Rauf und runter geht es. Vor und zurück. Ich kann meinen eigenen Gedanken zuhören, aber es macht keinen Sinn. Doch abschalten kann ich sie nicht. Meine Jugend kommt jetzt wieder hoch, ich sehe Bilder in meinem Kopf, die ich kenne, aber nicht so, als hätte ich sie erlebt. Eher so, als wäre ich als externer Beobachter dabei gewesen und würde das gerade jemand erzählen oder für jemand aufschreiben. Aber da ist keiner, dem ich es erzählen könnte, niemand, der das liest, außer mir selbst in meinem eigenen Kopf. Vergangen ist vergangen. Von wegen eigener Wille – mich hat niemand gefragt, ob ich geboren werden will. Aber es spielt keine Rolle.
Der Verdacht der Beamten vom Kriminaldauerdienst war eindeutig: Mord.
Der Tote lag unterhalb des Isar-Hochufers, und als Hauptkommissar Rudolf Reichert eintraf, war die Rechtsmedizinerin Doktor Miranda Bellini schon am Zusammenpacken.
"Buon giorno, Reichert!", rief sie und lachte. "Auch schon wach?" Reichert grunzte nur. "Also. Eindeutig Kopfschuss, aber aus größerer Entfernung. Keine Austrittswunde, das Geschoß muss noch im Schädel stecken. Vermutlich eine Handfeuerwaffe, ich schätze Kaliber 9mm, den Rest bekommst du nach der Obduktion."
"Klar, Doc. Sonst noch was?" Miranda Bellini grinste zufrieden.
"Und ob, Reichert. Name des Opfers: Hans-Helmut Ringkötter, aktenkundiger Rechtsradikaler und 'Reichsbürger', die Kollegen vom KDD haben das schon gecheckt."
"Echt? So schnell?"
"Na ja, der hatte seinen Personalausweis dabei. Ein 'Reichsbürger', der einen Ausweis der verhassten Bundesrepublik mit sich herumträgt – ist das nicht witzig?"
"Schon", sagte Reichert und rieb sich gequält den Kopf. "Kommst du mit auf einen Kaffee, Doc? Mir brummt noch der Schädel von gestern Abend."
"Si, si, capisco, commissario", grinste die Rechtmedizinerin. "Andiamo!"
Wofür waren die ganzen Arzt- und Therapeutenbesuche nutze? Für nichts. Sie konnten nichts feststellen, keine Diagnose, die mit den Kassen abrechenbar gewesen wäre. Ist es notwendig, Empathie zu empfinden? Freude, Leid, Verzweiflung, Spaß? Notwendig für wen oder was? Ich mag vielleicht ein Individuum sein, aber jeder Gedanke, der in meinem Gehirn aufploppt, wurde schon irgendwann einmal von irgendjemand gedacht. Leer, hohl ist mein Kopf, und egal, womit ich ihn auffülle, es stammt nicht von mir, ist geklaut, vorgekaut, verdaut und wieder ausgespuckt.
Nach mehreren Cappuccini und einer Runde Grappa, die Reichert mit "Abends trinken kann jeder" rechtfertigte, machten sich beide wieder auf zu ihrer Arbeitsstätte. Miranda Bellini zum Institut für Rechtsmedizin in der Nussbaumstrasse und Rudolf Reichert ins Präsidium in der Ettstrasse.
"Was haben wir?", fragte er und massierte wieder seinen gequälten Kopf.
"Also", antwortete Kommissar Ganzelmeier, "der Hans-Helmut Ringkötter ist ein bekannter 'Reichsbürger' und Rechter, der bisher allerdings nicht als gewalttätig aufgefallen ist. Natürlich ist er dem Finanzamt bekannt, weil er dem nicht existierenden Staat keine Steuern zahlen will, und auch unsere V-Männer in der Szene kennen ihn als kleinen Waffen- und Nazidevotionaliendealer."
"Wer könnte den auf der Abschussliste haben?"
"Na ja, wie bei allen Dealern unzufriedene Kunden und natürlich die gewaltbereite linke Aktivistenszene. Denen kommt eine solche Dumpfbacke gerade rechts. Äh, recht, meine ich."
Irma von Steinhausen. Das 'von' habe ich immer verschwiegen, wenn es ging. Irma von Steinhausen – so what? Reichtum, zusammengestohlen im Mittelalter, später stabilisiert durch den Steinhausener Ausgleichsfond, bezahlt durch die Nachkommen der Ausgebeuteten. Interessiert mich das? Nein, ist doch scheißegal. Kann ich doch nichts dafür, und wenn schon? Es berührt mich nicht. Zudem weiß ich nicht, was ich mit Geld so wirklich anfangen soll. Macht Geld glücklich? Keine Ahnung. Warum bin ich so… deprimiert? Auch keine Ahnung. Bin ich wirklich depressiv oder ist das nur ein Stempel, den mir ein Therapeut aufdrücken kann, um seinen Job zu rechtfertigen?
Das museale Telefon auf Reicherts Schreibtisch läutete. Das konnte nur Miranda Bellini sein. Reichert stand auf und hob ab.
"Doc, was gibt's?"
"Ciao, bello, also, ich habe das Projektil und die Patronenhülse, die der KDD gefunden hat, untersucht. Sie stammen mit ziemlicher Sicherheit aus einer 9 mm Parabellum, die im ersten und 2. Weltkrieg von der Reichswehr und auch von der Waffen-SS verwendet wurde. Also ein altes Trumm. Auch die Munition. Beim Abstand von Opfer und Hülse hätte sie den Schädel durchschlagen müssen. Comunque sia, die beabsichtigte Wirkung hat sie erreicht."
Ach ja, meine Familie. Ich habe festgestellt, dass ich dazu keine Meinung habe. Ich habe sie neulich ganz ohne Grund so provoziert, dass es dazu keine Steigerungsform mehr gibt, aber was war die Wirkung auf mich? Nichts. Es hat mich nicht berührt. Jetzt will ich nicht mehr darüber nachdenken, das würde auch zu keinem Ergebnis führen. Meine Familie? Einfach mit dem Finger schnipsen, und sie wäre weg? Ja und? Früher oder später sind wir alle weg, und was juckt das das Universum? Wen wird es interessieren, wenn ich weg wäre? Oder würde es mich interessieren, ob das jemand interessiert? Eher nicht.
"Okay, Leute", sagte Reichert, nachdem er den Hörer wieder auf die Gabel geknallt hatte, "der linksradikale Hintergrund fällt wohl aus. Keiner von denen hat eine alte Wehrmachtspistole, eher eine Kalaschnikow oder Uzi."
"Ein unzufriedener Kunde aus dem rechten Spektrum?"
"Gut, Ganzenmeier. Auf dem rechten Auge waren wir schon einmal blind gewesen. NSU sage ich nur! Lasst uns an die Arbeit gehen!"
Es geht mir gut, hörst du, Irma von Steinhausen? Keine Probleme, weder finanziell noch gesundheitlich, und Wünsche habe ich auch keine. Hörst du mir zu? Ich spreche mit mir! Perfekt, ein Traum. Geht das nicht jedem so? Ich muss das mal ausprobieren, wie das ist, alles zu tun, was einem durch den Kopf geht. Im Safe liegt noch die alte Parabellum von Großvater…
Am nächsten Tag schrillte das Telefon auf Reicherts Schreibtisch wieder, aber dieses Mal nicht die alte Kiste mit der Wählscheibe, sondern das offizielle. Ganzenmeier hob ab, hörte kurz zu und gab es gleich an Rudolf Reichert weiter. Kommentarlos.
"Hauptkommissar Reichert."
"Rudi, hier ist Werner vom KDD. Pass auf, wir haben wieder eine Leiche. Ich weiß, Suizid ist eigentlich nichts für euch, aber ich habe eben mit Doktor Bellini gesprochen. Sie hat heute Morgen erstaunlicherweise sofort mit der Untersuchung der Leiche begonnen und gesagt, ich soll dich gleich anrufen."
"Okay, Werner, was gibt's?
"Also, die Pathologin hat festgestellt, dass die Kugel, die den Kopf der Leiche durchschlagen hat, aus einer Parabellum stammt, aus derselben Waffe, die eure Leiche von gestern gekillt hat." Reichert hielt einen Moment den Atem an und sagte dann gequält:
"Danke, Werner, das … hilft uns sehr weiter. Wisst ihr schon, wer der Kerl ist?"
"Wieso Kerl? Es ist eine Frau, Rudi!"
Es war einfach. Mehr nicht. Schöne Aussicht auf die Isar. Mit schöner Aussicht kann ich nichts anfangen, aber Aussicht kann man ja auf Sicht verkürzen. Ich weiß nicht, warum ich ausgerechnet auf die 13 setze. Einfach so, ohne Grund. Irgendeine Erinnerung an meine Vergangenheit? Habe ich eine Vergangenheit? Unglückszahl? Anyway.
Unten laufen ab und zu Menschen vorbei. Mir ist… langweilig? Es dauert lange, bis die 13 kommt. Und dann: Peng. Ich sollte mich freuen. Auf den Punkt. Aber – es ist mir egal. Ich höre in mich hinein. Ist da jemand? Nein? In mir ist nichts. Überhaupt nichts.
Die nächsten Tage waren nervtötend. Die V-Männer in der rechten Szene fanden keinen besonderen Zusammenhang mit Ringkötter. Unter den 'Reichsbürgern' galt er eher als Mitläufer, seit er vor ein paar Jahren mal in U-Haft gesessen hatte, ein kleiner Waffendealer, der aber so unauffällig war, dass zurzeit keine Überwachung lief. Doch er ist erschossen, ja geradezu hingerichtet worden. Aber die Sonderkommission, die eingerichtet wurde, fand keinen plausiblen Grund für die Tat, ebenso wenig für den Tod der immer noch nicht identifizierten Frau. Inzwischen ging die Staatsanwaltschaft von einem fingierten Suizid aus, also von Mord, obwohl die Rechtsmedizinerin Doktor Bellini heftig dagegen argumentierte und obwohl die Waffe mit den Fingerabdrücken der Toten neben ihr auf dem Boden gelegen hatte.
Ich war wohl mal eine gute Schützin. War im Jagdclub meiner – wie soll ich sagen? – Eltern. Na ja. Mit den Dingern gaben wir den blöden Viechern den Fangschuss. Idiotisch. Die Köpfe sahen danach immer irgendwie böse aus. Ein kleineres Kaliber hätte es wohl auch getan, aber nein. Ja, ich bin noch immer eine gute Schützin, wie es aussieht. Der Kopf des Kerls ist nicht explodiert, die Munition war offenbar etwas veraltet, aber das weiß ich ja.
Ich fühle noch immer nichts. Warum auch? Bei der 'Provokation' meiner Familie vor ein paar Tagen habe ich ja auch nichts gefühlt. Da hatte ich mir mehr erhofft, hatte gedacht, etwas Aufrührenderes, Befreienderes kann es doch nicht geben, oder?
"Verdammt noch mal!", rief Hauptkommissar Reichert und schlug mit der Faust auf den Tisch. "Es muss doch ein Motiv geben, einen Grund!"
"Aber wir haben doch alles gecheckt", bemerkte Kommissar Ganzenmeier, "und wir haben zwischen den beiden Toten keinerlei Zusammenhang feststellen können. Nicht den geringsten! Und, um das auch im Namen meiner Kollegen noch …"
"Ja, Ganzenmeier", unterbrach ihm Reichert. "Sorry, kein Vorwurf. Alle haben sich sehr ins Zeug gelegt. Aber ein Fall, bei dem scheinbar grundlos zwei Leute derart ums Leben kommen, der macht mich wütend!"
Warum rede ich in meinem Kopf immer so daher, als würde ich eine Geschichte schreiben? Das ist nicht normal!! Hey, ich habe jetzt zwei Exklamationszeichen gedacht! Bedeutet das etwas? Wohl nicht. Mein Plan geht nicht auf. Konfrontationstherapie oder so. Gibt es denn überhaupt nichts, das mein Innerstes erreicht – was immer das auch sein mag? Vielleicht doch!
"Wie lange arbeiten wir jetzt an dem Fall? Wir haben nicht den leisesten Verdacht, wer die beiden auf dem Gewissen hat. Mir bleibt nichts übrig, Leute, als die SoKo aufzulösen." Reichert war verstimmt. Verstimmt wie selten. Wann hatte er einen Fall nicht gelöst? Lange her. "Wir wissen noch nicht einmal, wer die Tote ist", fuhr er fort. "Niemand vermisst sie. Und wenn es doch Selbstmord war, nachdem sie den Ringkötter erschossen hat? Aber der einzige Zusammenhang zwischen den beiden ist die obskure Waffe und die Projektile in ihren Köpfen. Doktor Bellini besteht ja immer noch auf einem Sui…"
"Herr Hauptkommissar, Herr Hauptkommissar!", unterbrach ihn eine Telefonistin, die ins Besprechungszimmer stürzte. "Das BKA ist am Telefon und will Sie dringend sprechen!"
Reichert folgte ihr und kam nach etwa einer Viertelstunde zurück.
"Leute, das BKA hat eine Anfrage kroatischer Kollegen erhalten. Die haben in einer privaten, abgelegenen Sommerresidenz fünf Leichen gefunden." Er holte tief Luft und rang um Fassung. "Alle wurden mit Kopfschüssen sozusagen hingerichtet. Und das BKA schaltet jetzt uns ein, weil es sich um eine Familie aus der High Society von Grünwald handelt. Die Familie derer von Steinhausen."
Es gibt etwas, das mich ganz sicher berühren wird. Das bin ich selbst. Ich habe nur einen einzigen Versuch, das herauszufinden. Und wenn nicht? Das ist dann auch völlig egal. Aber einen Versuch ist es wert. Meine ganze farblose Familie zu töten hat im mir nichts bewirkt. Grundlos einen wildfremden Menschen zu erschießen auch nicht. Alles hat nichts in mir ausgelöst. Letzter Versuch. Ultima Ratio.
Das Ding sieht cool aus. Alt, aber cool. Opas Parabellum. Ich halte sie mir einfach an den Kopf. So. Und jetzt drücke …
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Tag der Veröffentlichung: 16.08.2020
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