Wann meine Träume angefangen haben, weiß ich nicht mehr. Die Träume von einer Brücke. Es war kein gewaltiges, Kontinente verbindendes Bauwerk, keine Brücke, die Schluchten überspannt, Inseln miteinander verbindet, Stadtteile zueinander bringt.
Nein. Ich träumte von einer schlichten Holzbrücke, die einen Bach, einen Altwasserarm oder einen Bewässerungskanal überspannt. Nicht sehr alt, aber schon ziemlich bemoost und offenbar nicht häufig frequentiert. Eine Brücke aus der heutigen Zeit, aber wer sie gebaut hatte und zu welchem Zweck, blieb mir verborgen. Mal lag Schnee auf ihr, mal regnete es, mal war sie trocken. Doch nie sah ich einen Menschen, der sie benutzte.
Das Grundmuster des Traums war immer ähnlich. Ich ging auf die Brücke zu, wurde aber regelmäßig wach, bevor ich sie erreichte. Normalerweise vergisst man solche Traumgespinste sofort, aber bei mir prägte sich das Bild ein. Mir kam dieser Ort bekannt vor. Ich musste schon einmal dort gewesen sein. Aber wo das gewesen war, blieb in den dunklen Ecken des Gedächtnislabyrinths verborgen. Irgendeine Brücke. Doch warum träumte ich von ihr? Anfangs war mir das egal, bis sich der Traum veränderte. Das heißt, nicht der Traum veränderte sich, sondern meine Empfindung. Ich spürte plötzlich, wie ich zögerte, auf die Brücke zuzugehen. Furcht breitete sich in mir aus, mit jedem Mal mehr. Schließlich wachte ich immer schweißgebadet auf und konnte kaum wieder einschlafen. War ich im Begriff, verrückt zu werden?
Der Traum verwandelte sich zum Albtraum. Ich hörte eine Stimme, die mich rief. Wirklich mich? Ich weiß es nicht. Aber sie rief eindringlich, fordernd, befehlend, aggressiv:
"Komm endlich rüber! Nun mach schon! Du hast nichts zu befürchten! Lange warte ich nicht mehr!"
Ich schüttelte mich immer vor Grauen, bevor ich erwachte, aufstand und ein Valium schluckte. Johanniskraut half schon lange nicht mehr. Meine Panik wurde immer stärker, bis ich mich entschloss, professionelle Hilfe anzunehmen.
Es wurde ein Desaster.
Esoteriktanten versuchten, mich mit Klangschalen oder 'Biotensoren' zu therapieren. Kopfschmerzen waren die einzigen Ergebnisse. Homöopathen gaben mir erfolglos Zuckerkügelchen, Schüsslersalze oder Bachsche Notfalltropfen. Yoga brachte mich etwas zur Ruhe, aber Nadelpiekser machten das sofort wieder zunichte, und Traumdeuter, Fernheiler und Handleser zogen mir das Geld aus der Tasche.
Lange weigerte ich mich, zu einem Psychotherapeuten oder Psychiater zu gehen. Aber dann tat ich es doch, denn die Kontakte zu meinen Freunden drohten zu zerbrechen. Doch die Erfolge waren mäßig. Die Psychoanalyse beendete ich vorzeitig, weil ich befürchtete, dadurch völlig verrückt zu werden, und die Medikamente des Psychiaters destabilisierten meinen Gesundheitszustand völlig.
Ich brach alles ab. Für mich blieb nur ein Weg. Ich musste diese verdammte Brücke finden und – überschreiten. Auch auf die Gefahr hin, dass mich der Teufel holt. Denn nur der konnte es sein, der mich zu sich rief. Oder Gevatter Tod, Sensenmann, der Boandlkramer.
Bis dahin hatte ich solche Kindermärchen nicht geglaubt. Nicht an einen Gott, der allmächtig und allgütig ist, es aber nicht fertig bringt, seinen Widersacher, den er selbst erschaffen hat, zur Räson zu bringen. Einen, der mich holt und im Höllenfeuer schmoren lässt, weil ich seinen Verlockungen erlegen bin. Was für ein blödes Geschäftsmodell!, machte ich mich lustig. Die Kunden von der göttlichen Konkurrenz abzuwerben, um sie dann genau dafür zu bestrafen.
Aber dieser Traum war so real, und meine Versuche ihn zu verstehen, waren durch den ganzen Esoterikquatsch, das Schlafdefizit und die psychotropen Substanzen so vernebelt worden, dass ich offenbar nicht mehr richtig denken konnte. Kurz dachte ich sogar daran, eine Wallfahrt nach Wemding zu machen, um mir mit dem 'Gnadenwasser' der Muttergottes das Hirn reinzuwaschen. Aber dann gewann der Gedanke die Oberhand, dass die einzige Hilfe darin bestehen konnte, mich dem Grauen zu stellen. Ich war zu der Überzeugung gelangt, dass der Traum ein Hinweis meines Körpers war, dass er für meinen Geist nicht länger als Wohnstatt dienen könne, weil ihn eine tödliche Krankheit in kurzer Zeit zerstören werde. Dann würde ich die Brücke überschreiten müssen, die Brücke hinüber ins Reich der Toten, in die Anderswelt, ins Nirwana. Aber keine medizinische Untersuchung gab einen Hinweis auf eine körperliche Erkrankung.
Und so beschloss ich, endlich meine Überzeugung in die Tat umzusetzen. Ich musste die verfluchte Brücke finden. Eigentlich unrealistisch, denn sie war völlig unspektakulär, könnte überall stehen oder nirgendwo. Aber das erkannte ich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Ich konnte auch keine Freunde um Rat fragen, denn seit der Traum begonnen hatte, war ich ihnen aus dem Weg gegangen, weil ich überzeugt war, dass sie mich sowieso für schizoid halten würden.
Ich kündigte meinen Job und kam damit meinem Chef zuvor, für den ich inzwischen völlig untragbar geworden war, und begab mich auf die Suche. Irgendwo musste die Brücke stehen, ich musste sie irgendwann einmal gesehen haben, so klar und deutlich, wie sie mir in meinen Träumen erschien.
Zuerst fuhr ich in das Städtchen, in dem ich aufgewachsen war. Ich suchte all die Stätten meiner Erinnerungen auf, den Fluss, in dem wir als Kinder gebadet hatten, die Zuflussbäche und Weiher, in denen ich Molche und Kaulquappen gefangen hatte, den Kanal mit den inzwischen aufgegebenen Kornmühlen.
Als ich im Hotel 'Zu Sonne' am Marktplatz übernachtete, war der Traum noch immer da, aber nicht so bedrückend, nicht so intensiv, wie sonst. Andere Orte, an denen ich gelebt hatte, folgten. Innerhalb einer Woche klapperte ich sechs Städte ab, und dann erkannte ich ein Muster: Je weiter weg von meinem jetzigen Wohnort ich mich befand, desto weniger belastend, desto weniger stark war der Traum. Jetzt wusste ich, wo ich suchen musste. Es war wie ein Funkfeuer, wie ein Leuchtturm, nach dem sich Schiffe richten. Und dieser Leuchtturm war mein Wohnort, der Ort, an dem ich nun schon seit Jahren zuhause war.
Als ich wieder in meinem eigenen Bett lag und wieder schweißgebadet erwachte, war es eindeutig, wo ich suchen musste. Hier in der Nähe. Ich zermarterte mir das Hirn, während ich mir wieder und wieder die Brücke vorzustellen versuchte. Im Traum war sie ganz deutlich, aber im Wachzustand wurde sie wieder verschwommen, schwammig, nicht zu fassen. So, als wollte sie sich mir entziehen. Aber trotzdem wurde mir immer bewusster, wo sie sein könnte. Nicht in meinem Wohnort – da gab es nur drei Steinbrücken -, sondern in den Flußauen vor der kleinen Kreisstadt, nur wenige Kilometer von hier.
Ich kannte die Gegend von Radausflügen und Wanderungen zu den Biergärten der Umgebung und erinnerte mich, dass es dort viele Brücken gab, die über den mäandernden Fluss, seine Nebenarme und Altwasser führten, mitten in dunklen, einsamen Wäldern und sumpfigen Mooren. Ich ging gerne dort spazieren, konnte mich dort fast wie in Amazonien fühlen und wunderte mich oft, zu welchem Zweck manche dieser Brücken gebaut worden waren. Man traf dort kaum Menschen, obwohl die Stadtgrenze nicht weit war. Die Landschaft hatte etwas Magisches, Verwunschenes, Vergessenes. Wahrscheinlich wurden die Brücken nur gelegentlich benutzt um Wartungsarbeiten an den Wehren und Dämmen zu ermöglichen, die den Wasserpegel des kleinen Elektrizitätswerks am Stadtrand regelten.
Noch während ich aus dem Auto stieg und vom Parkplatz in den verwilderten Waldweg einbog, wusste ich, dass ich nicht lange würde suchen müssen. So, als hätte ein unsichtbarer Führer neben mir gesessen, der mich jetzt an der Hand nahm und dahin geleitete, wo mein Schicksal wartete.
Und – da war sie, meine Brücke. Bemoost, offensichtlich selten benutzt, führte sie über einen kleinen Kanal auf einen Inselstreifen. Ich hatte erwartet, gefürchtet, gebangt, dass ihr Anblick irgend etwas in mir zerbrechen oder zur Explosion bringen würde; ich hatte innerlich mit meinem Dasein schon lange abgeschlossen, hatte geglaubt, dass bei der realen Konfrontation mit dieser Albtraumbrücke alles vorbei wäre. Aber - da war … nichts. Nur eine alte Fußgängerbrücke über einen alten Kanal. Konnte das sein? Noch zögerte ich, aber dann betrat ich die moosigen Holzbretter, ging über das Wasser und fühlte noch immer nichts. Auf der Insel angekommen, sah ich mich zweifelnd um. Wie lange hatte dieser verfluchte Traum von dieser gottverdammten Brücke meinen Schlaf geraubt, meine Existenz verändert, mich zum Psychopathen gemacht? Und jetzt? Nichts, niente, nada, típota! Ich konnte es nicht fassen.
Lange stand ich da und grübelte über mich selbst nach, haderte mit meinem Schicksal, mit meinem Verstand, mit der Welt. Doch als ich mich schließlich aus meiner Verwirrung lösen konnte und mich auf den Rückweg machen wollte, wurde mein Blick zwanghaft von einer leichten Erhebung angezogen, die von Unkraut und niederem Buschwerk überwuchert war. Ich konnte nicht anders, ich musste untersuchen, was das war. Wie besessen riss ich die Sträucher aus der Erde, wühlte mit bloßen Händen im Unkraut und im Dreck, bis ich auf einige fast verrottete Holzstämme stieß. Mit aller Kraft zerrte ich sie zur Seite, grub weiter. Und dann: Knochen. Ich hielt inne, starrte auf meine blutenden Hände und dann wieder auf meinen Fund. Es gab keinen Zweifel. Ein kindlicher Schädel starrte mich aus mit Erde gefüllten Augenhöhlen an, ein kleiner, dünner Oberarmknochen, verrottete Kleidungsstücke. Ich taumelte zurück, übergab mich mehrfach und rannte über die Brücke zurück zum Auto. Wie ich die Polizeidienststelle erreichte, weiß ich nicht mehr.
*
Die forensische Untersuchung ergab, dass es sich um den Leichnam von Miriam S. handelte, 12 Jahre alt, vor acht Jahren von einem Moment auf den anderen spurlos verschwunden.
Seitdem habe ich nie wieder von der Brücke geträumt. Seitdem habe ich nie wieder die fordernde, aggressive Stimme des Mannes gehört: "Komm endlich rüber, ich tu dir nichts, los, komm, sonst …!"
Hat die Stimme mich gerufen, oder war ich es selbst, der gerufen hat? Ich weiß es nicht. Ich warte auf das psychiatrische Gutachten. Niemand glaubt mir. Angebliches Täterwissen.
Ich weiß nur eins: Die Untersuchungshaft kann ich nicht länger ertragen. Ich werde endlich über die Brücke gehen, über die andere Brücke.
Wer das liest, der möge sich selbst ein Urteil bilden. Vielleicht in seinen Träumen …
*****
Nachbemerkung
Es ist unfassbar, wie viele Kinder einfach verschwinden und nie wieder auftauchen.
Sehr oft nicht einmal ihre sterblichen Überreste. Der Albtraum aller Eltern.
Deddie Sassen, 8, vermisst seit dem 13. Februar 1996
Hilal Ercan, 10, vermisst seit dem 27. Januar 1999
Georgine Krüger, 14, vermisst seit dem 25. Sept. 2006
Inga Gehricke, 5, vermisst seit dem 2. Mai 2015
Aref Ismaili, 5, vermisst seit dem 4. April 2016
(Quelle: stern)
Ihnen und ihren Eltern ist diese Geschichte stellvertretend für all die zahllosen anderen Opfer gewidmet.
Texte: BRieser
Bildmaterialien: Unter Verwendung eines Bildes von Didi01/pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 11.06.2017
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