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Zeit der Wahrheit

 

 

Schon lange Zeit war Julius Mühldorfer nicht mehr zuhause gewesen. Zuhause? Was war das? Zuhause war jetzt die WG in der Universitätsstadt, wo er irgendetwas studieren wollte, das ihm ermöglichen würde, seinem Heimatort künftig möglichst fernbleiben zu können. Er hatte sich schließlich für Medizin entschieden, wobei Landarzt sicher nicht in seine Zukunftsplanung passte.

Ab und zu telefonierte er mit seinen Eltern, genauer gesagt, mit seiner Mutter, blah, blah, blah. Das musste sein, weil er vom Geld abhängig war, das ihm sein Vater nach Gutdünken mehr oder weniger pünktlich überwies. Aber jetzt hatte sich seine Mutter angekündigt. Sie wolle ihn besuchen, sehen, wie es ihm denn ginge, wo und wie er lebe, Mutterrolle spielen halt, und außerdem hätte sie ihm etwas mitzuteilen. Stress. Julius räumte seine Bude auf, informierte seine Mitbewohner und die Vermieterin und holte seine Mutter – entgegen seiner üblichen Verhaltensweise pünktlich – vom Bahnhof ab.

Nach einem Mittagessen in der Kneipe unter seiner Altbauwohnung nahm Julius seine Mutter mit hoch und zeigte ihr sein Zimmer in der WG. Es war höher als breit aber für einen Studenten ausreichend. Seine Mutter setzte sich mit etwas gerümpfter Nase in einen angegammelten Sessel nippte am Kaffee, den Julius ihr gemacht hatte und sagte:

"Mein Sohn …" Hier begann Julius schon hellhörig zu werden. Sohn hatte sie noch nie zu ihm gesagt. "Mein Sohn, ich muss dir etwas sagen. Dein Vater ist tot." Als von Julius außer einem fragenden Blick nichts weiter kam, fuhr sie fort: "Er hatte Krebs, und keine der Behandlungen hat angeschlagen. Vorgestern ist er gestorben."

"Hm", antwortete Julius. "Aber er hatte doch bestimmt die besten Ärzte bei dem Haufen Kohle, auf dem er immer gesessen ist, oder?"

"Ja, schon, aber Geld hilft nicht immer, mein Sohn. Warum bist du so kalt, so gefühllos?"

"Das solltest du eigentlich wissen, nicht umsonst hast du mir von seiner Krankheit nichts erzählt. Er hat mich immer wie einen seiner Angestellten behandelt, schlimmer noch, wie ein notwendiges, lästiges Übel, das ihn nur Geld kostet, das weiß du ganz genau, liebe Mutti." Sie sog heftig den Atem ein und stieß ihn ebenso heftig wieder aus.

"Warum sagst du Mutti zu mir? Ich war doch immer deine Mama!"

 

"Du sagst ja plötzlich auch Sohn zu mir, statt Juli", gab Julius zurück.

"Ach Julius, das sind alte Geschichten. Aber dein Vater ist tot, und jetzt ist es an der Zeit, dir die Wahrheit zu sagen." Sie richtete sich im Sessel auf, starrte ihn längere Zeit an und sagte dann: "Du bist nicht der Sohn von Johannes, sondern das Ergebnis eines One-Light…On-Nite... eines verdammten Seitensprungs! Aber Johannes hat dich als seinen Abkömmling anerkannt, denn er wusste nichts davon. Gesagt habe ich es ihm nie, aber er muss es wohl geahnt haben, wenn er dich wirklich so behandelt hat, wie du gerade gesagt hast. Ich habe jedenfalls nichts davon mitbekommen."

 

"Ach Mutti. Du willst nichts davon mitbekommen haben? Nicht geahnt haben, dass ihm klar war, dass ich nicht sein Sohn bin? Das ist hochgradig lächerlich! Du hast genau gesehen, wie miserabel er mit mir umgesprungen ist" Er stand auf und knallte die Faust gegen die Wand.

Susanne Mühldorfer zuckte zusammen und erhob sich ebenfalls. Sie knetete theatralisch die Hände und drehte sich auf der Stelle.

"Doch, Juli, er wusste es nicht wirklich, sonst hätte er einen Vaterschaftstest machen lassen, aber er hatte wohl Angst davor."

"Und du? Du warst zu feige, es ihm zu sagen!"

"Na klar, er hätte sich scheiden lassen, und ich wäre auf der Straße gestanden. Einfach so." Sie setzte sich wieder und schnippte mit den Fingern. Julius grinste höhnisch, nahm eine Flasche vom Regal, schenkte sich einen Drink ein und kippte ihn hinunter, ohne seiner Mutter etwas anzubieten.

 

"So kommen wir der Sache schon näher", sagte er dann. "Das also war dein Problem. Ohne Geld auf der Straße zu stehen. Was mit mir passiert wäre, war dir völlig egal, oder? Jetzt ist der Augenblick der Wahrheit!" Susanne Mühldorfer nickte.

"Tja, das stimmt. Damals war mir das egal, aber heute …"

"Aber heute…", unterbrach Julius sie abrupt, "aber heute kann dir das noch viel mehr egal sein, Mutter. Jetzt pass mal auf, Mutter. Dein ganzes Getue und Gemache und Mamaspielen in der Vergangenheit – das war alles für'n Arsch, mit Verlaub. Denn ich bin weder Vaters Sohn, aber auch nicht – dein Sohn."

"WAS?" Susanne Mühldorfer saß da wie vom Blitz getroffen. "Du blöder Kerl, jetzt spielst du verrückt wie so oft in deiner Kindheit, wo du mich auch ständig bis aufs Blut gereizt hast! Ich habe jetzt keine Lust mehr, mit dir zu diskutieren. Am Montag ist die Beerdigung, du kannst kommen oder es lassen, und die Bruchbude hier kannst du auch gleich kündigen, von mir bekommst du kein Geld mehr." Sie sprang auf, blickte starr vor sich hin und sank zurück in ihren Sessel. "Mir ist nicht gut, bitte, ich schaff es nicht allein zum Bahnhof. Du musst mich bringen." Mit zitternder Hand nahm sie ihre Kaffeetasse und trank sie leer. "Los jetzt, Sohn, ich will den Zug nicht verpassen."

 

"Nicht so schnell, Mutti. Ich habe dir auch noch was zu sagen. Du bist wirklich nicht meine Mutter. Meine wirkliche Mutter war Krankenschwesterhelferin in der scheißteuren Privatklinik, in der du entbunden hast. Weil sie dort angestellt war, durfte sie gnädigerweise ihr eigenes Kind – mich – dort zur Welt bringen, so zwischen zwei Schichten sozusagen, ratz-fatz quasi in der Abstellkammer. Und das zeitgleich mit dir in der First-class-Suite. Sie wusste, dass sie ihr Kind, also mich, nicht wirklich gut versorgen konnte und wahrscheinlich auch nicht wollte. Sie war nämlich drogenabhängig, ohne Partner, und sie wusste, dass sie nach der Geburt entlassen worden wäre. Deshalb tauschte sie dein Kind gegen mich aus. Sie hat mir das erzählt, als sie nach vielen Jahren hier bei mir auftauchte und Geld haben wollte. Ich war ja inzwischen der Sohn eines stinkreichen Börsenmaklers. Dein Sohn. Ich hab sie natürlich rausgeworfen, ich hatte ja selbst kaum Taschengeld, war ein armer Student von Vaters Gnaden."

 

"Das ist ja lachhaft", zischte Susanne Mühldorfer. "Das hast du dir ausgedacht. Wo soll denn dann mein 'wirkliches' Kind geblieben sein?"

"Tja, ich bin zwar arm, aber nicht blöd. Ich bin gut im Recherchieren. Der Sohn der Krankenschwesterhelferin – in Wirklichkeit also dein Sohn – ist nach der Geburt auf seltsame Weise gestorben. Das hat sie mir natürlich nicht erzählt. Ich bin also das falsche Blag einer Rabenmutter und vermutlich auch noch das Kind einer Mörderin."

"Das ist doch haarsträubender Blödsinn, aber eigentlich ist mir das egal. Ich wollte noch nie Kinder, wenn du es genau wissen willst. Jetzt ist Johannes tot, und du kannst mir den Buckel runter rutschen, mein Nicht-Sohn, hahah."

"Nun, freu dich nicht zu früh, Mutti. Ich habe dir gesagt, dass ich gut recherchieren kann. Ich sollte Privatdetektiv werden. Aber jetzt beerbe ich ja meinen Pseudo-Vater und brauche das nicht mehr."

"Pah! Wenn du dich da nur mal nicht täuscht!"

"Jajaja, Mutti, ich weiß. Ich sagte doch Detektiv und so. Ich habe herausgefunden, dass du und Johannes zusammen mit eurem Hausjuristen und Notar, Doktor Bilger, verfügt habt, dass ich im Falle des Todes meines Vaters nicht einmal den Pflichtteil erben würde. Aber das ist gesetzlich sehr, sehr schwer. Geht zum Beispiel nur etwa, wenn ich euch nach dem Leben trachten würde. Tss, tss, würde ich doch nie. Behaupten kann man das leicht, wenn der Notar das bestätigt. Das hat er. Aber ich habe im Gegenzug dann den lieben Herrn Doktor Bilger davon überzeugen können, dass ich gewisse Vorlieben seinerseits auch für mich behalten werde, wenn er mir die testamentarische Verfügung, sagen wir mal, überlassen würde."

"Du verdammter Mistkerl! Aber bei einer drogensüchtigen Mörderin als Mutter brechen jetzt wohl die wahren Gene durch! Dann bekommst du halt den Pflichtteil, aber wenn ich mal sterbe, wirst du keinen Pfennig von mir erben, dafür werde ich sorgen, sobald ich zuhause bin! Und jetzt gehe ich."

 

Susanne Mühldorfer wollte erneut aufstehen, schaffte es aber nicht. Stöhnend setze sie sich wieder. "Was … was ist los mit mir?", stammelte sie.

"Sohn einer drogensüchtige Mörderin und Medizinstudent", antwortete Julius und grinste wieder höhnisch, "das passt doch perfekt zusammen! Hat der Kaffee geschmeckt? Keine Angst, geht sehr schnell, Mama, und grüß mir bitte Papa…"

 

*****

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Texte: BRieser.20520
Bildmaterialien: Stephanie Hofschlaeger/ pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 20.05.2020

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