Sie stand einfach da. Sie bewegte sich nicht. Sie ließ nur ihre Augen über die Landschaft wandern, die sie von der alten Kirchenruine aus überblicken konnte. Ab und zu blinzelte sie, um die Tränen aus den Augenwinkeln zu vertreiben. Ihr war nicht ganz klar, was der eigentliche Grund der Tränen war, der Hauptgrund. Aber sie musste sich entscheiden. Es war egal, wofür, die Tränen würden bleiben.
Domenik Samatu konnte das Lenkrad des VW-Busses kaum halten, so sehr wurden die Vorderräder durch die Spurrillen der Piste gequält. Er fuhr vorsichtig, so vorsichtig es ging, denn er liebte sein Auto über alles. Es gab ihm etwas, das ihm sehr, sehr wichtig war: Freiheit.
Natürlich hätte er den Wagen nicht über den Feldweg schinden müssen, um seine Fahrgäste abzuholen. Er hätte locker eine Stunde länger schlafen können, um nach einem ordentlichen Frühstück in fünfzehn Minuten pünktlich am Dorfplatz einzutreffen, wo die Schulkinder warteten. Aber der Umweg lohnte sich. Der Sonnenaufgang über dem Tal, betrachtet von oben, an den Resten der alten Kirche – dieser Anblick war einfach unbeschreiblich schön. Ab und zu brauchte er dieses Erlebnis, es traf sein Innerstes, es gehörte zu ihm.
Das Mädchen strich sich über das lange schwarze Haar, wie immer, wenn sie emotional aufgewühlt war, und blickte noch einmal über das Tal. Das war ihre Heimat, und ein Teil davon, ein kleiner Teil nur, gehörte schon seit Jahrhunderten ihrer Familie. So winzig er auch war, so wenig er mit diesem phantastischen Ausblick zu tun hatte, er war trotzdem auch ein Teil ihrer selbst. Und deshalb liebte die junge Frau diesen Anblick so sehr. Ob sie diese Emotion auch hätte, wenn dieses kleine Stück Land nicht mehr ihrer Familie gehören würde?
Sie schüttelte die Haare aus dem Gesicht und fuhr sich nochmal über den Kopf. Sie wollte nicht darüber nachdenken, aber sie ahnte, dass dieser Ausblick über die Ebene und die damit verbundenen Gefühle ihr Leben verändern würden.
Domenik Samatu stieg aus dem VW-Bus, stapfte durch die Baumwildnis, die sich den Hang hoch zog und blickte dann über das Tal, das langsam von der hochsteigenden Sonne bestrahlt wurde. Sie warf ein bizarres Farbenspiel nach oben, mäanderte über die Felder, und aus dem Hochwald kam das Frühstücksgezwitscher der Vögel wie das Geplapper aus einer fernen, längst vergangenen Zeit. Samatu fuhr sich über das kurze, immer grauer und weniger werdende Stoppelhaar, schluckte kurz, saugte den gewaltigen Eindruck noch eine Zeitlang tief in sich hinein und ging dann schweren Herzens wieder zu seinem Wagen zurück. Die Emotionen, die ihn bei seinen kurzen, spontanen Ausflügen immer wieder überkamen, waren keine Gefühle der Trauer, der Wehmut, sondern reines Glück. Die Ängste, die er in seiner Jugend empfunden hatte, das Hin- und Herschwanken, die Unsicherheit, waren nach ein paar Jahren völlig verschwunden.
Domenik Samatu startete den Bus, schob das Jagdgewehr, das er bei sich trug, unter den Beifahrersitz und holperte auf der Schotterpiste weiter, bis er auf die Teerstraße traf, die zum Dorf führte.
Als er auf die Uhr sah, stellte er fest, dass er noch etwas Zeit hatte. Seine kleinen Fahrgäste, die er am Dorfplatz abholen und zur Schule in die Stadt fahren sollte, waren noch nicht hier, also beschloss er, schnell in die einzige Dorfkneipe zu gehen, die es noch gab. Sicherheitshalber nahm er sein Gewehr mit; man wusste ja nie …
Einige seiner Bekannten saßen schon um diese Uhrzeit an der Theke und begrüßten ihn lautstark. Er bestellte einen Kaffee und kippte den klaren Rakija hinunter, den seine Freunde ihm ausgaben. Um den Kaffee zu trinken brauchte es nur eine Zigarettenlänge, dann verabschiedete er sich von der trinkfesten Bande und trat wieder auf den Dorfplatz hinaus.
Ich muss mich entscheiden, ich muss mich endlich entscheiden, dachte das Mädchen, obwohl ihr klar war, dass sie die Wahl längst getroffen hatte. Es ging nicht nur um den Mann aus der Großfamilie im Nachbardorf, der um ihre Hand angehalten hatte, es ging auch nicht so sehr um das kleine Anwesen der Familie im Tal, es ging in erster Linie um sie selbst. Sie hatte die Wahl, und sie hatte sie getroffen. Sie würde tun, was zu tun war; das Verfahren war vorbestimmt.
Noch einmal strich sie wehmütig über ihre Haare, dann drehte sie sich um und lief durch den finsteren Wald in die Richtung, in der sie die Straße, die zum Dorf führte, vermutete.
Samatu sog die kühle frische Luft auf dem Dorfplatz ein, blickte sich um, sah das Rathaus, in dem die Dorfgeschworenen ab und zu tagten, er sah seinen VW-Bus, um den nun schon einige Schulkinder tobten und fühlte sich – glücklich. Ja. Glücklich und frei. Was gab es Wichtigeres, als Freiheit?
Erst hatte er auf dem Bauernhof der Eltern gearbeitet und ihn geleitet, bis ihn sein liebster Großneffe übernahm, der gerade volljährig geworden war. Endlich konnte Domenik Samatu selbst über sein Leben entscheiden, unabhängig von der Familie. Endlich konnte er leben, wie er wollte, ohne seine Persönlichkeit, ohne seine Identität aufgeben zu müssen. Endlich war er frei.
Er schloss eine Ausbildung als Mechaniker ab, arbeitete dann auf dem Bau und bei der Post und kaufte schließlich den VW-Bus, mit dem er als Großtaxi durch den ganzen Bezirk und noch weiter fuhr. Alte Menschen, wichtigtuerische Geschäftsleute, Touristen aus der Hauptstadt waren seine Kunden. Und die Schulkinder, die alle auf ihn angewiesen waren.
Die Arbeit machte ihm unglaublich Spaß, aber das Entscheidende war: Er war frei! Frei von allen Konventionen, denen er sonst unterstellt gewesen wäre. Dagegen war das, was er dafür aufgegeben hatte, eigentlich nicht der Rede wert.
Samatu blinzelte kurz in die Sonne, die inzwischen den ganzen Platz in strahlendes Licht tauchte, und wollte gerade zu seinem Bus gehen, als er erstarrte. Was war das?
Die Schotterstraße war tückisch, aber nur für Autos. Zu Fuß kam die junge Frau sehr gut voran und erreichte in kurzer Zeit die Teerstraße. Als sie im Dorf eintraf begann die Sonne gerade den Marktplatz zu überfluten und beleuchtete blendend das Ziel des Fußmarsches, das kleine Rathaus. Um diese Zeit war noch niemand zu sehen, und in dem Gebäude brannte auch kein Licht. Sie war etwas zu früh, aber das spielte keine Rolle. Ihre Entscheidung hatte sie getroffen. Ein Blinzeln in die Sonne, ein tiefes Einatmen, ein Blick über den Platz. Sie stutzte kurz und sah genauer hin. Da! Die Gestalt, die gerade aus dem Haus neben der Kirche trat … Wer war das? Irgendwie kam ihr die Person seltsam bekannt vor. Ein älterer Mann mit kurzen grauen Haaren, bartlos, sehr gepflegt, eigentlich sympathisch, auch wenn er sie seltsam anstarrte. Sehr seltsam. Und – er hatte ein Gewehr in der Hand. Erschrocken drehte sich das Mädchen um, in der Hoffnung, dass vielleicht einer der Männer, die sie im Rathaus treffen wollte, schon im Anmarsch wäre. Aber nein, niemand war zu sehen.
Domenik Samatu konnte sich kaum aus seiner Schockstarre lösen. Mühsam blinzelte er und wechselte das Gewehr von der linken in die rechte Hand. Was soll das? Wer ist dieses Mädchen? Wo ist plötzlich der Bus mit den Kindern?
Er kannte sie, er hatte sie schon einmal gesehen, diese junge Frau, die ihn über den Platz hinweg so entsetzt anstarrte. Die langen schwarzen Haare, dieser Ort - ja, er kannte sie und sie ihn. Aber damals hatte er kein Gewehr in der Hand gehabt …
Sie drehte sich erschrocken um ihre Achse. Wohin war der der seltsame Mann mit dem Gewehr plötzlich verschwunden? Weg, wie vom Boden verschluckt. Hatte sie schon Halluzinationen? Als Frau hier allein auf dem menschenleeren Marktplatz. Ein Typ mit Gewehr, der sie anstarrt wie ein zu erlegendes Wild. Wo war er hingekommen? Panik erfasste sie. Dann kamen plötzlich laute Schritte auf dem Kopfsteinpflaster auf sie zu. Erleichtert erkannte sie den Dorfvorsteher. Sie begrüßten sich und gingen zusammen zum Rathaus. Während er umständlich das alte Schloss des Eingangstors öffnete kamen von allen Seiten die anderen der zwölf wichtigsten Männer des Dorfes herbei, um ihr gleich den folgenreichsten Schwur ihres bisherigen und zukünftigen Lebens abzunehmen.
Mühsam löste Domenik Samatu seinen verkrampften Griff um die Waffe und strich sich mit der anderen Hand übers Haar. Die junge Frau, die noch wie ein junges Mädchen aussah, war verschwunden. Er schüttelte den Kopf und ging zu seinem Bus auf der anderen Seite des Platzes hinüber, der immer noch immer, von Kindern umringt, dort stand und auf ihn wartete. War der kleine Rakija auf nüchternen Magen zu viel gewesen? Verrückt.
Es war gewesen, als hätte sich ein kleiner Spalt zu seiner Vergangenheit aufgetan und sich schnell wieder verschlossen. Es war eine Erinnerung an die Entscheidung, die er in jungen Jahren gefällt hatte. Die Erinnerung an den Schwur, an den er sich sein Leben lang halten würde.
Für die junge Frau stellte das Verfahren mit den zwölf Männern das folgenreichste ihres Lebens dar. Und das wichtigste für ihre Familie. Sie musste es ihrem Vater kurz vor seinem Tod versprechen, und sie hatte es getan, obwohl er sie nie als vollwertig behandelt hatte. Ein Mädchen halt.
Die Zeremonie war kurz aber berührend für alle Teilnehmer. Auch die hartgesottensten Männer des Zwölferrates schluckten, als die junge Frau, die immer noch wie ein Mädchen aussah, laut und deutlich nachsprach, was der Vorsitzende ihr vorlas. Dann hob sie die Hand und sprach:
"Ich schwöre es bei Gott und allem, was mir heilig ist."
Trotz des bewegenden Moments warf sie einen kurzen Blick aus dem Fenster über den Platz. Der Mann von vorhin blieb verschwunden. Egal, dachte sie. Wenn ich nachher nach draußen gehe, wird er mich sowieso nicht mehr erkennen.
Sie zog ihre Schultern zurück, straffte sich und ging zu dem Tisch, an dem die Männer mit gesenkten Blicken standen. Ohne zu zögern nahm sie die Zeremonienschere in die rechte Hand, strich sich mit der anderen noch ein letztes Mal über ihre langen Haare und trat vor den großen Spiegel, der neben dem Kamin hing.
Die lärmenden, lachenden Kinder, die seinen Bus mit realem Leben erfüllten, hinderten Domenik Samatu nicht, weiter über seine Erinnerungen nachzudenken, die das Phantombild des Mädchens ausgelöst hatten.
Ja, sie war es gewesen, sie war ER gewesen, damals, als sie die Entscheidung getroffen hatte, fortan ein Mann zu sein. Eine burrnesha, eine virgjinesha, eine Schwurjungfrau.
Der Vater war gestorben, ohne einen männlichen Nachfolger zu hinterlassen. Seine Kinder waren leider alle nur Mädchen. Es war klar, dass sich – wie es Tradition war – die Oberhäupter der benachbarten Clans darum rissen, das kleine Anwesen der Familie zu übernehmen. Den Heiratsantrag eines der Söhne um die älteste Tochter abzulehnen, hätte den Grund für Blutrache gegeben. Es blieb nur ein Ausweg. Das Mädchen, das Domenik Samatu vor langer Zeit gewesen war, musste ein Mann werden und damit Oberhaupt der Familie. Es hatte den Schwur geleistet und aus dem Mädchen Domenika Samatu war der Mann Domenik Samatu geworden. Für den Rest seines Lebens.
Er schaltete auf den ersten Gang herunter, durchfuhr eine Flutrinne für das Wasser aus den Bergen und gab dann wieder Gas. Die Beschleunigung seines Busses erfüllte ihn wie immer mit Freude. Nicht mehr weit bis zur Stadt, dann hatte er ihn wieder für sich allein. Kinder vor der Schule absetzen, kurz aufräumen, dann hatte er frei bis zum Nachmittag. Er freute sich schon auf ein spontanes Treffen mit seinen Freunden in der Stadt. Ja, sie wussten natürlich alle, dass er eine burrnesha war, aber das spielte überhaupt keine Rolle. Er wurde behandelt und geachtet wie ein Mann. Er trug die gleiche Kleidung wie sie, er durfte rauchen, trinken und eine Waffe tragen wie sie und in Männerkneipen verkehren. Kurz, er war ein Mann geworden. Und für ihn bedeutete es einfach – Freiheit. Und diese Freiheit war vollkommen geworden, als sein Großneffe Bekim die Rolle des Familienoberhauptes übernommen hatte, und er selbst sein Leben so leben konnte, wie er wollte.
Ein freies Leben im Land seiner Ahnen, in Albanien.
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Informationen zu dieser Geschichte:
1. https://de.wikipedia.org/wiki/Eingeschworene_Jungfrau
2. Dokumentation, gelaufen auf Arte, 28.11.2020:
'Frei um jeden Preis. Albaniens Schwurjungfrauen'
Tag der Veröffentlichung: 08.12.2020
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