Carpe diem! Nutze den Tag!
So wird dieses Zitat von Horaz üblicherweise benutzt. Mit Ausrufezeichen! Das ist die deutsch-protestantische Arbeitsethik in Kurzform. Arbeit als gottgewollter Lebenszweck. Oder auf schwäbisch: Schaffe, schaffe, Häusle baue! So gehört sich das, soviel wie möglich aus dem kurzen Tag herausholen!
Aber es treten auch Leute auf, Ketzern gleich, die meinen, 'carpe diem' im Sinne von 'genieße den Tag' interpretieren zu dürfen. Faulenzer! Tunichtgute! Aperol-Spritz-TrinkerInnen! Die gucken frech in den Himmel und lassen den lieben Gott einen guten Mann sein!
Aber was wäre denn, wenn der Allmächtige sich auf die faule Bärenhaut gelegt hätte, anstatt von Montag bis Samstag zu schuften? Nichts, gar nichts wäre dann! Dann gäbe es weder Sonne noch Erde und schon gar keinen Tag! Zum Nichtstun hat er lediglich den Sonntag eingeführt. Und jetzt? 6000 Jahre später, wie die Bibelfundamentalisten glauben, teilt sich die Welt in zwei Lager. Zum einen sind da die genusssüchtigen Egoisten und auf der anderen Seite die Immer-mehr-Habenwoller. Das sind die, die nicht einmal den Sonntag ehren und wenigstens da Ruhe geben. Sonderbarerweise sind das aber nicht die, die am Sonntag arbeiten müssen, sondern ihre Chefs, die daraus den Nutzen ziehen. Die Forderung wird immer lauter, alle Geschäfte auch am Sonntag und rund um die Uhr geöffnet lassen zu dürfen wie in den USA. Hauptsache der Rubel rollt. Vergiss den Sonntag! Steht dem Wachstum im Weg! Gefährdet Arbeitsplätze!
Wer hat jetzt Recht? Die Genießer, insbesondere die junge YOLO-Fraktion (You only live once)? Die weniger den ruhigen, beschaulichen Genuss im Sinn hat, als vielmehr Fun, Fun, Fun auf Diabole-komm-raus? Oder haben die Leute mit dem Motto 'raffe, raffe, Konto fülle' Recht?
Was hat dieser Quintus Horatius Flaccus in seiner Ode 'An Leukonoë' wirklich gesagt?
"… schneide die lange Hoffnung zurück!
Schon während wir reden, ist neidisch entflohen die Zeit:
Pflücke den Tag, so wenig wie möglich glaubend dem folgenden!"
Was das heißen soll, scheint klar zu sein: Es kann morgen schon vorbei sein, als mach das Beste aus dem heutigen Tag - in welchem Sinne auch immer. So ist das mit den Dichtern und Denkern: Man kann oder muss immer das herauslesen, was man will. Eine Zeile vorher gibt Horaz Leuconoë den Rat, weise zu sein und den Wein zu läutern. Wie bitte? Läutern? Ich würde ihn lieber trinken, wenn ich nicht wüsste, ob ich am nächsten Tag noch lebe.
"Pflücke den Tag" – na ja, beim Pflücken erwischt man manchmal auch ein faules Früchtchen.
In meinem alten Wörterbuch steht unter carpo so allerlei:
(ab)rupfen, zupfen, spinnen, abfressen, speisen, genießen, langsam durchwandern, beunruhigen, fortdauernd necken, zerfleischen, zersplittern, zerstückeln und noch einiges mehr.
Was jetzt? Den Tag abfressen? Kann ich irgendwie nicht, aber ihn zersplittern und zerstückeln – das machen wir alle sowieso in der Hektik zwischen WhatsApp, Telefon, Bürogenerve und Parkplatzsuche.
Ich mach es jetzt anders. Ich rupfe mir einen bereits geläuterten Wein aus dem Regal, trinke ihn, lass den Tag einen schönen Tag sein und freue mich auf die Nacht. Und die nutze ich dann, um zu genießen, aber schon so was von …!
Carpe noctem!
Tag der Veröffentlichung: 23.06.2019
Alle Rechte vorbehalten