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Gegen die Uhr - Eine Reise um die Ostsee

 

Teil 1:

 

Vergesst Polen!

 

Wie bei jeder Geschichte sollte man bei einem Reisebericht auch mit dem Anfang beginnen. Aber wenn das Motto 'Rund um die Ostsee' lautet, dann macht es wohl kaum Sinn, mit dem Riss im rechten Vorderradreifen zu beginnen, der unsere Abreise fast verschoben hätte. Auch ist kaum von Interesse, über die 756 Kilometer zu berichten, die wir von Bayern bis zu unserem 1. Übernachtungsplatz am Oberruckersee zurückgelegt haben. Auch gehört es nicht zum Thema zu erwähnen, dass ich eine Mordswut im Bauch hatte, weil ich beim Rückwärtsfahren auf dem Campingplatz einen Baum übersehen und mir einen verbeulten Fahrradträger und eine fette Beule in der Heckklappe unseres Wohnmobils eingehandelt habe.

Das alles bringt den Reisebericht nicht voran, also beginne ich dort, wo für uns die eigentliche Reise begann. Uns – das sind Bille und ich, unsere 4 kleinen, plüschigen, welterfahrenen Reisemaskottchen und Merlin, unser VW- T5 Wohnmobil.

Also für uns beginnt die eigentliche Reise am Grenzübergang Kolbaskowo in Polen. Doch ein Grenzübergang ist in der EU ja keine Rede mehr wert. Noch. Denn es gibt ja offenbar genug Bürger, die sich nach kilometerlangen Warteschlangen, schnüffelnden Drogenhunden und übelgelaunten Zöllnern zurücksehnen. Warten wir's ab.

 

Wenn ich dieses Kapitel etwas boshaft mit 'Vergesst Polen' überschrieben habe, hat dieser Grenzübergang nichts damit zu tun, sondern mit dem Eindruck, dass Polen offenbar komplett aus Baustellen besteht. Kilometer um Kilometer um Stettin (Szczecin) herum und dann weiter… Baustelle, Baustelle, Baustelle. Stau, Schritt-Tempo, Ampel, Stopp. Baustelle, Baustelle, Baustelle. Eigentlich wollen wir bei Kolberg auf die Ostsee treffen, und die Stadt anschauen, dann am Meer entlang weitertuckern, aber die Anfahrt haben die Polen so im Baustellengewirr versteckt, dass es uns nicht gelingt. Unsere Navi-Tante Greta ist schon seit längerer Zeit ausgestiegen und will uns irgendwohin schicken, was aber mit den Umleitungen und Sperrungen nicht harmoniert. Und es ist heiß. Verdammt heiß. Früher einmal hielt ich Klimaanlagen für überflüssig, gibt's ja schließlich beim Motorrad auch nicht. Aber jetzt sind wir froh darüber, und bei 33° Außentemperatur wird das auch so bleiben. Wir haken Kolberg als unerledigt ab und fahren weiter Richtung Słupsk. Die Baustellen hören auf und enge Alleestrassen mit Schlaglöchern folgen. Flickenteppich ist eine Beschreibung, die zu kurz greift. Alleen sind schön, aber der Reiseschnitt sinkt gewaltig. Endlich finden wir in Ustka den Campingplatz Morski neben einer Kirche. Es ist ruhig, alles passt, wenig los, aber zu Fuß bis zur See ist es zu weit. Und ich bin zu müde, zu genervt und zu faul, um unsere Räder zu aktivieren. Polnisches Bier hilft, den Fahrstress abzubauen. Polnisches Bier? Von wegen. Leider ist unsere Kühlbox noch voll mit Lidl-Bier in Plastikflaschen. Muss weg. Schande über uns, aber wiegt halt weniger. Polnisches Meer? Auch Fehlanzeige.

Am nächsten Tag geht's weiter. Wir wollen auf die Halbinsel Hel. Ein Traumziel, wie uns eine Bekannte vorgeschwärmt hat. Kilometerlange Sandstrände, Radwege direkt am Meer entlang, im Süden die Zatoka Pucka, was auch immer das heißen mag – Wiki sagt Putziger Wiek, das macht mich aber nicht schlauer, jedenfalls ein Teil der Danziger Bucht und ganz super jedenfalls. Einen Campingplatz haben wir uns aus dem ADAC-Führer schon rausgesucht, also nichts wie los und schnell dorthin – endlich ans Meer.

Von wegen schnell. Das ist ein Wort, das man gleich streichen sollte. Holterdiepolter trifft es schon eher. Warum ist der schlechteste Randstreifen immer auf unserer Seite? Hallo, ihr Polen, warum? Polen ist eine Baustelle, habe ich anfangs geschrieben. Hier nicht. Vergesst Polen!

Die Landschaft ist schön, grün, hügelig, mit tollen Ausblicken über Felder, Wiesen und …

Jaja. Ich kenne es nur vom Hörensagen meiner Beifahrerin. Die tiefen Ausrisse des Fahrbahnrandes, die eimergroßen Schlaglöcher und entgegen kommende LKWs erfordern alle Aufmerksamkeit. Jeder kleine Lenkerverriss würde unweigerlich an einem der dicken Alleebäume enden. Aber ich ahne, dass dort hinter den Hügeln, nicht mehr weit weg, die Ostsee wartet. Ich kann sie riechen, Klimaanlage hin oder her.

Nicht mehr weit weg? Äh, na ja. Zuerst kommt unsere Fahrt an der Stadtgrenze von Wladyslawowo zum totalen Stillstand. Stau. Rien ne va plus.

Władysławowo ist das Eingangstor zur Halbinsel Hel, unser ersehntes Etappenziel. Wir müssen durch die Stadt bis nach Chałupy, wo sich der Campground befindet, den wir uns ausgesucht haben. Also Geduld. Wagenlänge um Wagenlänge schiebt sich die Karawane durch das mit Touristen vollgestopfte Kaff. Erst lange nach der Stadtgrenze wird es etwas flüssiger, aber immer noch laufen und fahren zahllose Urlauber auf den Wegen neben der Straße, schleppen grandiose Picknickkörbe, gewaltige rosafarbene Schwimmflamingos und Liegewiesen mit sich, obwohl es schon Nachmittag ist.

Endlich: Chalupy. Oder Rimini? Aus den Augenwinkeln heraus sehe ich mehrere Campingplätze neben der Straße. Über die Zäune hinweg drohen die weißen Dächer von zahllosen Campingdampfern Seite an Seite. Sieht nicht gut aus. Gar nicht gut. Und unser Platz? Keine Ahnung. Greta hat schon vor einiger Zeit freudig verkündet:

"Sie haben Ihr Ziel erreicht!"

 

Ich muss mal. Schon lange. Endlich ein kleiner Parkplatz, auf dem mehrere Transporterruinen ihren Ruhestand genießen. Ich eile durch die kratzige Hecke und werde fast von Radlern überfahren, die auf der dahinter liegenden Bicycle-Bahn dahin brettern. Noch ein paar Büsche weiter – Erleichterung! Und auch das Meer kann ich endlich sehen! Beim Pinkeln! Hallelujah! Es ist zwar nicht die Ostsee, sondern nur das Putzige Wiek – die See liegt irgendwo hinter dem Bahndamm und dem Waldstreifen im Norden – aber egal! Wasser! Doch bleiben können wir hier nicht – übernachten verboten. Also weiter, ganz ans Ende dieser Halbinsel, direkt in das Städtchen, das so heißt, wie die Insel: Hel. Hier soll es auch einen Stellplatz geben, nicht besonders gut bewertet, aber wenigstens ein Platz.

Habe ich vorhin Rimini erwähnt? Ich habe diese Stadt immer gemieden und deshalb nur ein gewisses Vorurteil, das ihr vielleicht Unrecht tut. Aber eines ist ganz sicher: Hel ist schlimmer. Ein Touristenrummel ohnegleichen, ich bekomme die Krise.

Wir finden den Platz, indem wir blind den Schildern vertrauen. Einfach so mit dem VW-Bus im Kriechtempo durch eine dichte urlaubs- und feierwütige Menschenmenge zu dieseln, vorbei an gefühlten hundert Ramsch- und Imbissständen, hätte ich sonst nicht gewagt. Aber den Platz gibt's tatsächlich. Ist das wirklich ein Campingplatz, oder wenigstens ein Stellplatz?

Ich sehe eine Rezeption – oder ist das das Büro eines Autohändlers? Jedenfalls stehen die Wohnmobile so dicht nebeneinander, dass es für einen Verkaufsplatz geschäftsschädigend wäre. Wer kauft ein Fahrzeug, um das man nicht einmal herumlaufen kann, weil die Durchgänge mit Campingstühlen vollgestellt sind?

Wir sind uns einig und steigen nicht einmal aus. Ich wende praktisch auf der Stelle. Nichts wie weg. Traumziel Hel ade! Vergesst Hel! Vergesst Polen!

 

Dasselbe Stop-and-go zurück, durch Władisławowo und nach Süden. Danzig wäre unser nächstes Ziel gewesen nach einem erholsamen Aufenthalt am Ostseestrand, aber jetzt ist es unser Fluchtort.

Gdańsk ist eine Großstadt, und das merkt man gleich am Verkehr, auch wenn uns das Navi auf einem Freeway herumleitet. Und nach einigen Kurskorrekturen, die uns unsere gute Navi-Seele Greta im Gegensatz zu mir mit stoischer Ruhe verordnet, finden wir den Campingplatz Stogi im Osten der Stadt. Es gibt eine Straßenbahn mit der Nummer 8, die … Ich merke, wie beim Tippen des Wortes Straßenbahn mein Blutdruck steigt. Doch davon später.

Der Platz liegt in der Nähe der Ostsee, ist zu Fuß erreichbar. Theoretisch. Der Platz ist auch ziemlich voll, doch das sind Plätze in City-Nähe immer. Aber man hat zumindest den Eindruck, in einem hügeligen Wald zu sein. Eine Rezeptionsangestellte teilt uns einen Platz zwischen Rezeption und Kneipe zu, und das ist perfekt, weil er eben ist und eben neben der Kneipe. Aber Kneipe ist schon übertrieben, eher Kiosk. Man bekommt Eismann Convenience Food, worüber Gourmetfreaks nicht einmal die Nase rümpfen würden, aber für uns ist das okay. Und – sorry, liebe Weintrinker – es gibt mehrere saugute einheimische Biersorten, kalt, direkt vom Zapfhahn. Tische stehen unter Sonnenschirmen und Bäumen wunderbar im Schatten; auch wenn es keine Kastanien sind, kommt sofort Biergartenfeeling auf. Und diesem Feeling verfallen wir natürlich, nachdem wir uns an den Strom angestöpselt haben (bei 33° ist die Kühlbox kein Luxus mehr) und was man eben gleich nach der Ankunft an Notwendigkeiten zu verrichten hat.

 

Am nächsten Tag steht die Besichtigung der Stadt auf dem Plan. Wir kaufen je zwei Tickets für die … Straßenbahn (mein Blutdruck!), rein und wieder raus zum Campingplatz, alles prima. Am 'Hohen Tor' schließen wir uns einer kostenlosen(!) englischsprachigen Stadtführung an (gibt's auch in deutsch, aber zu einer für uns unpassenden Zeit).

Die junge Frau, die die Führung leitet, ist wirklich klasse! Sie führt uns kreuz und quer durch die Stadt, auch an Stellen, die wir auf eigene Faust nie gesucht, geschweige denn gefunden hätten, freundlich und engagiert. Die Tour endet schließlich im Hinterhof des Hauptpostamtes, einem besinnlichen oder eher bedrückenden Ort. Hier wurden die 38 Polen, die sich gegen den brutalen Angriff der SS-Heimwehr auf das Hauptpostamt mehr als 14 Stunden lang zur Wehr gesetzt und überlebt hatten, nach einem 'Kriegsgerichtsurteil' erschossen.

Mit diesem völkerrechtswidrigen Angriff und dem gleichzeitigen Beschuss der Westerplatte (wo gerade unser Wohnmobil steht) durch das deutsche Kriegsschiff Schleswig-Holstein begann der Zweite Weltkrieg.

Die an dem Justizmord beteiligten Juristen Kurt Bode und Hans-Werner Giesecke machten übrigens in der späteren Bundesrepublik erneut Karriere.

Mit einem zwiespältigen Gefühl verabschieden wir uns von der jungen Führerin (Führerin! Wie sich das in diesem Kontext anhört!), die uns ohne Vorurteile und sehr engagiert durch ihre Stadt geleitet hat.

Wir schlendern allein noch weiter durch die engen, malerischen Gassen der Altstadt, besteigen den Turm der riesigen gotischen Marienkirche, von wo aus man einen tollen Blick über die Stadt hat, denken an den Blechtrommler Oskar Matzerath, für den die Danziger eine Statue errichtet haben und machen uns gegen Abend auf den Rückweg.

Die Endhaltestelle der Straßenbahn Nr. 8 liegt gleich beim Campingplatz, dahinter ist nur der Strand. Den wollen wir noch besuchen. Wir stempeln ordnungsgemäß unsere Tickets ab und los geht die Fahrt. Doch an der vorletzten Haltestelle biegt die Bahn in eine Wendeschleife ein, und alle Fahrgäste steigen aus. Kein Problem, warten wir halt auf die nächste Nr.8, die weiter bis zum Campingplatz fährt. Die Tram kommt, und wir steigen ein. Böser Fehler! Denn kaum sitzen wir, kommt eine junge … na ja, Frau, zeigt einen Ausweis und will unsere Fahrkarten sehen. Warum auch nicht? Sie wirft einen Blick darauf und erklärt uns dann, dass wir pro Person 140 Złoty wegen Schwarzfahrens zu bezahlen hätten. Ich bin fassungslos, erkläre, dass wir mit der Nr. 8 in die Stadt hineingefahren wären und wieder mit der Nr. 8 heraus, etc. Sie bleibt stur, ein herbei gekommener Kollege erklärt uns:

"You changed the train!", und zuckt bedauernd die Schultern. Dann versucht er uns mit der Erklärung zu trösten, dass wir mit dem Strafzettel den ganzen nächsten Tag alle Verkehrsmittel kostenlos benutzen dürften. Na prima. Morgen sind wir weg. Sein bedauerndes Schulterzucken nehme ich ihm sogar ab und bin sicher, dass er ein Auge zugedrückt hätte. Seine Kollegin nicht. Ich glaube dagegen, dass die uns beim Einsteigen beobachtet hat und dass ihr hier Touristen regelmäßig an den Haken gehen. Ich bin nicht frauenfeindlich, aber mit Politessen habe ich immer diese Erfahrung gemacht. Keine Gnade. Auch bei uns zuhause. 140 Złoty sind nicht viel, etwa 33 Euro – kostet bei uns das Doppelte, aber es geht mir ums Prinzip. Vergesst Polen! Grummel.

Den Strand haken wir ab, und wir löschen unseren Ärger mir ein paar Tyskie-Piwo, gehen durch den Kiefernwald der Westerplatte spazieren und besichtigen noch den neben unserem Campingplatz gelegenen Stellplatz. Nicht zu empfehlen. Die reichlich triste Halle, in der man was essen könnte, hat im Gegensatz zu unserem Biergarten VEB-Flair, ist dunkel, die Speisekarte unverständlich, und logischerweise sitzt hier kaum jemand. Auch die Stellplätze sind eng und nicht einladend. Wir gehen zurück zum City-Camp Stogi und verbringen nach einer wohltuenden Dusche eine ruhige Nacht.

 

Anderntags führt uns Greta problemlos aus der Stadt, wir fahren nach Südost. Unser Tagesziel ist nur etwa 50 km entfernt, und ich wollte schon immer mal dorthin: Die Marienburg. Geschichtsträchtig bis zum Abwinken. Sie war der Hauptsitz des Deutschen Ordens, eine der pseudo-religiösen Organisationen des Mittelalters, die weniger mit Gott, aber dafür umso mehr mit Geld und Macht am Hut hatten. Und davon hatten die Ordensritter genug, ähnlich wie ihre Verbündeten, die Schwertbrüder von Livland. Erzbischöfe bauten ihre Burgen und Festungen, ließen die Ureinwohner mit Feuer und Schwert zum wahren Glauben … Ach ja, wie halt überall auf der Welt. Bis Hanse-Kaufleute, die wenigstens keinen Zweifel daran ließen, dass ihr Gott Mammon ist, und Bürger der Städte die gnadenlose Unterdrückung der Frömmler satt hatten, ihrem gnadenlosen Treiben ein Ende setzten. Viel Besseres kam nicht nach, wie die Geschichte zeigt. Stalin und Hitler handelten auch nach dem Prinzip: Vergesst Polen!

 

Der Campingplatz in Malbork, wie Marienburg auf Polnisch heißt, ist soweit ganz in Ordnung, grüner Rasen, die sanitären Anlagen sind blitzsauber, der Platz nicht überlaufen, und ein kleiner See lädt ein, ihn in einem kurzen Spaziergang zu umrunden, wenn auch nicht zum Baden.

Nachteil Nr. 1 ist temporär: Ein übereifriger Pole mit Motorsense ruht nicht eher, als bis er das gesamte Ufer und einen malerischen kleinen Hügel von 'Wildwuchs' befreit hat. (Da stellt sich bei mir immer die Frage, warum die Hausmeisterheere weltweit ihre Laubblaskanonen und Motorsensen handhaben, wie früher Halbstarke ihre Mopeds an der Ampel: Gas, Gas weg, Gas, Gas weg. Remm Remm Remm…)

Nachteil Nr. 2: Lärm von der Straße im Süden und von der Bahnlinie im Norden.

Aber ein großer Vorteil hebt das auf: Die Marienburg liegt in Sichtweite. Gleich neben dem Campingplatz führt eine Fußgängerbrücke über die Nogat, ein Mündungsarm der Weichsel, direkt zu den gewaltigen Festungsmauern des 'Castle of the Teutonic'.

Was soll man über die Burg sagen? Sie ist einfach gewaltig und beeindruckend. Man kann die Macht und den Atem der Geschichte förmlich spüren, auch wenn die knipsenden Touristenhorden, die auf der anderen Seite mit einer Bus-Armada herangekarrt werden, etwas ablenken. Ja, ja, wir gehören auch dazu, sind auch Touristen und Knipser. Von der Burg mache ich wie immer viel zu viele Bilder – der Fluch der Digitalfotografie – und die Frage, welche davon behalten, welche löschen, wird mich nach der Reise wieder extrem nerven.

Ein Audio-Guide erklärt alles sehr gut, und ich bin überrascht, wie exakt er den Standort des jeweiligen Klienten ermittelt und seine Beiträge entsprechend anpasst. Die zahllosen Räumlichkeiten sind gefüllt mit allen möglichen Exponaten, von den abartigsten Waffen über Schmuckstücke, die von den Trägerinnen veritable Halsmuskulaturen abverlangt haben müssen bis hin zu allem, was Leute kaufen, wenn sie überhaupt nicht mehr wissen, wohin mit dem Geld. Das war bei den religiösen Raubrittern damals nicht anders als heute.

Nach der spannenden, aber ermüdenden Besichtigung lassen wir nach vier Stunden unsere Eindrücke bei ein paar Bieren und einer riesigen Bratwurst mit in reichlich Fett gebratenen Kartoffeln (der Pole mag's deftig) in einer Gartenwirtschaft auf der anderen Fluss-Seite nachwirken – mit direktem Blick auf die Burg. Sie wurde nie erobert, auch als das umliegende Land schon von den Ordensrittern befreit war, und sich die Bevölkerung, wie immer, dem Joch einer anderen Macht unterwerfen musste.

 

Auch wenn unser Reisethema 'Rund um die Ostsee lautet', führt uns der nächste Tag weiter ins Landesinnere, durch verschlafene Dörfer, an stillen Kirchen und morbiden Friedhöfen vorbei, über Hügel hinweg und entlang der Ufer kleiner, verwunschener Seen. Ein stilles, unaufgeregtes Land. Und "Vergesst Polen" gilt hier nicht für Störche. In einem winzigen Dorf sehen auf einem Blick etwa 15 Nester, gefüllt mit hungrigen Jungstörchen. Und auf der Strasse massenhaft platt gefahrenes Storchenfutter. Frösche. Die finden die 'Überstorchung' sicher nicht gut, aber wer fragt schon einen Frosch.

 

Im Fernsehen gab es mal einen sehr interessanten Bericht über den Oberländischen Kanal (Kanał Elbląski) in Masuren. Der ist jetzt unser nächstes Ziel. Über verwinkelte Sträßchen und nach einigen Irrwegen mangels exakter Adresse erreichen wir die letzte Station dieses Wasserweges, der auf 82 Kilometern Osterode ( Ostróda) im Landesinneren über Elblag mit dem Frischen Haff verbindet.

Dabei überwinden die Schiffe auf Schienenwagen fünf sogenannte Rollberge und insgesamt 104 Höhenmeter. Ein Meisterwerk der Technik aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, erbaut unter der Leitung von Georg Steenke aus Königsberg. Völlig autark, ohne Energieverbrauch, nur durch die Kraft des Wassers betrieben, funktioniert die Technik bis heute bestens.

Wir parken im Wald an der Zufahrtsstrasse zur letzten Station und wollen uns eigentlich nur kurz anschauen, wie das Ganze funktioniert. Sofort werden wir in gutem Deutsch von einem etwa 50jährigen Mann in einer Pseudouniform angesprochen, der uns eine Fahrt mit dem Ausflugsschiff empfiehlt.

Wir schauen uns die Anlage erst einmal an und kommen dann mit dem Uniformierten ins Geschäft – auch, weil er so sympathisch ist. Wir haben in Indien, Ägypten oder sonst wo auf der Welt genug lästige Verkäufer erlebt, die extrem nervig waren. (Ein Tipp: Machen Sie auf der VHS einen Griechischkurs und antworten der Klette auf die Frage:

"Woher kommen, deutsch, english? Gutter Mann, come and see my little shop! Only looking…" etc. einfach mit:

"Δεν καταλαβαίνω τίποτα. Είμαι από την Ελλάδα", was in etwa bedeutet: "Keine Ahnung, was du an mich hinlaberst, sprich gefälligst Griechisch mit mir!" Na ja, etwas freundlicher natürlich, denn es könnte ja der unwahrscheinliche Fall eintreten, dass der Typ wirklich Griechisch spricht (was uns aber noch nirgends passiert ist, es hatte immer durchschlagende Wirkung. Nur bei einer Reise durch Griechenland ist dieser Satz natürlich kontraproduktiv).

Aber der Pole hat solche Behandlung nicht verdient, weil er nett ist und nicht nervig.

Jetzt muss es schnell gehen, denn: "Das Schiff wartet nicht!"

Wir steigen in sein Auto und rasen los, als gerade sein Sohn entgegen kommt. Schneller Fahrerwechsel, der Vater kontaktiert via Handy den Bootskapitän, während wir in forcierter Fahrt zum Rollberg Nummer vier sausen.

Ja, das Schiff wartet doch, wir klettern die Leiter hoch, und los geht's.

Es gibt eine Bootstour von Elbląg aus, die elfeinhalb Stunden dauert. Erst Kanalfahrt und über Seen, dann fünf Rollberge hoch und mit dem Bus zurück. Dafür hätten wir keine Zeit gehabt. Aber das Besondere an diesem Kanal erleben wir auch auf dieser kurzen Endstrecke.

Das Ausflugsboot wartet auf das 'Grün' des Aufzugswärters, dann fährt es langsam auf einen Steg zu, der im Wasser zu stehen scheint und macht dort fest. Aber der Steg ist keiner, sondern beginnt sich zu bewegen. Er ist der oberste Teil einer Art Eisenbahnwaggons, dessen Fahrwerk in seichteres Wasser gezogen wird, bis das Schiff aufsitzt. Langsam kommt das Trägersystem aus dem Wasser und wird – mit dem Schiff huckepack – den Berg hochgezogen. Auf dem Gegengleis kommt uns das Gegenstück entgegen. Einfach genial! Wie kommt man auf so eine Idee? Oben angekommen geht es wieder etwas abwärts, bis das Schiff frei schwimmt. Es macht vom fahrbaren 'Steg' los und tuckert den Kanal weiter bis zum nächsten und letzten Rollberg. Ab da geht es heutzutage nur noch per Kajak weiter.

Die kurze Tour war wirklich interessant, aber wenn ich mir die 11,5 Stunden der Gesamtstrecke vorstelle und 5 Rollberge hintereinander, dann verstehe ich, dass die Passagiere, zu denen wir zugestiegen sind, schon etwas gelangweilt dreinblickten.

Bei der Fahrt sehen wir eine große Waldlichtung, auf der zwei Wohnwagen stehen. Das muss der Platz sein, den ich auf Google Earth gefunden hatte, mir aber etwas zweifelhaft erschienen war. Aber nach der ursprünglich nicht geplanten Fahrt mit dem Schiff ist es schon zu spät, um noch weiter zu fahren. Wir beschließen, hier zu übernachten. Ein guter Plan, wie sich herausstellt.

Eine ältere Frau, die in einem der Wohnwagen haust, den wir beim Hochkriechen unseres Schiffes auf den letzten Rollenberg gesehen haben, kassiert 50 Złoty, läuft dann den ganzen langen Weg vor unserem Bus her, zeigt auf Grillplätze, großzügig überdachte Sitzgelegenheiten, Stromanschlüsse. Und auch auf ein Toi-Toi-Klo und einen Waschplatz unter freiem Himmel, der eher an eine Viehtränke erinnert. Aber für unsere Zwecke völlig ausreichend, zumal der nächste und vorerst einzige Gast des Platzes seinen Wohnwagen etwa 500 Meter entfernt am Eingang geparkt hat.

Wir stellen Merlin unter einer uralten Eiche mit Blick auf die Transportroute des Schiffaufzugs ab und genießen die absolute Ruhe der Waldlandschaft.

Gegen Abend kommt eine Radler-Familie an und schlägt ihr Zelt in der Nähe von uns neben einem der überdachten Sitzgruppen auf. Mama, Papa, zwei Jungs, alle drahtig, sportlich, zupackend. Sollte man auch sein, wenn man mit Fahrrädern durch Polen reist. Denn eigentlich geht es nur auf den normalen Straßen, Radwege enden oft im Nirwana oder im Sand, wie uns später ein pensionierter und passionierter Radfahrer, der schon 5 Monate unterwegs war, erzählt.

Radler: Vergesst Polen!

Respekt also für die Familie! Dennoch habe ich einen komischen Eindruck. Mama marschiert sofort nach Zeltaufbau direkt an uns vorbei Richtung Toi-Toi und würdigt uns keines Blickes. Dann zieht sie sich splitternackt aus und wäscht sich an der Viehtränke, während Papa etwas auf dem Gaskocher zubereitet. Danach macht Mama eine halbe Stunde Tai-Chi oder so etwas Ähnliches, während die Jungs sich ungewöhnlich mustergültig ruhig verhalten. Dann marschiert Papa im Stechschritt mit verbissenem Gesicht an uns vorbei, als wären wir Luft, spült an der Viehtränke ab und wieder zurück zum Zelt. Seltsam. Ich muss unwillkürlich an Kraft-durch-Freude-Lager denken. Zäh wie Leder, hart wie Krupp-Stahl etc. Aber vielleicht liegt das daran, dass wir morgen unser nächstes Ziel ansteuern wollen. Die Wolfsschanze.

 

Wenn man die Durchfahrt durch die russische Enklave Kaliningrad wegen der langwierigen Formalitäten scheut und den Weg um sie herum wählt, kommt man in die Nähe des Führerhauptquartiers Wolfsschanze. Man bezahlt Parkgebühr und Eintritt in die 250 ha große Bunkeranlage, und für die doppelten Parkkosten kann man auch auf dem integrierten Campingplatz gleich neben den Nazi-Ruinen übernachten und die Sanitäranlagen des Hotels nebenan benutzen.

Es ist für uns Deutsche ein verdammt seltsames Gefühl, auch wenn die Polen zu Recht mit den Resten des 1000jährigen Reichs Geld verdienen. 200.000 Touristen kommen jährlich hierher. Aber dass auch zwielichtige Gestalten hier campieren, die in VW-Kübelwagen und umgebauten Bundeswehrlastern ankommen, in Tarnklamotten ums Lagerfeuer im Schatten von Görings Bunker herumsitzen, das würde ich als Pole verhindern. Jedenfalls sehen diese Typen und ihre Frauen nicht so aus, als wollten sie aus der Geschichte etwas lernen. Aber was weiß ich schon, wie die Polen ticken. Im Baltikum werden wir noch Neonazis sehen, die bei uns (hoffentlich) sofort verhaftet werden würden.

Welcher Wahnsinn muss hier versammelt gewesen sein, welche aberwitzige Ideologie hat diesen Irrsinn aus Stahl und Beton erschaffen, eine Ideologie, die bis zu 80 Millionen Menschen das Leben gekostet hat? Der Wahn eines kleinen Österreichers und seiner gnadenlosen Gefolgschaft, getragen von einem Volk, das nicht in der Lage oder Willens war, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Oder einfach der Menschlichkeit.

Wir wandern ziemlich wortkarg durch das Gelände, klettern über die meterdicken Mauern der Unterkünfte, Bunker, Wohnhäuser und Lager, lauschen hier und da den manchmal sehr betagten polnischen Führern (sorry, hier verbietet sich das Wort eigentlich wieder einmal), die ihren Gästen vom rostfreien Stahl, von bewachsenen Fassaden und Tarnanstrichen berichten und durch die gewaltigen Reste des Führerbunkers führen?, verdammt, schleusen!, und fragen uns, was sie dabei fühlen und denken.

An der Bodenplatte der Lagebesprechungsbaracke, in der das Attentat des Grafen Stauffenberg auf Adolf Hitler misslungen ist, steht ein Denkmal in Form eines zerfledderten Buches. Vielleicht ist das die richtige Metapher. Ein zerfleddertes Buch der Geschichte.

Ja, der Herr Graf. In meiner Schulzeit wurde mir von dem heldenhaften Widerstandskämpfer erzählt. Erst später wurde mir klar, dass der Herr und seine Motive sehr zwiespältig waren. Deutschland sollte den Krieg nicht verlieren, er sollte im Westen beendet werden, aber im Osten weiter gehen. Die Adeligen wollten ihre Latifundien im Osten behalten, mehrere Antisemiten und Kriegsverbrecher waren mit von der Partie, jeder wollte den Verrückten GröFaZ, den 'Größten Führer aller Zeiten' loswerden, aber nur aus eigenem Interesse. Weiter nach Osten, kämpfen, töten, besetzen, plündern und Erweiterung des Lebensraumes der arischen Rasse. Was für ein Bullshit. Über sechs Millionen ermordeter Juden, Sinti , Roma, Kommunisten oder anderen Widerständlern gingen den Herrschaften, mit Verlaub, an ihren adeligen Ärschen einfach vorbei. Die wahren Widerstandskämpfer waren etwa Georg Elsner, die Mitglieder der Weißen Rose, die KPD, die Rote Kapelle und andere, an die heute keiner mehr denkt.

Das Gebiet der Wolfsschanze liegt in einem Nationalpark, dessen Naturschönheit oft übersehen wird, und nur ein paar Autominuten entfernt haben die Polen einen Vergnügungspark gebaut. Vielleicht die bessere Art, mit dem Grauen der Geschichte umzugehen – ich weiß es nicht. Uns jedenfalls ist nicht nach Fun zumute, und wir sind froh, dass wir am nächsten Morgen die schauerliche Stätte verlassen und auf das nächste Ziel freuen können: auf Litauen und seine Hauptstadt Vilnius.

 

Polen. Warum habe ich das Kapitel überschrieben mit 'Vergesst Polen!'?

Alles Quatsch. Die Polen können nichts dafür, dass ich in Deutschland einen Baum angefahren habe. Und wenn ich darüber gemeckert habe, dass manche Strassen schlecht sind, darf ich nicht gleichzeitig über Baustellen maulen. Die Pflicht von Straßenbahnkontrolleuren ist es zu kontrollieren. Und nein, unser Auto wurde nicht gestohlen, und wir wurden nirgends betrogen, im Gegenteil. Die Campingplatzfrau am Oberländischen Kanal ist am nächsten Morgen zu uns gekommen und wollte uns unbedingt 10 Złoty zurückgeben, weil wir den Stromanschluss nicht benutzt haben. (Unser Kabel war einfach zu kurz).

In Bezug auf die Überschrift zitiere ich jetzt einmal meinen alten Lehrer, der nach einem Irrtum seinerseits oft genug gesagt hat:

"Ich nehme alles zurück, behaupte das Gegenteil und erkläre meine Handlungsweise für gemein."

Also, Leute, fahrt nach Polen, sagt "Dzień dobry" und genießt das schöne Land.

Obwohl wir nur einen winzigen Teil davon gesehen haben, bin ich davon überzeugt, dass es sich lohnt, das ganze Land zu bereisen. Aber genau deshalb bitte ich darum, nicht unseren Kardinalfehler nachzumachen. Ich warne eindrücklich: Fahrt nie! Während der Hochsaison an die polnische Ostsee, damit Ihr nie sagen müsst: Vergesst Polen!

In diesem Sinne, liebes Polen –

Do widzenia!

 

Und weiter geht die Reise im nächsten Kapitel durch die baltischen Staaten ….

Lest bitte weiter, wenn es Euch bisher gefallen hat!

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 24.09.2018

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