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Leseproben

 

 

 

Die mysteriösen Finger des Apostels Paulus 

 

 

 

 

 

 

 Werner reckt sich erleichtert in dem Schaukelstuhl, den er in seinem Gewächshaus aufgestellt hat. Er saugt den lieblichen Duft der blühenden Zitronenbüsche, die er dort angepflanzt hat, tief ein. Zwei lange unterrichtsfreie Monate liegen vor ihm. Die letzten Wochen sind sehr anstrengend gewesen, weil er   von einem Tag auf den anderen die Physikstunden einer Kollegin, die wegen eines schweren Autounfalls in den Krankenstand getreten war, übernehmen musste …

  Eine Blüte der Gespensterpflanze, die an einem Gerüst aus Bambusstäben bis zu den oberen Glasscheiben emporgerankt ist, hat sich über ihm entfaltet. Es ist eine große wunderschön weiß marmorierte dunkelbraune Blüte mit einer Öffnung, die in einen Schlauch mündet. Am Ende, in einem trogartigen Gebilde, befinden sich die Staubgefäße. Insekten, die dort, angelockt vom Duft der Blüte, hineinkriechen, können nicht mehr zurück, werden aber von der Pflanze nicht wie bei fleischfressenden Pflanzen getötet und verzehrt, sondern bleiben nur solange gefangen, bis sie ihre Bestäubungsarbeit erledigt haben.

  Er holt seinen Fotoapparat und macht mehrere Aufnahmen von der Blüte. Er hat zwar in den letzten drei Wochen des Schuljahres viele Fotos, natürlich überwiegend von seinen Zitruspflanzen, gemacht, aber keine Zeit gefunden, sie zu betrachten und auf eine externe Festplatte zu kopieren. Er zieht die Speicherkarte aus dem Fotoapparat heraus und steckt sie in den dafür vorgesehenen Schlitz seines Laptops, um die Fotos endlich genießen zu können.

  Er ist mit den Aufnahmen, die er in den letzten Wochen gemacht hat, sehr zufrieden. Als er jedoch zu jenen gelangt, die er vorher aufgenommen hat, glaubt er seinen Augen nicht zu trauen. Diese hübschen Frauen hat er doch nicht fotografiert! Er erkennt sie aber sofort wieder. Es sind jene Griechinnen, die damals vor vier Wochen an seinem Tisch im Turmcafé Platz genommen haben! Aber, wie sind diese Fotos nur auf seine Speicherkarte gelangt?! Außerdem sind einige Aufnahmen ohne Zweifel sogenannte Selfies. Sie müssen heimlich seinen Fotoapparat, der neben ihm auf einem Stuhl lag, genommen und diese durchaus gelungenen Schnappschüsse gemacht haben. Sogar ihn haben sie mehrere Male, ohne dass er das bemerkt hat, geknipst!

  Als er jedoch die restlichen Fotos geladen hat, starrt er ungläubig auf den Monitor. Alle Aufnahmen, die er vorher gemacht hat, fehlen! Stattdessen solche von der Wiener Innenstadt, vom Belvedere und von Schönbrunn; dann einige von der Akropolis in Athen und von felsigen Küsten mit malerischen Stränden. Schließlich sieht er noch andere von Oliven- und Orangenbäumen, und zuletzt von großen Bananenstauden mit grünen Früchtebüscheln, die in durchsichtigen Plastikhüllen stecken. Jedoch handelt es sich offensichtlich um eine Bananensorte mit sehr kleinen Früchten.

  Dieser Fotoapparat kann nicht seiner sein!  Plötzlich fällt es ihm wie Schuppen von den Augen. Er erinnert sich, dass ihm aufgefallen war, dass jene Griechin, die ihn gefragt hat, ob noch Plätze an seinem Tisch frei wären, den gleichen Canon-Fotoapparat gehabt hat wie er. Sie muss irrtümlich seinen statt ihren mitgenommen haben! Wie in einem Film sieht er jenen Tag vor seinem geistigen Auge ablaufen:

 

  An einem trüben Juni-Nachmittag kommt er, mit einem Stapel Schülerhefte unter dem Arm geklemmt, zu seinem Haus im Weidlingtal in der Nähe von Klosterneuburg zurück. Natürlich besucht er zuerst seine geliebten Zitronenbüsche im Gewächshaus. Plötzlich reißt die Wolkendecke auf und wärmende Strahlen fallen durch die Scheiben des Gewächshauses. Als sich nach und nach alle Wolken bis auf einige dunkle Streifen aufgelöst haben, entscheidet er sich spontan, zum Donaupark zu fahren, um dort einen ausgiebigen Spaziergang zu machen. Die Hefte wird es sich danach vornehmen.

  Nicht nur ihn hat der Sonnenschein aus den häuslichen Mauern gelockt. Er sieht überall Leute lächelnd umhergehen. Pärchen sitzen dicht aneinander geschmiegt auf Bänken oder liegen ineinander verschlungen auf den weiten Rasenflächen. Die Erinnerung an Monika, mit der er hier fast genau vor einem Jahr noch Hand in Hand spazieren gegangen ist, übermannt ihn. Als er jedoch in einer Blumenrabatte die weißen hohen Wedel von Pampasgras in der Sonne leuchten sieht, hellt sich seine Stimmung sofort wieder auf.

  Bald darauf erreicht er den Donauturm. Von ganz oben, unterhalb des Restaurants, stürzt sich ein Wagemutiger von der Bungee-Rampe in die Tiefe. Nach ein paar Sekunden schnellt er wie ein Hampelmann am Gummiband rauf und runter. Er lächelt verkrampft, als seine Füße endlich wieder festen Boden berühren. Nicht einmal für zehn Millionen Euro würde er, Werner, es diesem jungen Abenteurer gleichtun! Er zieht es vor, mit dem Aufzug hinaufzufahren und im Café bei einer Melange mit einem guten Stück Sachertorte den Ausblick auf Wien und Umgebung zu genießen. Er findet noch einen freien Tisch direkt bei den Fenstern. Als das langsam rotierende Café den Blick auf die Donau und Klosterneuburg freigibt, erkennt er auch das Weidlingtal, wo er in einem Haus mit rund 2000 m2 Gartenfläche wohnt.

 

  Eine weibliche Stimme reißt ihn aus seinen Gedanken. „Yes, the seats are free; please sit down!“, antwortet er höflich, zunächst ein wenig verärgert. Eine hübsche Frau mittleren Alters bedankt sich mit einem strahlenden Lächeln. Sie ist in Begleitung von drei anderen ebenfalls sehr attraktiven Frauen. Er will sie fragen, aus welchem Land sie kämen, unterlässt das aber, weil sie sich sofort in die Speisekarten vertiefen, und miteinander tuscheln. Er vermutet, dass sie sich über ihn lustig machen, weil sie von Zeit zu Zeit zu ihm verstohlen hinüberblicken und dann kichern. Er geht davon aus, dass sie Griechinnen sind. Alle vier tragen ein weißes T-Shirt mit einem Aufdruck der Insel Kreta. Er versteht nicht, worüber sie sich unterhalten, aber die griechische Sprachmelodie ist ihm von seinen Urlauben in Griechenland vertraut.

  Mit seiner Fotokamera macht er Aufnahmen vom Vienna International Center, die sogenannte Uno-City. Auch Monika arbeitet dort. Er kann sogar mit dem Teleobjektiv die Fenster des Büros, hinter denen sie ihren Arbeitsplatz hat, deutlich erkennen. Er schaut auf seine Armbanduhr. Sie muss noch dort sein. Sie hat ja recht gehabt. Er ist mit seinem Beruf und seinen Zitruspflanzen mehr verheiratet gewesen als mit ihr. Sie haben sich einvernehmlich, ohne Rosenkrieg getrennt. Da aus ihrer Ehe keine Kinder hervorgegangen sind, ist die kurze Scheidungsverhandlung problemlos verlaufen. Sie hat nur eine finanzielle Abfindung für das Haus, das sie beide finanziert haben, verlangt. Er ist so in Gedanken versunken, dass er nicht bemerkt, dass die Griechinnen nach ungefähr einer halben Stunde zahlen und sich mit einem freundlichen Lächeln von ihm verabschieden …

 

  Die Sonne steht schon tief am Horizont, als er sich entschließt, den Heimweg anzutreten. Erst jetzt merkt er, dass die vier Griechinnen nicht mehr da sind. Als er seine Fototasche hochhebt, merkt er sofort am Gewicht, dass sein Fotoapparat nicht darin sein kann! Auf dem Tisch befinden sich nur noch einige leere Gläser und die Speisekarten! Er fragt mit klopfendem Herzen eine Kellnerin, die mit einem Tablett vorbeikommt, ob jemand einen Fotoapparat abgegeben hat. Sie hebt zuerst bedauernd die Schultern, weist aber dann mit einem amüsierten Lächeln auf einen zurückgeschobenen Stuhl direkt neben ihm. Es fällt ihm ein Stein vom Herzen, als er feststellt, dass dort sein Fotoapparat liegt. Er entschuldigt sich, dass er so blind gewesen ist. Sie entgegnet lächelnd, dass ihr etwas Ähnliches auch schon passiert ist. Was sich ganz in der Nähe befindet, übersieht man oft ...

   

 

  Obwohl er keinen materiellen Verlust erlitten hat, ist Werner dennoch niedergeschlagen, weil die vielen Fotos von den Entwicklungsstadien seiner geliebten Zitruspflanzen fehlen. Jene Griechin hat wahrscheinlich schon vor langer Zeit die Verwechselung bemerkt, und trauert wie er dem Verlust ihrer Fotos nach. Sie hat sich vielleicht vergeblich bemüht, seinen Namen und seine Wohnadresse ausfindig zu machen. Auf seinen Fotos sind ja hauptsächlich nur Zitrusfrüchte zu sehen. Warum hätte er auch seinen Namen und seine Adresse fotografieren sollen? Was kann er nur tun, um herauszufinden, wo jene vier Griechinnen wohnen!?

 

  So wie seine Kollegen, hauptsächlich jedoch Kolleginnen, nach einem anstrengenden Unterrichtstag den Rauch einer Zigarette tief einatmen, um sich zu beruhigen und auf andere Gedanken zu kommen, genießt er den Duft der Blüten und der Früchte seiner Zitronenbüsche. Nach wenigen Minuten verblassen die dunklen Bilder und lösen sich in Heiterkeit auf.

  Er hat im Laufe der Jahre durch Kreuzungen Zitronensorten kreiert, über die nur er verfügt. Sein Hobby trägt inzwischen auch finanzielle Früchte. Für fünf seiner Züchtungen hat er hohe Auszeichnungen bekommen. Einige Produzenten von Zitrusfrüchten aus Italien und Griechenland haben sogar Lizenzen für die Kultivierung seiner Zitronensorten erworben. An schulfreien Tagen oder in den Schulferien besucht er Gartenmessen in ganz Europa und präsentiert dort auch seine eigenen Züchtungen. Auf diese Weise hat er mit vielen Menschen, die seine Leidenschaft für Zitrusfrüchte teilen, Freundschaft geknüpft. Er ist stolz darauf, dass er über weit mehr verschiedene Zitronensorten verfügt als die Orangerie von Schönbrunn!

 

  Obwohl seine Unterrichtstätigkeit in den Fächern Mathematik und Physik wegen der steigenden Disziplinlosigkeit der Schüler und seines vorgerückten Alters von Jahr zu Jahr anstrengender wird, liebt er seinen Beruf. Es motiviert ihn, an junge Menschen etwas weitergeben zu können, was sie später sowohl im Berufsleben als auch im Alltag benötigen werden. Besonders im Fach Physik versteht er es, durch praxisbezogene Experimente und Exkursionen das Interesse der Schüler und sogar der Schülerinnen zu wecken. Er ist stolz darauf, dass sich mehrere seiner Schülerinnen für Studienrichtungen wie Physik und Informatik, in denen traditionell männliche Studenten dominieren, entschieden haben.

 

  Nachdem sich seine Niedergeschlagenheit gelegt hat, schaut er die Fotos genauer an. Vielleicht kann er einen Hinweis auf den Wohnort der Besitzerin seines Fotoapparates finden. Wohnt sie tatsächlich auf der Insel Kreta?  T-Shirts von Kreta gibt es ja überall in Griechenland zu kaufen! Er hat dieses Land mehrere Male besucht; aber er kennt nur das Festland, weil seine griechischen Freunde, Oliven- und Zitrusfrüchte Produzenten, auf dem Festland, nicht weit von Athen, wohnen.

  Tatsächlich findet er Fotos, auf denen er in der Vergrößerung die kretischen Ortsnamen: Iraklion, Gouves, Chersonissos und Malia entziffern kann.

  Seine Recherchen im Internet ergeben, dass die kretische Banane nur ungefähr zehn Zentimeter lang wird, und hauptsächlich in kleinen Mengen um Malia im Norden Kretas und Ierapetra im Süden der Insel angebaut wird. Auf einem Foto ist jene Griechin, die vermutlich seine Kamera mitgenommen hat, neben Bananenstauden abgebildet. Als er die Aufnahme vergrößert, kann er auf Bananenbüschel geklebte Etiketten, die Bezeichnung: Elsa-Bananen-Kreta entziffern. Kreta ist ja keine große Insel. Es muss möglich sein, herauszufinden, wo sich diese Plantage befindet!

 

  Auf den folgenden Fotos ist dieselbe Frau neben Zitronensträuchern, die große gelbe Früchte tragen, abgebildet. Er erkennt die Sorte sofort. Es sind birnenförmige Früchte mit zehn langen fingerartigen Fortsätzen! Ohne Zweifel handelt es sich um Nachkommen seiner so erfolgreichen ersten Züchtung mit den markanten roten Ringen an fünf Fingern! Ihre Eltern stammen von Kreta. Er hat vor vielen Jahren zwei kleine eher bescheidene Pflänzchen von etwa dreißig Zentimetern Höhe aus Mitleid einem palästinensischen Verkäufer auf einem Markt in Jerusalem abgekauft. Auf seine Frage, um welche Sorte es sich denn handelt, hatte dieser nur mit den Schultern gezuckt und lächelnd geantwortet, dass das nur Allah wissen könne. Ein ehemaliger Kunde, ein Palästinenser wie er, habe vor drei Jahren eine Woche Urlaub auf der Insel Kreta gemacht. In den Ruinen eines seit wahrscheinlich vielen Jahrhunderten verlassenen Klosters habe er neben einem uralten Olivenbaum mit gut drei Metern Durchmesser einen stattlichen Zitronenbaum, der ebenfalls sehr alt gewesen sein musste, mit großen wohlschmeckenden Früchten vorgefunden. Die Kerne habe er nach dem Verzehr mitgenommen und ihm geschenkt. Zweiunddreißig sind aufgegangen, aber noch keines der Bäumchen habe Früchte angesetzt. Der Kunde lebe leider nicht mehr, weil sein Haus von einer israelischen Rakete getroffen wurde, und ihn und seine ganze Familie getötet hat. Nein, den Namen jenes verfallenen Klosters hat der Kunde nicht nennen können. Es soll sich in der Gegend um Knossos befinden. Er habe nur auf einem stark verwitterten Stein die eingemeißelte Inschrift … ger des Apostels Paulus … in griechischer Schrift entziffern können.

  Wie würde wohl dieser gute Mann reagieren, wenn er wüsste, welches Geschenk Allah ihm, einem Ungläubigen, gemacht hat!

  Als nämlich die beiden früher kümmerlichen Pflänzchen in der fruchtbaren Erde von Werners Gewächshaus zu kräftigen Sträuchern herangewachsen waren, und schließlich blühten, setzte der eine große gelbe birnenförmige Zitronen mit drei fingerartigen Fortsätzen und der andere solche mit sieben an. Das Besondere an den beiden Zitronensorten war, dass einige Finger ringartige rote Stellen aufwiesen. Durch Kreuzung der beiden, hatte er schließlich eine Zitronensorte erhalten, die Früchte mit zehn Fortsätzen und fünf roten Ringen trug. Er hatte ihr den Namen Monika gegeben.

  Ist jene Frau tatsächlich die Besitzerin jener Bananen- und Zitrusfrüchte Plantage? Wo hat der Besitzer oder die Besitzerin die Pflanzen her? Auf einem Etikett hat er die Bezeichnung Elsa entziffern können. Er hat nur seinem Freund Francesco, der Zitronen und Orangen auf der Insel Sizilien kultiviert, zwei Exemplare dieser Neuzüchtung vor vielen Jahren übergeben, und ihm erlaubt, diese bis zu einer vertraglich festgesetzten Stückzahl durch Veredlung zu vermehren und die Früchte zu vermarkten. Er ist nicht befugt, Pflanzen dieser geschützten Sorte zu verkaufen. Francesco ist selbst sehr daran interessiert, dass nur er diese besonderen Früchte erzeugen und verkaufen kann, weil die lokalen Restaurant Besitzer ganz wild nach diesen Zitronen mit dem einzigartigen Aroma sind. Sie übertreffen sogar jene der berühmten Zitronensorte Buddhas Hand, die fast nur aus einer großen Anzahl von fingerartigen Gebilden mit wenig Fruchtfleisch bestehen. Im Gegensatz zu dieser, bei der hauptsächlich die Schale verwendet wird, hat seine Sorte Monika auch einen großen wohlschmeckenden aromatischen Fruchtfleischanteil.   

  Nachdem Werner Francesco E-Mail-Fotos von der Zitrone Elsa auf Kreta geschickt hatte, beteuerte jener in seiner Antwort, dass er niemandem weder eine Pflanze noch Edelreiser von der ihm anvertrauten Neuzüchtung Monika verkauft habe. Er riet ihm, jenen Zitronenproduzenten von Kreta anzuzeigen und zu verklagen.

  Nach reiflicher Überlegung entscheidet sich jedoch Werner, vorläufig von einer Anzeige abzusehen, weil es ihm nicht gelungen ist, weder den Ort noch den Besitzer jener Plantage ausfindig zu machen. Er beschließt daher, selbst nach Kreta zu reisen, um sich vor Ort Klarheit über diese Angelegenheit zu verschaffen.

  Vor dem Abflug kontrolliert er noch sorgfältig, ob die computergesteuerte Bewässerungs- und Belüftungsanlage des Gewächshauses einwandfrei funktioniert. Da sich ein Fenster nicht automatisch öffnet, steigt er auf eine Stehleiter, um den Fehler zu beheben. Es hat sich Gott sei Dank nur eine Feder verklemmt. Als er jedoch hinabsteigt, übersieht er eine Sprosse und rutscht hinunter. Ein greller Schmerz durchzuckt ihn …

  Der konsultierte Arzt stellte fest, dass der linke Fuß glücklicherweise nicht gebrochen ist. Er hat sich nur das Fußgelenk verrenkt. Leider ist das sehr schmerzhaft. Er wird   wahrscheinlich erst nach drei bis vier Wochen wieder einigermaßen normal gehen können. Er muss das Fußgelenk schonen und so wenig wie möglich gehen.

  Gegen den Rat des Arztes entscheidet er sich jedoch, die gebuchte Reise nicht zu stornieren. Zwei Tage später erreicht er Athen und fliegt gleich weiter nach Iraklion. Die Schmerzen im Fußgelenk sind während des Fluges tolerabel gewesen. Als er jedoch in Iraklion aus dem Flugzeug steigt, kann er sich nur mühsam fortbewegen, weil das Gelenk durch eine plötzliche unbedachte Bewegung wieder heftig zu schmerzen begonnen hat. Er lässt sich aber nichts anmerken, als ihm ein Vertreter der Firma, bei der er per Internet ein Auto gemietet hat, das Fahrzeug übergibt. Als sich der Mann entfernt hat, probiert er vorsichtig, ob er mit dem verletzten linken Fuß die Kupplung betätigen kann. Der Schmerz ist erträglich. Er fährt über Gouves nach Chersonissos, wo er eine Unterkunft reserviert hat.

  Die Hotelanlage entspricht der Beschreibung des Reisebüros: Am Stadtrand in ruhiger Lage mit mehreren nur einstöckigen Ferienhäusern. Sein Appartement verfügt über eine kleine Küche und ein Wohnzimmer mit Balkon. Es ist einfach aber durchaus gemütlich und zweckmäßig eingerichtet.

  Da es schon spät ist, setzt er sich an den Tisch auf den Balkon, trinkt einen selbst zubereiteten Kaffee und isst dazu einige mit Käse und Wurst belegte Brote. Nur in wenigen Appartements brennt Licht. Die Wirtschaftskrise scheint auch Kreta erfasst zu haben. Es ist fast unheimlich ruhig in der Ferienanlage; nur unter ihm haben junge Polen ein Radio eingeschaltet, drehen es aber bald wieder ab und machen sich laut diskutierend auf den Weg in Richtung des Zentrums von Chersonissos. Es ist angenehm warm, nicht heiß; schätzungsweise um die 28 Grad. Nur der monotone Gesang der Zikaden durchbricht die Stille. Viele Urlauber stören diese schrillen Konzerte. Er liebt sie, weil sie ihn an die vielen schönen Urlaube, die er in der französischen Provence und auf Sizilien verbracht hat, erinnern. Nachdem er den  geschwollenen Fuß mit der Salbe, die ihm der Arzt verschrieben hat, eingerieben und neu bandagiert hat,  legt er sich bekleidet aufs Bett, versinkt sofort in einen tiefen Schlaf und wacht erst auf, als ihm die Sonne warm ins Gesicht scheint. Er betastet den verletzten Fuß. Erleichtert stellt er fest, dass die Schwellungen zurückgegangen sind, und er fast ohne Schmerzen gehen kann.

  Nachdem er gut und ausgiebig gefrühstückt hat, setzt er sich ins Auto und fährt an der Küste entlang in Richtung Malia. Er lässt sich Zeit und genießt die herrlichen Ausblicke auf das weite azurblaue Meer.

  In Malia angekommen, fragt er einen Polizisten nach der Bananenplantage Elsa. Der hebt jedoch nur bedauernd die Schultern. Nein, von einer namens Elsa hat er noch nie gehört. Es gäbe aber einige Olivenplantagen weiter südlich von Malia, ungefähr hundert Kilometer entfernt; da werden auch Bananen kultiviert. Sehr kleine; aber süßer und geschmackvoller als jene aus Afrika oder Südamerika, die man in den Geschäften kaufen kann …

  Nachdem er über zwei Stunden im Landesinneren auf schmalen kurvenreichen Straßen in einer hügeligen Landschaft, gesäumt von endlosen Olivenfeldern, begleitet vom Gesang der Zikaden, umhergeirrt ist, und ihm niemand sagen konnte, wo sich die Plantage Elsa befindet, legt er entmutigt in einen kleinen menschenleeren Dorf eine Pause ein.

  Als er aus dem Wagen steigt, durchzuckt ihn wieder jener stechende grelle Schmerz. Er humpelt mit schmerzverzerrtem Gesicht zu einer Bank, die sich unter einem schattenspendenden alten Maulbeerbaum mit schwarzen brombeerartigen Früchten befindet. Er kostet einige Früchte, die auf die Bank gefallen sind, und dunkelrote Flecken hinterlassen haben. Sie schmecken köstlich süß. Er richtet sich vorsichtig auf dem gesunden Bein auf und pflückt Beeren von den tief herabhängenden Ästen ab. Nach kurzer Zeit sind seine Hände und wohl auch seine Lippen vom Saft der Früchte rot gefärbt.

  Er fährt erschrocken herum, als er plötzlich eine männliche Stimme hinter sich vernimmt: „Die Beeren schmecken herrlich, nicht wahr?“ Ein älterer Mann mustert ihn mit einem schelmischen Lächeln, das ihn unwillkürlich an Anthony Quinn in dem Film Alexis Sorbas erinnert.

    „Ja“, erwidert Werner verwirrt. „Es ist wirklich schade, dass niemand diese köstlichen Früchte erntet und verwertet ...“

   „Nein, das ist nicht so“, widerspricht ihm der Mann auf Deutsch. „Hier hat es früher viele Seidenraupenzüchter und eine Seidenmanufaktur gegeben; deswegen die vielen Maulbeerbäume in dieser Gegend. Als dann aber die billige Kunstseide von den Textilproduzenten bevorzugt wurde, ging der Bedarf an echter Seide rapide zurück. Die Seidenmanufaktur schloss ihre Tore für immer, und auch die Seidenraupenzüchter mussten ihre Produktion einer nach dem anderen einstellen. Deswegen verließen die meisten Kreta und suchten auf dem Festland oder in anderen Ländern eine Arbeit, von der sie leben können. Nur diejenigen, die sich rechtzeitig auf Oliven- und Zitrusfrüchte umgestellt hatten, blieben; wenigstens vorläufig. Mein Vater konnte uns mehr schlecht als recht durch den Verkauf von Olivenöl, Zitronen und Orangen durchbringen. Als ich dreißig Jahre alt war, reiste ich nach Linz in Österreich.  Ein Schulfreund hatte mir einen Job beim Stahlwerk Voestalpine verschafft. Es war eine harte kräftezehrende und wegen der allgegenwärtigen, auch mit Schutzbekleidung sengenden Hitze und des Staubs, eine gesundheitsschädigende Arbeit. Nach fünfundzwanzig Jahren waren meine Lungen so kaputt, dass mich die Ärzte in die Frührente schickten. Ich kehrte nach Kreta in mein Dorf zurück. Meine Eltern waren inzwischen verstorben, und mein Bruder hatte schon längst eine Arbeit als Obsthändler in Athen gefunden. Nur ältere Leute, die keine Chance mehr hatten, woanders eine Arbeit zu finden, sind zurückgeblieben. Außer mir leben hier noch vier ehemalige Seidenraupenzüchter zwischen fünfundsechzig und achtzig Jahren. Sie beziehen nur eine sehr kleine Rente, von der sie allein nicht leben könnten; aber mit dem Ertrag ihrer Olivenbäume, der Milch ihrer Ziegen, dem Verkauf von Käse, Honig, Zitronen und Orangen kommen sie gerade über die Runden ...“

  „Ist es nicht deprimierend in einem sterbenden Dorf zu leben?“, unterbricht ihn Werner.

  „Ja und nein“, entgegnet der Mann, indem er mit einem traurigen Blick auf die deutlich im Zerfall befindlichen Häuser weist. „Ich bin auf jeden Fall zufrieden, dass ich wieder in meiner Heimat gesunde unbelastete Luft einatmen und das sonnige milde Klima auf Kreta genießen kann. Wegen meiner guten Rente aus Österreich habe ich auch keine finanziellen Sorgen. Außerdem erwies sich meine Idee, aus den Früchten der Maulbeerbäume Fruchtsäfte und Schnäpse zu erzeugen, als sehr erfolgreich. Mir ging es auch schon in den ersten Jahren nach meiner Rückkehr gesundheitlich von Jahr zu Jahr besser. Das warme Klima, die gute Luft und die Sonne schienen meinen geschädigten Lungen sehr gut zu tun; aber dann kam praktisch über Nacht der Rückschlag. Ich bekam, besonders in den Nächten, kaum noch Luft. Es gab Nächte, in denen ich Todesängste ausstand, weil ich zu ersticken glaubte. Ich ließ mich in Iraklion von einem Lungenspezialisten untersuchen. Der bedauerte, dass er leider nichts mehr für mich tun könne, und prognostizierte mir eine Lebenserwartung von höchstens noch zwei Jahren. Nur ein Wunder könne mir noch helfen. Seitdem sind aber schon beinahe zehn Jahre vergangen, und es könnte mir gesundheitlich nicht besser gehen …Tatsächlich ist dann etwas geschehen, was man durchaus als Wunder bezeichnen könnte ... Sie kennen wahrscheinlich nicht die Legende von den Fünf Fingern des Apostels Paulus, die hier viele Jahrhunderte auf Kreta im Umlauf war, aber dann fast in Vergessenheit geriet?“

  „Nein“, antwortet Werner mit einem Achselzucken. „Ich bin ja erst zwei Tage hier und in den Berichten über Kreta, die ich vor meinem Abflug lesen konnte, wird sie nicht erwähnt ...“

  „Sie haben ein krankes Bein, nicht wahr?“

  „Ja“, antwortet Werner zögernd.

  „Dann wird Sie meine Erzählung interessieren:

 

  Nach einer sehr alten Erzählung, die auf einen Begleiter des Apostels Paulus zurückgehen soll, und hier von Generation zu Generation nur mündlich überliefert wurde, weil Paulus  das so bestimmt habe, soll der Apostel auch in der Gegend um Knossos an einem Ort mit einem Altar, auf dem man den vielen griechischen Göttern Opfer darbrachte, missioniert haben. Man machte sich aber über seine Erzählungen von den Wundern Jesu lustig und warf ihn schließlich in einen Kerker, als er behauptete, dass Jesus der Sohn Gottes sei. Als Strafe für seine dreisten Lügen und angeblicher Gotteslästerung wurden ihm auf einem Olivenbaumstumpf die fünf Finger seiner rechten Hand mit einem Schwert abgetrennt, und dann auf jenen Opferaltar gelegt. Wenn er, wie er behauptet habe, im Namen Jesu Wunder tun könne, solle er doch seine abgetrennten Finger wieder anwachsen lassen. Nicht wegen ihm, sondern, weil Paulus seinem Auftrag, die frohe Botschaft von der Liebe Gottes allen Völkern zu verkünden, gerecht werden wollte, befahl er den blutenden abgetrennten Fingern zu seiner Hand zurückzukehren. Die Anwesenden, vor Schreck gelähmt, starrten mit offenem Mund auf die rechte Hand von Paulus, an der nun kein Finger mehr fehlte. Sie fielen auf die Knie und ließen sich von ihm an einer Quelle taufen.

  

  Bevor Paulus jenen Ort verließ, prophezeite er, dass der schon seit vielen Jahren abgestorbene Baum, auf dessen Stumpf seine Finger abgetrennt worden waren, wieder austreiben und noch nach 2000 Jahren leben werde. An der Stelle, wo Blut von seinen abgetrennten Fingern auf die Erde getropft ist, werde ein Zitronenstrauch mit großen Früchten, die Finger haben, sprießen. Wer ein Stück von diesen esse, in Anwesenheit von drei christlichen Zeugen seine Sünden bekennt, und Jesus aufrichtig um Vergebung bittet, dem werden nicht nur seine Sünden vergeben, sondern der wird auch von allen Krankheiten geheilt.

  Tatsächlich trieb nicht nur der abgestorbene Olivenbaum wieder aus, sondern neben dem Altar schoss auch ein Zitronenstrauch empor, der nach wenigen Jahren große gelbe Früchte mit zehn langen Fortsätzen trug. An fünf Fingern sah man in der Nähe des birnenförmigen Teils der Früchte blutrote ringförmige Ringe. Viele Jahrzehnte hindurch sollen alle, die dort öffentlich, aufrichtig ihre Sünden bekannt haben, von ihren Krankheiten geheilt worden sein, wenn sie danach ein Stück von jenen Zitronen gegessen haben.

  Im Laufe der Jahre bildete sich um jene wundersame Stätte ein Dorf mit einem Kloster, das von Mönchen bewohnt war. Sie pflegten und bewachten den Zitronenstrauch, damit kein Unbefugter Früchte abpflücken oder gar dem Strauch Schaden zufügen konnte.

  Aber als alle Zeugen des Wunders, das Paulus an jenem Ort vollbracht haben soll, verstorben waren, kamen Zweifel auf, ob der Apostel Paulus jemals in jener Gegend von Kreta missioniert hat. Als die Pilger nur noch zum Schein belanglose Sünden, die sie oft gar nicht begangen hatten, öffentlich preisgaben, versiegte allmählich die heilende Kraft des Zitronenstrauches. Seine Blätter wurden gelb, die Früchte verdorrten und fielen schließlich ab. Obwohl die Dorfbewohner alles taten, um den Strauch am Leben zu erhalten, starb ein Ast nach dem anderen ab. Sie gossen ihn verzweifelt mehrmals täglich, düngten ihn mit guter Komposterde; aber ihre Mühe war trotz ihrer Stoßgebete vergeblich. Der Zitronenstrauch ging ein und trieb auch nicht wieder aus; aber der Olivenbaum überlebte. Die Mönche verließen schließlich den Ort. Er verfiel im Laufe der Jahre und geriet in Vergessenheit ...“

  „Weiß man, wo sich jener Ort mit dem uralten Olivenbaum befindet?“, unterbrach ihn Werner interessiert, weil er sich natürlich sofort an die Worte jenes Palästinensers, dem er die beiden Zitronenbäumchen abgekauft hatte, erinnerte.

  „Es kommen mehrere Orte in Frage“, entgegnet der alte Mann lächelnd. „Es gibt noch viele sehr alte Olivenbäume auf Kreta. Der Ano Vouves des gleichnamigen Dorfes, etwa dreißig Kilometer westlich von Chania soll über 3000 Jahre alt sein. Sein Stammumfang beträgt dreizehn Meter.  Er kann aber schon wegen seines Alters nicht jener Olivenbaum sein, der im ersten nachchristlichen Jahrhundert aus dem abgestorbenen Baumstumpf hervorgegangen sein soll ...“

  Der alte Mann blickte nachdenklich in die Ferne und setzte dann seine Erzählung fort:

  „Damit endet diese wundersame Geschichte aber nicht; denn vor ungefähr zehn Jahren verbreitete sich auf Kreta ein Gerücht, dass der legendäre wundersame Zitronenstrauch und auch der alte Olivenbaum im Garten eines Klosters, das sich hier in unmittelbarer Nähe befindet, überlebt hätten. Die Früchte des Strauches entsprächen ganz genau den Beschreibungen jener Legende …

 

 

 

Fortsetzung in Band 3

 

 

 

 

 

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Das schwarze Gold von Madre de Dios

 

 

 

 Ich kenne Adolf seit wir in Pampers im Garten herumgelaufen sind. Natürlich habe ich nur schemenhafte Erinnerungen an diese paradiesische Zeit, wo ich nur zornig brüllen musste, um mit Erfolg den Wechsel der schokoladencremefarbigen oder nur nassen Windeln einzufordern.

  Adolf hatte es um zwei Tage eiliger gehabt als ich, das Licht der Welt zu erblicken. Er ist der Sohn meiner Tante Eva, also der Schwester meiner Mutter.

  Meine Eltern lebten gemeinsam mit Eva und ihrem Mann Achim in dem geräumigen Haus meiner Großeltern mütterlicherseits. Diese hatten Biologie und Chemie an einem Wiener Gymnasium unterrichtet. Ihre absoluten Lieblinge sind Lurche aller Art. Sie hatten in unserem Gott sei Dank sehr großen Garten mehrere naturnahe Teiche angelegt, und dort Frösche mit solch großem Erfolg angesiedelt, dass diese im Frühjahr zur Paarungszeit derart ohrenbetäubende Konzerte aufführen, dass wir nur bei geschlossenen Fenstern mit Stöpseln in den Ohren schlafen können. Ihr Quaken ist kilometerweit

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 28.01.2020
ISBN: 978-3-7487-2761-3

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