte als Gymnasiast die Romane dieses Autors, dessen Werke in viele Sprachen übersetzt worden sind, verschlungen. Jedes Jahr, Anfang Dezember, war ein neuer Science-Fiction-Band erschienen. Er hatte immer mit vielen anderen Verehrern des Autors in einer langen Schlange vor einem Buchladen gestanden, dem eine beschränkte Anzahl von Exemplaren des begehrten neuen Romans in deutscher Übersetzung zugeteilt worden war.

  Als die ersten Bücher jenes Romans, den Stefan beim Bouquinisten entdeckt hatte, zum Verkauf angeboten worden waren, hatte niemand geahnt, dass es das letzte und beste Werk des Autors sein sollte. Von keinem seiner   Romane sind so viele Exemplare in der Originalversion und in den Übersetzungen gedruckt und verkauft worden wie von diesem Werk. Dabei war sein vorletztes Werk eher ein Ladenhüter gewesen. Der peruanische Verlag, der das Copyright für die Romane von Manuel Quiroz-Santander hat, hatte sogar gezögert, dessen neues Werk überhaupt noch herauszugeben, weil man einen neuen Flop befürchtete. Die erste Auflage mit einer ungewohnt kleinen Stückzahl war jedoch innerhalb von einem Monat vergriffen gewesen. Lektoren und Literaturkritiker aus der  ganzen Welt hatten den Roman in den höchsten Tönen gelobt. Der Autor sei nicht nur auferstanden, sondern sein Alterswerk sei der beste Roman, den er bisher geschrieben habe! Dass er in seinem fortgeschrittenen Alter noch fähig sei, solch berührende Liebesbeziehung zu beschreiben, sei absolut außergewöhnlich.

  Aus diesem Grund wurde der neue Roman nicht nur von seinen Anhängern den Buchhändlern förmlich aus der Hand gerissen, sondern auch tausende Frauen jeden Alters, die noch nie einen Roman dieses Autors in der Hand gehabt hatten, lasen ihn begeistert und ergriffen, weil alle in die Haut der beschriebenen Frauen, ganz besonders aber in die der feenartigen verführerischen Ituk vom Planeten Manu, der der Romanheld mit Haut und Haaren verfallen  ist, schlüpfen wollten.

  Stefan kennt den weltberühmten Schriftsteller persönlich. Wie fast alle Anhänger  des Autors ist er von dessen vorletzten Roman sehr enttäuscht gewesen. In jenem Band gibt es zwar wie in den anderen viele spannende Pfade, aber sie laufen alle ins Leere; sie zerbröseln. Der Held des Romans bleibt immer auf halber Strecke stehen, so als hätte er die Orientierung oder den Mut verloren, weiterzugehen.

  Stefans Volksschullehrerin  Irene Kunz hat immer wieder gesagt, dass er über eine blühende Phantasie verfüge. Einige Deutsch-Lehrer im Gymnasium meinten sogar, dass Stefans Aufsätze  druckreife Kurzgeschichten seien. Er habe das Zeug, ein erfolgreicher Schriftsteller zu werden.

  Der in der Presse zerrissene Autor Quiroz-Santander hat Stefan  leidgetan. Er vermutete, dass sich der Schriftsteller in einer schrecklichen schöpferischen Krise befand.

  Ohne sein Zutun löste sich der mutlose, innerlich zerrissene  Held des Romans, in Stefans Phantasie aus den beschriebenen Sackgassen; sodass  sich allmählich in seinem Kopf der Entwurf eines spannenden Romans entwickelte. Wie unter Zwang hatte er schließlich diese Gedankenfetzen aufgeschrieben und dem Autor, der zurückgezogen im Dorf Pisac in der Nähe von Cusco lebte, zugeschickt. Er hatte nicht mit einer Antwort gerechnet; aber kaum einen Monat später überreichte ihm ein Bote eines privaten Zustelldienstes einen Brief von Quiroz-Santander: Stefans Anregungen haben ihm sehr gefallen. Es wolle sich unbedingt mit ihm treffen. Ob er nicht Lust hätte, ihn auf seine Kosten in Pisac zu besuchen. Dieses Treffen müsse aber geheim bleiben. Nicht einmal seine Familienangehörigen und seine besten Freunde dürften davon erfahren.

  Stefan hatte einige Tage vorher seine Reifeprüfung erfolgreich abgelegt. Als er seiner Mutter den Wunsch unterbreitete, nach Cusco reisen zu wollen, war sie damit einverstanden. Er habe sich diese Reise mit dem bestandenen Abitur redlich verdient. Sie wolle ihm gerne den Flug und den Aufenthalt finanzieren. Den wahren Grund der Reise verriet er ihr aber nicht.

  Trotz des großen Altersunterschiedes, Quiroz-Santander war schon fünfundsechzig  Jahre alt und Stefan gerade achtzehn, verstanden sich die beiden beim ersten Gespräch. Der Autor verriet ihm, dass er an Alzheimer erkrankt sei. Sein Arzt habe ihm schonend mitgeteilt, dass er damit rechnen müsse, vielleicht schon innerhalb von wenigen Jahren nicht mehr zu wissen, wer er sei. Die wenige Zeit, die ihm noch bleibe, sei daher für ihn sehr kostbar. Sein sehnlichster Wunsch sei, noch einmal mit einem Roman wie früher erfolgreich zu sein. Mit dem Material, das ihm Stefan zugeschickt habe, könne er, wenn Stefan bereit sei, ihm als Co-Autor zur Seite zu stehen, einen neuen Bestseller schreiben. Er würde das Honorar und die Tantiemen mit ihm teilen; allerdings dürfe Stefan zeitlebens nicht verraten, dass er das zukünftige Werk mit seiner Hilfe geschrieben habe.

  Stefan erklärte ihm, dass es für ihn eine große Ehre sei, ihm helfen zu dürfen, einen neuen Roman zu schreiben; deswegen wolle er dafür kein Geld annehmen. Er würde sonst die Freude an dem Projekt verlieren.

  Ein Jahr nach dem Erscheinen des preisgekrönten Bestsellers verstarb der Autor. Offiziell an Herzversagen. Bei der Beerdigung erfuhr Stefan von den wenigen Angehörigen und anwesenden Freunden des Schriftstellers, dass sich dieser das Leben genommen habe, weil er nicht als lebender Toter eine unzumutbare Bürde für seine Angehörigen sein wollte ...

  Wenige Wochen später erreichte ihn der Brief eines Notars aus Cusco. Der Verstorbene habe ihm zweihunderttausend Dollar vermacht. Dazu käme noch die Hälfte der jährlichen Tantiemen für zehn Jahre. Quiroz-Santander danke ihm von ganzem Herzen für seine Freundschaft und Hilfe.

  Mit diesem Geld zuzüglich der Einnahmen durch seine Tätigkeit als Rosenveredler in England während der Semesterferien, hatte er sein Studium in Heidelberg mit einigen Semestern in Paris und Cusco selbst finanzieren und später sogar ein  altes Häuschen in Grinzing mit Blick auf die Weinberge und einem großen Garten kaufen können.

  Im Quartier Latin fand er ein einfaches tunesisches Restaurant. Im Schatten eines mächtigen Trompetenbaumes waren Tische aufgestellt. Er nahm dort Platz und bestellte ein Couscous und eine Karaffe Rotwein. Er bekam eine riesige Portion Hirse-Gries mit reichlich Gemüse und Huhn. Ein schokoladenbrauner Afrikaner verspeiste neben ihm das Gleiche. Er verzehrte es ganz selbstverständlich mit den Fingern. Von Zeit zu Zeit leckte er sich ungeniert schmatzend die Finger ab.

  Das Essen war ausgezeichnet gewesen, und auch der einfache Landwein hatte vorzüglich geschmeckt. Stefan fühlte sich gesättigt und wohlig müde, als er das Restaurant verließ. Es war ein sehr schöner warmer Nachmittag. Er hatte noch keine Lust, zum Gare du Nord zurückzufahren. Ein kleines Nickerchen würde jetzt das Beste sein. Kurzentschlossen ging er zum Quai zurück, stieg zur Seine hinunter und streckte sich, nachdem er Jacke und Oberhemd und die Schuhe ausgezogen hatte, im Schatten einer Pappel auf einem Rasenstück aus. Die Fototasche diente ihm als Kopfkissen.

  Er fiel sofort in einen tiefen Schlaf. Als er aufwachte, fröstelte ihn. Der Himmel hatte sich bewölkt, und ein rascher Blick auf seine Armbanduhr verriet ihm, dass es schon achtzehn Uhr war. Es war höchste Zeit, zum Hotel zu gehen, sonst würde man sein Zimmer anderswertig vergeben. Er griff nach sei­nem Hemd, aber seine Hand ging ins Leere. Erschrocken sprang er auf und blickte hastig um sich. Das Hemd, die Jacke und die Schuhe waren verschwunden! Er raufte sich verzweifelt die Haare. In der Jacke waren seine Papiere, die Geldbörse mit der Visa-und Bankomatkarte und der Schlüssel für das Schließfach gewesen! Er hob einen Stein auf und schleuderte ihn wütend in die trüben Fluten der Seine. Wie hatte er nur so dumm sein können! Warum hatte er nicht alle wichtigen Dinge in die Fototasche gesteckt?! Was soll er nun machen? Wenn er doch we­nigstens die Koffer aus dem Schließfach holen könnte! Die Nummer hat er sich nicht gemerkt, und ausweisen kann er sich auch nicht. Sogar seine schweißigen Socken hat der freche Dieb mitgehen lassen! Er sieht wie ein halb zivilisierter Tarzan aus!

  Barfuß  mit hängenden Schultern ging er am Rande der Seine entlang. Ihm war kalt, und es begann zu regnen. Er wich den mu­sternden verächtlichen Blicken der Passanten aus. Am liebsten wäre er vor Scham im Boden versunken. Was für Augen würden seine Schüler und Kollegen machen, wenn sie ihn halbnackt in Paris herumwandern sähen? Wahrscheinlich hätten sie sofort die Rettung verständigt, und die hätte ihn in eine psychiatrische Anstalt gebracht. Der Regen nahm zu. Die lange Hose klebte an den Beinen. Er blickte sich verzweifelt nach einem Unterschlupf um. Sein Blick fiel auf eine Anpflanzung von hohen Ziersträuchern neben der Kaimauer. Er blickte sich hastig um. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass ihn niemand beobachtete, kroch er schnell unter die Sträucher. Als er bei der Mauer angelangt war, stieß er auf eine ausgebreitete Wolldecke, und über den Ästen war eine große Plastikfolie gespannt. Offenbar befand er sich in der Sommerresidenz eines Clochards. Ein schmutziges Hemd, eine zerrissene Jacke, ein Paar Schuhe mit schadhafter Sohle und zwei vom Dreck und Schweiß steif gewordene Socken lagen  verstreut herum.

  Stefan hob angewidert, die Luft anhaltend, die Jacke auf. Ein glänzen­der Gegenstand fiel auf die Decke. Er erkannte ihn sofort. Das war doch sein Kugelschreiber! Hastig hob er ihn auf und betrachtete ihn aus der Nähe. Es bestand kein Zweifel. Es war derselbe Kugelschreiber, den Belinda ihm zum Geburtstag geschenkt hatte. Sein Name „Stefan Haussmann“ war deutlich lesbar eingraviert. Sie hatte ihn vor einem Jahr verlassen. Er sei ein guter Kerl, aber einfach zu bieder. Schade, dass sie ihn jetzt nicht sehen konnte! Dieser Gedanke erheiterte ihn. Er sollte ein Foto von sich in seinem neuen Domizil machen, es Belinda zuschicken, und sie zu einem ausgeflippten Pennerwochenende nach Paris einladen. Sie hatte doch immer von Paris geschwärmt!  Eine Woh­nung mit Direktblick auf die Seine und die Île Saint-Louis. Wer würde ein solches Angebot ausschlagen!

  Stefan betrachtete unschlüssig die speckigen und sicherlich verlausten Lumpen des Clochards. Er zitterte vor Kälte. Er hatte keine andere Wahl. Seine Lage war wirklich zum Verzweifeln. Er hatte seine gesamte Barschaft, rund fünfundzwanzigtausend Franc, dem Clochard geschenkt. Dieser saß jetzt bestimmt, fein eingekleidet mit seinen Sachen aus den Koffern, in einem guten Restaurant und trank einen edlen Tropfen auf sein Wohl. Eine ohnmächtige Wut übermannte ihn. Er würde dem gemeinen Schurken alle Knochen brechen, wenn er ihm über den Weg laufen sollte. Warum hatte er sich gerade ihn als Opfer ausgesucht? Es gab doch in Paris eine Unzahl von Stinkreichen, aber die waren höchstwahrscheinlich nicht so blöd wie er, mit so viel Bargeld spazieren zu gehen!

  Es hatte inzwischen aufgehört zu regnen, aber die Luft hatte sich empfindlich abgekühlt. Wenn er sich keine Lungenentzündung holen wollte, wird ihm nichts anderes übrigbleiben, als die Lumpen des Clochards anzuziehen. Vielleicht kann er sie wenigstens notdürftig waschen. Er erinnerte sich, dass direkt neben dem Rasenstück, auf dem er das verhängnisvolle Nickerchen gemacht hatte, ein Trinkbrunnen war.

  Stefan legte die Decke wie einen Poncho über den entblößten Oberkör­per, nahm das Hemd, die Jacke und die Socken mit einem Stock auf und ver­ließ, nachdem er sich vergewissert hatte, dass ihn niemand beobachtete, sein neues Domizil.

  Die gewöhnlich sehr belebte Uferpromenade war wie leergefegt; auch beim Brunnen war er allein. Als er die Kleidungsstücke in die Brunnenschale warf, stolperte er über eine teilweise gefüllte Plastikflasche. Er stellte anhand der deutschen Aufschrift fest, dass es sich um ein Spülmittel handelte, das wohl ein deutscher Rucksacktourist dort stehen gelassen hatte. Mit Hilfe des Reinigungsmittels und reichlichem Rubbeln gelang es ihm, die Bekleidungsstücke vom gröbsten Schmutz zu befreien. Er kehrte zu seinem Schlafplatz zurück, hing die Wäschestücke an Astgabeln auf, und versuchte, in die Decke eingemummt, zu schla­fen. Der Regen hörte Gott sei Dank ganz auf, aber dafür kam ein starker kalter Wind auf, vor dem auch die dünne Decke kaum Schutz bot. Er zitterte am ganzen Körper und konnte keinen Schlaf finden. Irgendwann musste er dann aber doch eingenickt sein. Als er die Augen öffnete, blendete ihn wärmendes Sonnenlicht. Er befühlte das Hemd und die Jacke. Das Hemd war so gut wie trocken, aber die Jacke war noch ziemlich feucht. Er probierte das zerknitterte Hemd an. Es passte ihm, aber es hatte nur noch zwei Knöpfe. Die vorne und hinten durchlöcherten Socken waren eingegangen. Die ursprünglich blaue Farbe war sogar wieder erkennbar. Er hielt den Atem an, als er die Füße in die Schuhe schob. Die Knobelbecher waren groß genug, aber sie stanken ent­setzlich. Er bereute, dass er sie nicht auch ausgewaschen hatte. Er wird dies bei der nächsten Gelegenheit nachholen.

  Er hatte sich vor den abschätzigen Blicken der Passanten gefürchtet, aber zu seiner Erleichterung beachtete ihn niemand. Clochards gehören zum Straßenbild von Paris wie die Maler oder die Pissoirs. Nur als er beim Brunnen die übel riechenden Schuhe auszog, und sie perfekt ungeniert mit Brunnenwasser volllaufen ließ, beschimpfte ihn ein älterer Mann. Er möge doch für seine Morgentoilette Seine-Wasser benutzen; sonst liefe er Gefahr, tatsächlich sauber zu werden!

  Obwohl es bereits sehr warm war, zitterte Haussmann am ganzen Körper. Er hatte stechende Kopfschmerzen, dicke Schweißperlen bildeten sich auf der Stirn, und das Herz hämmerte wie eine Rennmaschine. Er musste sich eine böse Sommergrippe zugezogen haben. Ein paar Aspirin-Tabletten würden ihm die Schmerzen nehmen, aber er besaß nicht einmal einen Franc. Der Magen knurrte entsetzlich. Er sehnte sich nach einigen Croissants au beurre und einem guten heißen Kaffee, aber wer würde ihm Geld leihen? Betteln konnte er noch nicht. Er hatte noch etwa vierzehntausend österreichische Schilling auf seinem Konto, aber ohne Bankomatkarte und Pass konnte er nicht darauf zugreifen.

  Er hat in Wien viele gute Freunde, und auch seine Mutter und beiden Schwestern wohnen dort. Sie würden ihm sicherlich aus der Patsche helfen. Aber auch zum Anrufen braucht er Geld, und er hat auch keine Lust, ihre Fragen beantworten zu müssen, und ihre Vorwürfe und guten Ratschläge über sich ergehen zu lassen. Er will sich ganz einfach noch nicht eingestehen, dass er einen dummen Fehler gemacht hat. Wie sehr hat er die berufliche Absicherung und die Geborgenheit seiner kleinen vertrauten Welt missachtet, und wie sehr vermisst er sie schon nach so kurzer Zeit!

  Stefan fühlt sich schwach. Das Blut klopft in den Schläfen, und die Wangen glühen. Er muss hohes Fieber haben. Er schlüpft in die nassen Schuhe, schleppt sich mit letzter Kraft zu seinem Schlafplatz zurück und lässt sich auf die schmutzige Decke fallen. Schon nach kurzer Zeit fallen ihm die Augen zu.

  Als er am späten Nachmittag aufwacht, fühlt er sich noch schwach, aber das Fieber und die Kopfschmerzen haben nachgelassen. Er muss unbedingt etwas essen, um wieder zu Kräften zu kommen. Das einzig Wertvolle, das er noch besitzt, ist seine Profifotokamera mit den sündteuren Objektiven. Er will sich nicht von ihr trennen, aber was nützt sie ihm, wenn er an Hun­ger krepiert? Er wird sie verkaufen müssen; er hat gar keine andere Wahl.

   Nach mehrstündigem Herumlaufen sieht er endlich im Schaufenster eines Fotogeschäftes neben neuen, auch gebrauchte Fotoapparate liegen.

  Obwohl die Fotoausrüstung sein Eigentum ist, fühlt er sich wie ein Dieb, als er sie auf den Ladentisch legt. Der Fotohändler mustert ihn und die Kamera misstrauisch.

  „Ich möchte diese Kamera verkaufen“, sagte Stefan. „Prüfen Sie sie bitte, und sagen Sie mir, welchen Preis Sie mir bieten können.“

  Der Händler setzte seine Brille auf und betrachtete die Kamera aus der Nähe.

  „Ein ausgezeichnetes Gerät“, sagte er schließlich mit einem anerkennenden Blick. „Allein die Objektive sind ein kleines Vermögen wert. Ich glaube, dass ich Ihnen ein gutes Angebot machen kann. Warten Sie bitte einen Augenblick. Ich habe meine Preislisten im Hinterzimmer.“

  Stefan hatte ein ungutes Gefühl, als der Händler im Hinterzimmer verschwand und an seiner Stelle eine ältere Dame herauskam und ihn betont freundlich  anlächelte. Er verfügte über ein ausgezeichnetes Gehör. Seine Schüler nannten ihn den Luchs, weil er auch getuschelte Worte in der letzten Bank verstand. Einsagen war bei ihm unmöglich gewesen.

  Obwohl die Frau laut auf ihn einredete und ihm erzählte, wie schwer es heutzutage sei, gebrauchte Apparate an den Mann zu bringen, hörte er den Händler hinter der verschlossenen Tür telefonieren. Er verstand sogar Wortfet­zen: Landstreicher ... gestohlen ... Polizei ...

  Das letzte Wort genügte ihm. Er hatte verstanden. Mit einer blitzschnellen Bewegung schob er die Kamera und die Objektive in die Fototasche, riss die Ladentüre auf und rannte davon. Erst als er sich vergewissert hatte, dass ihm niemand folgte, ließ er sich mit pfeifendem Atem auf eine Parkbank im Jardin du Luxembourg fallen. Er war völlig erschöpft und mit den Nerven am Ende. So konnte und wollte er nicht weiterleben. Was für ein Idiot war er doch gewesen, dass er gegen alle Vernunft solch einen sicheren und gut bezahlten Posten aufgegeben hatte! Er wird die Österreichische Botschaft in Paris aufsuchen, den Beamten seine Lage schildern und um Geld bitten, damit er einige Anrufe tätigen und nach Österreich zurückfahren kann. Zuerst wird er den Direktor seiner Schule anrufen. Wahrscheinlich hat er die Kündigung noch gar nicht weitergeleitet. Er wird ihm kollegial die Leviten lesen, aber da er ihn nicht nur wegen seiner fachlichen Kenntnisse und pädagogischen Fähigkeiten schätzt, sondern beide ein leidenschaftliches Interesse an der Geschichte der vorkolumbianischen Völker Südamerikas verbindet, wird er ihm helfen, ohne Gesichtsverlust ins Gymnasium zurückkehren zu können.

  Ein harter Gegenstand in der rech­ten hinteren Hosentasche störte ihn beim Sitzen. Es war seine Mundharmo­nika. Er hatte sie aus der Fototasche herausgenommen, weil er befürchtete, dass sie die Linsen der Objektive zerkratzen könnte. Er setzte sie zögernd an die Lippen und begann zu spielen. Haussmann ist ein guter Mundharmoni­ka Spieler. Ganz besonders liebt er Walzer. Als er schließlich mit Wehmut den Donauwalzer spielte, ließ ihn das Klimpern von Münzen aufschrecken. Eine Schar japanischer Touristen hatte ihn umringt. „Bravo, bravo!“. schrien sie. „Bitte noch einen Walzer!“

  Stefan spielte verblüfft weiter. Als er aufhörte, regnete es wieder Münzen. Ein junges Mädchen bat ihn, noch einmal den Donauwalzer zu spielen. Er erinnere sie an die schöne Zeit, die sie in Wien verbracht habe.

  Als er den letzten Ton gespielt hatte, klatschte die ganze Gruppe begeistert. Das junge Mädchen gab ihm mit Tränen in den Augen einige Geldscheine und wünschte ihm viel Glück und alles Gute für die Zukunft.

  Durch den unerwarteten Erfolg beflügelt, spielte er weiter. Die Japaner hatten ihm über zweihundert Franc gegeben. Dieser hohe Betrag blieb eine Ausnahme; aber in fünf Stunden hatte er fast fünfhundert Franc verdient. Stefan war überglücklich. Von seiner Niederge­schlagenheit war nichts übriggeblieben. Nein, er wird nicht aufgeben! Er wird es schon irgendwie schaffen. Zuerst muss er sich aber stärken.

  Nachdem er zwei Baguettes, einige Croissants, eine Schachtel Camembert und eine Flasche Rotwein gekauft hatte, kehrte er zu jener Parkbank, die ihm so viel Glück gebracht hatte, zurück. Sehr zufrieden mit sich selbst und der Welt, verzehrte er sein Abendes­sen. Anschließend kaufte er  noch ein Hemd, eine Hose, ein paar Schuhe, einen Kamm, ein Stück Seife und ein Paar Socken. Das reichliche Essen, der Wein und die Grippe, die ihn noch immer quälte, hatten ihn schläfrig gemacht. Er kehrte deshalb zu seinem Domizil an der Seine zurück, legte sich auf die Decke und schlief sofort ein.

  Am nächsten Morgen hatte er keine Kopfschmerzen mehr, und auch das Fieber war verschwunden. Gut gelaunt verschlang er den Rest der Baguette und spülte den Camembert mit dem Rest des Rotweins hinunter. Er wusch sich beim Brunnen, kämmte sich und zog mit Andacht die neuen Sachen an. Er fühlte sich wieder wie ein  Mensch und ging zu dem Ort zurück, der ihm am Vortag so viel Glück gebracht hatte.

  Wieder blieben viele Leute stehen und hörten ihm andächtig zu, aber, obwohl er schon über eine Stunde gespielt hatte, lag vor ihm noch keine einzige Münze. Nach zwei weiteren Stunden ließ er verstört die Mundharmonika sinken. Was hat er nur falsch gemacht? Er hat auf derselben Bank die gleichen Melodien wie am Vortag gespielt, aber niemand schien es für notwendig zu er­achten, seine Mühe mit ein paar Münzen zu belohnen. Die Zuschauer hatten wieder geklatscht und ihn gelobt, dass er so meisterhaft Mundharmonika spielen könne. Sein Blick fiel auf sein fleckenfreies, tadel­los gebügeltes Hemd. Ein Gedanke durchfuhr ihn wie ein Blitz. Natürlich, das ist es! Mit seinen neuen Klamotten sieht er wie ein stinknormaler Tourist aus. Die Zuschauer müssen  geglaubt haben, dass er, angeregt vom Pariser Flair, nur zu seinem Vergnügen spiele.

  Er kehrte so schnell er konnte zu seinem Schlupf­winkel zurück, zog die Klamotten des Penners an, lief zur Parkbank zurück und fing wieder an zu spielen.

  Schon nach den ersten Klängen bildete sich vor ihm eine kleine Zuschauergruppe, die immer größer wurde. Als er nach einer Viertelstunde die Mundharmonika kurz absetzte, um sich den Mund abzuwischen, fielen die ersten Münzen. Ein Amerikaner mit Cowboyhut, knallgelbem Hemd und kurzer ka­rierter Hose, machte sich einen Spaß daraus, Münzen in die ausgewetzten Schuhe des Clochards, die dieser ausgezogen hatte, zu werfen. Andere Zuschauer machten es ihm nach. Während Stefan weiterspielte, entwickelte sich vor ihm ein regelrechter Wettbewerb im Knobelbecher-Zielschießen.

  Am Abend fingen einige Leute an zu tanzen. Auf die häufig gestellte Frage, warum er mit seiner musikalischen Begabung Clochard gewor­den sei, antwortete er mit einem Achselzucken und einem vielsagendem Lä­cheln. Als er schließlich Schluss machte, und seine Mundharmonika wegsteckte, lud ihn ein belgisches Ehepaar zum Essen ein. Er bedankte sich höf­lich. Leider könne er die Einladung nicht annehmen, weil er noch eine Verab­redung mit einem Freund habe. In Wirklichkeit hatte er keine Lust, auf die neugierigen Fragen des Ehepaares Antwort geben zu müssen und gut gemeinte Ratschläge über sich ergehen zu lassen.

  Am nächsten Tag hatte er keine Lust, bis zum Jardin du Luxembourg zu gehen. Er beschloss, es gleich  auf dem Rasenstück neben dem Trinkbrunnen zu versuchen. Vielleicht würde ihm der Ort, wo er bestohlen worden war, zum Ausgleich Glück bringen. Es sollte sich herausstellen, dass sein Entschluss goldrichtig gewesen war. In den nächsten Tagen nahm er täglich mehr als fünfhundert Franc ein. An einem wohl einmaligen Spitzentag zählte er gar mehr als zweitausend Franc. Es kam aber auch vor, dass er mit weniger als hundert Franc in der Tasche nach Hause ging. Er ging sehr sparsam mit seinem Geld um, weil ihm bewusst war, dass er nur in den Sommermonaten und vielleicht noch im September so gut wie bisher verdienen würde. Deswegen zahlte er einen Großteil des Geldes auf ein Bankkonto ein. Er fürchtete sich vor der kalten Jahreszeit. Sein Versteck bot keinen Schutz vor Kälte, und unter den Brücken oder auf den Entlüftungsschächten der Métro wollte er nicht in Ge­sellschaft der stinkenden und verlausten Clochards schlafen. Er brauchte unbedingt ein Zim­mer; aber die waren in Paris Mangelware und meistens für eine schmale Börse unerschwinglich.

  Es war schon mehrere Male vorgekommen, dass begü­terte Mädchen ein Auge auf ihn geworfen hatten. Eine Australierin war be­sonders hartnäckig gewesen. Sie wollte ihn unbedingt nach Australien mit­nehmen. Sie habe schon mit ihrem Vater gesprochen. Er sei bereit, ihn auf seiner Farm einzustellen. Erst als er ihr mit traurigen Augen gestand, dass er an einer unheilbaren Krankheit leide, ist sie traurig allein in ihre Heimat zurückgeflogen.

  Alice war ein  hübsches sympathisches Mädchen, aber er wollte ganz einfach nicht so schnell, seine so mühsam erkämpfte Freiheit gegen eine neue Abhängigkeit eintauschen.

  Da sich der Quai bei seinem Domizil erst gegen Abend richtig belebte, verbrachte er die Zeit bis achtzehn Uhr meist in den inneren Bezirken von Paris. Er streifte dort ziellos umher und genoss das Treiben auf den großen beleb­ten Boulevards und in den kleinen Gässchen, wo das Leben noch nicht von den Touristen beherrscht wird. Seine Kamera hatte er bei diesen Streifzügen immer griffbereit.

  Besonders liebte er das Marais-Viertel im vierten Bezirk mit den wunderschönen alten Bürgerhäusern und den gepflegten malerischen Innenhöfen. Als er einmal nach einem Besuch des Victor-Hugo-Museums durch die Arkaden der Place des Vosges schlenderte, bemerkte er an einer Hausmauer einen Zettel. Jemand bot ganz in der Nähe, im jüdischen Viertel, in der Rue des Rosiers, ein kleines Zimmer an. Kurzentschlossen ging er zu der angegebenen Adresse und fragte nach, ob das Zimmer noch zu haben sei. Er hatte Glück. Das Zimmer war noch nicht vermietet. Es war eine einfache Chambre de bonne, ein früheres Dienstbotinnen-Zimmer, direkt unter dem Dach, mit einer kleinen aufklappbaren verglasten Dachluke, ein sogenanntes Vasistas. Das Wort soll auf die verwunderte Frage: „Was ist das?“ deutscher Besatzungssoldaten, die auf die aufklappbaren Dachlukenfenster in Paris gedeutet haben,  zurückgehen.

  Fünfhundert Franc wollte die Vermieterin pro Monat haben. Es gelang ihm aber, die Miete auf vierhundert herunterzuhandeln, indem er sich bereiterklärte, drei Monatsmieten im Voraus zu zahlen. Das Zimmer war klein, nur etwa sechzehn Quadratmeter, aber er war über­aus glücklich, endlich ein Dach über dem Kopf zu haben.

  Als die Vermieterin den Raum verlassen hatte, warf er sich erst einmal auf das Bett. Er konnte es noch gar nicht fassen. Es war seit fünf Wochen das erste Mal, dass er wieder auf einem normalen Bett lag. Das Zimmer war sehr bescheiden eingerichtet. Außer dem Bett waren nur noch ein kleiner Tisch, ein wackeliger Stuhl und ein kleiner Schrank vorhanden; dennoch fühlte er sich wie in einem Luxusappartement eines Vier-Sterne-Hotels. Immerhin befand sich im Raum noch ein kleines Waschbecken mit fließendem kaltem und warmem Wasser. Die Toilette war natürlich auf dem Gang; aber das störte ihn nicht. Es war eine echt französische, ohne Klomuschel, wo man sich beim großen Geschäft hin­hocken muss, und man nasse Füße bekommt, wenn man die Spülung be­tätigt, ohne sich gleichzeitig mit einem Hechtsprung in Sicherheit zu bringen.

  Nachdem er sich gründlich ausgeruht hatte, ging er einkaufen und kam mit zwei vollgestopften Taschen zurück. Neben Lebensmitteln hatte er auch einige Töpfe, Teller und Besteck erstanden. Er fühlte sich wie ein König, als er am sauber gedeckten Tisch saß, mit einem richtigen Messer dick Butter auf die Baguette strich und aus einem sauberen Glas Wein trank.

  Gegen Abend packte er die Clochard- Klamotten in einen Plastikbeutel, ging zu seiner Sommerresidenz am Quai zurück, zog sich um, und begab sich zu seinem Arbeitsplatz.

  Um 23 Uhr machte er Schluss. Er hatte bereits dreihundertsiebzig Franc eingenommen und konnte es kaum erwarten, zu seinem neuen Zuhause zurückzukehren. Er kaufte noch schnell ein gegrilltes Hühnchen und eilte dann zu seinem Versteck zurück, um sich umzuziehen.

  Er hatte ein ungutes Gefühl, als er in die Büsche eintauchte. Vorsichtig  schob er die Zweige beiseite. Er atmete erleichtert auf, als er sein Sommerquartier erreichte, und es so vorfand, wie er es verlassen hatte. Plötzlich, als er sich schon umgezogen hatte, umklammerten ihn zwei eiserne Arme von hinten und rissen ihn zu Bo­den.

  „Was treibst du hier!?“, knurrte eine tiefe männliche Stimme über ihm.

  Stefan konnte nur die Silhouette des Mannes erkennen, weil ihn der Lichtkegel einer starken Taschenlampe blendete.

  „Das Gleiche könnte ich Sie fragen“, keuchte er, als er sich von seinem ersten Schreck erholt hatte. „Ich wohne hier schon seit mehreren Wochen. Schleich dich und komm nicht wieder!“

  „So, so. Ich soll mich also schleichen!“, sagte der Mann, jedes Wort betonend. „Ein dreckiger dahergelaufener Ausländer quartiert sich hier frech ein und will den Eigentümer ganz einfach davonjagen! Da hast du dich aber gewaltig verrechnet, Bürschchen!“

  Der Lichtkegel wanderte vom Gesicht Stefans auf die Jacke und blieb schließlich auf den Schuhen stehen.

  „Na sieh mal einer an!“, knurrte der Mann gefährlich. „Das wird ja immer schöner! Du bist also der freche Halunke, der meine Schuhe, meine Jacke und mein Hemd gestohlen hat! Dir werd’ ich eine Tracht Prügel verabreichen, an die du noch lange denken wirst!“

  Stefan  rollte sich blitzschnell zur Seite, sodass die Fäuste des Mannes ins Leere gingen und dieser hart zu Boden fiel.

  „Lass das, Paul!“, rief Stefan wütend. Du heißt Paul Janovsky, und du hast mir mein ganzes Bargeld, meine Jacke, mein Hemd, meine Schuhe und den Inhalt von zwei Koffern gestohlen!“

  „Woher kennst du meinen Namen?“, rief der Mann sichtlich verblüfft aus.

  Haussmann hob die Taschenlampe, die der Mann beim Sturz verloren hatte, auf, und richtete den Strahl der Lampe auf ihn. Paul trug das Hemd, die Jacke und die Schuhe, Bekleidungsstücke, die er damals ausgezogen und neben ihm auf den Rasen gelegt hatte; allerdings waren diese schon in einem schlimmeren Zustand als die Lumpen, die er von dem Clochard geerbt hatte. Der zerknirscht dreinblickende Mann tat ihm schon fast leid.

  „Woher ich deinen Namen kenne? Schurke! Du hast in dem Frack, den du großzügigerweise zurückgelassen hast, damit ich meinen entblößten Körperteile bedecken kann, vergessen, deinen Personalausweis herauszunehmen!“

  „Willst du deine Sachen zurückhaben?“, fragte der Mann kleinlaut.

  „Nein danke!“, erwiderte Stefan, indem er angewidert einen Schritt zurückwich. „Deine Flöhe und Wanzen habe ich schon zur Genüge genossen; behalt sie nur! Ich wäre dir allerdings außerordentlich zu Dank verpflichtet, wenn du mir meine Papiere, meine Kreditkarten und vielleicht einen kleinen Teil meines Bargeldes zurückgeben könntest!“

  „Gott sei Dank hast du Humor!“, entgegnete Paul erleichtert. „Hier werden üblicherweise solche Angelegenheiten mit dem Messer oder einem abgeschlagenen Flaschenhals erledigt. Deine Papiere hab’ ich noch, aber die fünfundzwanzigtausend Franc muss ich dir vorläufig schuldig bleiben. Deine Kreditkarten habe ich in die Seine geschmissen, weil du leider keinen Zettel mit den Geheimzahlen hinterlassen hast. Wenn ich gewusst hätte, dass du solch ein netter Kerl bist, hätte ich sogar auf deine Sache aufgepasst, als du auf dem Rasen gepennt hast!“

  Stefan konnte einfach dem treuherzig dreinblickenden Gauner nicht böse sein. Der Clochard sah auf den ersten Blick mit dem verfilzten  Haar und dem zerzausten Bart alt aus, aber der Schalk, der aus seinen pechschwarzen quicklebendigen Augen hervorblitzte, verriet, dass sein Gegenüber nicht viel älter war als er.

  „Ich würde dich gerne zum Essen einladen“, sagte Paul, „beim Essen und Trinken redet es sich bekanntlich leichter.“

  „Das kommt darauf an, was deine Küche zu bie­ten hat.“, erwiderte Stefan lachend.

  „Es ist schon sehr spät, Monsieur“, entgegnete Paul. „Der Koch ist bereits nach Hause gegangen, aber ich kann Ihnen noch kalte Mahlzeiten anbieten. Wie wär’s mit einer Baguette au fromage? Ich habe auch noch eine Flasche ausgezeichneten Landwein und eine halbe Melone in meinem Beutel.“

  „Ich könnte“, erwiderte Stefan amüsiert, „ein halbes gegrilltes Hühnchen dazuschießen. Es ist sogar noch warm!“

  „Herrlich!“, rief Paul aus. „Das wird ja ein richtiges Festessen! Keine fünfzig Schritte von hier entfernt, befindet sich eine Bank mit einem Tisch davor. Lasst uns dort hingehen. Mit Blick auf die Seine und die Île Saint-Louis speist es sich noch besser!“

  Stefan kennt natürlich jenen Platz. Er hat dort schon viele Male sein bescheidenes Mittagsmahl verzehrt, aber er verrät es ihm nicht. Er kann Paul noch nicht richtig einschätzen. Er will erst herausfinden, wer dieser Kerl wirklich ist, und was er im Schilde führt.

  Beide aßen mit großem Appetit. Der Tisch wurde von einer Straßenlaterne beleuchtet. Vor ihnen in der Seine spiegelten sich in vielen Farben die unzähligen Lichter der Stadt. Beide schwiegen und musterten sich  verstohlen.

  Auch Paul ist sich nicht sicher, was er von diesem seltsamen Österreicher halten soll. Will er ihn nur verarschen, oder ist er wirklich so gutmütig, wie er sich gezeigt hat!? Er wird ihm auf jeden Fall nicht die volle Wahrheit sagen, was seine Person betrifft. Warum verkleidet er sich als Clochard? Er hat offensichtlich immer noch genügend Geld. Sonst könnte er sich solch feine Klamotten doch gar nicht leisten.

  „Was hast du eigentlich mit meinem Geld gemacht?“, unterbrach Stefan schließlich die Stille, indem er ein Stück Baguette dick mit Butter bestrich und dann Camembert darüber legte. „Eine solch beträchtliche Summe kann man doch nicht in wenigen Tagen ausgeben?“

  „Hast du eine Ahnung!“, seufzte Paul, „wie schnell hier in Paris tausend Franc versickern.“ Er lutschte genüsslich an einem Hühnerknochen und fuhr dann fort: „Ich war ganz schön überrascht, als ich die vielen  Scheine in deiner Jacke entdeckte. Natürlich wäre ich noch zufriedener gewesen, wenn du mir statt fünfundzwanzigtausend Franc die gleiche Summe in DM hinterlassen hättest. Aber da ich ein bescheidener Mensch bin, war ich auch damit zufrieden. Dazu kamen ja noch die beiden Koffer, die ich aus dem Schließfach holen konnte, weil du so nett warst, mir auch den Schlüssel zu hinterlassen. Bei aller Freundschaft und Sympathie, die ich jetzt für dich empfinde, muss ich dir sagen, dass hier nur ein Trottel mit so viel Bargeld herumläuft; oder jemand, für den eine solche Summe eine Lappalie ist!

  Ich habe mich in meinem Versteck schnell umgezogen - deine Sachen passten wie angegossen - und bin dann, als ich den Schlüssel mit der Aufschrift Gare du Nord fand, so schnell wie möglich zum Bahnhof  gefahren. Leider hat mich der Inhalt deiner Koffer zuerst etwas enttäuscht. Ich rechnete mit weiterem Bargeld oder Reiseschecks; aber ich war mit den schicken Klamotten dann doch zufrieden. Ich fühlte mich wie ein reicher Tourist und benahm mich auch so. Ich verdanke dir, dass ich mich seit vielen Jahren wieder wie ein Mensch fühlte. Keiner sah auf mich herab. Nir­gends wurde ich hinausgeschmissen oder mehr oder weniger höflich abgewie­sen. Es war ein sehr schönes Erlebnis, plötzlich nicht mehr wie ein Haufen Dreck in die Gosse gekehrt, sondern höflich angesprochen zu wer­den:

  Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Abend, Monsieur ... Kann ich noch etwas für Sie tun? ... Das Frühstück wird zwischen acht und zehn Uhr in der Halle serviert. Wir können es aber auch auf Ihr Zimmer bringen, wenn Ih­nen das lieber ist ...

  In den Hotels wurden geführte Rundreisen und Stadtrund­fahrten mit dem Bus angeboten. Ich habe zweimal mitgemacht, obwohl ich jeden Winkel von Paris kenne. Wir sind in feine Restaurants ein­gekehrt und haben teure Nachtclubs in Montmartre besucht …“

  „Das muss ja wunderbar gewesen sein“, unterbrach ihn Haussmann mit einem gequälten Lächeln. „Ein herrlicher Gratisurlaub!“

  „So habe ich das auch gesehen. Schön, dass du das Ganze mit Humor aufnimmst; daran erkennt man einen edlen Menschen!“

  Stefan machte eine abwehrende Handbewegung.

  „Danke für die Lorbeeren. Ich fühle mich allerdings eher wie ein Trottel! Was hast du mit dem Rest meiner ... Spende gemacht?“

  Paul grinste breit. „Ich erzähl’ gleich weiter; vorher muss ich mich ein wenig stärken.“ Er setzte die Flasche Rotwein an die Lippen und ließ den Inhalt hinunter gluckern. Als die Flasche leer war, ließ er sie zu Boden kollern, rülpste kräftig und ließ dann ungeniert einen fahren.

  „Mein Güte!“ rief er, indem er sich mit dem Handrücken den triefenden Mund abwischte, „jetzt hab’ ich doch die ganze Flasche geleert, ohne dir etwas anzubieten. Das ist mir wirklich sehr peinlich. Du musst wissen, dass ich gewöhnlich allein mein Abendmahl einnehme. Du bist mir doch hoffentlich deswegen nicht böse?“

  „Wie könnte ich!“, erwiderte Stefan grinsend. „Ich habe größtes Interesse, dass du bald wieder zu Kräften kommst; außerdem habe ich wirklich keinen Durst mehr.“ In Wirklichkeit ekelt es ihn, aus derselben Flasche trinken zu müssen. Wer weiß schon, an welchen Krankheiten dieser übelriechende Gauner leidet!

  Paul rülpste, spuckte und furzte noch einmal genussvoll, und fuhr dann fort: „Ich wusste natürlich, dass deine, wenn auch sehr großzügig bemessene Zuwendung bald ver­braucht sein würde. Ich überlegte, wie ich das Geld strecken könnte, um noch ein wenig länger im Luxus leben zu können. Beim Frühstück im Hotel lernte ich einen Gast kennen, der mir erzählte, dass er sich nur deshalb einen vierwö­chigen Aufenthalt in jenem teuren Hotel leisten könne, weil es ihm gelungen sei, im Casino Monte-Carlo in Monaco aus einem Einsatz von tausend Franc hun­derttausend zu machen. Nach dieser Glückssträhne sei er klug genug gewesen, aufzuhören, sonst hätte er, wie die meisten unerfahrenen Spieler, schließlich wieder alles verloren.

  Ich habe in der folgenden Nacht nicht schlafen können. Ich musste immer wieder an den Gewinn des Mannes denken und stellte mir vor, welch einen Berg Geld ich mit ein bisschen Glück in Monaco verdienen könnte; außerdem stöhnte eine junge Frau im Nachbarzimmer, die offensichtlich von ih­rem Freund gut bedient wurde, derart, dass an Schlaf bis in die frühen Morgenstunden nicht zu denken war. 

  Am nächsten Morgen flog ich nach Monaco. Ich nahm mir fest vor, von den  verbliebenen rund zwanzigtausend Franc höchstens zehntausend zu verspielen, und nur einen Tag in Monaco zu bleiben. Auch  bei einem hohen Gewinn wollte ich mit der Abendmaschine nach Paris zurückfliegen.“

  Paul hielt einen Augenblick inne, hob die leere Weinflasche auf und warf sie in einem hohen Bogen in die Seine.

  „Ich gewann tatsächlich“, fuhr er fort. „In einer Stunde hatte ich einen Gewinn von sage und schreibe zweihundertfünfzigtausend Franc gemacht. Ich beendete das Spiel, wie ich es mir so vorgenommen hatte. Die herumstehenden Gäste beglückwünschten mich zu meinem Erfolg. Ein Amerikaner, der mir von seiner riesigen Farm in Texas erzählt hatte, lud mich zu einem Drink ein. Nach mehreren Runden Whisky fühlte ich mich einfach great.“

  „Das ist ja wunderbar!“, unterbrach ihn Haussmann erleichtert. „Dann kannst du mir ja leicht das geborgte Geld zurückzahlen!“

  „Das würde ich auch wirklich sehr gerne tun“, erwiderte Paul niedergeschlagen. „Tatsache ist jedoch, dass ich weniger als zehn Franc in der Tasche habe. Das verdanke ich jenem gerissenen Amerikaner, der natürlich keine Farm in Texas besitzt, sondern für das Casino arbeitet!

  Nach dem achten Glas Whisky hatte er mich restlos überzeugt, dass es unverzeihlich dumm wäre, bei einer solch au­ßergewöhnlichen Glückssträhne aufzuhören. Er spreche aus Erfahrung und sei felsenfest überzeugt, dass ich in wenigen Stunden, so wie er, ein Millionär sein könne. Ich sei auf eine Goldader gestoßen, die ich unbedingt ausbeuten müsse. Er fuhr mich in seinem sündteuren BMW zum Casino zurück und gab mir noch den Rat, nicht gleich in Panik zu geraten, wenn ich eine Zeitlang eine größere Summe verlieren sollte. Ich müsse nur die Nerven behalten. Das Glück sei auf meiner Seite.

  Ich befolgte den Rat des erfahrenen Amerikaners. Nach zwei Stunden war ich pleite. Mein Freund, der Amerikaner, den ich anpumpen wollte, um meinen Glücksstern doch noch zum Glänzen zu bringen, war nicht mehr auffind­bar. Es hieß, er sei wegen einer dringenden Geschäftsangelegenheit abgereist. Niemand konnte mir seine Adresse geben.

  Ich vagabundierte dann die Côte d’Azur entlang und kam gestern im Laderaum eines LKWs, in dem ich mich versteckt hatte, halb verhungert und verdur­stet nach Paris zurück. Du wirst also noch eine Weile warten müssen, bis ich dir das Geld zurückzahlen kann.“

  „So lange kann ich leider nicht hierbleiben“, entgegnete Stefan mit einem ironischen Unterton; „außerdem bin ich dir sogar zu Dank verpflichtet. Deine verlausten Klamotten haben mir Glück gebracht!“

  Er hütete sich aber, ihm zu verraten, wie viel Geld er mit der Mundharmonika verdient hatte. Er erwähnte nur, dass er gerade so viel einnehme, dass er sich über Wasser halten könne.

  Paul wollte unbedingt sein Quartier mit ihm teilen, aber Stefan erfand geistesgegenwärtig eine Freundin, die ihn aufgenommen habe. Er versprach ihm, am nächsten Abend wieder bei ihm vorbeizuschauen.

  Stefan war erleichtert, dass es ihm gelungen war, den Clochard abzuwimmeln. Es war schon schlimm genug, dass er ihn heimtückisch bestohlen und sein Geld verjubelt hatte. Nein, er will mit diesem gerissenen Kerl nichts mehr zu tun haben. Er hat fast zwei Wochen gebraucht, dessen Unge­ziefer loszuwerden. Von nun an wird er sich in einer Toilette oder im Ge­sträuch eines Parks umziehen müssen.

  Als er in seinem bequemen sauberen Bett lag, wälzte er sich von einer Seite auf die andere. Er konnte keinen Schlaf finden; Paul ging ihm nicht aus dem Sinn. Er tat ihm leid, obwohl er allen Grund hatte, ihm böse zu sein.

  Am nächsten Tag machte er um zwanzig Uhr Schluss. Er hatte schon sechshundert Franc eingenommen, und es war ohnehin nicht mehr viel los. Er versorgte sich in einem Lebensmittelgeschäft mit Brot, Käse und Wein und ging dann zu seinem ehemaligen Schlafplatz an der Seine. Paul er­wartete ihn schon auf der Parkbank neben dem Brunnen. Der Tisch war or­dentlich gedeckt: Brot, Pasteten, Käse, Obst und Wein waren im Überfluss vorhanden. Paul strahlte, als er ihn kommen sah.

  „Ich befürchtete schon, dass du nicht kommen würdest. Bitte, setz dich doch und lang zu! Es ist alles bereit!“

  Stefan nahm beschämt neben ihm Platz. Er hatte angenommen, dass Paul versuchen würde, ihn weiter auszunehmen, und nun dieser großzügige herzliche Empfang!

  Nachdem sie eine Weile schweigend gegessen hatten, hob Paul den Kopf, blickte Stefan eine Weile prüfend an, und sagte dann unvermittelt:

  „Bist du ein Deutscher?“

  „Wie kommst du darauf?“, entgegnete Stefan verblüfft. „Du hast doch sicherlich meinen Pass angeschaut. Da steht drin, dass ich Österreicher bin!“

  „Natürlich habe ich in deinem Pass geblättert“, erwiderte Paul verschmitzt lächelnd, „aber du sprichst und benimmst dich nicht wie ein Österreicher.“

  „Habe ich etwa einen typisch deutschen Akzent?“

  „Nein, durchaus nicht; aber du sprichst  ganz anders Französisch als alle  Österreicher, die ich bisher ken­nengelernt habe.“

  „Wie sprechen denn  typische Österreicher Französisch?“

  „Irgendwie weicher, und sie sind nicht so direkt wie die meisten Deutschen. Du nennst die Dinge beim Namen, und du bist wie ein typischer Deutscher pünktlich und verlässlich; dennoch bist du anders als die  Deutschen, die ich bisher kennengelernt habe.“

  „Vielleicht bin ich anders“, erwiderte Stefan nachdenklich, „weil ich seit meinem vierundzwanzigsten Lebensjahr in Österreich wohne. Ostpreußen, meine ursprüngliche Heimat, ging verloren, und in der BRD bin ich nie heimisch geworden. Ich habe zwar die österreichische Staatsangehörigkeit angenommen, aber ich weiß, ehrlich gesagt, selbst nicht, wo ich hingehöre.  Die Österreicher halten mich wegen meiner härteren Aussprache und meiner direkten Art für einen Deutschen, also für einen Piefke, und die Deutschen halten mich für einen Österreicher, der sich bemüht, deutsch zu sprechen ...“

  „Übrigens“, fuhr Stefan nach einer kurzen Pause fort, „du bist auch irgendwie anders als die gewöhnlichen Clochards. Irgendetwas stimmt mit dir nicht. Ich möchte wetten, dass du auf der Uni warst!“

  „Wie kommst du darauf?“, antwortete Paul sichtlich verblüfft. „In meinem Personalausweis, den ich leichtsinnigerweise in meiner Sommerresidenz zurückgelassen hatte, ist doch  der Universitätstitel gänzlich verwischt!“

  „Du drückst dich sehr klar und gewählt aus, wenn auch deine Manieren zu wünschen übrig lassen“, erwiderte Stefan nachdenklich. „Ich könnte mir gut vorstellen, dass du einen Beruf gehabt hast, wo du sehr viel reden musstest.“

  Du bist ein guter Beobachter“, meinte Paul mit einem anerkennenden Blick. „Ich war Leh­rer.“

  „Lehrer?!“, rief Stefan erstaunt aus.

  „Ja, Lehrer“, sagte Paul sichtlich amüsiert. „Sehe ich denn etwa nicht wie ein Professor aus?“

   „Ich meinem Gymnasium laufen  Kollegen herum, die nicht viel besser gekleidet sind als du!“, entgegnete Stefan grinsend.

  „Dann ...“, stotterte Paul, „sind wir ja Kollegen!“

  „So ist es!“, erwiderte Stefan breit grinsend. „Sehe ich etwa nicht wie ein Lehrer aus!?“

  Beide lachten dröhnend, umarmten sich stürmisch und klopften sich auf die Schultern.

  „Es ist mir eine Ehre“, sagte Paul schließlich, „dich, Herr Professor, kennengelernt zu haben!“

  „Ganz meinerseits“, entgegnete Stefan, „allerdings allzu oft kann ich mir eine Begegnung mit einem solch großzügigen Kollegen nicht leisten!“

  „Ich gebe dir mein Ehrenwort“, erwiderte Paul, die rechte Hand zum Schwur hebend, „dass ich so etwas nicht noch einmal machen werde. Zuerst, wie ich dich auf dem Rasen liegend schnarchen sah, hatte ich gar nicht die Ab­sicht, dich zu bestehlen. Ich wollte dir nur einen Schreck einjagen. In der Nähe deines Schlafplatzes ist eine große Pappel. Ich wollte deine Bekleidungsstücke über einen Ast hängen und von einem Versteck aus beobachten, wie du beim Aufwachen über den Verlust deiner Sachen reagierst; aber dann fand ich deine prall gefüllte Brieftasche. Die Versuchung war einfach zu groß. Ich suchte mein schlechtes Gewissen mit der Schlussfolgerung zu beruhigen, dass jemand, der so viel Geld mit sich herumschleppt, nicht zu den ärmsten Leuten gehören kann. Wenn ich auch nur geahnt hätte, dass der Betrag in deiner Brieftasche dein gesamtes Vermögen war, und dass du darüber hinaus auch noch ein Kollege bist, hätte ich dir nicht nur nichts genommen, sondern so­gar bei dir Wache gehalten, um andere potentielle Diebe fernzuhalten!“

  Stefan machte eine versöhnliche Geste: „Was geschehen ist, ist geschehen, vergeben und vergessen. Mich würde aber sehr interessieren, wie du Clochard geworden bist.“

  „Wenn dich das interessiert, will ich dir gerne meine Lebensgeschichte erzählen. Erzählen erleichtert.“

  Paul hob die Flasche Rotwein und goss Stefans und sein Glas bis zum Rand voll.

  „Auf eine bessere Zukunft!“, rief er, indem er sein Glas hob.

  „Hoffen wir’s!“, entgegnete Stefan, ebenfalls sein Glas hebend. „Ich bin auf deine Geschichte gespannt!“

  „Bon“, begann Paul unsicher, „ich war fünfzehn Jahre im Schuldienst und natürlich, wie ihr in Österreich sagt, pragmatisiert ... meine Unterrichtsfächer waren Französisch und ... Deutsch.“

  „Was!“, unterbrach ihn Stefan entgeistert. „Du bist Deutschlehrer und lässt mich die ganze Zeit Französisch reden!“

  „Wir sind ja schließlich in Frankreich“, entgegnete Paul grinsend. „Du willst doch dein Französisch perfektionieren, oder nicht?“

  „Das schon, aber ich würde auch gerne hören, wie du Deutsch sprichst!“

  „Später wird sich dazu noch genügend Gelegenheit bieten“, wich er aus. „Meine Lebensgeschichte möchte ich dir lieber in meiner Muttersprache erzählen:

 

  Ich habe gerne unterrichtet, obwohl das Unterrichten von Jahr zu Jahr, besonders in den letzten drei Jahren,  immer schwieriger geworden war. Nicht die Vermittlung des Lehrstoffes war das eigentliche Problem, sondern vielmehr die steigende Aggressivität der Schüler. Ich habe in einem privaten    Lycée mit Internat unterrichtet.

  Nur gutbetuchte Eltern können es sich leisten, ihre Sprösslinge dort hinzuschicken. Der Direk­tor legt größten Wert auf Zucht und Ordnung. Lehrer, die Schwierigkeiten haben, sich bei den Schülern durchzusetzen, sind in seinen Augen Versager und daher als Lehrer nicht geeignet.

  Die Eltern der Schüler jener Schule sind bereit, enorme Summen für die Ausbildung ihrer Kinder auszugeben, um ihre gesamte Zeit und Kraft dem Geldverdienen widmen zu können, aber dafür erwarten sie von den Lehrern, dass sie nicht nur das Wissen ihrer Sprösslinge auf ein hohes Niveau bringen, sondern auch wesentliche erzieherischen Aufgaben übernehmen.

  Die Lehrer, die diese Forderungen erfüllen sollen, üben einen enormen Leistungs- und Disziplinierungsdruck auf die Schüler aus. Sie werden so zu passiven Lernmaschinen getrimmt, die auf Knopfdruck die Ergebnisse ausspucken, die man von ihnen erwartet. Selbstän­diges Denken wird auf diese Art und Weise konsequent abgetötet. In einem derartigen System können  natürlich keine guten menschlichen Beziehungen zwischen  Schülern und  Lehrern entstehen. Das ist auch gar nicht von der Schulleitung erwünscht. Disziplin hat die höchste Priorität. In Wirklichkeit ist die erwünschte Disziplin nichts anderes als Unterwerfung. Freies Denken ist verpönt. Es ist nicht möglich, jemanden zu ach­ten, zu vertrauen oder gar zu lieben, den man fürchtet oder gar hasst. In den Klassen gibt es zwei Fronten, die durch den Lehrertisch begrenzt werden. Lässt der Lehrer eine Lücke an der Front offen, eine kleine Konzentrationsschwäche genügt schon, wird er von der zahlenmäßig weit überlegenen Schülerfront sofort erbarmungslos abgeschossen. Wenn nicht sofort vonseiten des betroffenen Leh­rers und mit der Solidarität des gesamten Lehrkörpers disziplinierende Gegenmaßnahmen getroffen werden, kann der betroffene Lehrer bald seine Koffer packen. Sein Ruf ist bei den Schülern für immer dahin. Ein Lehrer, der sich nicht durchsetzen kann, wird von den Schülern als Loser angesehen und erbarmungslos hinausgetragen.

  Ein Großteil meiner früheren Kollegen verfügen über ein ausgezeichnetes fachliches Wissen, aber vielen fehlt das pädagogische Geschick oder der Wille, junge Menschen nicht nur mit Wissen vollzustopfen, sondern einen entscheidenden Beitrag zu leisten, dass diese als kritisch denkende verantwortungsvolle und selbständige Persönlichkeiten die Schule verlassen.  Stattdessen tun diese Pädagogen alles, ihre Schüler gefügig zu machen, um so Ruhe in der Klasse zu haben, und ihre Zeit nicht mit pädagogischen Maßnahmen verschwenden zu müssen. Ein ausgeklügeltes Benotungssystem ermöglicht es ihnen, die Schüler je nach Bedarf mit Beurteilungen zu disziplinieren. Jeder Anflug von Aufmüpfigkeit wird schon im Ansatz erstickt, indem der betroffene Schüler mit einer harten Prüfung, die in der Regel ein geplantes negatives Ergebnis bringt, rechnen muss. Bei euch nennt man diese natürlich nicht erlaubte Prüfungsmethode, einen Schüler auf Fünf (negativ) zu prüfen.

  Ich habe vier Jahre lang ähnlich unterrichtet wie meine Kollegen, aber ein Ereignis in der Schule hat mich und einige andere junge Lehrer dann dazu gebracht, unseren Unterrichtsstil total zu ändern: Ein begabter Schüler, den ich nicht nur wegen seiner außergewöhnlichen Leistungen sehr geschätzt habe, hatte sich aus einem Fenster im dritten Stock der Schule auf den Hof gestürzt. Er kam trotz zahlreicher Knochenbrüche und innerer Verletzungen mit dem Leben davon; allerdings mit einer irreversiblen Querschnittslähmung. Der Bub, erst zwölf Jahre alt, gestand mir später, dass er sich das Leben nehmen wollte, weil er schreckliche Angst vor einem bestimmten Lehrer habe. Er hätte am Tag der Verzweiflungstat bei jenem Lehrer wegen einer verpatzten schriftlichen Arbeit eine mündliche Prüfung ablegen müssen.

  Fünf andere junge Kollegen und ich erkannten, dass Angst kein ad­äquates Erziehungsmittel ist, und sogar fatale Auswirkungen auf die Psyche der Schüler haben kann. Nur in einem angstfreien Raum können sich junge Menschen zu reifen selbständigen Persönlichkeiten entwickeln. Angst erzeugt eine undurchdringliche Mauer zwischen  Lehrern und Schülern!

  Wahre Erziehung, die gegenseitiges Vertrauen und Achtung voraussetzt, kann nicht gelingen, wenn der Lehrer darauf aus ist, die zu Erziehenden zu unterwerfen, um sie gefügig zu machen.

  Wir bemühten uns, unseren Unterrichtsstil zu ändern. Wir wollten die jungen Menschen bei ihrer Suche nach sich selbst und dem Platz, den sie in unserer immer komplizierter werdenden Welt einnehmen wollen, unterstützen.

  Die Umstellung des Unterrichtes war sowohl für uns als auch für die Schüler schwierig. Wir mussten unseren Unterricht viel besser planen und vorbereiten als vorher. Früher war es ganz egal gewesen, was und wie wir etwas im Unterricht präsentierten; alles wurde  willig geschluckt, mitgeschrieben und gelernt, ohne dass jemals die leiseste Kritik vonseiten der Jugendlichen geübt worden wäre. Die Stimmung in den Klassen, die wir unterrichteten, änderte sich grundlegend: Unsere Schüler melde­ten sich viel öfter als früher zu Wort und trauten sich, auch über persönliche Probleme zu reden. Es entwickelten sich oft heiße Diskussionen über  einzelne Punkte des dargebotenen Lehrstoffes. Gele­gentlich war es schwierig, die erforderliche Disziplin in den Klassen aufrechtzu­erhalten, aber die Ergebnisse solcher lebendigen Stunden waren meist sehr zufriedenstellend. Die jungen Menschen lernten  vielleicht weniger Fakten als bei den anderen Lehrern, die ihren Stoff monoton vortrugen, aber dafür sehr viel mehr fürs Leben.

  Den übrigen Kollegen, und naturgemäß besonders dem Direktor, waren unsere neuen unkonventionellen Lehrmethoden ein Dorn im Auge. Man warf uns vor, dass wir uns in unseren Klassen nicht mehr durchsetzen könnten, und dass es dort so turbulent zuginge, dass man in den angrenzen­den Klassen wegen des Lärmpegels nicht mehr normal unterrichten könne. Wir wurden wiederholt in die Direktion zitiert und vom Direktor dringend ersucht, unverzüglich dafür Sorge zu tragen, dass die Disziplin in unseren Unterrichtsstunden wiederhergestellt werde, ansonsten müsse er, was er sehr bedau­ern würde, andere Maßnahmen treffen. Nicht nur viele Kollegen, sondern auch zahlreiche Schüler und Eltern hätten sich bei ihm über uns und unsere unkonventionellen Unterrichtsmethoden beschwert.

  Es stimmte schon, dass es in unseren Unterrichtsstunden lebhafter zuging als bei den anderen Kollegen; denn in ihren Klassenräumen vernahm man nur die monotone einschläfernde Stimme des Lehrers, der seine vergilbten Aufzeichnungen vortrug, und das Kratzen der eifrig mitschreibenden Kugelschreiber der Schüler. In Wirklichkeit war es nicht der Lärm in den Unterrichtsstunden der  sechs Grünschnäbel, wie uns die älteren Kolle­gen abfällig nannten, der diese in Rage brachte, sondern der für sie unangenehme Umstand, dass viele Schüler, die von uns unterrichtet wurden, nun auch bei anderen Lehrern wagten, ihre Meinung offen auszusprechen, und sich gelegentlich sogar erdreisteten, deren autoritären Unterrichtsstil infrage zu stellen.

  Da die Ermahnungen des Direktors nicht dazu führten, dass wir, also die sechs Grünschnäbel, unseren Unterricht normalisierten, beschloss er, die angedrohten anderen Maßnahmen durchzuführen.

  Der zuständige Schulinspektor tauchte eines Tages unangekündigt in unseren Unterrichtsstunden auf. Die Inspektion brachte jedoch zum Leidwesen des Direktors nicht das erhoffte Ergebnis. Der Inspektor war von unserem außergewöhnlichen päd­agogischen Engagement tief beeindruckt. Er habe schon lange nicht mehr einen solch lebendigen schülerorientierten Unterricht gese­hen, und auch nicht die geringsten Anzeichen von Disziplinlosigkeit bei den Schülern feststellen können. Diese hätten begeistert mitgearbeitet. Dass dabei ein gewisser Geräuschpegel entstehe, sei völlig normal. Er habe auch unschwer feststellen können, dass zwischen den sechs Lehrern und ihren Schü­lern eine wünschenswerte gute menschliche Beziehung bestehe, die niemals in Respektlosigkeit ausgeartet sei. Wir hätten unsere Stunden sorgfältig und umfangreich vorbereitet. Er habe sich auch die Hefte der Schüler angesehen. Alle seien gewissenhaft von den betroffenen Kolle­gen angeschaut und korrigiert worden. Der Direktor könne sich glücklich schätzen, solch hervorragenden Pädagogen in seinem Lehrkörper zu haben.

  Er habe aber leider auch Negatives zu berichten, nicht bei den sechs jungen engagierten Pädagogen, sondern bei anderen Kollegen, die er ebenfalls inspiziert habe. Ihre Unterrichtsstunden seien im Vergleich zu denen, die er vorher miter­lebt habe, völlig farblos gewesen. Die Kollegen hätten doziert, als ob sie sich im Hörsaal einer Universität befänden. Er habe den Eindruck gehabt, dass es diesen Lehrern völlig gleichgültig sei, ob die mechanisch mitschreiben­den Schüler den dargebrachten Lehrstoff verstanden hatten oder nicht. Nicht ein einziges Mal hätte ein Schüler eine Frage an den Lehrer gestellt. Er könne sich einfach nicht vorstellen, dass die Schüler alles begriffen haben; denn er selbst habe oft große Schwierigkeiten gehabt, den verschwommenen Erklärungen jener Kollegen zu folgen. Er habe diesen dringend nahegelegt, pädagogi­sche Fortbildungsseminare zu besuchen.

  Eine Woche nach dem Besuch des Inspektors wurde Professor Duclos, der Mathe und Englisch unterrichtete, krank. Er war einer von jenen Lehrern, die der Inspektor wegen übertriebener autoritärer Unterrichtsgestaltung kritisiert hatte. Die Note Sehr gut vergab er grundsätzlich nicht, weil nach seiner Meinung nur Genies in Mathe und Englisch Sehr gut sein können. Gut vergab er nur für wirklich ausgezeichnete Leistungen, und das kam sehr selten vor. Bei ihm war es normal, dass rund ein Drittel der Schularbeiten negativ beurteilt wurden. Fielen die Ergebnisse einmal besser aus, dann pflegte er zu sagen, indem er den Schülern die Hefte auf die Bank fetzte: „Ich war wieder einmal zu großzügig!“

  Kein Lehrer wurde von den Schülern so gefürchtet und gehasst wie Professor Duclos, der Ufo. Er hatte diesen Spitzna­men, auf den er stolz war, erhalten, weil er, wenn er eine besonders schwierige Mathe-Schularbeit ausgetüftelt hatte, mit kreisenden Händen ins Klassen­zimmer ruderte, und mit seinen prächtig ausgeprägten Gesäßbacken auf dem, unter dem enormen Gewicht ächzenden Lehrerpult, zu landen pflegte: „Mäuschen“, sagte er dann, ganz egal wie alt die Schüler waren, indem er sich vergnügt die Hände rieb, „heute könnt ihr mal wieder eure grauen Zellen ausmisten!“

  Wäh­rend die Schüler mäuschenstill und völlig verzweifelt versuchten, die harten Nüsse zu knacken, die der Ufo ihnen vorgesetzt hatte, ging dieser verschmitzt lä­chelnd in der Klasse auf und ab. Gelegentlich stellte er sich hinter einen Schü­ler und schnalzte für alle hörbar mit der Zunge. Der Betroffene fing dann gewöhnlich an zu zittern, weil allen bekannt war, dass, wenn sie dieses Geräusch vernahmen, eine negative Beurteilung so sicher war, wie das Amen in der Kirche.  Es gab kei­nen anderen Lehrer an diesem  Lycée, der so gekonnt und zielsicher auf Fünf prüfen konnte wie der beim Direktor hochangesehene Kollege Duclos. Es ist verständlich, dass diesem verdienten Professor die Rüge des Inspektors auf den Magen gegangen war. Er bekam Darmblutungen, und im Krankenhaus ergaben dann die Untersuchungen, dass er operiert wer­den müsse, weil ein Geschwür im Zwölffingerdarm aufgegangen sei. Da Du­clos für voraussichtlich zwei Monate außer Gefecht gesetzt war, und alle anderen Kollegen mit Unterrichtsstunden ausgelastet waren, musste der Di­rektor bei der Schulbehörde um eine Vertretungslehrkraft ansuchen.

  Die Schüler in den Klassen, die der Ufos unterrichtet hatte, jubilierten. Mit Spannung warteten sie auf das Erscheinen des Lehrers, der ihn vertreten sollte. Sie erwarteten keinen Engel, aber sie waren sich darin einig, dass der Neue nicht ärger sein könne als der gefürchtete verrückte Haudegen Duclos.

  Dann endlich, zwei Wochen später, war es soweit. Die Pause war vorüber; die Schüler standen militärisch stramm vor ihren Bänken, wie sie es beim Ufo gewohnt gewesen waren. Gleich wird der neue Mathe- und Englischlehrer die Klasse betreten. Sie hören leichte Schritte auf dem Gang, und dann erscheint er endlich, aber nein, das kann doch nicht wahr sein! Eine Frau tritt lächelnd in den Klassenraum! Die Schüler starren die neue attraktive junge Lehrerin mit offenem Mund an. Sie muss die Schüler dreimal bitten, Platz zu nehmen, bis diese endlich begriffen haben, dass sie nicht eine neue Reinigungskraft vor sich haben, sondern tatsächlich die erwartete Ersatzlehrkraft.

  Die Kunde von der neuen Lehrerin verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Schule. In den Pausen wurde Nadine Henriat von den Schülern so ungläubig angestarrt, als sei sie eine Erscheinung aus dem Jenseits. Es gab zwar am  Lycée neben ihr noch zwei andere Lehrkräfte, die jedenfalls rein biologisch weiblich sind, aber ihrem Aussehen nach, eher ihren männli­chen Kollegen gleichen. Niemand hatte diese je in einem Kleid oder Rock gese­hen. Man munkelte, dass die Lehrerin mit dem schwarzen glatten Haar eine Perücke trägt, und die andere unter der langen Hose behaarte Säbelbeine verstecke. Wer der Informant dieser intimen Geheimnisse gewesen war, ist nie bekannt geworden. Es störte die beiden Lehrerinnen auch keineswegs, dass die Schüler sie ganz natürlich mit Monsieur anredeten.

  Die neue Kollegin machte auf mich einen sehr guten Eindruck, nicht nur, weil sie sehr hübsch ist, sondern darüber hinaus eine freundliche und gütige Ausstrahlung hat. Gerade wegen der letzten Eigenschaft, nämlich der Güte, meinte ich, Nadine warnen zu müssen. Ich klärte sie über die Disziplinierungsmethoden ihres Vorgängers auf und empfahl ihr, nicht zu milde mit den Schülern Duclos’ umzugehen, weil diese sonst durchgehen könnten.

  Nadine bedankte sich amüsiert lächelnd für meine gutgemeinten Ratschläge und wies darauf hin, dass der Fachinspektor sie bereits ausführlich über die Be­sonderheiten dieses Lycées informiert habe. Sie könne schon einiges aushalten. Die Schule, in der sie zuletzt gewesen sei, habe sich in einem scheußlichen Wohnghetto in der Banlieue von Paris befunden. Dort sei der Unterricht auch nicht gerade leicht gewesen. Angenehme und schwierige Schüler gäbe es überall.

  Meine Befürchtungen schienen tatsächlich unbegründet gewesen zu sein, denn die neue Kollegin kam überraschenderweise außerordentlich gut mit Du­clos’ Schülern zurecht. Sie besaß die bei Mathematikern selten anzutreffende Fähigkeit, die schwierigsten mathematischen Probleme so anschaulich darzustellen, dass auch solche Schüler, für die  Mathematik eine Tortur gewesen war, plötzlich Licht am früher schwarzen mathematischen Himmel entdeckten.

  Noch erfolgreicher war Nadine in ihren Englischstunden. Im Gegensatz zu Duclos war ihre englische Aussprache nahezu perfekt, weil sie mehrere Jahre in England studiert hatte. Sie verstand es, den Englischunterricht so abwechslungsreich zu gestalten, dass die Schüler zum ersten Mal Freude am Fremdsprachenunterricht hatten. Früher hatte gut ein Drittel der Schüler Nachhilfeunterricht in beiden Unterrichtsgegenständen gebraucht, um dem Unterricht Du­clos’ folgen zu können. Seit sie die neue Lehrerin hatten, war das plötzlich überflüssig geworden.

  Nadine ist ein fröhlicher, unkomplizierter Mensch. Fast alle Schüler mochten sie; und sogar viele Kollegen von der autoritären Front konnten ihrem natürlichen Charme nicht widerstehen. Sie pflegte mit einem strahlenden Lächeln in ihre Klassen zu gehen. Nur wenn sie eine be­stimmte Klasse im zweiten Stock zu unterrichten hatte, nahm ihr sonst forscher Schritt eine zögernde Gangart ein, und ihr Lächeln wirkte gequält, wenn sie jenen Klassenraum betrat. Dort residierten nämlich die im ganzen Lycée berühmt berüchtigten Promis. Sogar Duclos, der mit eiserner Faust jeden Widerstand im Keim zu ersticken pflegte, hatte alle Register ziehen müssen, um diesem Sauhaufen Manieren beizubringen. Die siebzehn Jahre al­ten Schüler kamen fast alle aus sehr begüterten angesehenen Familien. Unter den Vätern befanden sich bekannte Ärzte, Juristen, Politiker und Geschäftsleute. Das war der Grund, weswegen sie sich mehr erlauben konnten als alle anderen Schüler an jenem Lycée. Lehrer, die auch nur Ansätze von Schwäche zeigten, hatten keine Chance bei ihnen. Sie hatten schon drei jüngere Lehrer, die sich nicht bei ihnen hatten durchsetzen können, auf dem Gewissen. Einer von ihnen hatte seinen Lehrberuf überhaupt an den Nagel gehängt, und die zwei ande­ren hatten sich an ein anderes Lycée versetzen lassen. Einmal jedoch war es einem jener Promis an den Kragen gegangen. Pierre Mathieu war auf die hinterhältige Idee gekommen, die hinteren Beine von Duclos' Sessel anzusägen. Er hatte jedoch davon Wind bekommen und den Schüler auf frischer Tat ertappt. In diesem Fall hatte ihm auch seine prominente Abstammung nichts genützt: Er flog! Seit diesem Präzedenzfall sind die Promis mit ihren Aktionen etwas zurückhaltender geworden. Ihre Immunität hatte einen Kratzer bekommen. Aus diesem Grunde benahmen sie sich anfänglich auch beim Schätzchen, wie sie die neue Lehrerin heimlich nannten, überraschend zivilisiert. Bei Duclos waren sie bei jedem Versuch von Dreistigkeit sofort betoniert worden. Das Schätzchen reagierte jedoch auf die ersten noch harmlosen Scherze mit einem verständnisvollen Lächeln. Die Schüler, von ihren Fesseln befreit, die ihnen Duclos verpasst hatte, reagierten wie ein Sektkorken, dessen Sicherungsspange gelockert wird. Die Explosion war unver­meidlich. Für die Promis war jeder Lehrer, ganz egal, wie nett er war, grund­sätzlich ein Feind, der mit allen verfügbaren Mitteln zu bekämpfen ist. Duc­los hatte sie erbarmungslos niedergeknüppelt. Das Schätzchen war seine Ver­treterin; also würde sie die Zeche stellvertretend zu bezahlen haben. Mitleid mit einem Lehrer oder einer Lehrerin war ihnen fremd. Güte und Nachsicht waren für sie Zeichen von Schwäche. Ein schwacher Lehrer war in ihren Augen ein elender Versager, den es zu eliminieren galt. Es gab in der Klasse einen harten Kern von vier Schü­lern. Früher hatte auch Mathieu zu ihnen gehört. Sie wurden von ihren El­tern, die sie gewöhnlich nur manchmal an den Wochenenden oder in den Fe­rien zu Gesicht bekamen, mit Geldzuwendungen förmlich gemästet. Sie hat­ten die anderen Mitschüler durch Geldspenden, und wenn das nicht genügte, durch Hiebe gefügig gemacht. Was sie anordneten, war Gesetz in der Klasse. Nach einer Schonzeit von vier Wochen begannen sie vorsichtig, aber syste­matisch, die ganze Klasse hinter sich wissend, die Neue lächerlich und in der Folge fertig zu machen.

  Ich merkte am Aussehen Nadines, dass irgendetwas mit ihr nicht mehr stimmte. Sie schüttelte mit einem verkrampften Lächeln den Kopf, als ich sie fragte, ob sie krank sei. Nein, es fehle ihr nichts. Sie sei nur ein wenig müde. Übers Wochenende werde sie sich nichts vornehmen und sich gründlich ausruhen.

  Ihr Zustand verbesserte sich aber in der nächsten Woche keineswegs. Sie sah besorgniserregend blass aus, und ihr früher so ansteckendes Lächeln war verschwunden. Ihr sonst so selbstsicherer Blick war mit einem Mal trüb und ver­ängstigt. Ich wollte mit ihr reden, aber sie wich meinen Fragen aus. Erst spä­ter begriff ich, dass Nadine sich einfach geschämt hatte, über ihre Probleme in jener Klasse im zweiten Stock zu reden, weil sie glaubte, eine totale Versagerin zu sein.

  In der sechsten Woche spitzten sich die Ereignisse um Nadine zu. Sie hatte nun nicht nur mit den Promis schwere disziplinäre Schwierigkeiten, sondern ebenfalls in fast allen anderen Klassen. Schließlich zitierte sie der Direktor zu sich. Er teilte ihr unverblümt mit, dass es so nicht weitergehen könne. Mehrere Kollegen, Eltern und auch Schüler hätten sich bei ihm über sie beschwert. In ihren Unterrichtsstunden gehe es zu wie auf dem Flohmarkt. Die Kollegen fühlten sich durch den Lärm gestört, und die Schüler würden nichts mehr lernen, weil sie sich nicht bei ihnen durchsetzen könne. Sie müsse umgehend durch eine härtere Gangart die notwendige Disziplin in ihrem Unter­richt wiederherstellen. Sie sollte sich doch an ihrem Vorgänger Duclos orien­tieren. Bei ihm habe man eine Stecknadel fallen hören können, so ruhig sei es in seinem Unterricht gewesen!

  Meine fünf Kollegen und ich versuchten, Nadine zu stützen und ihr Mut zuzusprechen, aber es war schon zu spät. Ihr Ansehen war ruiniert. Die autoritäre Front ließ sie wie einen faulen Apfel verächtlich fallen, und fast alle Schüler respektierten sie nicht mehr.

  Einige Tage nach jener Unterredung mit dem Direktor unterrichtete ich in einer Klasse, die gegenüber jener der Promis lag. Ich konnte kaum noch mein eigenes Wort verstehen, weil der Lärm aus jener Klasse meine durchaus kräftige Stimme übertönte. Er ging hinüber, weil ich glaubte, dass ein Kollege sich verspätet hatte. Als ich die Tür öffnete, glaubte ich meinen Augen nicht zu trauen. Die Schüler schrien wild durcheinander, bewarfen sich mit allerlei Gegenständen und kümmerten sich nicht um Nadine, die mit gesenktem Kopf wie erstarrt auf ihrem Stuhl saß. Auf zwei Schülerbänken in der ersten Reihe standen zwei Mitglieder des harten Kerns und rezitierten abwechselnd einen Abschnitt aus King Lear.

  Ich brachte die ausgelassene Meute mit einem gewaltigen Brüller zum Schweigen. Nur die beiden Typen auf den Bänken deklamierten, breitbeinig und herausfordernd grinsend, unbeirrt weiter.

  Zum ersten Mal in meiner Schullaufbahn gingen mir die Sicherungen durch. Ich riss die beiden von den Bänken herunter und ohrfeigte sie derart, dass der eine mit dem Kopf gegen die Tafel knallte und der andere so unglücklich hinfiel, dass er sich dabei eine Hand brach.

  Der Vorfall wirbelte naturgemäß viel Staub auf. Die Medien berichteten tagelang über den Lehrer, der zwei Schüler krankenhausreif geprügelt habe.

  Ich wurde sofort vom Unterricht suspendiert und zwei Monate später entlassen. Meine Lehrerkarriere war somit natürlich für immer beendet. Meine Entlassung hatte zur Folge, dass an jenem Lycée die bewährte autoritäre Front unter den Lehrern wieder voll zum Zuge kam. Meine fünf Freunde zogen es vor, sich an andere Schulen versetzen zu lassen. Nadine soll Verkäuferin in einem Schuhgeschäft geworden sein ...“

 

  Paul hielt inne und blickte schweigend zum Bateau mouche hinüber, das vor ihnen die Seine hinauftuckerte und die Gebäude rechts und links der Seine mit grellem Scheinwerferlicht überflutete …

 

   „Ich kann mir gut vorstellen“, sagte Stefan schließlich leise, indem er Paul auf die Schultern klopfte, „dass ich in solch einer Situation ähnlich emotional gehandelt hätte wie du. Ich habe meine ersten Gehversuche als Lehrer an einer Schule gemacht, die deiner sehr ähnlich gewesen war. Es war ein  harter Sprung ins kalte Wasser, der zwar sehr lehrreich war, aber an den ich mich nicht gern erinnere. Mein letztes Gymnasium war dagegen, obwohl es in einem Bezirk liegt, in dem vorwiegend Arbeiterfamilien wohnen, fast ein Paradies!“

  „Uns verbindet sehr viel“, sagte Paul nachdenklich, nachdem ihm Stefan seine Lebensgeschichte erzählt hatte. „Du hast aber deinen Beruf freiwillig an den Nagel gehängt, während ich mit Schimpf und Schande gefeuert wurde. Du hast deinen Entschluss offensichtlich nicht bereut, während ich noch immer meinem Beruf nachtrauere!“

 

  Paul war in den ersten Monaten nach seiner Entlassung aus dem Schuldienst sehr deprimiert gewesen; nicht so sehr wegen des Verlustes der materi­ellen Absicherung, sondern weil er wirklich mit Leib und Seele Lehrer gewe­sen war. Dabei war er mit zwei Jahren Gefängnis auf Bewährung, Ersatz der Krankenhauskosten, plus Schmerzensgeld noch sehr glimpflich davongekommen. Das Gericht hatte als strafmildernd anerkannt, dass er vor jener Tat ein tadelloser schülerorientierter Lehrer gewesen sei, und im Affekt gehandelt habe.

  Dennoch konnte er von Luft alleine nicht leben. Zum Glück hatte er Marie. Sie war glücklich, dass er nun endlich ganz zu ihr zog.  Es machte ihr nichts aus, dass er vorübergehend arbeitslos war, weil sie bei einer bekannten Tageszeitung als Journalistin fest angestellt war, und gut verdiente.

  Paul langweilte sich während ihrer Abwesenheit nicht. Er hatte nun endlich Zeit, seiner zweiten Leidenschaft, dem Karikatur-Zeichnen nachzugehen.

  Eines Tages kam Marie besonders gut gelaunt von der Arbeit zurück. Sie habe etwas für ihn und drückte ihm mit einem triumphierenden Lächeln ein bedrucktes Papier in die Hand. Er brauche nur noch zu unterschreiben.

  Es stellte sich heraus, dass sie heimlich einige seiner Karikaturen mitgenommen und diese dem Chefredakteur ihrer Zeitung vorgelegt hatte. Dieser war von den Karikaturen so begeistert gewesen, dass er Paul sofort unter Vertrag nehmen wollte. Marie stellte Paul dem Redakteur vor, und nach kurzer Ver­handlung über den Ablauf der zukünftigen Zusammenarbeit und der  Höhe des Honorars pro Zeichnung, unterschrieb er.

  Pauls Karikaturen kamen bei den Lesern außergewöhnlich gut an. Der Chefredakteur war sehr zufrieden mit Pauls Arbeit und erhöhte nach einigen Monaten dessen Honorar auf das Doppelte. Paul verdiente nun mehr als früher in der Schule, und er war, außer dass er bestimmte feste Termine einhalten musste, ein freier Mann.

  Marie war sehr stolz, mit einem solch geschätzten Karikaturisten verlobt zu sein. Ein halbes Jahr später zierte ein unübersehbarer Ehe­ring den zuständigen Finger seiner Hand. Maries gemütlichen Wohnung und ihre fröhliche herzliche Art, hatten sehr dazu beigetragen, dass Paul ihr einen Eheantrag gemacht hatte. Marie wollte unbedingt bald Kinder haben. Da sie eine sehr aktive Ehe führten, hätte sich Paul diesem natürlichen Wunsch seiner Frau über kurz oder lang nicht entziehen können. Aber dann trat etwas ein, dass ihre Beziehung entscheidend verändern sollte:

  Maries Wohnung war ein Atelier mit großen Glasflächen. Im Herbst und Winter sehr gemütlich, solange der große Kachelofen behagliche Wärme ausstrahlte, aber im Sommer oft unerträg­lich warm. Im August schwitzte er dort auch bei geöff­neten Fenstern wie in einer Sauna. Paul war ein Typ, der Hitze sehr schwer verträgt. Er litt oft an starken Kopfschmerzen, die ihn manchmal so quälten, dass er unfähig zum Arbeiten war. Es fiel ihm immer schwerer, seine Karika­turen rechtzeitig fertigzubekommen. Es war auch schon mehrere Male pas­siert, dass er seine Arbeiten zurückbekommen hatte, weil der Redakteur mit der Qualität der Zeichnungen nicht zufrieden gewesen war.

  Marie meinte, dass Pauls Kopfschmerzen vielleicht darauf zurückzuführen seien, dass er einen überhöhten Blutdruck habe. Auf ihr Drängen ging er schließlich zum Arzt. Der Blutdruck war jedoch normal. Bei einer Röntgenuntersuchung wurde dann aber festgestellt, dass er in der rechten Gehirnhälfte einen ziemlich großen Tumor hatte. Eine Operation sei schwierig und der Ausgang sehr ungewiss ...

 

  Nach einer Pause schenkte Paul zwei Gläser mit Rotwein ein.

  „Prost!“, sagte er, indem er das Glas hob, „Es lebe der Augenblick!“

  „Du hast dich doch sicherlich operieren lassen“, entgegnete Stefan zögernd, nachdem er am Wein genippt hatte.

  „Nein!“, erwiderte Paul mit fester Stimme. „Ein anderer Arzt hat mir schonend beigebracht, dass der Tumor so ungünstig liege, dass im Falle einer Operation nicht ausgeschlossen werden kann, dass wichtige Teile des Gehirns zerstört oder zu­mindest verletzt werden. Der Arzt hat es zwar nicht so drastisch ausgedrückt, aber es könnte durchaus sein, dass ich als Depperl, Schwachkopf, aus der Narkose aufwache. Ohne Operation könne ich höchstens noch ein Jahr leben. Wenn der Arzt recht gehabt hätte, müsste ich schon ein gutes Jahr tot sein!“

  „Spürst du den Tumor noch?“, frage Stefan betroffen.

  Paul hob ratlos die Schultern und blickte zu Boden.

  „Mein Erinnerungsvermögen hat nachgelassen, und manchmal, besonders, wenn ich mich über etwas aufrege, habe ich rasende Kopfschmerzen, und dann tue ich manchmal Dinge, die ich bereue, wenn der Anfall vorbei ist. Das war auch so, als ich die beiden Schüler krankenhausreif geschlagen habe; damals habe ich allerdings noch nichts von dem Tumor gewusst. Der Arzt hat mir schmerzstillende Medikamente verschrieben. Wahrscheinlich wäre ich schon tot, wenn ich sie tatsächlich bei jedem Anfall geschluckt hätte. Ich ziehe es vor, wenn es gar nicht mehr geht, zur Flasche zu greifen. Ein guter Rotwein schmeckt bedeutend besser als jene schrecklichen Medikamente, die mir alle Kräfte rauben, und mich in einen Dämmerzustand versetzen!“

  Er setzte die Flasche an den Mund, ließ den Rest des Inhaltes die Gurgel hinunterlaufen und schloss dann mit den Worten: „Du bist der Erste und der Letzte, dem ich meine Lebensgeschichte erzähle. Du weißt nun, wie wichtig für mich jeder Tag, jede Stunde und jede Minute ist. Ich möchte nie wieder über diese Sache reden. D’accord?“

  „D’accord!“, erwiderte Stefan, sein noch halbvolles Glas hebend. „Es lebe der Augenblick! Nur eins würde ich noch gerne wissen. Was ist aus Marie geworden?“

  „Ich habe Marie nicht über den wahren Grund meiner Kopfschmerzen aufgeklärt. Ich gab vor, dass der Arzt bei mir nur eine extreme Wetterfühligkeit festgestellt habe. Nach jener Diagnose ertränkte ich meine Verzweiflung im Alkohol. Meine Karikaturen wurden immer schlechter. Nur mit Mühe konnte ich fixe Termine einhalten. Der Redakteur hatte wegen Marie noch einige Wochen Geduld mit mir und kündigte dann schließlich meinen Vertrag, als ich mehrere Male einen Termin nicht eingehalten hatte. Die Beziehung zwischen Ma­rie und mir war inzwischen auch auf einen absoluten Tiefpunkt gesunken. Sie habe keine Lust, mit einem Säufer zusammenzuleben und diesen auch noch ernäh­ren zu müssen. Wenn ich nicht  mit der Sauferei Schluss mache, betrachte sie unsere Ehe als beendet.

  Es gelang mir, ungefähr zwei Wochen keinen Alkohol anzurühren; dann wurden aber die Schmerzen so unerträglich, dass ich wieder trinken musste. Nach einem Spaziergang fand ich schließlich meine gepackten Koffer vor ihrer Wohnungstür. Ich ließ sie dort stehen und wurde zum Clochard. Im Grunde war ich erleichtert, wieder alleine zu sein; denn in Wirklichkeit habe ich nur die Bequemlichkeit geliebt, die mir Marie geboten hatte. Jetzt ist sie mit ih­rem Chefredakteur glücklich verheiratet, und schwanger!“

  „Du bist wirklich großartig, Paul!“, meinte Stefan tief bewegt.

  „Hättest du Lust auf ein Bad?“, entgegnete Paul unvermittelt.

  „Willst du etwa in der dreckigen Seine baden!?“, antwortete Stefan lachend.

  „Ich will mich doch nicht verätzen!“, erwiderte Paul empört. „Ich meinte natürlich ein richtiges öffentliches Bad mit Brausekabinen und einem Schwimmbecken!“

  „Eine gute Idee, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass um diese Stunde noch ein öffentliches Bad geöffnet ist; außerdem glaube ich nicht, dass man uns, so wie wir aussehen, Einlass gewähren würde!“

  „Das lass nur meine Sorge sein!“, entgegnete Paul verschmitzt lächelnd. „Ich habe ein Bad im Auge, das für meine Freunde und für mich immer geöffnet ist!“

  Paul führte Stefan die Seine entlang. Sie überquerten den Pont-au-Double und gelangten dann in den Garten am Seine Ufer bei der Kathedrale Notre-Dame, schritten über den Pont St. Louis, den Pont Louis-Philippe und erreichten den vierten Bezirk. Dann ging es weiter im Zickzackkurs durch kleine Gassen, Plätze und Tordurchgänge, die Stefan nicht kannte.

  „Wir sind da!“, sagte Paul endlich, indem er auf ein großes Gebäude wies.

  „Aber da ist doch alles dunkel!“, rief Stefan verblüfft aus.

  „Ich hab’ einen Schlüssel“, raunte ihm Paul ins Ohr.

  Nachdem er sich ver­gewissert hatte, dass sie niemand beobachtete, zog er einen Schlüssel aus der Tasche, steckte ihn ins Schlüsselloch des Eingangstores und öffnete es. Er schlüpfte schnell durch den Türspalt und zog Stefan, der unschlüssig vor dem Tor stand, am Ärmel hinein.

  „Bon“, sagte er, mit einem triumphierenden Lächeln, „das Bad gehört uns jetzt bis sechs Uhr in der Früh allein. Dann müssen wir uns allmählich verkrümeln. Die Putzfrauen kommen zwar gewöhnlich erst um sieben, aber es lohnt sich nicht, ein Risiko einzugehen.“

  „Wenn ich richtig kombiniere“, sagte Stefan langsam, dem es plötzlich mulmig zumute wurde, „bist du hier mit einem nachgemachten Schlüssel eingebrochen. Wenn man uns erwischt, sind uns einige Monate Knast sicher. Ich hau lieber ab!“

  Paul schob sich blitzschnell zwischen Stefan und dem Tor.

  „Scheiß dich doch nicht an!“, herrschte er ihn an. „Ich wusste, dass du so rea­gieren würdest! Mit deiner verdammten Aufrichtigkeit und Anständigkeit kannst du hier nur verrecken. Du musst noch viel lernen, wenn du in dieser unbarmherzigen Stadt überleben willst. Paris liebt nur die Reichen und die Starken; die Armen und die Anständigen landen in der Gosse. Wir werden hier nichts kaputt machen und nichts mitgehen lassen. Wir schädigen also niemanden. Wir werden uns erst einmal genüsslich du­schen; dann werden wir, solange es uns gefällt, im Hallenbad schwimmen; und schließlich, vom Schmutz und Ungeziefer befreit, wieder zu unserem Schlupfwinkel zurückkehren. Niemandem wird es auffallen, dass wir hier ge­wesen sind!“

  Stefan hatte

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 25.09.2021
ISBN: 978-3-7487-9570-4

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