1. Liebe auf Provenzalisch
Alphonse schaut nachdenklich durch das Fenster des TGV. Die provenzalische Landschaft huscht an ihm vorbei. Je weiter er in die Ferne blickt, umso klarer kann er Einzelheiten erkennen. Kleine Dörfer auf Hügeln, umgeben von kargen ausgetrockneten Feldern, auf denen vereinzelt Olivenbäume und Zypressen stehen. Der Zug hat schon Avignon passiert. In nicht einmal einer halben Stunde wird er in Marseille eintreffen. Wie schnell doch die Zeit vergeht! Was mag aus Noëlle geworden sein? Sein Herz klopft. Zehn Jahre sind seitdem vergangen. Wie ein Dieb in der Nacht hat er sich davongeschlichen. Er sieht sie in der Boulangerie hinter dem Ladenpult stehen. Klein, zierlich mit kastanienbraunen großen sanften Augen und langem dunklem Haar, das weit über ihre zierlichen Schultern fällt.
Une baguette comme d´habitude? hatte sie ihn immer mit ihrem unwiderstehlichen Lächeln gefragt.
Er hat seitdem viele Beziehungen gehabt, aber sie alle sind nicht von Dauer gewesen. Es hat immer etwas gefehlt. Tief in seinem Herzen schlummern dieser zärtliche Blick und die Erinnerung an die letzte Nacht im Schuppen jenes Bauernhauses, umgeben von duftenden dunkelblauen Lavendel- und leuchtend gelben Sonnenblumenfeldern. Er vernimmt den Gesang von abertausenden Zikaden, die in Olivenbäumen und alten knorrigen Edelkastanien ihre ohrenbetäubenden monotonen Konzerte aufführen. Diese Eindrücke hat er zehn Jahre lang in eine dunkle Kammer tief in seinem Inneren eingesperrt. Jetzt, als er die ihm so vertrauten provenzalischen Dörfer sieht, wird alles wieder lebendig. Er sieht Noëlles Hand, wie sie am frühen Morgen seinen warmen Körper sucht, und dann die Tränen, die über ihre Wangen laufen, als sie ins Leere greift.
Der Zug verlangsamt plötzlich abrupt seine Geschwindigkeit.
„Bitte setzen Sie sich hin, und schnallen Sie sich an!“, hört er eine aufgeregte Stimme aus den Lautsprechern sagen. „Wir müssen eine Notbremsung einleiten!“
Wenig später bleibt der Zug mit quietschenden Bremsen stehen. „Bitte beruhigen Sie sich!“, fährt die Stimme aus dem Lautsprecher fort. „Es ist nichts passiert. Wir haben nur ein Problem mit der Stromversorgung. Es tut uns sehr leid, aber es wird voraussichtlich zu einem längeren Aufenthalt kommen. Bitte haben Sie Geduld. Unsere Zugbegleiter werden Ihnen Erfrischungsgetränke bringen und Sie informieren, wenn der Schaden behoben ist, und wir die kurze Fahrt nach Marseille fortsetzen können.“
Eine halbe Stunde später wird jedoch den Fahrgästen mitgeteilt, dass der Schaden leider nicht in absehbarer Zeit behoben werden könne. Sie werden daher gebeten, den Anweisungen der Zugbegleiter zu folgen und den Zug zu verlassen. Nur das Handgepäck und alle wertvollen Gegenstände sollen sie mitnehmen; alles andere wird nach Marseille transportiert. In wenigen Minuten werden Busse eintreffen, die sie nach Marseille zum TGV Bahnhof bringen werden. Dort können sie ihr großes Gepäck abholen.
Der Zug hatte kurz vor Salon-de-Provence angehalten. Wie immer in solch außergewöhnlichen Fällen, waren nach kurzer Zeit viele Schaulustige eingetroffen. Von diesen erfuhr Alphonse, dass der Zug nicht wegen Stromausfalls sondern infolge einer Bombendrohung angehalten habe. Das Zugpersonal habe das den Fahrgästen verschwiegen, um Panikreaktionen zu vermeiden. Die Bombe soll sich aber nicht im Zug, sondern irgendwo auf den Geleisen des TGV zwischen Salon-de-Provence und Marseille befinden. Eine solch lange Strecke nach einer versteckten Bombe abzusuchen, könnte Stunden, vielleicht sogar einige Tage dauern.
Das ist vielleicht ein Wink des Schicksals, dachte er. Soll er nach Fontvieille fahren? Er verwirft den Gedanken sofort wieder. Er hat nicht einmal eine Nachricht oder einen Abschiedsbrief hinterlassen, als er sich in jener Nacht feige davongeschlichen hat. Zehn Jahre lang hat sie von ihm keine Nachricht erhalten. Sie wird schon längst verheiratet sein und Kinder haben. Noëlle wird ihn vielleicht nicht einmal wiedererkennen oder nicht wiedererkennen wollen. Er hat keinen Sport betrieben und immer gern gegessen. Er sieht nicht dick, aber wohlgenährt aus. Das volle Haar von früher hat sich auch dezimiert. Auch wenn sie ihn wiedererkennen sollte, wird sie ihn mit einem kühlen Blick abservieren. An ihrer Stelle würde er das auch tun. Er wird sich dort nur lächerlich machen; dennoch lässt ihn der verrückte Gedanke nicht mehr los.
Er kommt mit einem jungen Ehepaar ins Gespräch, das neben einem Auto steht und neugierig den Zug und die aufgeregt miteinander diskutierenden Fahrgäste beobachtet. Ob sie ihn vielleicht nach Salon-de-Provence mitnehmen können. Er hat einen wichtigen geschäftlichen Termin in Marseille. Er darf ihn nicht verpassen. Er will deswegen in Salon-de-Provence ein Auto mieten, um rechtzeitig in Marseille zu sein.
Selbstverständlich werden sie ihn mitnehmen. Sie können ihm sogar einen Autohändler in Salon-de-Provence empfehlen. Man kann dort sehr günstig ein Auto mieten.
Eine Stunde später sitzt Alphonse am Steuer eines Mietautos und fährt auf einer Regionalstraße in Richtung Arles. Er hat nicht die schnellere Autobahn genommen, weil er sich auf der Strecke die kleinen Städte und Dörfer anschauen will, die ihm von früher so vertraut sind.
Vor zehn Jahren hat er hier in der Provence vier Monate verbracht. Es ist kein richtiger Urlaubsaufenthalt gewesen, weil er für seine Diplomarbeit aus Französisch geforscht hat. Er sollte untersuchen, in welchen Dörfern und Kleinstädten der Provence noch Okzitanisch gesprochen wird, und eine wichtige Rolle im täglichen Leben spielt. Nach einer Woche war er auch nach Fontvielle gekommen. Etwas außerhalb des Dorfes befindet sich auf einem kleinen felsigen Hügel eine alte Windmühle. Der betörende Duft von Rosmarin, Thymian und vielen anderen Kräutern schwebt in der Luft. Am Fuße des Hügels stehen bizarr gewachsene alte Schirmkiefern. Vor der Windmühle ragt eine schlanke vom Mistral zerzauste Zypresse in den azurblauen Himmel. Die Windmühle trägt den Namen Moulin de Daudet. So genannt nach dem bekannten französischen Schriftsteller Alphonse Daudet. Er hat diese Windmühle in Wirklichkeit nie besessen, und ihre Flügel standen schon lange still, als er sich dort aufhielt; aber sie hat ihn inspiriert, seine in aller Welt so sehr geliebten Lettres de mon Moulin, Briefe von meiner Mühle, zu schreiben. Von hier ist Daudet oft zu Fuß zu dem kleinen provenzalischen Dorf Maillane gegangen, um seinen Freund und berühmten provenzalischen Dichter Frédéric Mistral zu besuchen.
Alphonse Kuhn hat mit Alphonse Daudet nicht nur den Vornamen gemeinsam. Es besteht eine Seelenverwandtschaft zwischen ihnen, weil beide tief in der Natur verwurzelt sind, und sie die Quelle ihrer schöpferischen Kraft ist.
Im Laufe seiner Recherchen ist er in der Umgebung von Arles auf ein entlegenes Dorf gestoßen. Es ist ein vom Tourismus weitgehend verschontes provenzalisches Dorf. Die Einwohner leben noch überwiegend von der Landwirtschaft und der Viehzucht. Es trägt den Namen Les Trois Oliviers, nach den drei gut vierhundert Jahre alten Olivenbäumen, die am Eingang des Dorfes stehen.
Er hat noch nicht gefrühstückt und will, wie er es jeden Morgen zu tun pflegt, irgendwo an einer schönen schattigen Stelle ein Picknick machen. Neben einer romanischen Kirche aus dem elften Jahrhundert entdeckt er eine Boulangerie. Er stellt seinen Wagen neben dem Geschäft ab und geht hinein, um eine baguette zu kaufen. Die Verkäuferin, eine kleine junge hübsche Frau mit kastanienbraunen großen Augen und zierlichen Brüsten, die sich unter der kurzgeschnittenen Bluse verführerisch abzeichnen, blickt ihn lächelnd an. Er spürt, wie Amors Pfeil direkt in sein Herz trifft.
Später, als Alphonse und Noëlle schon gut befreundet waren, gestand sie ihm, dass sie sich auch sofort in ihn verliebt hat, als er sie so verlegen angeblickt hat. Es war auf beiden Seiten le coup de foudre, Liebe auf den ersten Blick gewesen.
In dem kleinen provenzalischen Dorf Les Trois Oliviers, deren Einwohner noch hauptsächlich von der Landwirtschaft leben, wird im alltäglichen Leben ganz selbstverständlich das wohlklingende Okzitanisch gesprochen. Natürlich beherrschen alle Dorfbewohner auch Französisch, aber sie machen davon nur Gebrauch, wenn sich Franzosen, meist aus Arles, oder ausländische Touristen in ihr Dorf verirren.
Alphonse war durch sein Romanistikstudium auf den Schriftsteller Alphonse Daudet gestoßen. Nachdem er dessen Erzählungen: Lettres de mon Moulin gelesen hatte, hatte er all seine Werke verschlungen.
Die Begeisterung Daudets für die Provence und die dort noch gesprochene okzitanische Sprache hatte sich, wie bei Millionen von Lesern in aller Welt, auch auf ihn übertragen. Er hatte die Grammatik dieser Sprache studiert, war aber wie Daudet, weit davon entfernt gewesen, Okzitanisch fließend sprechen und verstehen zu können.
Noëlle war daher eine große Hilfe für seine sprachlichen Nachforschungen gewesen. Wenn sie in der Boulangerie nicht benötigt wurde, hatte sie ihn begleitet. Die meisten Erwachsenen des Dorfes, auch Noëlle, waren Mitglieder des Vereins Mistral. Nach dem Vorbild des berühmten provenzalischen Dichters Frédéric Mistral hat sich dieser Verein zum Ziel gesetzt, die ursprüngliche Sprache der Provence, la langues d´oc, als Alltagssprache zu erhalten; also zu verhindern, dass sie zu einer toten Sprache wie das Latein wird.
Wegen seines Interesses an der okzitanischen Sprache und seiner Freundschaft mit Noëlle, die in diesem Dorf sehr geschätzt und von vielen jungen Männern begehrt und hofiert wurde, wurde Alphonse in kurzer Zeit, was sehr außergewöhnlich war, wie ein Mitglied dieser kleinen in sich geschlossenen Gemeinschaft angesehen. Man half ihm auf allen Seiten, ihn mit Okzitanisch Sprechenden in der ganzen Provence in Verbindung zu bringen. Der Umfang des Materials für seine Diplomarbeit vergrößerte sich so ständig. Als er sie schließlich zum Abschluss gebracht hatte, umfasste sie mehr als 400 Seiten. Ohne Noëlle wäre ihm dieser große Wurf nicht gelungen.
Da die Abgabefrist unerbittlich näher rückte, hatte er schließlich nur noch eine Woche mit ihr verbringen können. Sie zeigte ihm die schönsten Gegenden der Provence. Sie liebte stille naturbelassene Orte: Dunkelblaue Lavendelfelder, die sich über Hügel dahin schlängeln, mittendrin ein bescheidenes Haus aus Natursteinen. Felder mit uralten knorrigen Olivenbäumen, Korkeichen und Edelkastanien, in denen Armeen von Zikaden ohrenbetäubende Konzerte geben. Ausgedehnte Felder mit leuchtend gelben Sonnenblumen. Malerische auf Hügeln gelegene alte Dörfer wie Gordes. Das einzigartige Kloster Sénanque, umrahmt von duftenden dunkelblauen Lavendelfeldern. Die malerischen Ockersteinbrüche von Roussillon; oder der atemberaubend schöne Rundblick über die Provence hoch oben auf den Ruinen der verfallenen Burganlage Les Beaux ...
Sie nahm bei längeren Ausflügen immer einen großen Proviantkorb mit, in dem sich die besten Produkte ihrer Heimatdorfes befanden: Baguettes und Croissants aus der Boulangerie von Les Trois Oliviers, viele wohlschmeckende Käsesorten, Pasteten, Würste, Oliven, Weintrauben, Feigen, Birnen, Aprikosen, Pfirsiche, Nektarinen, Melonen und unzählige andere unwiderstehliche provenzalischen Köstlichkeiten.
Er war achtundzwanzig, sie erst achtzehn Jahre alt gewesen. In ihrem Zimmer befand sich ein großes Regal voll mit Werken der bedeutendsten französischen Schriftsteller. Sie hatte alle gelesen. Sie liebte auch gute Musik. Besonders gefielen ihr volkstümliche Lieder aus der Provence; aber auch französische Chansons und klassische Musik. Er liebte ihre einfache unkomplizierte natürliche Art. So wie er fühlte sie sich in der freien Natur glücklich.
Sie hatten noch nicht über ihre Zukunft gesprochen, aber er spürte, dass sie darauf wartete, dass er ihr endlich einen Verlobungsantrag machte. Intime Beziehungen gäbe es bei ihnen erst nach der Verlobung, hatte sie ihm mit einem ernsten Blick unmissverständlichen klargemacht, als er ihr einmal zu nahe gekommen war. Ihm war damals nicht bewusst gewesen, wie sehr er sie liebte, und dass die Liebe, die sie füreinander empfanden, etwas Einzigartiges war. Sie wusste schon damals, dass sie füreinander bestimmt waren. Er hingegen hatte ihre Freundschaft nur für einen schönen Urlaubsflirt gehalten. Er wollte sich noch nicht für das ganze Leben binden. Er hatte so viele ehrgeizige Pläne, die, wie er meinte, mit einer frühen Eheschließung nicht vereinbar seien.
Einige Tage vor seiner Abreise machte er ihr dennoch den ersehnten Verlobungsantrag, weil er wusste, dass er nur so das erhalten würde, was sie ihm so beharrlich vorenthalten hatte. Sie war außer sich vor Freude. Er sei solch ein gemeiner Kerl! So lange habe er sie schmoren lassen! In jener Nacht und in den folgenden gab sie ihm das, was sie nur ihrem zukünftigen Ehemann geben wollte ... doch dann hat er ihr Herz gebrochen. Die vielen Tränen, die sie vergossen hat, als sie verzweifelt die Stelle streichelte, die nun leer war, hat er nicht verdient. Sein Herz schnürte sich bei diesen Gedanken zusammen. Er musste anhalten, weil er am ganzen Körper zitterte ...
Er stieg aus und ging zu einem kleinen Hotel am Rande der Straße hinüber. Der Hotelbesitzer blickte ihn merkwürdig an, als er seinen Pass aufgeschlagen hatte. Wohin er zu fahren beabsichtige. Arles! Er nickte, so als hätte er keine andere Antwort erwartet.
Als Alphonse die Treppe zu seinem Zimmer hinaufsteigt, sieht ihm der Wirt nachdenklich nach. Er hat seinen Gast sofort wiedererkannt. Natürlich wird sein Ziel nicht Arles sondern Les Trois Oliviers sein. Es ist wirklich unglaublich, was für eine Unverfrorenheit dieser Kerl an den Tag legt. Glaubt dieser freche Casanova tatsächlich, dass ihn Noëlle mit offenen Armen empfangen wird? Erst hat er ihr ein Kind gemacht, und dann ist er wie ein Dieb in der Nacht ganz einfach verschwunden. Zehn Jahre lang hat er nichts von sich hören lassen! Er wird sie und das ganze Dorf über den Besuch dieses gemeinen österreichischen Herzensbrechers in Kenntnis setzen, damit sie ihm einen gebührenden Empfang bereiten können. Er muss eine Lektion erhalten, die er sein ganzes Leben lang nicht vergessen wird!
Noëlle und er kennen sich seit der ersten Grundschulklasse. Sie ist seine erste große Liebe gewesen; aber sie hat nur Freundschaft für ihn empfunden. Dann ist plötzlich dieser Alphonse in ihrem Dorf aufgetaucht. Er hat ihr Herz im Sturm erobert, ohne große Anstrengungen machen zu müssen.
Als sie Christine zur Welt gebracht hat, hat er ihr einen Heiratsantrag gemacht. Es ist doch besser für das Kind, wenn es auch einen Vater hat. „Du bist wirklich ein guter Freund!“, hat sie ihm mit Tränen in den Augen geantwortet, „aber ich kann nur jemanden heiraten, den ich wirklich liebe!“
Nach ihm haben sich noch viele Männer um sie beworben, aber sie hat alle Anträge mit dem gleichen Argument abgewiesen. So ist sie unverheiratet geblieben. Ein weiterer schwerer Schicksalsschlag ist der plötzliche Unfalltod ihrer Eltern gewesen. Trotzdem hat sie sich vorbildlich um ihre Tochter gekümmert, die nun schon so hübsch wie ihre Mutter ist. Zusammen mit ihrem Bruder und der Unterstützung des ganzen Dorfes ist es ihr auch gelungen, neben ihrer Tätigkeit in der Bäckerei den Bauernhof ihrer Eltern zu erhalten, und die Felder zu bewirtschaften.
Alphonse machte die ganze Nacht lang kein Auge zu. Soll er wirklich nach Les Trois Oliviers fahren? Er hat ihr Glück zerstört. Sie hat ihm so vertraut, und er hat sie angelogen, um das zu bekommen, was er begehrte, und sich dann einfach in der Nacht still und heimlich verdrückt ... Die alten, vielleicht nur vernarbten Wunden würden wieder aufreißen.
Er fühlt sich wie gerädert, als ihm am folgenden Morgen der seltsame griesgrämige Wirt das karge und trotzdem teure Frühstück mit der Rechnung wortlos zuschiebt.
Trotz seiner Bedenken führt er, einem inneren Zwang folgend, die Fahrt nach Le Trois Oliviers fort. Die plötzlich in ihm aufgekeimte Sehnsucht, sie wenigstens noch einmal sehen zu können, ist zu groß. Trotz der erheblichen Veränderungen im Bauchbereich wird man ihn wiedererkennen. Noëlle wohnt aber zum Glück nicht direkt im Dorf, sondern im Bauernhaus ihrer Eltern. Es befindet sich etwa drei Kilometer vom Dorf entfernt, inmitten von Lavendel- und Sonnenblumenfeldern am Rande eines Hügels mit einem Edelkastanienwäldchen. Ein von Korkeichen gesäumter Weg führt zu diesem Hügel. In der Krone einer mächtigen Edelkastanie neben einer Windmühlenruine befindet sich ein Hochstand mit Blick auf das Bauernhaus. Der Vater von Noëlle pflegte dort oben mit einem Gewehr in der Hand, Wildschweinen aufzulauern. Von dort ließe sich das Bauernhaus gut beobachten. Er entschließt sich, dort hinaufzufahren. Einen sehr guten Feldstecher und einen Fotoapparat mit einem Teleobjektiv hat er in seiner Reisetasche.
Um 13 Uhr steht er auf dem Hochstand und beobachtet das Haus durch den Feldstecher. Die Lavendelfelder stehen in voller Blüte und ebenfalls ein großes Feld mit leuchtend gelben Sonnenblumen, das vom Rande des Edelkastanienwäldchens bis zu dem Schuppen hinter dem Haus reicht. Die Boulangerie ist von 6 Uhr bis 13 Uhr geöffnet. Dann ist eine Mittagspause bis 15 Uhr. Noëlle verbrachte ihre Mittagspause immer im Bauerhaus ihrer Eltern. Auf ihrem Fahrrad braucht sie für die Strecke nicht mehr als 10 Minuten. Sie müsste also, wenn sie noch immer in der jener Bäckerei arbeitet, gleich auftauchen.
Alphonse glaubt sich unbemerkt, aber es gibt gut getarnte Augen im Wäldchen, im Sonnenblumenfeld, in der Krone eines Olivenbaumes und im Dachboden des Bauernhauses. Sie beobachten ihn aufmerksam, und leiten per Handy jede seiner Bewegungen an Noëlle weiter.
Sein Herz beginnt wild zu rasen, als er sie pünktlich um zehn nach eins auf dem Fahrrad kommen sieht ...
2. Kürbiscremesuppe für einen Alien
Ana ist stolz auf ihre Kürbisse. Mit der regelmäßigen Zugabe von nährstoffreicher Komposterde gedeihen sie prächtig. Einer bringt schon dreißig Kilo auf die Waage und macht keine Anstalten, sein Wachstum einzustellen. Sie ist zuversichtlich, dass sie bei der Gartenausstellung im Herbst den ersten Preis für einen ihrer Riesenkürbisse bekommen wird; denn nicht nur ihre Größe, sondern auch das Fruchtfleisch ist außergewöhnlich. Es ist so saftig und aromatisch wie das von Wassermelonen.
Der etwa zehntausend m2 große Garten ist im hinteren Bereich mit dicht nebeneinander stehenden hohen Tannen umgeben. Ihr Großvater hat sie ursprünglich als Weihnachtsbäume verkaufen wollen; aber sein früher Tod hat sie vor der Axt bewahrt. So sind sie im Laufe der Jahre zur Freude zahlreicher Vögel, die dort ideale Nistgelegenheiten gefunden haben, zu einer uneinsichtigen hohen Hecke zusammengewachsen. Gut fünf Meter hohe immergrüne Rhododendronbüsche auf beiden Außenseiten des Grundstückes, die bis zum Wohnhaus und der Garage reichen, schirmen den Garten vor neugierigen Blicken komplett ab. Wenn ihre Blütenknospen im Mai aufspringen, verwandelt sich die Hecke in ein lilafarbiges Blütenmeer.
Eines Tages bemerkte sie, dass im hinteren Teil des Gartens auf dem Komposthaufen eine neue Kürbispflanze empor spross. Sie musste aus einem Kern jenes angefaulten Kürbisses hervorgegangen sein, den sie im vergangenen Jahr dort entsorgt hatte. Die Kürbispflanze wuchs in einem atemberaubenden Tempo weiter. Aber, obwohl sie viele weibliche Blüten ansetzte, wurde nur eine befruchtet. Die Kürbisfrucht verdoppelte ihre Größe jeden Tag, sodass der neue Kürbis innerhalb von drei Wochen bereits größer und natürlich auch schwerer als die von den anderen Kürbispflanzen war.
Als sie eines Abends in den Garten ging, um aus dem Geräteschuppen, der sich im hinteren Teil des Gartens befand, eine Taschenlampe zu holen, bemerkte sie, dass der Turbokürbis leuchtete, so als ob innen eine Kerze angezündet wäre. Sie schüttelte verständnislos den Kopf. Hat ihr etwa jemand einen gemeinen Streich gespielt? Es klang jedoch nicht hohl, als sie auf die zerfurchte Außenhaut klopfte. Ana besaß umfangreiche Kenntnisse über die Kultivierung von Kürbissen; aber nirgendwo hatte sie gelesen, dass es auch solche gibt, die wie Glühwürmchen oder Fische, die in den tiefen dunklen Bereiches der Meere leben, Organe besitzen, die Licht erzeugen können.
Am nächsten Tag, als die Sonne untergegangen war, ging sie wieder in den Garten, um zu sehen, ob der sonderbare Kürbis noch immer leuchtete. Es war eine klare Vollmondnacht. Zwischen der Gartenecke, wo sich der Komposthaufen mit dem Riesenkürbiss befand, und dem Haus, standen dicht gepflanzte Obstbäume, sodass sie erst freie Sicht auf ihn hatte, als sie diese hinter sich gelassen hatte. Sie blieb wie angewurzelt stehen: Der Kürbis hatte sich in einen Monsterkürbis von fast drei Meter Höhe verwandelt und leuchtete noch intensiver als beim ersten Mal!
Als sie sich gefasst hatte, lief sie ins Haus zurück, um ihren Fotoapparat zu holen. Wenige Minuten später machte sie mit zitternden Fingern einige Fotos mit Blitz und ohne Blitz, und ging dann nachdenklich zum Haus zurück. Sie steckte die Speicherkarte des Fotoapparates in den dafür vorgesehenen Schlitz ihres Laptops, um den sonderbaren Kürbis näher betrachten zu können. Auf den Fotos war jedoch nur der viel kleinere Riesenkürbis vom Vortag zu sehen. Hat der Monsterkürbis nur in ihrer Einbildung existiert, oder hat sie gar den Verstand verloren? So was ist ihr noch nie passiert! Sie zitterte am ganzen Körper, und sie fühlte kalten Schweiß auf der Stirn. Es zog sie in den Garten, um sich zu vergewissern, ob der Monsterkürbis tatsächlich existierte. Jedoch nach einigen Schritten blieb sie wie gelähmt stehen. Ihr Herz raste. Nur mit äußerster Kraftanstrengung schaffte sie es zurück ins Wohnzimmer und ließ sich aufs Sofa fallen. Sie schlief sofort ein, schreckte aber mehrmals in Schweiß gebadet auf. Sie erinnerte sich, dass der Monsterkürbis wie eine Walze auf sie zurollt war, dabei höhnisch gegrinst und sie beinahe platt gedrückt hätte.
Nach einem guten Frühstück wagt sie schließlich, wieder in den Garten zu gehen, um nachzuschauen, ob sich der Riesenkürbis wieder in einen Monsterkürbis verwandelt hat. Es fällt ihr ein Stein vom Herzen, als sie ihn in der normalen Größe vorfindet. Sie zückt ihre Kamera und macht ein Foto; doch als sie ein zweites Mal auf den Auslöser drückt, hat sie den Eindruck, dass sich der Kürbis vergrößert hat. Als sie noch ein drittes Foto macht, sieht sie, dass sie sich nicht getäuscht hat; denn er ist nun um gut einen Meter größer als vorher. Sie drückt mit zitternden Fingern noch einmal auf den Auslöser. Diesmal schießt er gleich um mehr als drei Meter in die Höhe, sodass er schon fast die Höhe der Rhododendron Hecke erreicht hat. Als sie ihn mit schreckgeweiteten Augen anstarrt, sieht sie, dass sich auf ihm die Gesichtszüge eines jungen Mannes abzuzeichnen beginnen. Seine Lippen verziehen sich zu einem spöttischen Grinsen, und dann vernimmt sie eine singende Stimme, die ihr befielt, noch einmal auf den Auslöser zu drücken. Wie unter Zwang befolgt sie den Befehl. Sofort verkleinert er sich um einen Meter. Die Stimme ermuntert sie, noch einmal eine Aufnahme zu machen. Gleich darauf schrumpft der Kürbis auf seine normale Größe zurück, und die Gesichtszüge lösen sich auf.
Sie macht mit zitternden Knien einige Schritte in Richtung des Kürbisses. Als sie direkt vor ihm steht, berührt sie ihn vorsichtig mit der Hand. Er hat eine genauso raue Oberfläche wie die anderen, die im Gemüsegarten wachsen. Schwankend geht sie ins Haus zurück. Es gibt keinen Zweifel mehr. Sie ist ein Fall für den Psychologen oder sogar für den Psychiater! Ihre Eigendiagnose bestätigt sich, als sie ihre soeben gemachten Fotos auf dem Laptop betrachtet, und feststellt, dass auf allen Fotos nur der normale Riesenkürbis ohne menschliche Gesichtszüge zu sehen ist ...
Sie beschließt, einen befreundeten Psychologen anzurufen, um ihm ihre sonderbaren Visionen zu schildern; aber vorher will sie noch abwarten, ob sie sich wiederholen.
Tatsächlich hat sie in der nächsten und in der darauf folgenden Nacht ähnliche Erlebnisse. Sie beruhigt sich aber allmählich, weil sie nun sicher ist, dass der Monsterkürbis nur in ihrer Einbildung existiert. Ihre Angst verwandelt sich schließlich in Wut. Sie wird dem Spuk aus eigener Kraft ein Ende bereiten!
Sie holt aus dem Geräteschuppen eine Axt und nähert sich mit grimmiger Miene dem Monsterkürbis. Als sie sie fest entschlossen hebt, verzieht sich die Oberfläche des Kürbisses zu einer höhnischen Fratze. Mit aller Kraft schlägt sie zu, aber die scharfe Schneide prallt einige Zentimeter vor der Rinde des Kürbisses wie auf einem Gummiball ab, sodass die stumpfe Seite zurückschnellt und nur um Haaresbreite ihre Stirn verfehlt. Sie legt sie fassungslos beiseite und kniet vor dem Kürbis nieder.
Als sie ihn mit der Hand berühren will, fühlt sie einige Zentimeter vor der zerfurchten Schale einen unsichtbaren Widerstand, der sie daran hindert, den Kürbis zu betasten. Aber dann merkt sie, dass er wieder zu wachsen beginnt. Erst langsam, dann mit atemberaubender Geschwindigkeit. Erst als er fast die Höhe der Hecke erreicht hat, stoppt er sein Wachstum. Nun beginnt er von innen intensiv zu leuchten. Mit einem leisen Surren öffnet sich eine Luke. Eine Faltleiter gleitet heraus und berührt direkt vor ihr den Boden. In der Öffnung erscheint ein junger Mann mit blonder Löwenmähne. Er erinnert sie unvermittelt an einen beliebten deutschen Showmaster. So wie dieser ist er leger mit Jeans und einem modischen Pullover bekleidet. An den Füßen trägt er weiße Sportschuhe einer bekannten Marke.
„Warum liegst du vor mir auf den Knien, schönes Mädchen?“, fragt er. „Ich bin weder der Liebe Gott noch ein Geist. Ich bin nur ein Alien von einem sehr weit entfernten Planeten, der dich kennen lernen will und deine Hilfe braucht!“
Sie steht zögernd auf und betrachtet den Mann von oben bis unten.
„Wie ein Außerirdischer siehst du aber nicht gerade aus!“, bringt sie schließlich erleichtert heraus. „Deine Klamotten sehen auf jeden Fall so aus, als hättest du sie bei C&A oder H&M gekauft!“
„Bingo!“, erwidert er mit einem schelmischen Lächeln. „Die Hose stammt tatsächlich von C&A und der Pullover und die Sportschuhe von H&M. Wirklich hervorragende Qualität! Bedeutend besser und bequemer als die Klamotten von unserem Planeten!“
„Hör doch endlich mit diesem blöden Außerirdischen Gequatsche auf und erklär mir lieber, warum du mir mit deinem aufblasbaren Kürbis diesen Streich gespielt hast! Du könntest viel Geld verdienen, wenn du diesen Trick auf einer Bühne oder noch besser bei einer Fernsehshow als Illusionist wie David Copperfield aufführst!“, sagt sie wütend.
„Du glaubst mir also nicht!“, entgegnet der Außerirdische nun mit einem ernsten Gesichtsausdruck. Was muss ich tun, damit du mir Glauben schenkst?“
Sie überlegt eine Weile und sagt dann triumphierend: „Wenn du mich in deinem Raumschiff auf einen Flug mitnimmst. Zum Beispiel zum Weißen Haus in Washington. Wenn es dir gelingt, einige Minuten, ohne dass wir abgeschossen werden, etwa zehn Meter oberhalb der Gebäude zu schweben, werde ich dir glauben, und dir in jeder Hinsicht, soweit das in meinen Kräften steht, helfen!“
Alphonse schaut nachdenklich durch das Fenster des TGV. Die provenzalische Landschaft huscht an ihm vorbei. Je weiter er in die Ferne blickt, umso klarer kann er Einzelheiten erkennen. Kleine Dörfer auf Hügeln, umgeben von kargen ausgetrockneten Feldern, auf denen vereinzelt Olivenbäume und Zypressen stehen. Der Zug hat schon Avignon passiert. In nicht einmal einer halben Stunde wird er in Marseille eintreffen. Wie schnell doch die Zeit vergeht! Was mag aus Noëlle geworden sein? Sein Herz klopft. Zehn Jahre sind seitdem vergangen. Wie ein Dieb in der Nacht hat er sich davongeschlichen. Er sieht sie in der Boulangerie hinter dem Ladenpult stehen. Klein, zierlich mit kastanienbraunen großen sanften Augen und langem dunklem Haar, das weit über ihre zierlichen Schultern fällt.
Une baguette comme d´habitude? hatte sie ihn immer mit ihrem unwiderstehlichen Lächeln gefragt.
Er hat seitdem viele Beziehungen gehabt, aber sie alle sind nicht von Dauer gewesen. Es hat immer etwas gefehlt. Tief in seinem Herzen schlummern dieser zärtliche Blick und die Erinnerung an die letzte Nacht im Schuppen jenes Bauernhauses, umgeben von duftenden dunkelblauen Lavendel- und leuchtend gelben Sonnenblumenfeldern. Er vernimmt den Gesang von abertausenden Zikaden, die in Olivenbäumen und alten knorrigen Edelkastanien ihre ohrenbetäubenden monotonen Konzerte aufführen. Diese Eindrücke hat er zehn Jahre lang in eine dunkle Kammer tief in seinem Inneren eingesperrt. Jetzt, als er die ihm so vertrauten provenzalischen Dörfer sieht, wird alles wieder lebendig. Er sieht Noëlles Hand, wie sie am frühen Morgen seinen warmen Körper sucht, und dann die Tränen, die über ihre Wangen laufen, als sie ins Leere greift.
Der Zug verlangsamt plötzlich abrupt seine Geschwindigkeit.
„Bitte setzen Sie sich hin, und schnallen Sie sich an!“, hört er eine aufgeregte Stimme aus den Lautsprechern sagen. „Wir müssen eine Notbremsung einleiten!“
Wenig später bleibt der Zug mit quietschenden Bremsen stehen. „Bitte beruhigen Sie sich!“, fährt die Stimme aus dem Lautsprecher fort. „Es ist nichts passiert. Wir haben nur ein Problem mit der Stromversorgung. Es tut uns sehr leid, aber es wird voraussichtlich zu einem längeren Aufenthalt kommen. Bitte haben Sie Geduld. Unsere Zugbegleiter werden Ihnen Erfrischungsgetränke bringen und Sie informieren, wenn der Schaden behoben ist, und wir die kurze Fahrt nach Marseille fortsetzen können.“
Eine halbe Stunde später wird jedoch den Fahrgästen mitgeteilt, dass der Schaden leider nicht in absehbarer Zeit behoben werden könne. Sie werden daher gebeten, den Anweisungen der Zugbegleiter zu folgen und den Zug zu verlassen. Nur das Handgepäck und alle wertvollen Gegenstände sollen sie mitnehmen; alles andere wird nach Marseille transportiert. In wenigen Minuten werden Busse eintreffen, die sie nach Marseille zum TGV Bahnhof bringen werden. Dort können sie ihr großes Gepäck abholen.
Der Zug hatte kurz vor Salon-de-Provence angehalten. Wie immer in solch außergewöhnlichen Fällen, waren nach kurzer Zeit viele Schaulustige eingetroffen. Von diesen erfuhr Alphonse, dass der Zug nicht wegen Stromausfalls sondern infolge einer Bombendrohung angehalten habe. Das Zugpersonal habe das den Fahrgästen verschwiegen, um Panikreaktionen zu vermeiden. Die Bombe soll sich aber nicht im Zug, sondern irgendwo auf den
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 14.05.2020
ISBN: 978-3-7487-4094-0
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