"Du weißt ja selbst, mein Sohn, ich habe mir wirklich alle Mühe gegeben, habe gearbeitet Tag und Nacht. Und jetzt das!"
"Ach Gott, Vater, so schlimm ist das doch auch nicht, was dabei…"
"Das sagst du so leicht, mein Sohn. Für mich ist das eine Katastrophe, ein Versagen, ein Zustand, den ich bisher nie kannte. Wenn ich nur wüsste, wo der Fehler liegt! Dass ausgerechnet mir so etwas passieren musste, verdammt!
Ich habe wirklich von Anfang an aufgepasst, habe das System Punkt für Punkt entwickelt, alles Schritt für Schritt aneinandergefügt und verknüpft, alle Rückkopplungseffekte bedacht, jede Unterkomponente aufeinander abgestimmt. Himmel nochmal, so macht man das, so entwickelt man ein Projekt. Ich habe vorher gedacht, dass die Implementierung der Grundstrukturen in das Gesamtkonzept und die abgestimmte Stufenentwicklung mich vielleicht zehn bis zwölf Stunden Arbeit kosten würde. Ja von wegen! Eine Woche habe ich dafür gebraucht! Ich wollte dann eigentlich mal chillen, habe aber noch einmal alles penibel gecheckt und für gut gefunden. Heutzutage entwickelt ja jede Drecksfirma irgendein Programm oder Produkt und wirft es ohne richtigen Test einfach auf den Markt. Der Kunde ist dann der Tester, und Reklamationen werden abgewürgt. Ich habe über 14 Prozent meiner Arbeitszeit nur für Tests verwendet, das macht doch sonst niemand! Aber du kennst das ja, ich habe dir das schon mal erzählt, glaube ich. Du warst damals noch gar nicht geboren."
"Ja, Vater, du hast mir das schon hunderttausendmal erzählt."
"Wirklich? Jedenfalls habe ich mir lange das Gehirn zermartert, wo der Fehler passiert ist.
Der Testlauf verlief hervorragend, ich war richtig stolz auf mich. Aber dann, nach einiger Zeit, lief plötzlich irgendetwas schief. An einem winzigen, unbedeutenden Teil des Projekts trat ein Fehler auf, als hätte – wie sagt man heute? Hacker? –, als hätte ein Hacker etwas kopiert, geklaut, abgegriffen oder so. Mein Projekt ist ja kein Computerprogramm, aber so kann man es ausdrücken.
Ich habe die verdächtige Position sofort aus dem Projekt geschnitten, aber offenbar nicht wirklich alles erwischt. Folge: Eine Woche Arbeit, plus das Wochenende, an dem ich mich eigentlich erholen wollte, aber dann doch die ganze Zeit getestet habe - alles für'n Arsch! Und danach Fehlersuche um Fehlersuche. Nichts mit zurücklehnen und die Früchte meiner Arbeit genießen! Ich habe mich geärgert und geärgert. Immer wieder traten Fehler auf, ich habe hier repariert, da geflickt, dort neu konstruiert, woanders abgerissen. Schließlich habe ich sogar einen Großteil des ganzen Projekts gelöscht, ertränkt, sozusagen. Aber …"
"Vergebens, ich weiß, Vater."
"Ja, genau. Eine Zeitlang war zwar Ruhe, und ich freute mich schon. Zum Teufel nochmal, das Projekt lief schon so lange, dass du schon erwachsen warst. Ich habe ein halbes Leben damit vergeudet! Sogar du hast dich in meiner Firma sehr engagiert und dich sogar aufgeopfert, um mein Projekt zu retten. Das war ja alles andere als angenehm für dich! Ich kann mir das gar nicht verzeihen!
"Ach Vater, lass es gut sein. Ich hab's ja überlebt, hahaha! Von Anfang an war dieser verdammte, überaus resistente Virus das Problem, der sich in deinem Projekt sozusagen eingenistet hat, das weißt du jetzt. Auch ich habe ihn nicht in den Griff bekommen. Mit allem guten Zureden nicht. Und dein Berater hat die ganze Zeit nur einen Haufen Geld gekostet und ü-ber-haupt nichts Konstruktives gearbeitet. Im Gegenteil! Schmeiß ihn endlich raus, den Heiligen Geist!
Vergiss das ganze Projekt und lass den Virus Mensch weiter wüten, bis die Immunabwehr des Projekt Erde selbst so groß ist, dass er ausgerottet wird. Und wenn dir langweilig wird, dann fang ein komplett neues Projekt an, lieber Vater."
"Jesus! Bist du meschugge? Eine neue Schöpfung? Nie wieder! Mir reicht's! Aber da fällt mir ein, was hast du vorhin gesagt? Virus? Hey! Vielleicht wäre das eine Lösung?
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Tag der Veröffentlichung: 15.06.2020
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