Jeder Tatort war anders, jedes Verbrechen sehr individuell, wenn man von Kriegsverbrechen mal absah, wo reihenweise, namenlos und fast unbeteiligt gemordet wurde. Aber damit hatte Hauptkommissar Rudolf Reichert zum Glück nie etwas zu tun gehabt.
Er konnte sich in jeden Mörder irgendwie hineindenken, manchmal sogar seine Tat verstehen, aber Killer, die nur für Geld, für irgendein Regime, für eine abartige Ideologie oder Religion wahllos und fabrikmäßig Menschen ermordeten, überstiegen sein Vorstellungsvermögen von dem, was ein Mensch ist. Dieser Tatort passte nicht dazu. Es war ein 'ganz normaler' Tatort, aber doch mit Besonderheiten, die er in seinem Berufsleben so noch nicht angetroffen hatte.
Reichert betrat das Haus und sah sich um. Die SpuSi hatte die Räumlichkeiten bereits für die Ermittler frei gegeben, aber der Leichnam war noch nicht abtransportiert worden. Der Tote, ein Mann in mittlerem Alter, hing aufgeknüpft am Treppengeländer, und für Reichert sah es wie ein Suizid aus. Aber die Forensikerin, Dr. Miranda Bellini, hatte ihn schon vorab informiert, dass sich das Opfer keinesfalls selbst erhängt habe. Der Stuhl, der umgekippt im Raum lag, sei dafür einfach etwas zu niedrig. Jemand habe einen Selbstmord vortäuschen wollen. Okay, kam ja oft vor. Aber etwas war ihm schon aufgefallen, bevor er das Haus betreten hatte. Vom Gartentor bis zur Eingangstür waren in regelmäßigen Abständen Steine auf dem Weg gelegen.
"Schau mal, Reichert", sagte Dr. Bellini, "das ist sehr interessant. Sie bückte sich und deutete unter die übers Eck stehende, gewaltige Sitzlandschaft. Reichert ging auf die Knie und stöhnte dabei. Er konnte diese Möbel mit den nur Zentimeter hohen Spinnenbeinchen nicht leiden. Wie erwartet lag dort eine dicke Staubschicht, weil kein Staubsauger je dort hin gelangte. Er kramte in seiner Jacke nach einem Taschenlämpchen und beleuchtete das Biotop. Und dann sah er, was Miranda meinte. Steine.
"Also, Reichert, das sind andere Steine, keine Kiesel. Was genau müssen wir erst noch feststellen lassen, aber ich schätze, das sind irgendwelche Edelsteine und Perlen. Und hinten in der Ecke sind noch welche, wild verstreut. Sieht aus, als habe irgendjemand sie voller Zorn durchs Zimmer geworfen. Seltsam, Nicht?"
"Ja, dann scheint's kein Raubmord zu sein." Er erhob sich wieder mühsam und stöhnte erneut. "Scheiß Knie! Ich hasse das Älterwerden! Gib mir bitte Bescheid, wenn du mehr weißt, Miranda."
"Certamente, commissario!"
Die Identität des Toten stand inzwischen fest, und Hauptkommissar Reichert musste die schreckliche Botschaft überbringen. Margarethe Groll, die Tochter des Erhängten, war geschockt. So geschockt, dass eine Vernehmung kaum möglich war.
"Papa, Papa!", schluchzte sie unentwegt, und Reichert versuchte ungeschickt, sie zu beruhigen. Es funktionierte nicht richtig. Zumal, wie Reichert vorher herausbekommen hatte, ihre Stiefmutter vor kurzem erst ebenfalls verstorben war. Das Schicksal kann manchmal sehr grausam sein. Er verzichtete vorerst auf eine Befragung und gab ihr nur seine Karte, nachdem er noch gefragt hatte, ob sie gerne einen Beistand hätte, was sie nur kopfschüttelnd ablehnte.
Mit einem unguten Gefühl verließ Reichert das winzige Appartement in der Vorstadt und fuhr zurück zum Präsidium.
Jetzt liefen die üblichen Routinemaßnahmen an. Hatte Andreas Groll Feinde gehabt? Wer profitierte evt. von seinem Tod? Wie sahen seine Vermögensverhältnisse aus? Und so weiter.
Wirkliche Feinde schien er nicht gehabt zu haben, so ergaben die Ermittlungen. Ja, er war ein unangenehmer Zeitgenosse gewesen. Unfreundlich zu den Nachbarn und unkollegial im Finanzamt für Grundbesitz und Verkehrssteuern, wo er als Beamter auf Lebenszeit beschäftigt gewesen war. Aber einen richtigen Feind? Eher nicht.
Selbstmord? Der doch nicht! Der bringt eher seine Oma um, als sich selbst – so oder ähnlich klangen die Aussagen von vielen, die ihn gekannt hatten.
Trotzdem sprach Reichert noch einmal mit Dr. Bellini.
"Miranda, bist du dir sicher mit dem Mord, kann es nicht doch ein Suizid gewesen sein? Will er vielleicht nur einen Mord vortäuschen, warum auch immer? Vielleicht – was weiß ich – ist er auf Luftballons gestanden, und als er den Stuhl weggekickt hat sind die geplatzt und davon geschwirrt und …"
"Rudi! Luftballone? Ma sei matto? Außerdem hat er ein gewaltiges Hämatom am Hinterkopf, hast du sie noch alle, Rudi?"
Kleinlaut schwirrte Reichert wieder ab. Okay. Niemand konnte Groll so wirklich leiden, aber für ein Mordmotiv gab es bislang keinen Hinweis. Und was war mit der Ehefrau?
Wie die Kollegen herausgefunden hatten, war sie vor ein paar Tagen selbst verstorben. Hatte ihn das so mitgenommen, dass er sich … "Verdammt, nein, es war kein Selbstmord, du Depp!", schimpfte Reichert lauthals sich selbst. Er beauftragte seinen Mitarbeiter Kurt Schurrer, über den Tod von Grolls Frau zu recherchieren, und der berichtete ihm nach zwei Tagen, dass sie vom Hexenfelsen gestürzt war.
"Hexenfelsen? Machst du Witze?"
"Absolut nicht, Chef. Das ist ein quaderförmiger Felsblock, etwa zwanzig Meter hoch, auf einer Anhöhe über der mittelalterlichen Stadt Nördlingen. Da haben sie früher Hexen verbrannt. Heute nicht mehr."
"Aha", sagte Reichert und wartete.
"Also, Chef", fuhr Schurrer fort, "die Frau stammte aus Nördlingen, sie hatte dort noch Verwandtschaft, die sie vor vier Wochen besucht hat. Sie ist irgendwann allein spazieren gegangen, offensichtlich hoch zum Hexenfelsen, rauf aufs Plateau, dort abgerutscht und unten mit dem Schädel aufgeschlagen. Exitus. Und, gleich vornweg, ich hab natürlich weiter recherchiert: Ihr Ehemann Andreas Groll war zu dieser Zeit bei einer Dienstbesprechung in München, zwanzig verbeamtete Zeugen. Und vor zwei Wochen war auch die Beerdigung. In Nördlingen."
"Na super", grummelte Reichert, setzte aber gleich hinzu: "Super Arbeit Kurt, ich danke dir! Und was ist mit der Tochter?"
"Also, Chef, die Kinder …"
"Kinder? Gibt’s da mehrere Nachkommen? Verdammt, warum sagt mir die Tochter das nicht?"
"Keine Ahnung, Chef. Also, es gibt zwei Kinder, aber das sind Stiefkinder, die Tochter Margarethe und Jacky, ihr Bruder."
"Ihre Kinder?"
"Nein, Chef, du weißt doch, dass die Margarethe seine Tochter ist, also die Stieftochter seiner Frau, weil seine erste Frau schon als die Kinder noch klein waren, gestorben ist, also die Stieftochter der Frau, die vom Hexenfelsen …"
"…gestürzt ist", vollendete Reichert. "Jetzt hab ich's kapiert. Danke dir, gut gemacht."
Reichert dachte nach. Zwei Kinder, Margarethe und Jacky. Etwas begann in seinem Kopf zu blinken wie ein Fehlerlämpchen. Was passte nicht in diesem Fall?
Er fand heraus, dass Margarethe und Jacky lange in Franken gelebt und gearbeitet hatten, aber ohne Kontakt zum Vater oder zur Stiefmutter zu haben. Sonderbar. Und als die weiteren Recherchen trotz der Einwände von Staatsanwalt Hirsch, der das als völlig unnötig ansah, ergaben, dass die Geschwister schon kurz nach seiner Wiederverheiratung in ein Heim gegeben worden waren, leuchtete das Warnlämpchen in Reicherts Kopf ständig. Margarethe und ihr Bruder waren nicht einmal auf der Beerdigung der Stiefmutter gewesen. Kein Wunder. Aber ihr Vater auch nicht!
Das stinkt doch zum Himmel!, dachte Reichert und loggte sich ins PolNet ein. Suchanfrage: Verbrennungstod weibliche Person, Franken, Mordverdacht. Und dann noch die Zeitspanne.
Bingo!
Im fraglichen Zeitraum war in einem katholischen Frauenkloster mit angeschlossenem Kinderheim bei Marktheidenfeld eine Nonne unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen. Sie hatte die Bäckerei des Klosters unter sich gehabt, eine Großbäckerei, die die gesamten Klosterläden und viele Supermärkte der ganzen Umgebung versorgte. Irgendwie ist sie in den gewaltigen Backofen geraten und verbrannt. Der Fall wurde nie aufgeklärt.
Jetzt war alles klar. Jacky = Hans = Hänsel. Margarethe = Grete = Gretel. Hänsel und Gretel. Das Märchen der Gebrüder Grimm.
Reichert schluckte den Kloß im Hals hinunter, stand auf, ging nachhause und legte sich ins Bett, nachdem er die Lebkuchen, die noch von Weihnachten übrig waren, in den Mülleimer geworfen hatte.
Am nächsten Morgen lief die Fahndung an, und schon kurze Zeit später saß Jacky, oder genauer gesagt Hans Groll vor ihm. Er war sofort geständig. Die Erleichterung war ihm deutlich anzusehen.
"Ja, das stimmt, Herr Kommissar", sprudelte es aus ihm heraus, " mein Vater hat uns, als Mama tot war und er eine neue Frau hatte, einfach weg gegeben. Die Frau wollte das, da war ich mir immer sicher. Er hat uns aber nicht im Wald ausgesetzt, sondern in einem Nonnenkloster. Und dort hat sich eine - diese … dieses Miststück, diese Hexe – sie hat sich an mir, sie hat mich … immer und immer wieder…diese verreckte Hexe!"
"Ich verstehe schon, das muss schrecklich gewesen sein. Wie ging's dann weiter?"
"Margarethe hat mich erlöst, ja, das hat sie. Sie war ja noch ein Kind, ihr kann doch nichts passieren, Herr Kommissar, oder? Also, sie hat ganz in der Frühe irgendwie etwas im Ofen verklemmt, und als die Hexe da reingekrochen ist – ein Schubs, Tür zu, Ofen an. Und dann hat sie noch die Tür der Backstube von außen abgeschlossen und den Schlüssel weggeworfen. Ich glaube, dass es so war, genau weiß ich das nicht mehr, und sie hat ja auch nie darüber gesprochen. Aber wir kannten ja das Märchen."
"Und dann?"
"Ja, was dann? Alles wurde, keine Ahnung, vertuscht? Unfall? Vielleicht war ich nicht ihr einziges Opfer? Jedenfalls mussten wir in diesem Kloster bleiben, bis es aufgelöst wurde. Da sind wir dann abgehauen, haben uns durchgeschlagen, so oder so, Sie wissen schon. Und dann habe ich endlich vor etwa sechs Wochen unseren Vater gefunden. Unser ganzes Leben lang haben wir nach ihm gesucht. Gretel hat sich in der Nähe ein Appartement genommen, weil ja erst die Stiefmutter wegmusste. Steht ja im Märchen, dass wir erst glücklich zusammen sind, wenn die weg ist. Erst dann wollte ich mit ihm reden. Ich hab dann die Frau verfolgt und zur Rede gestellt. Sie hat getobt, und ich musste sie nur mit dem Finger stupsen, dort auf dem Hexenfelsen. Jetzt war sie weg. Passender Ort für eine Hexe. Dann hab ich noch ihr altes Zimmer durchsucht, das sie noch bei ihrer Tante hatte. Dort war sie oft. Und dort hab ich auch eine ganze Schachtel mit Diamanten und Edelsteinen und so Zeug gefunden, keine Ahnung, woher sie die hatte, wahrscheinlich von meinem Vater. Aber die wollte ich Papa bringen wie im Märchen, damit es uns gut geht. Daher auch die Kieselsteine, die ich bis vor die Haustür gelegt hatte. Sie haben uns sozusagen wieder aus dem 'Wald' geführt, nach Hause. Blöd war nur, dass Margarethe plötzlich nicht mitkommen wollte. Schwafelte was von nicht mit der Tür ins Haus fallen und so Zeug, und dass sie Angst hätte. Dann bin ich halt allein los.
Ich läute, er macht auf und wird käsebleich. Er hat mich sofort erkannt! Ich war sehr froh, bin ihm um den Hals gefallen und hab ihn ins Haus gedrängt. Aber dann hab ich gemerkt, dass der Scheißkerl sich überhaupt nicht freut. Er hat geschrien, dass ich verschwinden soll, er will nichts mit mir zu tun haben, ich soll mich sofort verpissen. Ich habe ihm dann die Schachtel mit den Klunkern in die Hand gedrückt, er schaut rein und er wusste sofort, woher ich sie hatte. Hat die Dinger über den Tisch gepfeffert und geschrien: " Also doch, es war dieses Miststück, das mich beklaut hat, kein Einbrecher! Und du, du Mistkerl, du Missgeburt, ich hätte dich nicht ins Heim geben sollen, sondern besser bei deiner Geburt erschlagen und deine dumme Schwester gleich mit!"
Das war einfach zu viel, das stand nicht in dem Märchen. Ich hab ihm eine geknallt, ich konnte nicht anders. Dann hab ich das Schwein zur Treppe geschleift, Strick, Sie wissen ja, Herr Kommissar. Und danach bin ich abgehauen, hab mich in meiner Wohnung in Nürnberg versteckt, wo mich die Polizei abgeholt hat. Aber jetzt bin ich froh, dass es vorbei ist. Nur … Gretel, ich habe sie noch gar nicht angerufen, wie geht's ihr? Bitte, sagen Sie es mir, Herr Kommissar!"
"Es geht ihr gut", sagte der Hauptkommissar nur. Und er hasste es schon, wieder mit ihr reden zu müssen.
Reichert verließ den Befragungsraum und fuhr wortlos nach Hause. Dort schenkte er sich ein Glas mit Whisky voll und trank einen großen Schluck. Dann ging er zur Bücherwand, zog das alte, geliebte Märchenbuch von seiner Großmutter heraus und warf es zu den Lebkuchen in den Mülleimer.
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Texte: BRieser.13119
Bildmaterialien: Bert Rieser
Tag der Veröffentlichung: 13.01.2019
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