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Der Spiegel der Seele dieser ganzen verdammten Welt

 

 

 

Musik – was fällt mir auf Anhieb dazu ein? Nichts. Oder alles.

Musik ist etwas, das einen das ganze Leben über begleitet, von den Kinderliedern der Oma bis zu den Klängen der Totensänger bei der eigenen Beerdigung. In meiner Jugend musste ich als Ministrant den Altmännergesang dreier bräsiger Typen fast jeden Samstag ertragen und wünschte mir … Na ja. Heute kommt die Musik meistens vom Band, was auch gut so ist. Bei den Toten meiner Generation wird sehr oft 'Whish You Were Here' von Pink Floyd gespielt, was leicht nachvollziehbar ist. Wir werden von der Musik unserer Generation wenn nicht geprägt, so doch beeinflusst. Apropos Oma. Was für ein Geschmack hätte sich wohl bei mir entwickelt, wenn sich eine Oma um mich gekümmert und am Wickeltisch Opernarien gesungen oder atonale Musik von Schönberg gespielt hätte? Hätte, hätte …

 

Was ist überhaupt Musik?

Die alten Griechen verstanden darunter allgemein die Bildung von Gemüt und Geist im Gegensatz zur Gymnastik. Die Musen waren unter anderem die Göttinnen des Gesangs, ihre Kunst hieß μουσικα. Aber erst in der Nachklassik wurde das näher definiert über Rhythmus, Melodie, Harmonie, Instrumentation usw. Und das ist die Musik, die wir meinen. Aufgeschrieben in Notenform oder weitergegeben über Generationen durch Nachahmung oder Lehrmeister.

Aber was ist mit den Tieren? Ist das Gebrüll eines Löwen Musik? Kann Eselsgeschrei mit einer Arie verglichen werden? Und ist der Gesang der Wale wirklich ein Gesang?

Bei den Vögeln sind wir uns weitgehend einig. Eine Nachtigall hört sich schon sehr romantisch an, auch die Amsel, die ihr Abendlied vom Hausdach singt. Doch wie steht's mit Spatzen? Oder mit Tauben auf dem Balkon, die zu ihrem nervigen Gegurre auch noch alles vollsch…? Na ja. Doch das ist nichts gegen den Zilpzalp, den ich einen halben Sommer lang ertragen musste. Von 6:00 Uhr morgens bis zum Sonnenuntergang gab er sein nervtötendes ZilpZilpZilpZilp-Zalp ab, ein alles durchdringendes, wie bei einem Subwoofer nicht zu ortendes Geräusch, gegen das das Turbinengeheul beim Zahnarzt eine Haydn-Symphonie ist. Und die besondere Heimtücke dieses Biestes bestand darin, dass es zwischendurch kurz aufhörte, gerade so lange, dass ich Hoffnung schöpfte, um dann mit erhöhter Intensität wieder anzufangen. ZilpZilpZilpZilp-Zalp. Wenn ich gekonnt hätte, wäre das Monstrum von mir lebendig gerupft und über ganz kleiner Flamme geröstet worden. Ich bin wirklich ein Tierfreund, trage jede Spinne ins Freie, aber dieser Teufel … Schon beim Schreiben merke ich, wie mein Blutdruck steigt.

Okay, sagen wir mal, Tiere produzieren keine Musik, sondern Geräusche, die einem bestimmten Zweck dienen. Mal schön, mal weniger schön, aber immer zweckgebunden. Etwa um Weibchen anzulocken, vor Feinden zu warnen, um miteinander zu kommunizieren, Reviere abzustecken oder einfach nur um mich zu ärgern. Also zweckgebundene Musik.

Doch ist das bei den Menschen anders? Die schauerlichen Erinnyen brachten mit ihrem Gesang die Mörder des Ibykus vors Blutgericht, die Sirenen lockten mit ihren betörenden Stimmen Seeleute an, und die Loreley hat viel von ihnen gelernt.

Die Kirchenmusik vom Gregorianischen Choral bis zur deutschen Orgelkunst dient einem ähnlichen Zweck wie Filmmusik oder als funktionale Musik dem Kaufanreiz in der Werbung. Bei mir hat das aber oft einen gegenteiligen Effekt. Wenn ich, in Gedanken voll in einem technischen Projekt versunken, durch den Baumarkt gehe und mich plärrt dauernd eine Dudelmusik an, dann hat das eine ähnliche Wirkung, wie wenn mir Bobbele Beckers Ex-Frau eine Tapete empfiehlt. Ich kaufe nichts.

Musik dient auch sehr oft als politisches Ausdrucks- und Beeinflussungsmittel, als Werkzeug der Agitation. Hier zeigt sie oft ihre hässliche Seite. Die Nazis haben aus der Reihe ihrer zur Vernichtung vorgesehenen Opfer Musiker herausgeholt, die den Weg zur Gaskammer oder zur Vernichtungsarbeit musikalisch begleiten mussten. Eine Perfidie, die an Zynismus kaum zu überbieten ist. Unter Mao oder Stalin war's nicht anders.

Oder Marschmusik.

Ich will jetzt nicht so weit gehen wie Albert Einstein:

"Wenn einer mit Vergnügen zu einer Musik in Reih und Glied marschieren kann, dann hat er sein Gehirn nur aus Irrtum bekommen, da für ihn das Rückenmark schon völlig genügen würde."

Es ist schon ein Unterschied, ob beim Marschieren das Horst-Wessel-Lied gespielt wird, oder der Bayerische Defiliermarsch beim Einzug ins Oktoberfestzelt, aber prinzipiell hat er recht. Der Unterschied besteht bei politischen Liedern vor allem im Text. So ködern die rechtsradikalen Rockbands oder Rapper Menschen, die nicht genau zuhören. Oder gerade deshalb.

Ich persönlich bin ein Nach-68er. Ich fand die Beatles langweilig, die Stones schon besser, aber die ersten Schallplatten (das sind die runden schwarzen Dinger von der Größe einer Pizza, die beim Abspielen oft rauschen und knacken), die ich mir vom Mund abgespart habe, waren von Deep Purple, Pink Floyd, Jethro Tull, Grateful Dead und so weiter. Damals entstand aus und um diese Musik die letzte globale Jugendbewegung. Aber wie hat der Partner der Fernsehkommissarin Bella Block in 'Die Frau des Teppichlegers' so treffend gesagt?

"Was können wir von Woodstock lernen? Die Antwort lautet: nichts! Kultur als Gegenentwurf interessiert heute niemanden mehr, die Musik ist auch nur noch ein globales Werkzeug des Kapitalismus, das sie irgendwo runterladen. Jeder kämpft für sich allein."

Aber wir haben heute immer noch den Unterschied zwischen E- und U-Musik.

Ernste Musik. Puh. Es ist zuerst einmal Geschmackssache. In jungen Jahren habe ich wirklich versucht, mich da reinzuhören. Ich dachte, man kann, man muss sich daran gewöhnen. Ist ja schließlich Kulturgut. Und es muss einen Grund dafür geben (außer gesellschaftlicher Verpflichtung, Wichtigtuerei und Spezl-Wirtschaft), dass die Wagnerianer und die, die dafür gehalten werden wollen, sich das Theater in Bayreuth jedes Jahr antun. Ich gestehe, ich hab's nicht geschafft.

Ich kann den Falsettgesang der Bee Gees nicht leiden, aber wenn eine Operndiva zum Singen anfängt und ich beim besten Willen und Zuhören nicht erkennen kann, in welcher Sprache sie ihre Gesangsakrobatik darbietet, dann – ich bekenne es – sind mir die Gibb-Brothers deutlich lieber. Und ich stimme Rolando Villazón zu, der gesagt hat:

"Ich habe keine Angst vor der Stille. Die Oper hat Momente, in dem Stille die schönste Musik ist." Nun ja, ich würde diese Stille gerne sehr viel länger ausdehnen, als Villazón. Aber der ist ja schließlich Opernsänger.

Nehmt mir meinen Sarkasmus bitte nicht übel, liebe Leser, wie gesagt, es ist halt einfach Geschmackssache. Ich stehe auch dazu, wenn ich in dieser Hinsicht als Banause bezeichnet werde. Aber ich wehre mich ganz entschieden gegen die Arroganz der Leute, die 'ihre' Musik, 'ihre' E-Musik als einzig akzeptable Klangkunst darstellen.

Es stimmt schon, dass Mozart, Beethoven, Wagner & Co. zu ihrer Zeit Giganten der Musik waren. Stars. Aber das ist lange her. Ich bin überzeugt, dass Mozart, von den Toten auferstanden, völlig fassungslos wäre. Er könnte nicht verstehen, dass man seine Musik über zweihundert Jahre später noch immer spielen würde, ohne sie weiter entwickelt zu haben. Der 'Wolferl' wäre ein Hippie, ein Punk- oder Rockmusiker geworden. Er hätte erkannt, dass jeder Songschreiber einer Schülerband mehr kreatives Potential auslebt, als ein gutbezahlter Geiger eines Symphonieorchesters, der zum 500.000sten Mal das gleiche Stück aus dem 18. Jahrhundert herunterfiedelt. Musik von Toten für Alte, hat mal jemand ein wenig böse formuliert.

Wäre ja auch völlig egal. Jeder kann hören, was er will. Was mich aber nervt, ist die Arroganz, die herablassende Art, mit der die E-Fraktion der Unterhaltungsmusik (und das ist alles, was nicht E ist) gegenübersteht. Gut, es gibt Ausnahmen. Es gibt Orchester, die mit den Größen der Pop- und Rockmusik zusammen spielen. Es gab Gruppen wie Pink Mice, die den umgekehrten Weg beschritten, aber ein Opernsänger, der auch Rockballaden singt, wird noch immer als Skurrilität angesehen.

Es ist Geschmackssache. Und wenn ich mir die Verkaufszahlen von Roberto Blanko oder den Wildecker Herzilein-Sängern ansehe, wird mir schwummrig. Aber diese Schlagergrößen bekommen ihr Geld von ihren Fans, freiwillig und mit Freude. Jeder Profi in der U-Musik, ob Free-Jazzer, Rapper, Rock 'n Roller oder Blasmusiker muss seine Musik ans Publikum bringen, muss sich verkaufen, muss sein Ding machen.

Und die Profi-Symphoniker? Werden staatlich alimentiert. Musikpaläste werden errichtet, in denen Rammstein wohl nie auftreten darf und in die nur ein winziger Bruchteil der Bevölkerung gehen will, Stardirigenten aus der ganzen Welt werden zu Mondpreisen engagiert und das arme Berlin leistet sich gleich sechs Opern und Konzerthäuser für das Promi-, Geldadel- und Adabei-Publikum. Und wer bezahlt's? Der Steuerzahler. Und die kleinen Hinterhofbühnen und Clubs? Die bekommen nichts.

Berlin – arm, aber sexy. Na ja.

Man kann die Beatniks, eine Subkultur mit Symbolen wie Bebop, Modern Jazz und ständiger Beschäftigung mit Literatur nicht mit Orchestermusikern vergleichen. Aber warum eigentlich nicht?

Physikalisch betrachtet ist jede Art von Musik verwandt. Jaques Bureau (Zeitalter der Logik, 1973) hat geschrieben:

"Durch Betrachtungen über die Entropie der Musik kann man die Summe der vergangenen, gegenwärtigen und möglichen musikalischen Kombinationen berechnen, in deren Rahmen sich notwendigerweise die gesamte musikalische Zukunft abspielen wird."

Soll heißen: Lässt man einen Affen lange genug mit einem Synthesizer herumspielen, wird er irgendwann Schuberts Unvollendete klimpern oder eine Ballade von Metallica. Wahrscheinlichkeitsrechnung. Aber ich bin überzeugt davon, dass in naher Zukunft 'intelligente' Computerprogramme einen Großteil der zukünftigen Musik produzieren werden.

 

Doch das hat nichts mit dem zu tun, was Menschen unter Musik verstehen. Denn das Potatoe-Potatoe-Gehämmer eines Harley-Davidson-Motors, das für einen Biker die schönste Musik ist, wird dabei nicht herauskommen.

Nicht einmal religiöse Menschen sind sich einig. Extrem-Islamisten verdammen Musik als Teufelswerk, während Martin Luther Musik als beste Gottesgabe bezeichnet hat, die dem Satan sehr verhasst sei.

Und der chinesische Philosoph Lü Buwei (geb. 230 v. Chr.) meinte:

"Alle Musik wird geboren im Herzen der Menschen."

Stimmt. Leider auch die Nazi-Musik.

 

"Musik wird oft nicht schön gefunden, weil sie stets mit Geräusch verbunden" hat Wilhelm Busch gedichtet. Also alles mit Maß und Ziel, liebe Krimiserienregisseure, schraubt die Hintergrundmusik runter und gewöhnt euren Schauspielern das Nuscheln ab, und ihr, liebe Bumm-Bumm-Rapterroristen in euren tiefergelegten 3er BMWs, geht's bitte etwas leiser? Das gilt auch für dich und deine Ohrstöpsel, lieber Jogger auf dem Radweg. Lauter geht meine Klingel nicht!

Und ihr, liebe Leser, macht eure Musik, hört eure Musik, erfreut euch daran, egal, was es ist, aber denkt an euer Gehör und an den Nachbarn.

 

Jetzt ist es gleich Mitternacht, und mir fällt – warum auch immer – gerade Stephen King ein. Im Nachwort zu Revival hat er geschrieben:

"Seit 1992 versuche ich mich an 'In the Midnight Hour'. Das fängt mit einem E-Akkord an. Dieser ganze Scheiß fängt mit E an."

Was er damit wohl gemeint hat?

Sicher nicht die E-Musik, sondern den Blues als Spiegel der Seele dieser ganzen verdammten Welt!

 

 

 

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Impressum

Texte: BRieser.13218
Bildmaterialien: BR. unterVerwendung eines Bildes von Tommy Weiss / pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 19.02.2018

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