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Mittsommernacht

 

 

 

Island, Kap Dyrhólaey

Geringe Vibrationen war Brandur Grímsson gewohnt. Schließlich lebte er auf der Insel aus Feuer und Eis, wie Island auch genannt wurde. Solange die Mikrobeben eine bestimmte Stärke nicht überschritten, wurde auch kein Alarm ausgelöst, und es bestand kein Grund zur Sorge.

Auch der gewaltige Ausbruch des Eyjafjallajokull vor ein paar Jahren war glimpflich verlaufen. Einen Isländer bringt das nicht aus der Ruhe.

"Auf Island lebst du nun einmal immer neben einem Vulkan", sagte Grímsson oft schulterzuckend.

Aber jetzt, dieses seltsame Zittern, das beunruhigte ihn, obwohl er nicht sagen konnte, warum. Der Isländer lebte allein oberhalb von Mýrdalur, seit seine Frau Yrsa vor vielen Jahren gestorben war. Vielleicht lag es an der Einsamkeit.

Ich sollte mal wieder nach Myrdal runterfahren, mir bei Smiðjan ein paar Bier gönnen und ein wenig mit den Jungs dort quatschen, dachte er. Aber jetzt wollte er erst einmal ins Bett. Doch plötzlich ging es wieder los. Ein leichtes Stampfen, vages Vibrieren in den Mauern, und er hörte, wie die Schafe draußen auf der Weide unruhig wurden. Seltsam. Seine Tiere seien die coolsten auf der ganzen Insel, erzählte er oft in der Kneipe. "Da kann neben denen eine Bombe einschlagen, dann gucken die nur und fressen weiter!"

 

Plötzlich erkannte er, was ihn irritierte: Die Mikroerschütterungen waren anders als sonst. Normal war ein kaum wahrnehmbares Beben des gesamten Untergrundes, das stärker wurde, wieder abflachte und verschwand. Aber jetzt? Es bewegt sich! Und zwar … um mein Haus herum! Ihm drängte sich die Vorstellung eines Elefanten auf, der ums Haus stapft. Was für ein Unsinn! Trotzdem lief Brandur Grímsson ins Wohnzimmer und schaute aus dem Fenster. Natürlich kein Elefant. Und dann hörten die Erschütterungen auf. Brandur lief ein kalter Schauer über den Rücken. Ihm kam vor, als würde jemand gerade durchs Fenster starren und ihn beobachten. Nach kurzer Zeit begann das Stampfen wieder, bewegte sich weg vom Haus und verschwand. Grímsson ließ pfeifend die Luft aus der Lunge und schüttelte den Kopf. Auch die Schafe beruhigten sich wieder und setzten ihr Grasen fort. Brandur schalt sich einen Narren, ging ins Bett und schlief ein.

 

Norwegen, Riksvei 63 Valldal – Åndalnes

Tor Høie war auf die Reichsstraße 63 Richtung Süden abgebogen und bewegte sich über eine Serpentinenstraße die Berge hoch. Valldal war sein Ziel. Er konnte gerade noch bremsen, als ein Steinwall die Straße blockierte. Die Straßenbehörde versuchte bereits vom Süden her das Hindernis zu beseitigen, was sich als unmöglich herausstellte. Tor Høie konnte das später der Zeitung Dagbladet bestätigen, nachdem er wieder in Åndalnes eingetroffen war.

"Das war kein Bergsturz, das war wie Beton", sagte er.

 

Russland, Nord-Ural

Soviel konnte Igor Kusnezow gar nicht getrunken haben, um sich etwas zusammenzureimen. Es gab keine Erklärung. Als einer der Nationalparkwächter im Nord-Ural kannte er den abgewitterten Gebirgszug mit den sieben Felssäulen von Manpupunjor wie seine Westentasche. Er wusste natürlich, wo sie standen, wie hoch sie waren, wohin die Touristen ihren Müll warfen und welche Tiere gerade unterwegs waren. Das alles war jetzt, am frühen, kalten Morgen, an dem außer ihm noch niemand unterwegs war, völlig egal. Die zu den 'Sieben Wundern Russlands' zählenden, bis zu 42 Meter hohen seltsamen Monolithen waren – verschwunden. Nur der karge Felsrücken ragte noch über den dichten Wäldern empor.

Igor rieb sich die Augen, blickte noch mal über die unwirkliche Szenerie, drehte sich um und stieg wieder ins Tal hinab. Ihn beschäftigte nur noch die Frage, ob er Meldung erstatten oder gleich zur psychiatrischen Klinik in Perm fahren sollte.

*

Die seltsamen Hinweise häuften sich, aber kaum jemand nahm Notiz. Was hatten sie auch miteinander zu tun? Verirrungen? Verwirrungen? Wanderer, die den beschwerlichen Weg zur sogenannten Trolltunga auf sich genommen hatten und den weit über den Fjord hinaus ragenden Felssporn nicht fanden? Die Pendler, die die Sperrung einer angeblich von Trollen bewachten Brücke im Harz verfluchten? Der seltsame Felssturz auf der 'Trollstigen' genannten Serpentinenstraße in Norwegen, der einen Tag später nicht mehr vorhanden war? Oder das angebliche Verschwinden der drei Felsen vor der isländischen Küste beim Kap Dyrhólaey, die der Sage nach versteinerte Trolle gewesen sein sollen?

Diese lokalen, skurril erscheinenden Notizen erreichten die Weltöffentlichkeit nicht, aber sie erreichten die internationale Gruppe OEO – occultatum et oblitus. Dabei handelte es sich um eine Community, verstreut über den ganzen Erdball, die sich mit seltsamen Phänomenen beschäftigte. Die Mitglieder sammelten solche Berichte, analysierten sie, und in diesen ganz speziellen neuen Fällen erkannten sie sofort den Zusammenhang: Trolle. Wesen aus der unendlichen Zeit. Riesig, polternd, böse und dumm zumeist. Das traf zwar nicht auf alle zu, aber für sehr viele. Nach der nordischen Mythologie hausten sie in Utgard, während Menschen in Mitgard und die Asen in Asgard beheimatet waren. Mitgard und Asgard waren über die Regenbogenbrücke verbunden, aber mit Utgard wollte keiner etwas zu tun haben. Und so waren die Begegnungen meistens mit Ungemach verbunden, für die die Trolle immer wieder bestraft wurden, wie die drei Reynisdrangar-Trolle, die bei Dyrhólaey ein Schiff auf die Klippen gelockt hatten und beim Ausrauben des Wracks den Sonnenaufgang übersahen und zu den steinernen Felsen verwandelt wurden, die jetzt plötzlich verschwunden waren.

Die ersten Phänomene waren in Island aufgetreten, also wurde in der Gruppe OEO beschlossen, eine Abordnung dorthin zu schicken, um der Sache auf den Grund zu gehen. Die drei Mitglieder mit den Decknamen Sandy, Sassi und Sonny suchten umgehend die isländische Elfenbeauftragte auf. Es mag merkwürdig klingen, aber diese Position gibt es wirklich. Mehr oder weniger. Nicht ganz offiziell, aber doch. Immerhin wurden Baustellen verlagert, Straßentrassen verlegt und Baugenehmigungen nicht erteilt, weil sie Elfen- oder Trollgebiete tangierten.

Merla Staefánsdóttir zeigte sich dem Team gegenüber zunächst sehr zurückhaltend, fast abweisend. Sie sprach von Kulturgütern, die es zu erhalten gelte und wollte die Unterredung schnell beenden. Aber dann trug ihr Sonny die einzelnen Vorkommnisse vor, belegt durch Zeitungsberichte, Fotos und andere Materialien. Und damit bewegte sie die Elfenbeauftragte, sich näher mit den Unterlagen zu beschäftigen.

Lange blieb es still in ihrem Büro, während sie das Material sichtete. Dann sah sie auf, räusperte sich und sagte:

"Das ist alles sehr, sehr seltsam. Vor allem der zeitliche Zusammenhang. Da kann ich leider nicht weiterhelfen." Sie hob die Hand um die Einwände der OEO-Leute abzublocken und fuhr fort: "Die Sache ist zu ernst, um sie einfach zu ignorieren. Aber es gibt eine Person, die etwas damit zu tun haben könnte."

"Wen meinst du? Wer ist das? Zu tun haben könnte – was soll das …" Merla Staefánsdóttir hob wieder die Hand. "Ich kenne die OEO. Sonst hätte ich mit euch gar nicht gesprochen. Sagt euch der Name Björk Guðmannsdóttir etwas? Nein, das ist nicht die Sängerin die heißt nur so ähnlich. Die ist ganz anders. Habt ihr gute Nerven?"

Klar, 'Sandy', 'Sassi' und 'Sonny' hatten gute Nerven. Glaubten sie. Denn als sie in Merla Staefánsdóttirs Geländewagen die Piste hinter sich gebracht hatten und kurz vor dem Gipfel des Snæfellsjökull zum Halten kamen, waren sie sich nicht mehr so sicher.

"Tja, das ist ein magischer Ort", sagte die Elfenbeauftragte und atmete tief ein, "genießt die reinste Luft der Welt und denkt daran, dass unter anderen auch Jules Vernes' Protagonisten von hier zum Mittelpunkt der Welt aufgebrochen sind. Und, darf ich vorstellen, das ist Björk."

Die OEO-Gruppe drehte sich um und erschrak zutiefst. Wie aus dem Boden und gleichzeitig aus einem Märchen gewachsen stand eine Bilderbuchhexe vor ihnen. Klein, bucklig, Warzennase, weiße Haare, böser Blick. In der Hand einen Wurzelstock und eine fauchende schwarze Katze auf der Schulter. Die Hexe lachte hämisch und verwandelte sich plötzlich in eine hübsche junge Frau.

"Ja, ja, das hat sie drauf", grinste Merla. " Sie ist halt eine richtige Hexe!" Dann wurde sie plötzlich sehr ernst. Sie nahm Björk zur Seite und sprach sehr lange und sehr intensiv mit ihr. Dann drehten sie sich wieder zu den OEO-Leuten und Björg ergriff das Wort. Sie sah jetzt wieder sehr, sehr alt aus. Und sie wirkte sehr betrübt.

"Ihr müsst wissen", begann sie, "dass Trolle sehr alt sind. Sie stammen von einem anderen Planeten und waren schon vor den Menschen hier. Erst als die Menschen hier ankamen, begannen die Probleme. Immer wieder kam es zu Zwischenfällen, weil die Menschen sich zu sehr ausbreiteten. Ja, die Erde war jetzt auch ihre Heimat, aber Trolle und Menschen – das zusammen ging nicht gut. Und immer wenn es Probleme gab, wurden die Trolle vom ersten Gott der Menschen, vom Sonnengott, bestraft. Ja, ich fand das ungerecht, und deshalb habe ich in der Nacht, in der fast überall im Norden die Sommersonnenwende gefeiert wird, wobei auch in großen Feuern rituell Hexen verbrannt werden …" jetzt lachte Björk Guðmannsdóttir krächzend, "… also in dieser Nacht habe ich mit einem Gegenzauber die Trolle von ihrem Fluch befreit. Aber ich habe sie gleichzeitig unsichtbar gemacht, damit sie sich langsam wieder an die Menschen gewöhnen können und die Menschen an sie. Doch vielleicht war das ein Fehler. Ich werde mit ihnen reden, wartet hier bis zum Morgengrauen." In einer Rauchfahne verschwand die Hexe.

 

Es war sehr, sehr kalt, als die ersten Strahlen der Sonne durch die Scheiben des Jeeps drangen und Sandy, Sassi, Sonny und Merla weckten. Sie stiegen aus und marschierten bibbernd zum Plateau, wo sie am Abend zuvor die Hexe mit dem Allerweltsnamen Björk Guðmannsdóttir getroffen hatten. Sie wartete schon auf sie. Und sie sah wieder aus wie die furchtbare Märchenhexe.

"Erdlinge", hob sie an, "ich habe die Trolle gesprochen, also vernehmt folgendes: Die Trolle waren entsetzt von dem, was sie gesehen haben. Sie waren empört darüber, was die Menschen mit diesem schönen Planeten machen. Aber sie sind auch überzeugt davon, dass das nicht lange dauern wird. Sie wollen nicht mit den Menschen kämpfen, sondern lieber abwarten. Sie haben mich gebeten, sie wieder in die Steine, Menhire, Monolithen und Felsblöcke zurück zu verwandeln, die sie vorher waren, bis sich das Problem 'Mensch' von selbst erledigt hat. In ihren Zeitdimensionen könne das nicht mehr lange dauern, so sagten sie. Und ich habe ihnen ihren Wusch erfüllt. So sei es, und nun: gehabt euch wohl, Erdlinge."

 

Damit verschwand die Hexe, und alles war wieder wie vorher.

 

Fast.

Beobachte selbst, Erdling!

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 19.06.2019

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