Verhandlung wegen Tötung im Affekt, Landgericht München1, Sitzungssaal 8b
Im Zeugenstand: Kriminalhauptkommissar Rudolf Reichert
"Hohes Gericht, die Ermittlungen zu diesem Fall waren so ziemlich die kürzesten meiner bisherigen Laufbahn. Die Kollegen von der Polizeiinspektion 14 waren von Bewohnern eines Genossenschaftshauses gerufen worden, weil ein Streit in einer Wohnung gefährlich eskaliert sei. Als die Beamten dort eintrafen, war es im Gebäude erstaunlich ruhig, nur einige Nachbarn unterhielten sich flüsternd im Treppenhaus. Eine resolute Dame berichtete dann meinen Kollegen, dass der Streit in der bewussten Wohnung im sechsten Stock wie so oft abgelaufen sei. Geschirrklappern, schlagende Türen, Männergebrüll, Stampfen, Toben, gefolgt von leisem, beschwörendem Reden des Mannes. Dann habe man immer ein Weinen der Ehefrau gehört, was dieses Mal aber ausgeblieben sei. Sie können die Dame, die das berichtet hatte, dazu noch genauer befragen, Hohes Gericht."
"Hauptkommissar Reichert", mahnte der Richter, "kommen Sie bitte zur Sache!"
"Ja, gut.", antwortete Rudolf Reichert. "Also, bevor jemand der Nachbarn - wer auch immer – sein Ohr an die Wohnungstür hätte legen können, soll es ein dröhnendes Geräusch gegeben haben, als ob jemand zu Boden gefallen sei. Dann schlug eine Wohnungstür im Treppenhaus zu, und danach war absolute Stille. Und das sei so ungewöhnlich gewesen, dass jemand die 110 gerufen hat. Die Kollegen von der Wache waren schnell vor Ort und – aber das übliche Prozedere kennen Sie ja, Herr Richter, ich kürze deshalb ab, jedenfalls fanden sie Hubertus Kriechbaumer tot im Wohnzimmer auf. Offenbar erschlagen. Sie informierten umgehend das LKA, und da wir gerade Dienst hatten, fuhren KK Ganzelmaier und ich sofort los.
Wie gesagt, Kriechbaumer war ganz offensichtlich tot, erschlagen, was uns Doktor Mirada Bellini von der Rechtsmedizin auch später bestätigte. Tatwaffe war ein Reservistenkrug von Hannah Kriechbaumers Urgroßvater, der, mit voller Wucht geschlagen, die Schädeldecke des Opfers zertrümmerte. Wir gaben sofort die Fahndung nach der Ehefrau raus, was aber überflüssig war, denn sie wartete schon im Präsidium auf uns."
"Und dann?", fragte der Richter.
"Sie hat sofort die Tat gestanden. Ihr Mann habe sie jahrelang gedemütigt, gequält, geschlagen, und jetzt sei es ihr zu viel geworden. Sie nahm den nächstbesten Gegenstand und schlug ihn ihrem Mann über den Schädel. Er sei sofort tot gewesen. Eine Tat im Affekt. Aber, Hohes Gericht, warum wurde jetzt die Verhandlung über diese eindeutige Tat samt vollem Geständnis unterbrochen?"
"Das, lieber Herr Reichert", antwortete der Richter und lächelte den Hauptkommissar fast entschuldigend an, "das soll uns die Angeklagte, beziehungsweise ihre Verteidigerin jetzt erklären. Bitte schön, Frau Doktor Schild!"
Reichert räumte den Zeugenstand, und die Anwältin ergriff das Wort.
"Hohes Gericht, ich erkläre im Namen meiner Mandantin, die sich selbst nicht äußern wird, dass sie zu ihrer Tat steht. Sie hat ihren Exmann, der sie jahrelang misshandelt hat, zweifellos ums Leben gebracht. Aber, und das hat sie mir gegenüber immer wieder ausdrücklich betont, er hatte eine Mittäterin."
Geraune waberte durch den Saal.
"Ja!" Die Verteidigerin erhob die Stimme. "In gewisser Weise hatte ihr Mann bei seinen Verfehlungen eine Mittäterin, was Hauptkommissar Reichert übersehen hat. Und deshalb beantragen wir, dass Frau Helen Keller ebenfalls vor Gericht gestellt wird."
"Und damit kommen Sie mir erst jetzt, Frau Doktor Schild?", fragte der Richter fassungslos.
"Ja gut, entschuldigen Sie bitte, aber die Geschichte ist die: Der Tote, Herr Kriechbaumer, hat meine Mandantin wie mehrfach betont, jahrelang misshandelt und gedemütigt, aber das ist nicht der Punkt!"
"Sondern?"
"Der Punkt, Herr Richter, sind die immer gleichen Pseudoentschuldigungen des Ehemanns nach seinen Taten. Jedes Mal wenn er seine Frau verprügelt hat, ist er danach auf die Knie gefallen und hat sie um Verzeihung gebeten. Und jedes Mal hat er dabei diesen – verzeihen Sie – idiotischen Spruch einer gewissen Frau Helen Keller geplappert:
Liebe mich dann am meisten, wenn ich es am wenigsten verdient habe. Denn dann brauche ich es am nötigsten.
Und meine Mandantin ist jedes Mal darauf reingefallen und hat ihm verziehen. Bis sie dann den folgenschweren Entschluss fasste, ihn umzubringen, wenn er diesen blöden Spruch, den ihm wahrscheinlich eine Geliebte beigebracht hat, wieder herunter plappert.
Und deshalb beantrage ich, dass die Verfasserin dieses Spruches zum Zwecke der Urteilsfindung vorgeladen wird. Vielen Dank."
Als sich das Gericht zur Beratung zurückzog, ging Rudolf Reichert zur Angeklagten hinüber, nickte kurz und sagte:
"Frau Kriechbaumer, es tut mir leid, aber diese Frau Keller vorzuladen wird nicht möglich sein, denn sie, eine taubblinde amerikanische Schriftstellerin übrigens, ist schon seit über 50 Jahren tot und kann deshalb auch nicht die Geliebte Ihres Ex gewesen sein. Aber was Ihre Tat betrifft: Ich habe schon vorher gut verstanden, was Sie getan haben, aber jetzt verstehe ich es noch viel, viel besser! Dieser schöne Spruch, der durch die Schweinereien Ihres Mannes völlig verlogen und zynisch geworden ist, hätte mich auch zum Explodieren gebracht!"
*****
Texte: BRieser.151020
Bildmaterialien: Thorben Engert / pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 15.10.2020
Alle Rechte vorbehalten