Der Engel von Sanlúcar de Barrameda
Ein Flugticket von Wien nach Liverpool wäre bedeutend billiger gewesen als die gebuchte Reise mit dem Zug, einschließlich der Fähre von Hoek van Holland nach Harwich; aber ich wollte ganz einfach am Panoramafenster die vorbeiziehenden Landschaften und die Überfahrt nach England an Bord eines großen Fährschiffes genießen.
Außerdem ziehe ich Reisen mit dem Zug trotz der wesentlich längeren Dauer vor, weil man hier nicht, eingequetscht wie ein Hot Dog, zwischen dem eigenen Sitz und der nach hinten geklappten Lehne des vorderen Passagiers, während des ganzen Fluges seinen Ausdünstungen wehrlos ausgesetzt ist.
Wenn sich vom Fenster aus nichts Besonderes bietet, langweile ich mich keineswegs. Ich komme endlich dazu, die Bücher zu lesen, in die ich höchstens ein bisschen hineingeschnuppert habe, weil immer wieder etwas anderes dazwischen gekommen ist. So vergeht die von vielen Fahrgästen als tödlich langweilig empfundene, scheinbar endlose Zugfahrt, im wahrsten Sinne des Wortes wie im Fluge.
Als der Zug ungefähr die Hälfte der Strecke zurückgelegt, und ich meinen spannenden Roman bis auf wenige Seiten durchgeschmökert hatte, begab ich mich, da mir die Augen vom Lesen wehtaten, und ich mich hungrig fühlte, in den Restaurantwagen. Er war ziemlich leer, sodass ich mir einen Tisch aussuchen konnte, wo noch niemand saß.
Ein Kellner kam sogleich und nahm dienstbeflissen mit einem freundlichen Lächeln meine Bestellung auf. Er servierte das Grillhähnchen und das Bier innerhalb einer Viertelstunde. Der Kellner freute sich, als ich ihm sagte, dass das Menü ausgezeichnet geschmeckt habe. Da ich noch eine Weile in dem bequemen Restaurantwagen bleiben wollte, um eine Zeitung zu lesen, bestellte ich eine Melange und ein Stück Nusstorte.
Inzwischen waren alle Tische ringsherum besetzt. Ich schreckte aus meiner Lektüre auf, als ich eine männliche Stimme mit eindeutig wienerischem Akzent sagen hörte: „Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich mich zu Ihnen setze; nur hier ist noch ein Platz frei!“
Natürlich hatte ich etwas dagegen; aber ich bat den Mann höflich, doch Platz zu nehmen. Er entpuppte sich als ein geselliger Wiener Heurigen Besucher. Da er nicht locker ließ, mir seine ganze Lebensgeschichte von den ersten Windeln bis zum aktuellen Tag zu erzählen, legte ich, etwas verärgert über mein geschwätziges Gegenüber, meine Zeitung, in der ich auf einen interessanten Artikel über eine geplante Aktion zur Wiederaufforstung von brasilianischen Urwaldgebieten gestoßen war, seufzend beiseite.
Er betreibe Handel mit Gartengeräten und Gartenmaschinen, erklärte er mir; deswegen sei er unterwegs nach England.
Er bedrängte mich, Fotos von seinem Haus in Stammersdorf anzuschauen. Ich erkannte es sofort. Es liegt, umgeben von Weinbergen, auf einer Flanke des Bisamberges. Früher ist es ein eher bescheidener Heuriger gewesen.
Obwohl mir der Wiener mit seiner aufdringlichen leutseligen Art ein wenig auf die Nerven ging, musste ich zugeben, dass er das Haus mit dem großen Gartengrundstück und dem Weinkeller sehr einfühlsam, ja liebevoll revitalisiert hatte. Oft war ich dort nach einem Spaziergang durch die gepflasterten Hohlwege mit den kleinen, tief in die steilen Lösswände gegrabenen Weinkellern, eingekehrt. Die Besitzer jenes Heurigen, ein älteres Ehepaar, hatten mich immer so herzlich wie einen guten alten Freund begrüßt und bewirtet. Sie produzierten einen Rotwein, der, obwohl er nie offizielle Auszeichnungen erhalten hat, eine einzigartige Gaumenfreude war. Ich hatte immer einige Flaschen von diesem köstlichen Wein, der direkt aus dem kühlen Weinkeller kam, mitgenommen. Er schmeckte weit besser als die teuersten Rotweine in den Supermärkten, wo die kostbaren Flaschen bei Zimmertemperaturen in beleuchteten Regalen dahinvegetieren, und so viel vom ursprünglichen Aroma verlieren.
Das Buffet war einfach aber wohlschmeckend gewesen. Das herrlich duftende Bauernbrot hatten sie selbst in einem alten aus Feldsteinen errichteten Backofen mit dem Holz abgestorbener Weinstöcke und dem jährlichen Schnittgut gebacken. Sie hatten einen kleinen Hund; eine gelungene Promenadenmischung aus Dackel und Spitz. Sie nannten ihn Freddy. Ein schlaues Bürschchen. Er war ein höchst begabter Torwart. Jedes Mal, wenn ich dort war, legte er mir seinen Tennisball erwartungsvoll vor die Füße, wackelte dann ungefähr sechs Meter im Rückwärtsgang zurück, und wartete, meinen rechten Fuß starr fixierend, auf den Elfmeterschuss. Es war unglaublich; aber es gelang mir tatsächlich nie, nicht einmal mit listigen Täuschungsmanövern, ein Tor zu erzielen. Wenn Freddy den aufgefangenen Ball im Maul hatte, knurrte er zufrieden mit schelmisch triumphierendem Blick und steil nach oben gerichteten Plüschohren. Leider hat ein Gast einmal so kräftig geschossen, dass der arme Hund dabei seine Vorderzähne eingebüßt hat. Es saß von da an mit heruntergeklappten Ohren und eingezogenem Schwanz trübsinnig auf der Matte beim Kachelofen und schniefte traurig, wenn ich den Heurigenraum betrat.
Weil ich Freddy derartig ins Herz geschlossen hatte, spielte ich sogar mit dem Gedanken, ihm Vorderzähne auf meine Kosten implantieren zu lassen. Ich war sehr enttäuscht und traurig, als ich nach einem mehrmonatigen geschäftlichen Aufenthalt in Deutschland und Frankreich bei einem Spaziergang durch die Hohlgassen das Eingangstor meines Lieblingsheurigen verriegelt vorfand, und auf einem großen Schild las, dass der Heurige mit den Weingärten verkauft worden war. Ich brachte später in Erfahrung, dass das kinderlose Ehepaar das Haus und die Weingärten hatte verkaufen müssen, weil beide aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage gewesen waren, die Weingärten zu pflegen, und deshalb in ein Seniorenheim umgesiedelt sind. Meinen Freddy hatten sie natürlich mitgenommen.
Ich habe ihn sechs Monate später in jenem Seniorenheim besucht. Als Freddy mich erblickte, stürmte er mir mit einem Tennisball in der Schnauze entgegen und legte ihn auffordernd vor meine Füße. Er hatte wieder alle Vorderzähne!
Das Heurigenehepaar erzählte mit später, dass ein pensionierter Zahnarzt, der auch in dieser Seniorenresidenz seinen letzten Lebensabschnitt verbringt, dem Hund die Zahnlücke, als Trost für den verlorenen Platz am Kachelofen des verkauften Heurigenlokals, mit Zahnimplantaten geschlossen habe.
Freddy ist in seinem neuen Zuhause sehr glücklich, weil alle Bewohner des Seniorenheims ganz verrückt darauf sind, endlich ein Tor gegen ihn zu erzielen. Bisher soll das aber wie früher niemandem gelungen sein. Freddys Lieblingsplatz ist der weiche Ohrensessel jenes betagten Zahnarztes. Wenn dieser jedoch am Abend seine Zahnprothese herausnimmt, soll Freddy herzzerreißend heulen ...
Ich wischte mir verstohlen die Tränen weg, als ich auf einem Foto den in Stein gehauenen Engel, die Flügel schützend weit ausgebreitet, vor dem Eingang des Hauses sah. Er hatte das freundliche sympathische Ehepaar zwar lange beschützt, aber es nicht vor den Tücken des Alterns bewahren können.
„Glauben Sie an Engel?“, fragte mich der Wiener unvermittelt.
Die Frage irritierte mich, weil ich nicht wusste, worauf er hinauswollte.
„Ich weiß nicht so recht“, entgegnete ich ausweichend. „Vielleicht gibt es sie tatsächlich. Mir ist auf jeden Fall noch keiner begegnet!“
„Mir schon!“, entgegnete der Wiener mit ernstem Gesichtsausdruck. „Jedenfalls dachte ich das. Carmen war für mich und viele andere ein Engel. Ich habe sie verehrt und geliebt wie keine andere Frau in meinem Leben, aber ein anderer, der sie nicht verdient hat, so dachte ich jedenfalls, hat sie mir weggeschnappt.“
Als er erwähnte, dass sie einen Bioladen mit spanischen und südamerikanischen Produkten im Wiener Künstlerviertel am Spittelberg betrieb, klingelte es bei mir. Sollte es sich tatsächlich um die Ex-Frau meines Freundes Heinrich handeln, den ich in Ruthin, in Wales, besuchen wollte? Ich ließ mir nichts anmerken, folgte aber nun seinen Worten mit größter Aufmerksamkeit.
Carmen stamme aus Sanlúcar de Barrameda in der Provinz Cádiz in Andalusien. Mit einem Erasmus Stipendium soll sie nach Wien gekommen und dort geblieben sein, weil ihr diese Stadt so gut gefallen hat. Sie vertrage das kühlere Klima in Österreich viel besser als die brütende Sommerhitze in ihrer Heimatstadt. Nur die vielen sonnenarmen Tage sind ein Problem für sie gewesen. Es gab keinen Zweifel mehr. Der Engel Carmen konnte nur die Ex-Frau meines Freundes Heinrich sein!
Als wir uns Münster näherten, unterbrach er seine Erzählung. Er müsse leider aussteigen. Ich muss gestehen, dass ich nun verärgert war, weil der Wiener keine Zeit mehr hatte, mir zu erzählen, warum er Gott auf Knien danke, dass Carmen statt ihm, dem dürren mit einer Spiegelglatze gesegneten braven aber doch so langweiligen Gärtner Heinrich das Jawort gegeben hat. In ihrer Heimatstadt würde man sie nicht als Engel, sondern als eine scheinheilige Teufelin bezeichnen ...
Er werde seine Reise nach England erst in einigen Tagen fortsetzen, weil er vorher in der Nähe von Münster einige Firmen, mit denen er geschäftliche Beziehungen unterhalte, aufsuchen müsse.
Als ich ihm sagte, dass mein Ziel Ruthin in Wales sei, schüttelte er ungläubig den Kopf.
„Welch ein glücklicher Zufall! Es ist nicht weit von meinem Zielort Chester entfernt. Ich kenne dieses alte malerische Städtchen. Wir müssen uns dort unbedingt treffen!"
Da ich nun darauf brannte, zu erfahren, warum man Carmen in San Sanlúcar de Barrameda als eine Teufelin bezeichnet, gab ich ihm meine Handy Nummer.
Er wird mich bestimmt besuchen; in Ruthin gibt es einen kleinen Familienbetrieb, der Veredlungsmesser und Gartenscheren weitgehend in Handarbeit herstellt. Sie sind von einer solch einmaligen Qualität, dass sie trotz der geschmalzenen Preise wie warme Semmeln weggehen. Er will versuchen, ein höheres jährliches Kontingent zu bekommen.
Als sich Alfred, so war der Vorname des Wieners, von mir verabschiedet hatte, ging ich zu meinem Abteil zurück. Ich vertiefte mich wieder in meine Lektüre, schlief aber nach einer halben Stunde ein.
Ein Fahrgast rüttelte mich wach, als der Zug im Hafen von Hoek van Holland einlief. Es war 20:30 Uhr. Wir waren fahrplanmäßig angekommen. Das große in der einbrechenden Dunkelheit gespenstisch beleuchtete Fährschiff wartete schon auf uns. Meine Kabine, die ich mit zwei jungen Franzosen teilen musste, war klein aber zweckmäßig eingerichtet. Ich fuhr mit dem Aufzug hinauf zum zweiten Oberdeck und kehrte in ein typisch englisches Pub ein. Der Boden war mit dicken Teppichen ausgelegt. An der Wand hing ein Dartboard und auf der Theke standen die typisch englischen Bierpumpen mit einem hölzernen Arm, den die Kellner beim Bierzapfen runterdrücken.
Das Pub war voll. Es waren naturgemäß viele Engländer anwesend; aber an den typischen nationalen Akzenten waren Deutsche und Franzosen unüberhörbar erkennbar. Auch der Brite, der neben mir an der Theke saß, hatte, als ich ein pint of ale bestellte, und ein paar Worte mit dem Kellner wechselte, sofort an meinem miserabel ausgesprochenen th, das ich, wie die meisten Deutschen, wie ein S oder D ausspreche, erkannt, dass ich ein Deutscher bin.
Er war very pleased, als ich das englische Bier lobte. Deutsche und auch Österreicher würden normalerweise nach einem Schluck von englischem Bier eine Grimasse schneiden, weil es warm und wegen des geringen Kohlensäureanteils schal und langweilig schmecke.
Ich konnte mir ein boshaftes Grinsen nicht verkneifen. „Yes“, meinte ich. „The british ale ist für uns vom Kontinent indeed gewöhnungsbedürftig, aber wenn man es einige Male hinuntergegossen hat, merkt man, dass es bekömmlicher ist als das eiskalte deutsche Bier mit hohem Kohlesäureanteil.“
Es kostete mich einige Überwindung, nicht zu erwähnen, dass es auch Deutsche gibt, die den Geschmack von englischem Bier mit den Ausdünstungen von eingeschlafenen Schweißfüßen vergleichen ...
Der Engländer nickte nachdenklich. Es stimmt; der Magen verträgt englisches Bier besser als das kalte vom Kontinent. Anfänglich hat ihm das kühle kohlensäurereiche Bier überhaupt nicht geschmeckt; aber jetzt nach zwei Jahren Aufenthalt in Wien, kann er den lauen englischen Gerstensaft nur noch mit Überwindung hinunterkippen.
Ich musste ihm versprechen, ihn einmal im Vienna International Center, kurz VIC, zu besuchen. Er arbeitet bei der IAEO. Er macht nur einen Kurzurlaub in England. Er würde mich gerne im Restaurant des VIC zum Essen einladen. Die angebotenen Menüs sind sehr gut. Wir könnten danach einen Spaziergang durch den Donaupark machen. Mit den weitläufigen Rasenflächen, auf denen man picknicken kann, ist er einem englischen Park sehr ähnlich. Er würde mich auch gerne auf a cup of coffee mit einer herrlich schmeckenden Wiener Mehlspeise, ein Stück Torte, oben im Café auf dem Donauturm einladen. Der Ausblick auf Wien in dem runden sich langsam drehenden Café ist bei schönem Wetter einfach wonderful. Ich versprach, ihn anzurufen, sobald ich wieder in Wien bin. Nach der closing time fuhr ich hinunter zu meiner Kabine und haute mich in meine Koje. Ich rollte mich von einer Seite auf die andere; aber, obwohl ich todmüde war, konnte ich einfach keinen Schlaf finden, weil einer der Franzosen fürchterlich schnarchte und der andere, ohne sich irgendwelchen Zwang anzutun, seine Gärgase explosionsartig entsorgte. Gott sei Dank funktionierte die Belüftung gut. Mir gingen die Worte des Wieners über Carmen nicht aus dem Sinn. Warum hatte man nur eine solch schlechte Meinung von der bedauernswerten Spanierin?
Ich hatte ihr hoch und heilig versprechen müssen, dass ich niemandem, auch Heinrich nicht, verraten würde, was ich über sie erfahren hatte, und was ihr letzter Wunsch gewesen war ...
Heinrich und ich hatten Carmen gemeinsam entdeckt. Bei einem Spaziergang durch die malerischen revitalisierten alten historischen Gässchen am Spittelberg in Wien, waren wir auf einen Bioladen gestoßen, in dessen Schaufenster Produkte aus Spanien und Südamerika ausgestellt waren. Als wir das Geschäft betraten, und uns die zierliche Spanierin lächelnd begrüßte, hatte uns Amors Pfeil gleichzeitig das Herz durchbohrt. Mit ihrem dunklen Haar, das lang über ihr korallenrotes Kleid fiel, den großen Mandelaugen, und dem kindlich schüchternen Blick hatte sie uns in einem Augenblick verzaubert. Wir kauften viele Naturprodukte, für die wir gar keine Verwendung hatten, weil wir so lange wie möglich in dem Laden bleiben wollten, um die bezaubernde Verkäuferin verstohlen betrachten zu können. Es versteht sich von selbst, dass wir bald zu ihren besten Kunden zählten. Früher hatten wir gewöhnlich nur zweimal im Jahr den Spittelberg aufgesucht: Einmal wegen der idyllischen Weihnachtsmärkte im Dezember und dann anschließend wegen der Punschstände zum Neuen Jahr. Nun gingen wir mehrmals in der Woche dorthin.
Wir unterhielten uns jedes Mal glänzend mit ihr. Sie lachte über meine Witze, aber meine Versuche, sie zum Essen in einem Restaurant oder auf einen Kinobesuch einzuladen, blieben lange erfolglos. Sie verstand es aber jedes Mal, mir so charmant einen Korb zu geben, dass ich mich nicht verletzt fühlte. Ich dachte zuerst, dass sie meine Einladungen ablehnte, weil ich ein einfacher nicht vermögender Gärtner bin; aber ich erfuhr dann in den umliegenden Restaurants, dass sie es mit allen anderen Männern, die ihr in Scharen den Hof machten, genauso machte. Es waren darunter reiche Geschäftsleute, Ärzte, Schauspieler und auch einige bekannte Politiker gewesen.
Obwohl Carmen viele begehrte hübsche Fotomodelle leicht in den Schatten hätte stellen können, wirkte sie ganz im Gegensatz zu den normalerweise selbstsicheren Spanierinnen unsicher, ja schüchtern. Aber gerade das machte sie so unwiderstehlich anziehend. Sie gab mir schließlich doch das, was ich sehnsüchtig begehrt hatte, machte mir aber auf ihre charmante Art unmissverständlich klar, dass sie sich in keiner Weise zu binden beabsichtige. Es war schmerzhaft zu erfahren, dass ich nicht der einzige sein könne, dem sie ihre Leidenschaft schenken wolle. Da ich ihr aber so verfallen war, musste ich das akzeptieren ...
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Der Komapatient
„Wo werden wir ihn verscharren?“, hört August seinen jüngeren Sohn Herbert sagen.
„Er hat sich doch noch nicht endgültig verabschiedet!“, entgegnet der ältere Sohn Peter mit empört gespielter Miene. „Ein bisschen Respekt hat er schon verdient. Schließlich war er unser Vater!“
„Ein toller Vater!“, entgegnet Herbert, indem er August Berendson, der mit geöffneten aber starren scheinbar leblosen Augen und offenem Mund regungslos unter dem blütenweißen Krankenhausleintuch liegt, mit verächtlichem Blick mustert.
„Nichts hat der geizige Sack für uns getan, nicht einmal unser Studium wollte er bis zum Ende finanzieren! Es wird ihm in der Seele wehtun, dass er auf seiner letzten Reise nichts mitnehmen kann, und uns sein Vermögen, das er uns zeitlebens vorenthalten hat, überlassen muss. Ich denke, es ist am besten, wenn wir eine Feuerbestattung durchführen lassen, und mit seiner Asche seine geliebten Zitronenbäumchen düngen!“
„Eine ausgezeichnete Idee!“, sagt Isabella lächelnd. „So lebt euer Vater in seinen Zitronenbüschen, die er mehr geliebt hat als euch und mich, weiter. Wir ersparen uns den Kauf eines teuren Grabplatzes und die Pflege seiner letzten Ruhestätte!“
Nach diesen Worten verlassen die Söhne und die Exfrau von August Berendson, ohne ihn zu berühren, oder sich von ihm zu verabschieden, das Krankenzimmer.
August will vor Empörung und Angst schreien und aus dem Bett springen, aber seine Lippen und sein erstarrter Körper gehorchen ihm nicht. Er fühlt sich wie eine Fliege, die in einem Eisblock oder in Bernstein eingeschlossen ist.
Er weiß aus den Gesprächen der Ärzte und der Krankenschwestern, dass er schon zwei Jahre lang mit Maschinen und Infusionen am Leben gehalten wird. Vor zwei Tagen ist er aus dem Koma aufgewacht, aber nicht in der Lage gewesen, in irgendeiner Art und Weise mit den Ärzten oder Krankenschwestern zu kommunizieren.
Sie werden ihn lebendig verbrennen! Was kann er nur tun!? Die Ärzte haben ihn aufgegeben. Vor einer halben Stunde ist der Chefarzt vor seinem Bett gestanden und hat Isabella und seinen Söhnen erklärt, dass aus seiner Sicht und der seiner Kollegen nicht die geringste Chance besteht, dass er jemals aus dem Koma aufwachen wird. Sie würden praktisch einen toten Körper mit den Maschinen und Infusionen vor dem endgültigen Aus bewahren. Sie hätten aber nicht das Recht, dieses noch scheinbar bestehende Leben zu beenden. Er kann aber sehr gut verstehen, wenn seine Familienangehörigen, die ja am meisten unter diesem menschenunwürdigen Zustand des Patienten leiden, einen Schlussstrich ziehen wollen.
Als der Arzt nach diesen Worten das Krankenzimmer verlässt, entscheiden sich Isabella und die beiden Söhne, in der kommenden Nacht um 23 Uhr die Geräte abzuschalten, damit August endlich seinen ewigen Frieden finden möge.
Es bleiben ihm folglich bis dahin nur noch fünf Stunden. Die Krankenschwester wird erst wieder gegen sechs Uhr in der Früh sein Krankenzimmer betreten. Sie wird seinen Tod feststellen, die Ärzte rufen, und dann wird alles sehr schnell gehen. Seine Familie wird schließlich erleichtert mit seiner Asche die Zitronenbüsche düngen ...
Er will weinen, aber nicht einmal das ist möglich. Welch einen fürchterlichen Tod wird er erleiden müssen!
Plötzlich öffnet sich die Tür. Eine hübsche kleingewachsene zierliche Frau mit einem großen Rosenstrauß im Arm kommt in den Raum. Er erkennt sie sofort. Es ist seine peruanische Nachbarin Ana, die in einem bescheidenen Gartenhäuschen neben seiner Villa wohnt.
Sie rückt einen Stuhl an sein Bett, legt ihm die Blumen auf die Brust, setzt sich und streichelt ihm zärtlich über die Wangen.
„Es sind Rosen aus deinem Garten“, sagt sie. Tränen laufen ihr über die Wangen und tropfen warm auf seine Brust. „Ich bin durch unseren Geheimgang in den Garten gegangen, als niemand im Haus war, und habe die Rosen abgeschnitten. Sie wollen dich verbrennen! Sie glauben, dass du tot bist. Sie wollen dich so schnell wie möglich loswerden! Ich weiß aber, dass du lebst, und eines Tages wieder aufwachen wirst. Ich liebe dich; deswegen weiß ich das!“
„Ich auch!“, hört er sich sagen, und er spürt, wie sich seine Lippen bewegen und belebende Schauer seinen ganzen Körper durchfluten.
Sie stößt einen Schrei aus. Seine Augen haben die Totenstarre verloren und betrachten sie glücklich.
„Du lebst!“, ruft sie fassungslos vor Glück und bedeckt sein Gesicht mit Küssen.
„Ja“, sagt er schließlich atemlos. „Ich lebe wieder. Ich bin schon seit zwei Tagen aus dem Koma erwacht, konnte das aber niemandem mitteilen, weil mein Körper so steif war, als ob er sich in Froststarre befände. Deine Liebe hat das Eis zum Schmelzen gebracht!“
„Kannst du dich aufrichten?“, fragt sie ihn.
Er versucht es. Es gelingt ihm mühelos, und er kann sogar, wenn auch nur mit ihrer Hilfe, stehen, und einige Schritte machen.
„Was sollen wir tun?“, fragt sie ihn ratlos.
„Meine Familie wird sehr enttäuscht sein, wenn sie erfährt, dass ich doch nicht tot bin. Ich möchte von hier so schnell wie möglich verschwinden. Kannst du mir helfen?“
„Ja“, sagt sie. „Du weißt doch, dass ich dich liebe und alles für dich tun werde, was in meiner Macht steht. Aber wo willst du hin? Man wird dich mit dem gesamten Polizeiapparat suchen. Niemand wird glauben, dass du wie Jesus auferstanden und in den Himmel aufgefahren bist!“
„Man wird glauben, dass jemand meine Leiche gestohlen hat. Der einzigartige Vorfall wird sich wie ein Lauffeuer in allen Medien verbreiten. Man wird sich den Kopf zerbrechen, warum jemand eine Leiche gestohlen hat!
Meine Söhne werden alles erben, was ich besitze. Nur nicht unser Bauernhaus. Man wird mich dort nicht suchen, obwohl es nicht weit von Wien entfernt ist. Ich habe es ja heimlich vor nun schon zehn Jahren gekauft. Als Besitzer ist aber mein treuer Geschäftspartner eingetragen. Dort will ich den Rest meines Lebens, wenn du willst, mit dir verbringen!“
„Das will ich gerne!“, antwortet sie mit Tränen in den Augen. „Ich habe hier eine Stelle als Reinigungskraft angenommen, damit ich dich täglich besuchen kann. Ich bin durch den Dienstboteneingang gekommen. Niemand hat mich gesehen. Wir werden durch diesen Gang das Spital unbemerkt verlassen können. Ich bin auf Urlaub. Niemand wird vermuten, dass ich dich gestohlen habe. Deine Familie wird mich auch nicht verdächtigen, weil sie von unserer Liebe nichts weiß. Mein Auto steht unten. Wenn deine Familie kommt, um dich ins Jenseits zu befördern, sind wir längst in dem Bauernhaus!“
Zwei Tage später sitzt August in seinem gemütlichen Schaukelstuhl in der Orangerie. Er hat ein Glashaus mit mehrschichtigem Isolierglas an die Südseite des Bauernhauses angebaut und dort Zitronenbüsche direkt in die tiefgründige humusreiche Erde gepflanzt. Die Erde ist sehr fruchtbar, weil hier früher ein Misthaufen gestanden hat. Die Zitronenbäumchen, die ihm Clara, die Frau seines Freundes Hannes, vor zehn Jahren geschenkt hat, haben sich dort im nährstoffreichen humosen Boden prächtig entwickelt. Sie tragen gleichzeitig stark duftende Blüten und Früchte. Das Glashaus ist natürlich im Winter beheizt. Als Heizmaterial dienen Hackschnitzel, die aus den Wäldern stammen, die zum nahegelegenen Stift Heiligenkreuz gehören. Dieser Ort ist besonders im Winter angenehm, wenn es draußen stürmt und schneit. Er liest noch einmal vor sich hin lächelnd den Zeitungsauschnitt, den ihm Ana gegeben hat:
Das Wunder von Pötzleinsdorf
Das sogenannte „Wunder von Pötzleinsdorf“ nimmt immer kuriosere Formen an. Ein Pastor einer evangelikalen Freikirche, bei der August Berendson Mitglied gewesen sein soll, behauptet, dass ihm in einer Vision der auf mysteriöse Art verschwundene Komapatient erschienen ist, und ihm mitgeteilt hat, dass sich sein Körper verwandelt habe. Seine Seele befinde sich jetzt im Himmelreich. Er sei dort sehr glücklich. Man soll daher aufhören, ihn zu suchen. Seine Kinder brauchen sich keine Sorgen um ihn zu machen. Er ist immer bei ihnen, wird sie beschützen und ihnen helfen, den Weg zum ewigen Frieden ebenfalls zu finden..
Die Polizei bleibt aber lieber bei den Tatsachen und forscht weiter, wer den Körper von August Berendson gestohlen haben könnte. Sie steht aber noch immer vor einem Rätsel. Wer könnte Interesse haben, einen praktisch Toten zu stehlen? War es vielleicht eine kriminelle Organisation, die die ja noch intakten Organe des Verschwundenen für viel Geld verkaufen will? Die Polizei geht aber davon aus, dass er mehrere Personen gewesen sein müssen. Diese haben auf jeden Fall äußerst professionell gearbeitet; denn die Spezialisten der Polizei konnten keinerlei Spuren oder Fingerabdrücke sicherstellen, die von den Tätern stammen könnten.
Was eindeutig feststeht, ist, dass die einzigartige Tat am Mittwoch, den 12. August zwischen 18:15 Uhr und 23 Uhr stattgefunden haben muss; denn die beiden Söhne und die Exfrau des Verschwundenen haben diesen am jenem Tag besucht und kurz nach 18 Uhr sein Krankenzimmer verlassen. Sie wollten ihn am späten Abend noch einmal besuchen. Während ihrer Abwesenheit zwischen 18 und 23 Uhr hat weder eine Krankenschwester noch ein Arzt diesen Raum betreten. Als die beiden Söhne von August Berendson und dessen Exfrau Isabella gegen 23:15 Uhr das Krankenzimmer wieder betraten, war der Komapatient spurlos verschwunden. Alle Geräte waren abgeschaltet; im Bett lag nur noch das weiße Krankenhausgewand, womit Berendson bekleidet gewesen war.
Isabella ist bewusstlos zusammengebrochen, als sie das leere Bett gesehen hat. Es geht ihr inzwischen besser, aber sie und die beiden Söhne stehen verständlicherweise unter Schock und müssen von Psychologen betreut werden ...
August legt das Zeitungsblatt auf den kleinen runden Tisch neben dem Schaukelstuhl und atmet lächelnd die vom Duft der Zitronenblüten erfüllte Luft tief ein. Ein großer goldgefiederter Gockel stolziert hocherhobenen Hauptes, gefolgt von sechs Haremsdamen, über die Wiese in Richtung des Komposthaufens, wo er wohl Köstlichkeiten in Form von Würmern, Maden oder Schmeißfliegen vermutet ...
Er ist seinem Freund Hannes sehr dankbar, dass er ihm die Augen geöffnet hat. Schon seine erste unschuldige Liebe am Ende der Volksschulzeit war ein Mädchen gewesen, um die alle anderen Buben einen großen Bogen gemacht haben, weil Monika zwar sehr hübsch aber auch als eine unausstehliche eingebildete herrschsüchtige Zicke verschrien gewesen war. Ihre kurzen Röcke und ihre schon wohlgeformten Brüste, die sich unter ihren Blusen in zarten Pastellfarben verführerisch abzeichneten, haben seine Blicke wie ein Magnet angezogen. Das ist ihr natürlich nicht verborgen geblieben. Es machte ihr Freude, einen ergebenen Bewunderer gefunden zu haben; deswegen tat sie alles, um ihre Reize voll zur Geltung zu bringen. Sie machte ihn zu ihrem gehorsamen Untergebenen. Alle Klassenkameraden lachten ihn aus, weil er sich jener blöden Ziege so willig unterworfen hatte. Es war für ihn ein großer Schmerz gewesen, als sie nach Ende der Volksschulzeit abrupt getrennt wurden, weil die Eltern von Monika in eine Stadt zogen, die weit von seinem Wohnort entfernt war.
Er verfiel aber bald darauf in der Unterstufe
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 15.11.2019
ISBN: 978-3-7487-2073-7
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