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IUS AD BELLUM

 

 

Der frisch gewählte Vorsitzende der World-Wide Operation Group WWOG erhob sich und bat um Ruhe.

"Sehr geehrte Mitglieder, sehr geehrte Mitkombattanten, verzeihen Sie mir diese Bezeichnung, aber sie trifft doch den Sinn unseres neu gegründeten Verbandes exakt. Wir alle sind seit mehr oder weniger langer Zeit im Kampf gegen einen gemeinsamen Feind auf dem Felde der Ehre gestanden, und einige tun das heute noch jeden Tag, den die Schöpfung uns noch lässt. Viele von uns blicken auf eine lange, entbehrungsreiche Kriegsgeschichte zurück. Sie haben alles gegeben, um zu siegen und auch durchaus beeindruckende Ergebnisse erreicht. Aber, wie wir leider alle wissen, mussten wir immer wieder Niederlage um Niederlage einstecken. Unser gemeinsamer Gegner ist mächtig. Aus jeder Schlacht, die unsere Seite gewonnen hat, ist er letztendlich gestärkt hervorgegangen. Seine Abwehrtechniken sind gewaltig, und, so leid es mir tut, das sagen zu müssen, er wird immer schneller, immer gnadenloser."

 

Das Rumoren im Saal nahm zu, verschiedene laute Rufe hallten durch die feuchte Luft, vor allem Vertreter der älteren Kampfgruppen murrten vernehmlich. Der Vorsitzende klopfte auf das Rednerpult und fuhr erst fort, als sich die Zuhörer wieder etwas beruhigt hatten.

"Verehrte Mitkombattanten, verstehen Sie mich nicht falsch. Das war keine Kritik an den Schlachtmethoden der Vergangenheit. Damals waren unsere Vorkämpfer ja verdammt erfolgreich; ihren Angriffen hatte der Feind nichts entgegen zu setzten!"

"Außer Gebeten!", rief einer der Älteren aus der Versammlung, und alle lachten. "Und wir haben die Bande gehörig dezimiert!"

"Das ist wohl wahr", antwortete der Vorsitzende. "Aber es sind zu viele entkommen. Sie haben sich wieder erholt, neu formiert und in all den Jahren ihr Einsatzgebiet enorm erweitert. Okay, viele unserer Vorkämpfer haben sie verfolgt und vor allem die neu zu ihnen gestoßenen Truppen bekämpft, bevor sie gemeinsame Rückangriffsstrategien entwickeln konnten. Aber letztendlich haben sie Schlacht um Schlacht gewonnen, wenn auch unter gewaltigen eigenen Verlusten. Aber vorwiegend bei uns. Einige der überlebenden Kämpfer können ja ein trauriges Lied davon singen!"

 

Viele Zuhörer nickten, andere wiederum blickten frustriert zu Boden, sodass sie der Vorsitzende aufmuntern musste:

"Aber ihnen gebührt unser aller Dank und vor allem der Dank unserer Auftragsgeberin – herzlicher, bedingungsloser Dank, meine Freunde!"

Jubelnder Beifall brandete auf, währte lang und ebbte erst ab, als allen klar wurde, dass ein 'aber…' folgen würde. Und es folgte.

"Aber, meine Kampfgefährten", fuhr der Vorsitzende fort, "trotz allem, was die einzelnen Verbände geleistet haben, ist jetzt der Feind mächtiger und stärker als je zuvor. Er hat alle nur erdenklichen Territorien fest im Würgegriff, und wir können bald nur noch wie Untergrundkämpfer aus der Deckung heraus operieren, Nadelstiche verteilen, etwas Verwirrung stiften. Vogelschisse in der Geschichte. Mehr leider nicht."

 

Bevor Widersprüche laut wurden hob er die Hand und fuhr fort:

"Das kann ich besonders gut beurteilen, denn meine eigene Kampftruppe ist die am besten ausgerüstete, die schlagkräftigste, schnellste seit Kriegsbeginn. Aber …", er hob wieder die Hand, "…aber auch wir haben bis jetzt relativ wenig erreicht. Und deshalb sage ich in aller Ernsthaftigkeit: Wir müssen unser Vorgehen ändern. Das Überleben der ganzen Welt hängt davon ab. Unser Handlungskorridor schließt sich immer schneller. Wir dürfen dem grausamen Feind keine Zeit mehr lassen! Die Welt leidet schon lange unter unserer Hybris. Und wir haben nicht nur das ius ad bellum, das Recht auf Krieg, sondern das officium ad bellum, die Pflicht dazu!"

"Ja und?", schallte es aus der Versammlung. "Was sollen wir machen? Was ist der Plan?"

Der Vorsitzende klappte sein Redemanuskript zu und befeuchtete seine Kehle. Die Luft im Raum war trocken geworden und entsprechend trocken kam seine Antwort.

"Kein Plan übersteht den ersten Feindkontakt. Das hat Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke gesagt. Also lasst uns keinen Plan machen, schon gar keinen Masterplan, sondern – ein Experiment. Ein Experiment, das wir alle bisher noch nie auch nur überlegt haben, denn so ähnlich unsere Möglichkeiten und Methoden auch waren, so unterschiedlich waren sie bei genauer Betrachtung. Vorwarnzeiten, Truppenmobilisierung, Abwehrtechniken, Angriffspunkte, Schwachstellenanalyse, Zeitabstimmung und so weiter – alles war ähnlich und doch so unterschiedlich. Unser Hauptfehler war, dass wir nicht zusammengearbeitet haben. Jeder von uns wollte für seine Strategie, für seine Truppen, für seine Angriffsphilosophie, für seine Bewaffnung selbst zuständig sein. Keiner wollte etwas von den anderen übernehmen oder gar mit ihnen kooperieren. Jeder wollte für sich den absoluten Sieg verbuchen können, und deshalb, so traurig und frustrierend das klingt, sind wir alle letztendlich gescheitert. Ja klar, bei einem Teil von uns sind die Kampfeinheiten riesig und stark, aber relativ unbeweglich, bei anderen sind sie klein und wendig, kaum zu erfassen, aber sie sind beim Nachschub auf Infrastrukturen des Feindes angewiesen. Dieser konnte sich nach den Verlusten dann auf unsere Methoden einstellen und letztendlich unsere Angriffe abwehren und mächtiger werden, als zuvor. Im Grunde genommen sind unsere Eitelkeit, unser Einzelgängertum, unsere Ich-Bezogenheit schuld an der Misere. Es geht nur gemeinsam. Zu diesem Ergebnis bin ich nach langer Überlegung gekommen. Nur gemeinsam sind wir stark, nur zusammen können wir unsere Aufgabe erfüllen und die Erde retten. Aber wir dürfen uns nicht wieder verzetteln, das heißt auch, nicht mehrere Angriffsziele auf einmal definieren. Und wir müssen unsere Angreifbarkeit abstellen. Ein für allemal.

Und das Experiment soll so aussehen:

 

1. Wir bündeln unsere Kräfte, indem wir die kleinen, autonomen Kampfverbände in die großen, schlagkräftigen integrieren und sie damit von feindlichen Infrastrukturen unabhängig machen. Ihre Schlagkraft würde sich enorm steigern, während der Feind sich auf den Angriff auf die starken, großen Bataillone einstellen würde – oder umgekehrt. Egal wie, er hätte es plötzlich mit einem Gegner zu tun, dessen Aufbau, Struktur, Kampfmethoden etc. er noch nie kennengelernt hat. Seine Waffen wären völlig nutzlos, denn sie wirken nur entweder gegen den einen oder gegen den anderen Teil unserer Truppen, und schon gar nicht gegen die eng verschmolzenen Varianten. Nicht gegen beide gleichzeitig und somit auch gegen keinen.

2. Unsere Angriffe müssen sich auf einen einzigen Punkt konzentrieren, auf ein einziges, systemrelevantes Ziel. Wir müssen den Feind sozusagen aushungern und uns völlig auf diese Aufgabe konzentrieren."

Der Vorsitzende trank wieder einen Schluck, blickte zur Decke hoch, wischte sich den Schweiß ab und fuhr fort:

 

"Ja, ich weiß. Die Frage ist berechtigt. Was ist der systemrelevante Punkt unseres Feindes? Ich sage es Ihnen. Es ist der Nachschub an Rekruten. Der Nachwuchs. Alle unsere vergangenen Siege hat unser Gegner durch verstärkte Reproduktion zunichte gemacht und damit all unsere Bestrebungen ad absurdum geführt. Und das ist der zweite Teil des Experiments. Wir müssen seine Fortpflanzung zum völligen Erliegen bringen! Unser Feind besteht aus zwei Gruppenteilen, die nur zusammen Nachwuchs erzeugen können. Männchen und Weibchen. Unsere Untersuchungen und Erfahrungen haben ergeben, dass die Weibchen widerstandsfähiger sind als die Männchen, und deshalb werden wir uns auf letztere konzentrieren.

Also: Schneller, weltweiter und durchschlagender Angriff auf die Fortpflanzungsmöglichkeit dieser Feindesgruppe, zumal diese auch von den beiden Gruppen am meisten für die Zerstörung unseres Auftraggebers verantwortlich ist. Und unsere Abwehr gestalten wir wie vorgeschlagen durch Kooperation bzw. Verschmelzung des Kampfpotentials der resistentesten Mutationen unserer beiden Angriffsmethoden, damit die Gegenwehr des Feindes ins Leere läuft. Und diese Abwehr müssen wir durch ständige Adaptionen bzw. Mutationen nur eine komplette Menschengeneration konsequent durchhalten, dann ist die Erde gerettet."

Lautes Durcheinander war die Folge, heiße Diskussionen schallten durch den Saal, hektische Rückfragen unter verschiedenen Gruppen, dann die laute, eindringliche Frage des Vorsitzenden:

"Seid Ihr dabei, Bakteriengruppe? Was ist mit Euch, Typhus?"

"Wir sind dabei, natürlich!"

"Syphilis, dabei?"

"Dabei!"

"Pest, Cholera, Fleckfieber?"

"Na klar!"

"Kommen wir mal zu den kleinen, wendigen Viren:

A/H1N1 – Russen und Spanier, SARS-CoV; EHEC -  seid Ihr dabei?"

"Logisch!"

"Masern, Zika, Polio, und was ist mit Euch, HIV?"

"Klar, Mann!", ertönte es im Chor.

"Machen wir wieder mal mit den dicken äh, sorry, äh Bakterien weiter…

 

Und so ging es noch eine Zeitlang. Alle waren für eine Zusammenarbeit, nur die Gruppen Englischer Schweiß und Italienisches Fieber konnten sich nicht so recht entscheiden, ob sie zur Virus- oder Bakteriengruppe gehören wollten, aber das war eigentlich egal.

Endlich hatten alle abgestimmt, alle waren dafür, das Experiment zu wagen und der Vorsitzende sprach erleichtert:

"Danke, liebe Freunde, wir von der Corona-Truppe sind natürlich auch mit dabei! Gemeinsam werden wir siegen und die Erde von der Plage Homo sapiens befreien. Die Natur, unsere Auftraggeberin, mit all ihren wunderbaren Geschöpfen wird uns dankbar sein. Machen wir uns also sogleich an die Arbeit!"

 

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Impressum

Tag der Veröffentlichung: 20.04.2020

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