Der Ort, in dem ich aufgewachsen bin, ist ein kleines Städtchen im bayerischen Schwaben. Vor der Stadtmauer, auf der 'Kaiserwiese', machte in meiner Jugendzeit jedes Jahr ein kleiner Zirkus Station. Nicht immer derselbe, aber sie glichen sich sehr. Ein 'Chapiteau', wie das Hauptzelt mit seiner Arena früher hieß, wurde aufgebaut, mehrere kleine Zelte für die Tierschau errichtet und einige bunte Wagen auf Vollgummirädern zu einer Burg geparkt. Dort wohnten die Gaukler, Jongleure, Trapezkünstler, Clowns, Tierbändiger, Dressurreiter usw. Und die Zirkusdirektorenfamilie. Natürlich beherrschte jeder der Mitarbeiter mehrere Darbietungen, und beim Auf- und Abbau halfen alle zusammen. Nach etwa einer Woche wurde alles wieder auf Anhänger verladen, und von Traktoren – bei uns 'Bulldogs' genannt – zum nächsten Auftrittsort gezogen. Diese Orte waren nie Großstädte, weil dort schon damals die Unterhaltungskonkurrenz für die kleinen Zirkusse unüberwindbar war. Und mit den Bulldogs durch München bullern? Bis zur Theresienwiese? Undenkbar.
Als Kind stand ich dem Phänomen Zirkus zwiespältig gegenüber. Einerseits magisch angezogen, andererseits von einem gewissen unguten Gefühl gehemmt. Grund war meine Familie. Mein Opa erzählte jedes Mal, wenn wieder die Plakate in den Strassen hingen, dass man früher gerufen hatte: "Holt die Wäsche von den Leinen, verriegelt die Türen, der Zirkus kommt!" Sollte heißen, dass alles fahrende Volk Diebe und Halsabschneider waren. Dass er das nicht wirklich ernst meinte, sagte er mir nie. Und der zweite Grund war mein schwäbisch-sparsamer Vater. Der Zirkus kostete Eintritt, und wozu sollte man für so einen Unsinn Geld ausgeben? Aber die Neugier überwog, und so besorgte ich mir Geld, indem ich Nachbarn bei der Gartenarbeit half oder Pfarrbriefe austrug.
Anfangs hatte ich nur ein paar Pfennige, die aber für die Tierschau reichten. Ich habe dort zum ersten Mal ein Kamel gesehen, Lamas und dressierte Esel. Die grasten friedlich neben Cowboypferden und wussten offenbar genau, wann das Theater losging. Pünktlich versammelten sie sich am Gatter und warteten, bis die Vorstellung anfing. Damals hatte ich den Eindruck, dass sie sich darauf freuten.
Wir aufgeklärten Menschen kaufen Fleisch vom Discounter aus grauenhaften Massentierhaltungen, lassen zu, dass Afrikas Küsten und das Polarmeer leer gefischt werden, damit wir für unsere Gesundheit genug Omega-3-Fettsäuren bekommen. Am Wochenende gehen wir mit den Kindern in den Zoo und bestaunen Zebras, Gnus, Löwen und Elefanten in ihren 'natürlichen' Habitaten. Pferde müssen in Hofreitschulen auf den Hinterbeinen tanzen, oder werden bei der Olympiade über Hürden getrieben. Aber die Tierhaltung kleiner Zoos empört uns, auch wenn die EU 2005 festgestellt hat, dass Dressurdarbietungen mit Wildtieren und domestizierten Arten zum festen Bestandteil der Zirkusse gehört. Ich glaube, dass die Tiere dort oft besser behandelt werden, als der Mops meiner Nachbarin, der von ihr zu Tode gemästet wird. Was aber nicht heißen soll, dass man das nicht überwachen müsste – im Gegenteil. Vor allem bei den großen Unternehmen wie Ringling Bros. und Circus Krone wurden gravierende Tierquälereien festgestellt – aber nicht durch staatliche Kontrolleure, sondern durch Tierschutzorganisationen. Ein Skandal.
Natürlich ist der klassische Zirkus ein Auslaufmodell; nur die großen internationalen Unternehmen werden überleben. Und vielleicht sollte sich die Politik einmal Österreich anschauen. Dort sind Tierschauen in Zirkussen entgegen der EU-Meinung verboten. Massentierhaltung nicht.
Auch wenn die klassischen Zirkusse aussterben, wir haben ja jetzt schon Ersatz.
Napoleon hat 1807 festlegen lassen, dass das Aufführen von Raritäten oder Kuriositäten als Theater bezeichnet wird.
Wo wird der größte Zirkus Deutschlands aufgeführt, das absurdeste Theater veranstaltet? Richtig – im heutigen Circus Maximus, dem Bundestag. Hier wird niemand mehr von Löwen zerrissen, keiner muss mit dem Schwert gegen den anderen um sein Leben kämpfen, aber das Procedere ist ähnlich.
Die Abgeordneten sind die Gladiatoren, sie kämpfen gegeneinander und manchmal miteinander gegen andere, aber nicht mehr mit Kurzschwert, Dreizack, Netz oder Wurfspeer. Die Waffenliste der römischen Gladiatoren war lang, von Gladius bis Venabulum.
Heute ist sie noch länger. Absprache, Korruption, windige Deals, üble Nachrede, Intrige, Drohung, Gemauschel, Heuchelei, Lüge – endlos fast. Es gibt Opfer zuhauf wie in der alten Arena, nur verbluten die nicht mehr unter dem Beifall der begeisterten Masse, sondern enden oft als Vorstandsmitglied in der Wirtschaft. Die Sieger sind die, bei denen das Volk bei der nächsten Wahl den Daumen hebt, unterstützt von Facebook oder Bildzeitung, FAZ oder YouTube.
Dieser Zirkus stirbt nicht aus, im Gegenteil, die ganze Welt ist ein Zirkus geworden. Trump, Erdogan, Kim Jong-un heißen drei der heutigen Clowns. Ich konnte Clowns nie leiden, aber noch nie waren sie so gefährlich wie heute. 'ES' von Stephen King ist ein Kasperle dagegen. Diesen Zirkus sollten wir im Auge behalten und die kleinen mit ihren Chapiteaus, in denen Jongleure, Trapezartisten und Messerwerfer das Publikum unterhalten, als liebenswerte Alternative unterstützen. Das ist echte Show, Real Life, da kann man nicht einfach eine Nummer wegwischen oder umschalten. Aber man kann einfach gehen.
Das kann man beim Weltzirkus nicht.
Wenn wieder mal ein kleiner Zirkus in meiner Heimatstadt gastiert, fahre ich da hin. Und ich sehe auch nach, ob's den Tieren gut geht.
Und dabei denke ich an Ambrose Bierce, in dessen 'Wörterbuch des Teufels' folgendes zu lesen ist:
Zirkus, der: Ein Ort, an dem es Pferden, Ponys und
Elefanten erlaubt ist,
Männer, Frauen und Kindern zu sehen,
die sich gerade zum Narren machen.
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Texte: BRieser.121217
Bildmaterialien: Hartmut910-pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 12.12.2017
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