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RAUHNACHTFEUER

 

 

 

 

 

In der dunklen Zeit wird in vielen Landstrichen der Vorhang zwischen altem Heidentum und christlichen Feiertagen sehr dünn. Dann brechen sie wieder durch, die lange bekämpften germanischen und keltischen Brauchtümer, auch wenn sie vielerorts nur noch als reiner Klamauk daher kommen. Aber es macht Spaß, in furchterregenden Masken herumzuziehen und die Zuschauer zu erschrecken. Feuer und archaische Musikinstrumente schaffen mystische Stimmungen, und man erinnert sich wieder an die Zeit, als die bösen Geister des Winters hinausgetrieben wurden. Auch heute noch werden diverse Rauhnachtliköre, Hirtentrunke und Wurzelgeister als Trankopfer eingesetzt, um das grausige Treiben der Habergeißen, Perchten, Wandlhunde und anderer finsterer Gestalten schadlos zu überstehen.

 

In einer kleinen fränkischen Gemeinde hat seit Urzeiten der Brauch überlebt, das alte Jahr in Form einer monströsen Gestalt, die Stroh-Berta genannt wird, auszutreiben.

Hauptkommissar Reichert befand sich auf dem Weg nach München, als er das Ortsschild las, und er erinnerte sich, dass ihm einmal ein Kollege von diesem Spektakel erzählt hatte. Reichert hatte Hunger, und ein  Glühwein würde ihm auch nicht schaden, dachte er. Also stellte er sein Auto ab, ging in den kleinen Ort hinein, und sofort bemerkte er die aufgekratzte Stimmung, die auf dem Marktplatz herrschte. Bratwurststand, Glühweinbude neben dem Dorfgasthof, perfekt. Er merkte beim ersten Schluck, dass es sich nicht um Containerwein aus Marokko handelte, sondern um guten, nach altem Rezept aus heimischem Frankenwein hergestellten Glühwein.

Ihm fiel fast die Tasse aus der Hand, als plötzlich die Wirtshaustür aufflog und infernalisches Gebrüll aus der Halle drang. Das Geplapper der Umherstehenden verstummte, und alle starrten gebannt auf das Portal. Urplötzlich sprang ein furchtbares Monster heraus und raste auf die Menge zu. Es sah aus wie ein Bär, ein Urweltmonster, ein Wesen aus der keltischen Anderswelt. Reichert erinnerte sich, dass sein Kollege ihm erzählt hatte, dass es sich um die sogenannte Stroh-Berta handelte, eine Figur aus uralten Zeiten, die das alte Jahr symbolisiert. Neun weitere Junggesellen des Dorfes, verkleidet als Christkind, als Polizisten, die die Ordnungsmacht verkörpern, Sackträger als Zeichen einer guten Ernte, ein Schlotfeger als Glücksbringer und natürlich der wüste 'Treiber' sollen das Monster aus dem Dorf jagen. Dessen Kostüm besteht aus einem armdicken, aus Erbsenstroh geflochtenen Tau, das in einer stundenlangen Prozedur Schicht um Schicht um den Körper des Burschen gewickelt wird, der im jeweiligen Jahr die kräftezehrende und schweißtreibende Ehre hat, die Stroh-Berta zu spielen.

Aber jetzt war nur reine Energie zu spüren. Die wüste Berta jagte durch die Zuschauermenge, die kreischend und lachend auseinander stob. Schließlich bildeten die Schaulustigen einen großen Kreis, und einige Wagemutige versuchten, der Bestie ein paar Strohhalme auszureißen, weil das Glück bringen sollte. Aber das Monster war gefährlich. Nicht nur einer der Helden bekam einen saftigen Schlag mit der Bärentatze ab, aber sie war ja aus Stroh und verletzte niemand, sondern stachelte die Menge nur weiter an. Auch die anderen neun Maskierten rannten zwischen den Leuten herum, während der Treiber seine Kette herumwirbelte, mit der er später die Stroh-Berta aus dem Dorf schleifen wollte.

Endlich schien sich das Ungeheuer etwas zu beruhigen. Ermattet trabte es die wenigen Schritte zur Mitte des Platzes und stützte sich mit den Pfoten auf den Knien ab.

Hauptkommissar Reichert hatte Mitleid mit dem armen Kerl. Er selbst hätte die wilde Jagd in diesem schweren Strohkostüm wahrscheinlich keine Minute durchgehalten.

Doch bevor sich die Menschenmenge der Berta nähern konnte, um noch ein paar Erbsenstrohhalme zu erwischen, geschah etwas Seltsames.

Ein blasses junges Mädchen, barfuss und nur mit einem knielangen Nachtgewand bekleidet, rannte auf die Stroh-Berta zu. In der rechten Hand trug es einen Eimer. Spielerisch umtänzelte es das Monster, rief ihm etwas zu und schüttete schließlich den Inhalt des Eimers über das immer noch gebückt dastehende Monster. Die Menge jauchzte und klatschte Beifall. Eine Abkühlung hatte sich der Bursche unter seinem schweißtreibenden Kostüm sicher verdient.

Doch was dann passierte, würde wohl keiner der Zuschauer je wieder vergessen können.

 

Von irgendwo her zuckte ein kleiner, gleißender Blitz zu der Stroh-Berta, und schlagartig stand das ganze Monster in lodernden Flammen. Ein entsetzlicher Schrei drang unter der Kopfmaske hervor und pflanzte sich auf die Zuschauer fort. Die Bestie richtete sich auf und schlug mit den Stroharmen auf seinen Körper. Funken stoben umher und verstärkten die Schreie der Menschen. Und als die Stroh-Berta unter markerschütterndem Gebrüll wie ein Zombie aus der Unterwelt einen makabren Tanz um die eigene Achse begann, brach Panik aus. Auch Reichert wurde vom Entsetzen gepackt. Er riss sich den Mantel herunter und rannte auf das brüllende Monster zu, um die Flammen zu ersticken. Mehrere mutige Bürger folgten ihm, aber sie hatten keine Chance. Die Hitze war zu groß. Die Kreatur drehte sich wie ein höllischer Kreisel immer schneller und brach schließlich funkenstiebend zusammen. Als nach nur wenigen Minuten ein paar Burschen mit Handfeuerlöschern aus ihren Autos eintrafen, war die brüllende Hitze schon schlagartig in sich zusammengefallen. Es gab nichts mehr zu löschen. Verwirrt, verstört, verzweifelt standen die Helfer herum, einige weinten hemmungslos, andere schüttelten fassungslos die Köpfe. Was war passiert?

Reichert warf seinen nutzlosen Mantel auf die Erde und strich sich resigniert über das Gesicht.

Spät, viel zu spät, drangen Martinshörner durch die gespenstische Stille.

 

Dr. Friedrich Mayer sprang als Erster aus dem Rettungswagen, stockte aber im Lauf, als er die kokelnden Reste auf dem Marktplatz sah. Hinter ihm rissen Sanitäter eine Trage aus dem Wagen und eilten ihrem Chef nach. Ohne sich umzudrehen breitete Dr. Mayer seine Arme aus und senkte sie langsam nach unten. Ratlos blieben die Sanitäter stehen. Der Notarzt ging zu dem Aschehaufen, starrte ihn an, und als Reichert mit gezücktem Polizeiausweis näher trat, drehte er nur den Kopf.

"Wollen Sie mich verarschen? Glauben Sie, wir haben nichts anderes zu tun?" Er stieß mit seinem Stiefel in den Aschehaufen, dass wieder Funken hoch wirbelten und ging dann zu seinen Leuten zurück. Im Vorbeigehen schnauzte er Reichert an:

"Tolle Show, hey, aber hier ist nicht einmal eine Maus verbrannt! Beschwerde folgt!"

Und mit einem "Wir rücken ab!" verschwanden Arzt und Sanitäter von der Bildfläche.

 

Reichert sah genauer hin und erkannte erstaunt, dass der Doktor recht hatte: Hier war niemand verbrannt, nur ein Haufen Stroh. War er verrückt geworden? Er sah sich um. Der Platz war nun fast leer. Die Menschen wollten weg vom Ort des Grauens, nur ein paar Gaffer mit ihren Handys standen noch herum. Reicherts Verwirrung wandelte sich in Wut. Er ging auf einen der Typen, der anscheinend gerade das Filmchen ins Netz hoch lud zu, hielt ihm seinen Ausweis unter die Nase und riss ihm das Smartphone aus der Hand.

"Das Teil ist vorläufig beschlagnahmt, das ist ein Beweismittel." Bevor der Gaffer reagieren konnte drehte Reichert sich um und ging weg, wohl wissend, dass er sich rechtlich auf dünnem Eis befand. Es war ihm egal.

Er hatte gesehen, dass die Mitakteure der Stroh-Berta nach dem Notarzteinsatz ins Wirtshaus zurück gegangen waren und folgte ihnen. Sie saßen ratlos herum und redeten wild durcheinander.

Und Reichert brachte die Verwirrung auf den Punkt.

 

"Wo ist euer zehnter Mann? Wo ist die Stroh-Berta? Da draußen nicht. Wo habt ihr ihn zuletzt gesehen?"

"Na hier", antwortete das Christkind. "Der Loder Hannes hat beim Anziehen zu viel gesoffen und wollte sich vor dem Auftritt in der Kegelbahn noch etwas hinlegen und dann …" Er verstummte und starrte zur Treppe. "Ruhig, seid still!"

Jetzt konnte es Reichert auch hören. Aus dem Keller drang leises Rufen und Hämmern. Er hastete die Treppe hinunter und öffnete die Tür. Sie war unverschlossen. Heraus stolperte ein bleicher, völlig verstörter junger Kerl. Er trug nur eine angekohlte Unterhose, und sein Körper war voller übler Brandblasen.

"Hannes!", schrien seine Freunde. "Wo… was… wie…?"

Reichert wählte erneut die 112, während der Bursche die Treppe hoch stolperte. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen und heulte los.

"Habt ihr Deppen mich da eingesperrt? Die… die Tote… Es war so grauenhaft, die Träume, es tut so weh, die Flammen, die Schreie…" Einer der Freunde reichte ihm einen Schnaps, den er sofort hinunterstürzte. "MannMannMann. Ich glaub, ich hab' z'viel g'soffen! Und meine Haut brennt wie Feuer!" Er ließ den Kopf fallen, dass er krachend auf die Tischplatte schlug. Reichert drückte den jungen Mann in die Stuhllehne zurück, hielt das beschlagnahmte Handy vor sein Gesicht und schaltete die Videowiedergabe ein.

"Kannst du mir das erklären?" Der Bursche glotzte auf das Display, dann riss er die Augen auf und würgte ein Krächzen aus seiner Kehle. Panisch strampelte er mit den Beinen und rutschte mit dem Stuhl von Reichert weg, bis er an von der Wand gestoppt wurde.

"Das gibt's nicht, Teufelswerk, weg, weg, ein Geist, die ist doch tot, tot, tot!" Er sank wieder in sich zusammen, zitternd wie Espenlaub.

 

Reichert sah sich die Aufnahme noch einmal an, und dann erkannte auch er das Mädchen in seinem dünnen Nachthemd. Seine Knie wurden weich, als er das schmerzverzerrte Gesicht sah und noch einmal hörte, was sie zur Stroh-Berta sagte:

"Du jetzt sprechen Wahrheit, sonst brennen wie Puppe!" Und diese Worte wiederholte er laut zu Hannes Loder gerichtet.

Das war zu viel für den jungen Mann. Als wäre ein Damm gebrochen brach alles aus ihm heraus, was Reichert schon ahnte. Geistesgegenwärtig schaltete der Kommissar die Sprachaufzeichnung ein, doch vor Gericht, Wochen später, sollte er sie nicht brauchen. Hannes Loder gestand alles.

 

Das neue Asylbewerberheim, das im alten Schulhaus eingerichtet werden sollte, war allen im Dorf ein Dorn im Auge gewesen. Vor allem Fritz Loder, Hannes' Vater. Hannes wollte ein guter Sohn sein. Bevor die ersten Asylanten kamen, legte er Feuer. Das Schulhaus brannte bis auf die Grundmauern nieder. Dass sich heimlich schon eine Familie hier eingerichtet hatte, wusste er nicht. Die Eltern entkamen dem Feuer, aber ihre junge Tochter verbrannte in den Flammen. Den Eltern blieb nur ein Foto, das Foto, das durch die Medien ging.

 

Als Hauptkommissar Reichert nach dem Prozess sich die Handyaufzeichnung noch einmal ansah, war das Mädchen darauf verschwunden. Spurlos, wie ein Geist.

Und später war sich Reichert nicht einmal mehr sicher, ob er die schreckliche Szene nicht nur geträumt hatte...

 

 

 

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Impressum

Texte: BRieser.201020
Bildmaterialien: Mensi / pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 20.10.2020

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