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Darf man lügen?


Darf man lügen?


„Mama, muss man immer die Wahrheit sagen?“
Zwei unschuldige, blaue Kinderaugen sehen mich fragend an.
Ach du lieber Himmel, wie kommt sie denn nun wieder auf so eine Frage? Was sage ich denn nun? Ich räuspere mich.
„Ja, sicher, eigentlich schon, man soll immer die Wahrheit sagen!“
Skeptisch sieht mich meine fünfjährige Tochter an.
„Aber du sagst auch nicht immer die Wahrheit, Mama!“, kommt vorwurfsvoll die Antwort.
Ich muss husten.
„Äh, - wie kommst du denn darauf, Schatz?“
„Vorhin da kam doch die Frau Maier hierher und du hast sie ganz lieb gegrüßt und ihr alles Liebe gewünscht und als sie weg war, da hast du gesagt ‚Gott sei Dank, die Ziege hat uns nicht lange aufgehalten!’“. Ihr Stimmchen klang empört.
Oh mein Gott! Was sage ich denn nun darauf? Sie hat ja Recht!
Aber WIE erklärt man einer Fünfjährigen, dass man gar nicht immer die Wahrheit sagen kann? Dass die Welt auch oft belogen werden will?!
Ich seufze.
„Ja, das stimmt, du hast das schon richtig mitbekommen, Schatz, ich will doch die Frau Maier nicht beleidigen.“
„Ist sie denn beleidigt, wenn du die Wahrheit sagst?“
Hollahü die Waldfee… heute war sie aber wirklich auf dem Wahrheitstripp…
„Naja, Schatz, das weiß ich nicht genau, doch jeder will ja eigentlich gemocht werden, ne?“
Ob sie das versteht?
„Ja“, ernsthaft nickt das kleine Menschenkind. „Das will jeder, das weiß ich auch. Sogar der blöde Max von gegenüber will, dass man den mag, dabei ist der doch immer so frech und streckt mir immer die Zunge raus aber wenn ich das dann auch mache, dann ist der beleidigt! Streckt dir die Frau Maier auch die Zunge raus, Mama?“
Ach du liebe Güte, nun muss ich doch lachen, Frau Maier mit rausgestreckter Zunge, ich muss mich zusammenreißen, dass ich nicht lauthals loslache.
„Nein, natürlich macht sie das nicht, Mäuschen, das ist doch eine erwachsene Frau. Frau Maier und ich verstehen uns einfach nicht so richtig, sie hat immer eine andere Meinung als ich…“
„Ja, das darf man aber doch, sagst du immer!“
„Sicher, das darf man, doch sie ist rechthaberisch…“
„Was ist das denn?“
Mist, wie soll sie so was auch verstehen? Sie ist FÜNF!
„Naja, es ist so ähnlich wie mit deiner Freundin Suse….“
„Suse ist nicht meine Freundin!“Pure Empörung über meine Unwissenheit schlug mir entgegen.
Ach ja, richtig, seit zwei Tagen war Suse ja nicht mehr ihre Freundin, sie hatten sich gestritten und beschlossen, dass sie sich nicht mehr mögen, jede hatte natürlich sofort eine neue „beste“ Freundin ernannt!
„Ach ja, also es ist trotzdem so ähnlich, Katinka. Frau Maier und ich sind keine Freunde, doch wir möchten auch keine Feinde sein, weißt du? Und damit die Frau Maier nicht denkt, ich wäre ihr Feind, deshalb versuche ich halt höflich mit ihr zu reden. Höflichkeit ist wichtig im Umgang, das weißt du ja schon.“
„Also ist lügen höflich?“ Augenaufschlag wie ein Engel.
Ich hole tief Luft.
„Nein, so kann man das auch nicht sagen… meist muss man schon die Wahrheit sagen, doch in manchen Situationen kann man es nicht, weil man die Leute nicht verletzen will…“
Verständnislos sieht sie mich an.
„Ich meine natürlich ihre Herzen nicht verletzen, nicht wirklich verletzen…“, versuche ich zu retten, was noch zu retten ist.
Ihr Gesicht wird immer fragender und verwirrter.
„Pass mal auf, Schatz, also wenn ich zur Frau Maier sagen würde, sie soll mich in Ruhe lassen und sie geht mir auf die Nerven, dann wäre das bestimmt nicht gut, dann würde sie mit Recht beleidigt sein und sie wäre meine Feindin, also versuche ich nett zu ihr zu sein, mit ihr einige Sachen zu reden, auch wenn ich da manchmal eine klitzekleine Lüge einbaue und dann können wir wenigstens ganz friedlich nebeneinander leben, verstehst du das?“
Man sieht ihr an, wie es in ihrem Köpfchen arbeitet, sie denkt einige Minuten darüber nach, macht ein wichtiges Gesichtchen und sagt plötzlich stahlend zu mir:
„Mama, wenn ich dich manchmal nicht leiden kann, soll ich dann auch lügen?“


Ja… die Welt will belogen und betrogen werden, im Kleinen wie im Großen…


© GaSchu November 2012.

Impressum

Texte: GaSchu
Bildmaterialien: GaSchu
Tag der Veröffentlichung: 14.11.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Beitrag zum Wortspiel im November 2012, Thema "Mundus vult decipi - Die Welt will betrogen werden"

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