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Im Land der Weißen - das Baltikum

 

 

Etwa 1000 Kilometer haben wir entlang der polnischen Küste und südlich der Westgrenze der russischen Enklave Kaliningrad zurückgelegt, als wir über die A 5 den Übergang nach Litauen erreichen.

Parkplätze, Kneipen, Geschäfte ja, aber keine Zollkontrollen, keine finster blickenden Grenzer mit MPs im Anschlag – Hallelujah! Seltsam erscheinen uns nur die Verkaufsstände für Vignetten wie bei dem räuberischen Bergvolk südlich von Bayern. Wir sind unsicher, recherchieren im Netz und dann ist endlich klar, dass es für PKW und kleinere Wohnmobile keine Mautpflicht gibt. Eine weise Entscheidung im Sinne des Tourismus in einem Weißen Land.

Weißes Land? Seltsame Geschichte. Die Bewohner Estlands, Lettlands und Litauens bezeichnen sich häufig gemeinsam als Balten. Das aber erst seit der Okkupation großer Teile durch die Deutschen im Ersten Weltkrieg. Merkwürdig vor allem, weil sich nur die nicht- slawischen Anrainer der Ostsee Balten nannten, genauer gesagt Deutsch-Balten. Diese bildeten im russischen Reich die Führungsschicht der Gegend. Und vom Wortstamm her sind "Balten" die "Weißen". Wissen die heutigen Balten das? Keine Ahnung. Wir haben uns nicht zu fragen getraut. Wir fahren durch ein herrliches Land voller Wiesen, Wälder, Seen und Störche. Weißer Störche immerhin.

Gegen 17 Uhr Ortszeit erreichen wir nach einer navi-induzierten Stadtrandbesichtigung den Campingplatz der Hauptstadt Vilnius. Ortszeit heißt MEZ + 1 Stunde. Jetzt sind wir wirklich im Osten!

Camping Vilnius ist ein mehr als großzügig parzellierter Grasplatz hinter dem Messegelände auf der Westseite der Neris, die in Weißrussland entspringt. (Da! Schon wieder weiß! Nun gut, im Mittelalter bedeutete weiß wahrscheinlich westlich. Aber wir sind doch im Osten? Alles ist relativ).

Es gibt mehrere saubere Sanitärcontainer, einen Aufenthaltsraum mit Fernseher und eine Küche für die Zelttouristen (eigentlich die wahren, echten Camper), das Personal ist sehr freundlich, alles gut. Speziell zu unserer Begrüßung fahren auch mehrere, teils sehr skurrile Heißluftballons über die Stadt und unseren Platz. Na ja, 'speziell zu unserer Begrüßung' mag vielleicht etwas übertrieben sein…

Vor uns parkt ein fast 10 Meter langes Wohnmonstrum von Niesmann & Bischoff ein und erfreut uns mit dem Auftritt einer Bilderbuchfamilie, die aus der Show eines Privatfernsehsenders stammen könnte. Erst werden Designer-Holztisch und Freischwinger ausgeladen (Dad und Tochter Nr.1), drinnen kochen Mom und Tochter Nr. 2 ein Dinner, und Tochter Nr. 3 sitzt etwas abseits von Dad und starrt auf ihr Handy. Dad dekantiert ein Fläschchen Wein zum Essen, während sich alle anschweigen. Später kommt ein Taxi und bringt die Family wahrscheinlich in den angesagtesten Club der Stadt. Das Licht unter der Markise brennt die ganze Nacht, man soll ja sehen, wer da residiert. Und das steht ja auch dick und fett auf dem Wohndampfer: die Familie MATSON aus Schweden. 'Join The Adventure' steht auch noch auf der Karre, wobei sich das Abenteuer wohl nur auf breiten Teerstrassen abspielt, bei den Abmessungen dieser 5-Zimmer-Wohnung auf Rädern. Wer die Familie näher kennenlernen will, muss nur www.matson5.com aufrufen, wie ebenfalls fett auf dem Heck steht. Dort erklärt Daddy Anders, "The self-proclaimed leader of the pack", erst einmal sich selbst und wie toll er ist und dann seine ebenso tolle Familie. Wie heißt das medizinisch? Narzistische Persönlichkeitsstörung? Ach ja.

 

Vom Platz aus geht man etwa 15 Minuten bis zur nächsten Bushaltestelle. Es gibt auch Besichtigungsfahrten, die direkt vom Campingplatz aus starten, aber so etwas macht man – wenn man kann – besser zu Fuß. Die meisten Gassen in mittelalterlichen Städtchen sind viel zu schmal für Busse, und es entgeht einem viel zu viel – vor allem auch das direkte Empfinden vor Ort.

Am nächsten Morgen bringt uns die Linie 21 über die Neris direkt zum Bahnhof, und nach wenigen Gehminuten erreichen wir durch das Tor der Morgenröte die Altstadt. Wenn man es durchschritten hat, sich umdreht und zum Turm hochblickt, sieht man durch ein Fenster Gläubige, die vor dem Bild der wundertätigen Goldenen Madonna aus dem 16. Jh. beten.

Als ein der Hölle geweihter Ungläubiger interessieren mich dennoch solche Orte, und wir steigen die Stufen hoch zur Mutter Gottes. Wobei mein Sarkasmus mich immer fragen lässt, Mutter welchen Gottes? Mutter des Gottvaters, des Sohnes, oder des Heiligen Geistes oder der ganzen Dreifaltigkeit? Ja, des Sohnes natürlich, sagt mir die Pragmatik. Egal. Jeder soll glauben, was er will. Aber in solchen Gegenden, wo im Namen der Religion durch sogenannte Ordenskrieger über Jahrhunderte zahllose Menschen brutal ermordet wurden, werde ich immer etwas zynisch.

Wir schlendern durch die Gasse an einer orthodoxen Basilika vorbei zum Rathausplatz, bewundern die uralten Gebäude, laufen kreuz und quer, und uns wird schnell klar, warum die Altstadt schon lange in der UNESCO-Liste als Weltkulturerbe aufgenommen ist.

Vilnius ist bekannt als Stadt der Kirchen, allein in der Altstadt gibt es über dreißig davon, katholische und orthodoxe. Die Kathedrale ist das religiöse Zentrum von Litauen und stammt ursprünglich aus dem 15. Jahrhundert, wurde aber immer wieder durch Brände und Umbauten verändert. Den einzeln stehenden Glockenturm besteigen wir und betrachten den Platz und die Kathedrale – mit einen gewaltigen Plakat von Papst Franziskus über dem Portal – von oben. Leider sind die Aussichtsfenster vermutlich gegen die Taubenplage stark vergittert, sodass der Blick stark getrübt wird.

Über allem wachte einst die Burg von Gediminas, des Großfürsten von Litauen. Er hatte das Land nach Jahrzehnten der Unordnung wieder zu Macht und Einfluss gebracht und sich erfolgreich gegen die plündernde Goldene Horde der Tataren gewehrt. Auch gegen den Deutschen Orden, der sich unter dem Vorwand der Missionierung das Land wieder einmal einverleiben wollte. Als Zugeständnis an den Vatikan bot Gediminas an, sich taufen zu lassen, zog sein Angebot aber wieder zurück, im Gegensatz zu seinem Vorgänger Mindaugas, der von Papst Innozenz IV die Königskrone erhielt und sich erst später wieder vom Christentum abwandte, um gegen den gierigen Deutschen Orden zu kämpfen. Karalius Mindaugas' Stand- oder genauer gesagt Sitzbild kann man auf dem Platz vor dem Nationalmuseum betrachten, während Gediminas' kämpferische Statue den Platz neben der Kathedrale beherrscht.

Aber wo soll man anfangen, wo aufhören mit der Geschichte? Man braucht eigentlich gar nichts darüber zu wissen, um ihren Atem zu spüren, überall in dieser Stadt.

Von der Burg, die Gediminas auf dem 142 m hohen Hügel errichten ließ, ist nur noch ein Eckturm erhalten. Von dort aus soll man eine phantastische Aussicht über die Stadt haben, aber leider ist das gesamte Areal derzeit gesperrt, weil Gefahr besteht, dass Teile des Burgbergs abrutschen könnten. Also umrunden wir den Hügel durch das Stadtwäldchen, gehen an der Neris entlang, überqueren die Vilnia an ihrer Einmündung in die Neris und wandern einen steilen, bewaldeten Berg zu einem weiteren Wahrzeichen Vilnius' hoch, zu den Trys kružiai. Drei gewaltige weiße Kreuze überragen hier die Stadt und demonstrieren, dass Vilnius sehr christlich ist. Der Blick über die Stadt und das Umland ist wunderschön, und wir müssen uns fast davon losreißen.

Auf dem Rückweg kommen wir am Bernhardiner-Friedhof vorbei (nein, nicht Hunde liegen dort begraben, sondern die Mönche des Klosters) und an weiteren Kirchen, von denen es im nahen Umland noch hunderte weitere gibt. Ja, nicht nur Vilnius, sondern ganz Litauen ist sehr christlich, wie das gesamte Baltikum, plus Polen, plus Ungarn, plus… Das sollte man wissen, um vielleicht die Bockigkeit gegen muslimische Flüchtlinge nachvollziehen zu können, so schrecklich das auch ist, wenn man gleichzeitig Nächstenliebe von den Kanzeln predigt.

 

Unbeabsichtigt gelangen wir in die Alma Mater Vilenensis, die alt-ehrwürdige Universität, ohne den offenbar erforderlichen Eintritt zu bezahlen. Wir sehen uns im Innenhof um, besichtigen die obligatorische Kirche, in der sich die Grabmale vieler Unipräsidenten und Gelehrten befinden, trinken später hervorragendes litauisches Bier in einer der vielen Kneipen der Stadt, essen etwas in einer anderen und erfreuen uns an der Stimmung, die trotz des einsetzenden leichten Nieselregens herrscht. Das liegt an den Studenten, die der kleinen Universitätsstadt viel vom gramgebeugten Alter und dem grauen Alltag nimmt. Man spürt förmlich die Offenheit und den Drang nach Neuem, nach Freiheit und Aufbruch nach so langen Jahren der Unterdrückung.

Vilnius ist wirklich eine interessante Stadt im Schnittpunkt von Geschichte und Moderne. Einen zweiten Tag hier zu verbringen wäre absolut kein Fehler, aber wir haben noch ein paar Kilometer vor uns, und unser Thema heißt Ostsee. Und die liegt 300 Kilometer entfernt in nord-westlicher Richtung.

 

Die erste Etappe unserer Weiterfahrt ist nicht lang. Nach etwa einer haben Stunde Fahrtzeit haben wir Trakai erreicht, die Wasserburg, die Gediminas als Residenz nutzte, bevor er Vilnius als Hauptstadt gründete. Eine schon zu Sowjetzeiten liebevoll restaurierte Märchenburg auf einer Insel. Vom gegenüberliegenden Ufer führt ein Fußgängersteg zum Torhaus hinüber. Wir schauen uns das fast aus allen Nähten platzende Museum an, umrunden die Befestigungsmauern und genießen dann noch bei einer Brotzeit am Seeufer den Anblick übers Wasser, bevor unsere Parkzeit abläuft.

Klaipèda ist unser heutiges Tagesziel, die alte Hafenstadt Memel.

Wir erreichen den etwas außerhalb der Stadt gelegenen Campingplatz erst gegen Abend, weil wir Greta nicht trauen und hinter dem Straßenschild Kempingas eine Gasfüllstation vermuten und nicht Camping und das Wörterbuch für Campingplatz auf litauisch stovyklavietê auswirft. Billes Handy-Navi unterstützt Greta, und so finden wir dann doch noch unseren Schlafplatz.

Unter hohen Fichten parke ich unseren Merlin ein, Markise raus, Stühle raus, Feierabendbier raus. Mit einem netten Holländer von der Nachbarparzelle kommen wir gleich ins Gespräch; er kommt von der anderen Seite der Ostsee her und kann uns gute Tipps für die Weiterreise geben. Aber er wiegt nur bedenklich den Kopf, als wir bemerken, wie schön ruhig es hier in diesem Wald sei.

In der Nacht wissen wir, warum. In gefühltem Stundentakt rumpeln kilometerlange Güterzüge scheinbar durch unser Bett.

Den ganzen nächsten Tag verbringen wir endlich einmal an einem Ostseestrand. Yeah! Nichts tun, nicht fahren, nichts besichtigen und abends einfach in einer Strandkneipe eine Kleinigkeit essen und trinken. Super. Urlaub.

Aber am nächsten Tag ist wieder Arbeit angesagt. Wir wollen mit den Rädern in die Stadt, überqueren dazu zunächst die Bahnstrecke, und dann geht’s auf einem gut ausgebauten Radweg durch einen lichten Birken- und Kiefernwald. Wenn ich vorhin geschrieben habe, dass der Campingplatz etwas außerhalb liegt, relativiert sich das 'etwas' nun etwas. Es sind gut 10 Kilometer, aber durch einen Schatten spendenden Wald radelnd sind sie kein Problem.

Memel – Klaipèda war bis Ende des Krieges eine deutsche Stadt mit litauischer Minderheit. Alle Einwohner wurden evakuiert, aber nach Kriegsende von den Sowjets zur Rückkehr eingeladen. Doch nicht alle kamen, zumal sie gegenüber zugezogenen Russen benachteiligt wurden. Bis 1958 bestand noch die legale Möglichkeit, das Land zu verlassen, was 6000 von ihnen nutzten.

 

Klaipèda ist ein nettes Städtchen, viel wurde schön restauriert. Fachwerkspeicher, der Kunsthof, enge, von Holzhäusern gesäumte Gassen, alles wunderbar, nur die gnadenlos Fahrräder schindenden Kopfsteinpflaster sind der Horror. Wir binden die Drahtesel genervt an einem Verkehrsschild fest und gehen zu Fuß.

In einer Hafenzufahrt liegt das ehemalige Segelschulschiff Meridianas, und auf drei Seiten von einem breiten Wassergraben umgeben stehen noch die Wälle der alten Befestigungsanlage mit einem Museum zur Stadtgeschichte. Im Innenhof bauen gerade Bands ihre Bühnen für ein großes, bekanntes Musikfestival auf, das am Wochenende stattfinden soll. Tänzer proben ihren Auftritt, erste Bands üben schon, während anderswo in der Stadt die Soundchecks die alten Mauern wackeln lassen. Überhaupt ist Memel sehr kunstfreundlich. Überall findet man kleine und größere, reale und surreale Werke moderner Künstler inklusive hervorragender Graffiti-Sprayer, die ganze Hauswände gestaltet haben. Old School ist dagegen das Standbild des nach dem alten Volkslied benannten Ännchen von Tharau, das auf dem Theaterplatz steht. Allerdings eine Nachbildung des verschwundenen Originals.

AENNCHEN VON THARAU/ MEIN REICHTUM MEIN GUT/ DU MEINE SEELE MEIN/ FLEISCH UND MEIN BLUT

findet man über die vier Seiten des Postamtes geschrieben. Es ist eine von 17 Strophen, in denen der deutsche Barockdichter Simon Dach die Tochter des Tharauer Pfarrers anschmachtet. Besonders amüsiert hat mich die Strophe, in der es heißt:

Was ich begehre begehrest du auch,
Ich lass den Rock dir, du lässt mir den Bauch.

Na gut, es heißt Brauch statt Bauch, aber Bauch wäre viel besser gewesen.

In der Kneipe des Künstlerhofes wollen wir etwas essen. Der Kellner meint verschwörerisch, er wisse, was wir möchten und serviert uns eine litauische Spezialität. Old-Town-Fingers.

Es handelt sich um 6 mit Knoblauch und Kümmel panierte und frittierte Käsestangen, dazu eine Joghurtsauce zum Dippen. Wirklich nicht schlecht, aber wir ordern noch ein paar Svyturys-Biere (Litauen hat eine uralte Biertradition – ein Land der Weißen eben) zum Runterspülen, was unseren unaufschiebbaren Heimweg danach doch etwas erschwert.

10 km zurück, dann "Zähneputzen, Pullern und ab ins Bett!", wie die Jungs von Knorkator so schön singen.Diese Nacht wecken uns die Güterzüge nicht.

Am nächsten Morgen sind wir wieder halbwegs fit, checken aus und fahren zum Fährhafen. Wir wollen hinüber zur Kurischen Nehrung. Mit der Autofähre geht das fix, nach kaum fünf Minuten gehen wir in Smiltyne an Land. Wir sind jetzt auf der etwa 100 Kilometer langen und bis zu etwa vier Kilometer breiten Halbinsel, die bei Kaliningrad beginnt und bis nach Klaipèda reicht. Etwa die Hälfte gehört zu Litauen und die andere zur Oblast Kaliningrad.

Oblast ist russisch und bedeutet 'Gebiet'.

Wir fahren durch den Nationalpark nach Süden zwischen Ostsee im Westen und Kurischem Haff im Osten, aber vom Wasser sehen wir nichts. An einer Schranke zahlen wir 20 € Umweltmaut und fahren weiter durch Wald und über einen Pass von geschätzten gewaltigen 25 Metern Höhe. Der Wald ist in Wirklichkeit aufgeforstet; schon zu Zeiten des Deutschen Ordens wurde um der Missionierung Willen gerodet, im 17. Jh. sogar kahl geschlagen , wodurch gewaltige Wanderdünen entstanden, die immer wieder ganze Ortschaften unter sich begruben. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jh. gelang es dem preußischen Forstmeister und Düneninspektor Wilhelm Franz Epha, die Dünen zu bepflanzen und zu stabilisieren.

Wir fahren durch putzige Dörfer wie Juodkrantè, Pervalka oder Preila, bis wir Nida erreichen.

Nida – früher Nidden – ist ein bekannter Ferienort, aber wir hoffen dennoch, dass er nicht zu überfüllt ist. Hel-vorgeschädigt, wie wir sind. Ein Irrtum. Aber wir finden trotzdem noch einen Platz unter alten Bäumen, und auch sonst ist der Campground okay.

Am nächsten Morgen radeln wir in den Ort und erkunden die Gegend entlang des Haffs mit seinen putzigen Fischerhäusern, dem interessanten Yachthafen und den langen Molen, von denen aus Angler ihr Glück versuchen. Hoch über dem Wasser liegt auf dem 'Schwiegermutterberg' das bekannte Thomas-Mann-Haus. Hier hat der Schriftsteller zwei Sommerurlaube verbracht, was für's Schreiben sicherlich nicht schlecht war. Aber wir sparen uns eine Besichtigung, zumal das Haus später als Erholungsort für Wehrmachtsoffiziere diente, dann von einer Granate getroffen wurde und von den Sowjets als abzureißende Ruine klassifiziert wurde. Außerdem finde ich Thomas Mann langatmig bis langweilig, aber das ist halt mein persönlicher Geschmack.

Im Maxima, einem Supermarkt der größten litauischen Einzelhandelsgruppe versorgen wir uns mit Lebensmitteln. Auch mit Brot. Um das ewige schwammige Weißbrot zu vermeiden kaufen wir ein dunkles Brot, das aber ebenso schwammig ist. Doch viel schlimmer ist der Geschmack. Die dunkle Farbe entsteht offenbar nicht durch Vollkornmehl, sondern durch färbende Zutaten wie Zuckerkulör oder Malzsirup. Dadurch wird es unangenehm süß. Bäh!

Und wir werden dieses Zeugs im ganzen Baltikum bekommen, wie wir später erfahren müssen. Schon jetzt sehne ich mich nach unserem Pfisterbrot!

Nachdem wir unsere Einkäufe zum Merlin gebracht haben, gehen wir zu Fuß auf die Hohe Düne. Es ist tierisch heiß, es geht steil hoch, aber schließlich erreichen wir eine Aussichtsplattform, wo ein kühlendes Lüftchen Erfrischung bringt. Wir genießen den Blick übers Haff und die Halbinsel in Richtung Oblast Kaliningrad. Die Hohe Düne ist die zweithöchste Düne Europas, wobei die Höhenangaben zwischen 44 und 60 Metern schwanken, je nach Jahreszeit und Messmethode. Sicher ist nur, dass sie jährlich an Höhe verliert. Von hier aus kann man auch ins Death Valley schauen, was nichts mit Kalifornien zu tun hat, sondern damit, dass sich hier 1870 – 1872 ein Lager für französische Kriegsgefangene befand, von denen viele starben und hier beigesetzt wurden.

Noch etwas weiter oben steht eine beeindruckende Sonnenuhr auf dem Gipfel der Düne. Eine 13,8 m hohe Säule aus Granit mit wichtigen Kerben für halbe und ganze Stunden, Tage, Monate und was weiß ich noch alles. Gesetzt auf Platten unterschiedlicher Größen und Stärken, ein Kunstwerk der Messtechnik, das aber nur von der Natur inspiriert sein soll.

Als wir wieder nach unten gehen kommt eine Wandergruppe um die Ecke marschiert, und einer schreit begeistert: "Hoi! Was isch nochd des do hanna fiar a Zeigl?" Schwaben. Wir müssen uns mühsam das Lachen verkneifen.

Völlig verschwitzt beschließen wir, den Nachmittag für ein Bad im Meer zu benutzen und gehen dafür auf die andere Seite der Nehrung an die Ostsee. Sie ist kühl, aber erfrischend. Sogar Bille, sonst keine Freundin von Wassertemperaturen unter 26 Grad, geht zweimal ins Wasser. Später mache ich mich am Strand entlang auf nach Russland, während sie in der Sonne badet.

Die Menschen werden immer weniger, schließlich sind nur noch keckernde Möwen die einzigen Lebewesen, die mir begegnen. Der verschwommen in der Ferne erkennbare Wachturm hoch über der Dünenlandschaft kommt immer näher. Und dann: die Grenze. Ein lächerlicher Bauzaun und gelbe Absperrbänder über den Strand. Am Zaun ein Schild:

STOP!

VALSTYBÈS SIENOS
APSAUGOS ZONA

State Border Protection Zona

 

Und dann das Ganze noch auf Russisch. Alles klar. Kein Mensch ist zu sehen, ich könnte einfach weitergehen, aber ich rüttle nur kurz am Zaun wie weiland Gerhard Schröder am Kanzleramt und gehe zurück.

 

Tagsüber hat sich der Campingplatz gewaltig überfüllt, ja, es ist Wochenende Unter den Bäumen ist unser VW-Bus regelrecht zugeparkt, ich glaub, ich spinne. Der Typ links vor uns ist unsicher, ob er es schafft seinen Bus zwei Meter weiter einzuparken, aber wenn wir morgen raus wollen muss halt ich seine Karre umparken. Rechts steht ein großes Wohnmobil mit norddeutscher Nummer, das wird sicher nicht mehr wegbewegt. Vom Tennisplatz her kommt rhythmisches Geschlage, begleitet jeweils von lautstarkem Gestöhne, Kinder kreischen, eine Jugendgruppe trommelt irgendwo, die Kneipe ist voll, ebenso die Duschen. Ich-muss-hier-weg!

Früh morgens wachen wir auf, geweckt vom wütenden Geschrei eines Mädchens aus dem norddeutschen Wohnmobil vor uns. Es will einfach seine Banane nicht essen. Weil die Mutter ständig auf es einnörgelt, wird das Geplärr immer heftiger. Bevor ich wütend werde und die Eltern anscheiße, wenigstens ihre verdammte Tür zu schließen, bevor der ganze Campingplatz wach wird, gehe ich doch lieber duschen. Jetzt ist alles leer und es bringt ja doch nichts. Manche Eltern …

Wir packen schnell zusammen, und da ein alter Mercedes das Geschrei auch nicht ausgehalten hat und abgefahren ist, kann ich unseren Merlin rausquetschen. Bloß weg hier! Wir sind im Land der Weißen, und es ist weise, zu verduften.

Die Rückfahrt ist ruhig, beschaulich, es ist Sonntagmorgen und die meisten schlafen noch (außer auf dem Camping Nida). In Juodkrantè stoppen wir kurz und bewundern die Ergebnisse eines Sandbau-Wettbewerbs. Es ist einfach sensationell, was manche Künstler nur aus Sand zustande bringen!

Die Fähre zurück nach Klaipèda ist nur schwach belegt, im größten Lidl, den ich je gesehen habe, kaufen wir noch ein – hier gibt’s sogar ein etwas besseres Brot – und machen uns auf in Richtung des zweiten baltischen Staates.

Es geht wieder ins Landesinnere durch eine eine ruhige, altertümlich wirkende Gegend, aber wenn man genau hinschaut sieht man, wie die Natur unter der ungewöhnlich langen Hitze schon leidet. Einen religiösen Mittelpunkt des Landes wollen wir noch besuchen. Etwa 10 Kilometer nördlich von Schauen (Šiauliai) liegt der Kryžiu kalnas, der Berg der Kreuze, über den wir einmal einen kurzen Bericht im Auslandsjournal gesehen haben.

Es ist ein zehn Meter hoher Hügel in der Nähe der E 77, der ein ganz besonderer Wallfahrtsort der Litauer und inzwischen auch von Katholiken aus aller Welt geworden ist. Das Besondere ist, dass eine unglaubliche Anzahl von Kreuzen den Hügel überwuchert, man hat bei 50.000 mit dem Zählen aufgehört. Schätzungen sprechen von über einer Million. Riesige Kreuze, kleinere Kreuze, die wiederum von noch kleineren umringt sind; auf dem Boden rotten Reste vor sich hin, Madonnenfiguren, Christusabbildungen – es ist einfach unbeschreiblich. Treppen und Holzpfade führen durch das sagenhafte Gewirr, Rosenkränze und Anhänger klappern im Wind, eine wahrlich mystische Stimmung liegt über dem Ort, nur gestört von den abgebrühten, allgegenwärtigen Handy-Selfie-Idioten.

Die Ursprünge dieses Ortes liegen im Verborgenen; es gibt mehrere Legenden über seine Entstehung, aber nach 1940, als Litauen von den Stalinisten okkupiert wurde, nahm die Zahl der Kreuze ab, weil mehr als 100.000 Litauer nach Sibirien deportiert wurden. Nach dem Tode des Diktators kamen Überlebende zurück und stellten wieder Kreuze auf, der Hügel wurde zu einem Widerstandssymbol, was den Besatzern natürlich überhaupt nicht passte. Mehrfach wurde versucht, den Berg mit Baggern und Planierraupen zu räumen, und jedes Mal stieg danach die Zahl der Kreuze. Wäre interessant zu wissen, was die russisch-orthodoxe Kirche dazu gesagt hat. Vielleicht hat sie beifällig genickt. Zu den Räumungen, nicht zu den Kreuzen

Es ist bedrückend und erfreulich zugleich, dass dieses Mal Religion nicht zur Unterdrückung des Volkes benutzt wurde, sondern zum Widerstand dagegen. Nicht eine Kirchenorganisation steckte dahinter, sondern allein der Wille und der Glaube der Menschen. Das hat schließlich auch die offizielle Kirche anerkannt. 1993 besuchte Johannes Paul II den Ort und betraute die Franziskaner mit dem Bau eines Klosters, das im Jahre 2000 eingeweiht wurde. Es muss alles seine Ordnung haben, und man kann die Leute ja nicht einfach so machen lassen …

Seitdem gilt der Hügel international als Heiliger Berg der Katholiken, wobei mir bei diesem Begriff immer das Kloster Andechs über dem Ammersee einfällt. Vielleicht weil dort ein gutes Bier gebraut wird?

 

Wir überlegen noch, wo wir die Nacht verbringen können, schalten den Routenplaner ein und beschließen, gleich nach Riga zu fahren, der Hauptstadt Lettlands.

Gewitter liegt in der Luft, es ist verdammt schwül, und das Thermometer steht bei 34°, als wir die mit 700.000 Einwohnern einzige wirkliche Großstadt des Baltikums erreichen. Der Riga City Camping ist ein Platz mit ebenen Grasflächen, von Hecken umzäunt, er liegt in einem Industriegebiet, es ist aber trotzdem ruhig. Sanitärräume gibt’s in einem Gebäude hinter Lagerhallen, nicht gerade idyllisch, aber wie heißt es bei der ärztlichen Versorgung von Kassenpatienten? "Zweckmäßig, ausreichend, wirtschaftlich und nicht das Maß des Notwendigen übersteigend." Genau.

Ein wenig irritiert uns der Hinweis eines jungen Security-Burschen der abends seine Runden dreht: "Please don't forget to lock your bicycles tonight!" Na, wenn er meint – oder ist das Wichtigtuerei? Egal.

Am nächsten Morgen überqueren wir die Daugava mit Hilfe der Vanšu tilts, der bei Eröffnung 1981 größten Schrägseilbrücke Europas. Von oben hat man einen schönen Blick auf das Altstadtufer, den auch 'Mütterchen Duna' genannten Daugava-Strom und die Neustadt mit der markanten Nationalbibliothek. Direkt am Ufer gibt’s ein Pils. Nein, kein Bier, sondern das Rigaer Schloss. Schloss = Pils. Eine bewaffnete Wache davor schützt die ehemalige Festung des livländischen Ordens, die jetzt Sitz der lettischen Präsidenten ist.

Am Dom, gleich neben dem Herder-Denkmal, lassen wir die Räder stehen und erkunden die Altstadt per pedes. Geschätzte 50 übermannsgroße Bären bevölkern den Domplatz, in bunten Farben bemalt von Künstlern aus aller Welt. Ein gewisser Helge Leiberg, von dem wir bisher noch nie etwas gehört hatten, hat den deutschen Bären mit dünnen Strichmännchen und dem Brandenburger Tor geschmückt.

Auch diese Stadt ist es wert, mindestens zwei Tage in sie zu investieren. Sie ist voller Sehenswürdigkeiten vom Pulverturm, der St.-Petri-Kirche über den Speicherplatz bis zum Freiheitsdenkmal – ich kann gar nicht alles aufzählen. Aber es setzt Regen ein, später bauen sich dicke Gewitterwolken auf und wir sehen zu, dass wir nach unserer Kreuz- und Querwanderung wieder zum City-Camp kommen. Aber vorher gibt’s ein richtiges Pils. In einer Bar bekomme ich eine Magnetkarte und hole mir selbst aus Zapfhähnen an der so genannten 'Beerwall', was ich möchte. Eben auch ein Pils. Bezahlt wird am Schluss nach gezapften Kubikzentimetern.

Tags darauf we're on the road again. Der Gauja Nationalpark ist unser nächstes Ziel. Am Eingang liegt Sigulda, eine 11.000 Einwohner zählende Stadt, die aber eher wie ein weitläufiger Garten wirkt, in dem einzelne Häuser stehen. Hoch über dem Geschlängel der Gauja liegt eine von drei Burgen rund um Sigulda, das Turaidas Pils. Sehr interessant, toller Ausblick in den größten Nationalpark Lettlands hinein, der bestimmt ein wunderbares Wandergebiet ist. Mitten im Park liegt die alte Hansestadt Cēsis mit engen Pflastergassen, Holzhäusern, der Ruine des Cēsu Ordenpils, der Basilika und anderen Hinterlassenschaften der damaligen Herrscher vom Livländischen Orden. Die späteren Machthaber, die Sowjets, bauten etwa 1980 in der Nähe einen Atombunker für die Bosse der Genossen, der, noch vollständig ausgestattet, erst 2003 enttarnt wurde. Wir besichtigen die Stadt auf unserer Weiterfahrt. Es ist ruhig hier, wenig Leute, kaum Touristen. Ein guter Ausgangsort für einen Urlaub im Nationalpark. Aber wir wollen wieder an die Ostsee.

Bei Ainaži überqueren wir die Grenze nach Estland und fahren direkt am Meer entlang bis zum nächsten bei Tageslicht noch erreichbaren Stellplatz. Er heißt Konse Guesthouse & Caravan Camping und liegt direkt am Fluss Pärnu in der gleichnamigen Stadt. Für eine Nacht ein guter Platz. Die sogenannte 'Sommerhauptstadt Estlands' ist seit langer Zeit ein beliebter Bade- und Kurort, zu sehen gibt es nicht viel, und Baden und Kuren ist momentan nicht unser Bestreben. Wir wollen lieber auf die Insel Saaremaa.

Schon bei dem Namen erkennt man den Unterschied der Sprache. Während z.B. die Polen für ihre Wörter so wenig Vokale wie möglich verwenden, bauen die Esten mehr als nötig ein.

Słupsk – Saaremaa. Finnland lässt grüßen!

Von Virtsu aus bringt uns die Fähre für 14,80 € zur kleinen Insel Muhu, von der aus ein Damm zur großen Schwester Saaremaa führt. Wir fahren zügig über die Insel bis zum Kaali kraater, dem Ergebnis eines Meteoriteneinschlags vor 4000 Jahren. Dieses Ereignis hat auch seinen Widerhall in diversen nordischen Sagen gefunden. Eigentlich ist der Krater ein Loch von etwa 100 Metern Durchmesser, umgeben von hohen, aufgeworfenen Rändern und teilweise mit Wasser gefüllt. Aber durch die lange Hitzeperiode besteht der See momentan nur noch aus einer kleinen Pfütze, zu der man über eine Treppe hinuntersteigen kann. In der Umgebung finden sich weitere kleine Einschlaglöcher, die aber mit dem großen Krater nicht zu vergleichen sind. Der ist wirklich sehenswert. Besonders für uns, die wir beide in einem Meteoritenkrater geboren und aufgewachsen sind, ist das eine ganz besondere, seltsame Empfindung, auch wenn das Nördlinger Ries mit seinen über 20 Kilometern Durchmesser doch etwas größer ist, als der Kaali kraater.

Bei der Weiterfahrt kommen wir durch kleine Dörfer, an alten Gehöften vorbei, an einer Windmühle, und eine orthodoxe Kirche mit uraltem Friedhof strahlt eine bizarre, etwas morbide Stimmung aus. Dann nimmt die Straße auf eine Länge von geschätzt einem Kilometer Länge plötzlich eine Breite von etwa 100 Metern an, und uns wird bewusst, dass auch diese ruhige Insel in die Kriegswirren hineingezogen worden ist. Dieser Straßenabschnitt war vermutlich eine Startbahn der russischen Bomber, die in Richtung des '1000jährigen Reiches' flogen, und wurde wahrscheinlich auch im Kalten Krieg von den Sowjets als Ausweichflugplatz bereitgehalten.

Unser ADAC-Führer hat eine gute Bewertung für den Campingplatz Mändjala bei Salme abgegeben, den wir jetzt ansteuern. Er liegt direkt am Meer, entpuppt sich aber als unüberschaubares Konglomerat aus Hütten, unstrukturierten Stellmöglichkeiten in einem dunklen Wald mit schlechten oder fehlenden Stromanschlüssen. Und wenn man das Meer sehen will, muss man über die Düne klettern. Aber das wäre alles nicht so tragisch, wenn die Sanitäranlagen okay wären. Aber das sind sie nicht. Verstreut, klein, alt und für empfindliche Nasen nicht geeignet, kurz: inakzeptabel.

Ein paar Kilometer weiter finden wir den Platz Tehumardi, wo wir schließlich einchecken. Eine gute Wahl. Viel Platz mit einem lichten Wäldchen, zwei kleinen Weihern, guten Sanitäranlagen und freundlichem, hilfsbereitem Personal. Wir werden gleich nach der Camping-Card gefragt, bekommen Rabatt und auch Tipps für gute andere Plätze auf der Insel. Das Meer ist nur zehn Fußminuten auf einem Pfad durch den Wald entfernt, und wir machen gleich einen längeren Spaziergang am Strand entlang, waten durch warmes Wasser und treffen schließlich auf ein gewaltiges Monument, das den Toten der Roten Armee gewidmet ist. Langsam geht die Sonne unter und zaubert ein wunderbares Licht über das Meer. Wir essen noch eine Kleinigkeit aus unseren Vorräten und versinken müde und zufrieden in einen erholsamen Schlaf.

Der nächste Tag ist den Sehenswürdigkeiten der Insel gewidmet. Saaremaa soll die Insel der Windmühlen sein; jeder Hof hatte früher eine eigene. Eine davon haben wir ja schon bei der Herfahrt gesehen. Dann kam einmal im Fernsehen ein Bericht über die Frauen der Insel, deren Männer auf See arbeiten und die deshalb Kinder und Höfe alleine versorgen müssen. Um alles zu schaffen fahren sie in ihren Trachten auf alten russischen Beiwagenmotorrädern der Marken Dnjepr oder Ural durch die Gegend wie weibliche Ausgaben von Easy Rider. Das würde mich auch interessieren. Aber zuerst geht es an den südlichsten Punkt der Insel zum Leuchtturm Sörre tuletorn hinter Sääre. Ein beeindruckendes Bauwerk. Am Strand zeigen noch gesprengte Bunker und Flak-Stellungen, dass hier kein friedliches Plätzchen war und auch eine Tafel auf einem Gedenkstein erinnert an die im Herbst 1944 gefallenen deutschen! Soldaten, die für den Größenwahnsinn der Nazis ihr Leben lassen mussten.

Dann geht’s rüber nach Obsessaare, wo sich in einer alten Windmühle eine Kneipe einquartiert hat. Am Strand stehen zahlreiche Stoamandl, die wir Bayern aus den Bergen kennen. Eigentlich vermutete ich sie nur in Gegenden, wo früher mal Kelten lebten, aber hier oben? Aber egal, ich pflege den Brauch der Alpen auch hier und setze für die Sagenwesen einen weiteren Stein auf ein Stoamandl.

Wir fahren zurück nach Salme und weiter nach Kuressare, dem deutschen Arensburg oder Adlerburg. Es ist die einzige Stadt auf der Insel und entstand im Schatten der Bischofsburg, nachdem sich der Deutsche Orden zusammen mit den Schwertbrüdern Saaremaa einverleibt hatte. Die Geschichtsdaten erzählen nichts vom Leiden der Bevölkerung, nur, dass dann die Dänen, darauf die Schweden, dann wiederum die Russen die Stadt und die Insel beherrschten. Aber auch unter den Russen behielten die Deutschen, die 'Weißen', die Verwaltung. Ein Freiherr von Campenhausen ließ ganze Straßenzüge einreißen, die feuergefährdeten Strohdächer abschaffen und Straßenschilder und Müllabfuhr einrichten. Und weil er Französisch so liebte, schlich sich eine etwas verderbte französische Moral in die Gesellschaft, die vorher einer strengen Ehrbarkeit verpflichtet war. Ab den 1840er Jahren entwickelte sich die Stadt dann zu einem beliebten Kurbad, was auch immer man damals darunter verstanden haben mag.

Die Bischofsburg ist eine der am besten erhaltenen mittelalterlichen Burgen im Baltikum, umgeben von einem breiten Wassergraben. Im Inneren befindet sich neben einer Sammlung moderner Bildhauerkunst auch ein historisches Museum, das die Geschichte Saaremaas vom Altertum bis zur russischen Besetzung und schließlich der Perestroika Gorbatschows und letztlich erneuter Unabhängigkeit im Jahre 1991 anschaulich darstellt.

Wir fahren weiter nach Nord-Westen zu den Panga-Cliffs, steil über der Ostsee aufragenden Felswänden, an denen man oben entlang wandern kann. Über eine Schotterpiste erreichen wir Lesi im Norden und fahren weiter bis Orissare, wo wir auf einem privaten Platz Halt machen. Nur ein niederländisches Wohnmobil steht noch hier, über allem wacht eine orthodoxe Kirche, das Meer ist in Sichtweite. Aber einem längeren Ausflug dorthin steht eine gewaltige Gewitterfront im Wege, die vom Meer her auf die Insel zu zieht. Ein beängstigendes Schauspiel aus Wolken, Blitzen, Wetterleuchten hält uns im Merlin, doch wir werden gerade noch vom den nahegerückten Wasserwänden verschont.

Übrigens: Von den Motorrad fahrenden Matrosenfrauen in Tracht haben wir keine einzige gesehen, und auch die Anzahl der Windmühlen hielt sich in sehr bescheidenen Grenzen. Falsche Zeit? Falsche Route? Falsche Info? Keine Ahnung.

 

Bei angenehmen 22° fahren wir am 6. August weiter Richtung Tallin. Fähre nach Virtsu zum Festland, dann über Karusa, Risti und schließlich gegen 14.00 Uhr Ankunft in Estlands Hauptstadt.

Vom City-Camp Tallin ist es mit dem Fahrrad nicht weit zum Hafen, und wir kaufen die Tickets für die Fähre nach Helsinki schon im Voraus für den übernächsten Tag, wie uns die Rezeptionistin am Campingplatz empfohlen hat.

Dick und fett liegt die AIDAmar an der Mole für Kreuzfahrtschiffe, zufällig mit einer Kollegin von Bille an Bord. Aber die AIDA ist nicht der einzige Dampfer, wie wir noch erleben müssen.

Als wir am nächsten Tag wieder in die Stadt fahren, ist sie überfüllt von Menschen. Wie einen lebenden Tsunami haben mindesten 4-5 Kreuzfahrer ihre Gäste über das arme, kleine Städtchen gespuckt, die sich hinter ihren Fremdenführern auf der Hauptstraße den Berg hoch quälen, die Sitzplätze der Restaurantterrassen auf dem Rathausplatz besetzt halten und die Souvenirläden verstopfen.

Wir vermeiden die Hauptrouten, umrunden die Stadt sozusagen von hinten auf kleinsten Gässchen und wagen uns erst am Nachmittag ins Zentrum der Altstadt, als die meisten Touristen schon wieder auf ihren Schiffen sind. Ein Treffen mit Billes Kollegin wäre absurd gewesen. Jetzt ist es wieder ruhig und beschaulich in den alten Gassen. Wir trinken ein Bier in einem irischen Pub, wundern uns über eine Statue von Sir Sean Connery in einem Hinterhofgarten, bestaunen eine Gartenschau unter sieben Stadtmauertürmen, sprechen mit dem schwäbisch sprechenden Vorstand einer restaurierten katholisch-orthodoxen Kirche (was es nicht alles gibt!), der auf den Besuch des Papstes hofft und schlendern entspannt an den Sehenswürdigkeiten der Stadt vorbei. Tallin ist voll von Geschichte. Voll vom Nachhall des Leides, von Mord und Todschlag, von Krieg und Machtspielen, wie fast alle alten Städte in Europa oder der ganzen Welt. Aber junge Menschen machen Hoffnung. Die Kunst blüht, das Leben pulsiert, und die Stadt steht immer nur zeitweise unter Touristenschock. Leute, bitte schaut Euch diese Stadt an, aber wenn es geht, außerhalb der Hauptsaison. Nur dann kann sie ihren Charme richtig spielen lassen. Und gönnt ihr mehr als nur zwei Stunden. Sie hat es verdient – wie alle diese kleinen Städte am Meer, Klaipèda, Riga, Danzig und so weiter. Alle sind sehenswert, wie wir bisher finden.

 

Am nächsten Morgen verlassen wir den City-Camp Tallin und fahren zum Fährhafen zu unserem Schiff, das uns nach Helsinki bringen soll. Das ist natürlich eine kleine Schummelei, wenn das Thema der Fahrt heißt "Um die Ostsee", denn die See reicht natürlich noch 300 Kilometer weiter nach Osten bis St. Petersburg, aber den Besuch dieser Stadt heben wir uns für eine andere Reise auf. Jetzt, mit dem Wohnmobil, ist uns der bürokratische Aufwand zu viel. Also per Schiff auf zur nächsten Etappe, von den Ländern des Baltikums geht es mit der "Star" vom Gate 6 ab nach Helsingi, wie die finnische Hauptstadt auf estnisch heißt.

Wir sind schon sehr gespannt!

 

 

Und wenn Ihr, liebe Leserinnen und Leser, das auch seid, und uns begleiten wollt, würde ich mich sehr freuen!

Der nächste Teil 'Die spinnen, die Finnen', folgt demnächst hier auf BookRix.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 19.10.2018

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