Alfred Dornbacher stand am Eingang im Schatten der Flügeltür und blickte in die Kantine hinein. Sie war wie immer zu dieser Uhrzeit noch leer, nur das Küchenpersonal war am Arbeiten. Töpfe wurden in die Auslage gestellt, aus der Küche drang geschäftiges Klappern und lautstarkes Geschimpfe des Chefkochs. Alles, wie immer. Nur in einer Ecke hatte man zwei Tische zusammengerückt, die Stühle beiseite geschoben und ein Tischtuch über die improvisierte Tafel gebreitet. Ein paar Gläser, ein Stapel Tellerchen und eine Platte mit Häppchen oder Fingerfood, wie das heutzutage hieß, drängten sich um zwei schon geöffnete Flaschen Sekt, als würden sie sich fürchten.
Alle Kollegen aus Dornbachers ehemaliger Abteilung waren schon da und blickten gelangweilt herum oder starrten auf ihre Smartphones. Vierzehn Leute waren es, vier Frauen und zehn Männer, alle jung, progressiv-dynamisch, mit Phantasie, aber sachlich. Dieser Textfetzen aus einem Lied von Franz Josef Degenhardt fiel ihm ein, als er die Trauergemeinde betrachtete. Und dann kam noch Kevin Haase dazu, der Abteilungsleiter, ein großartiger Dummschwätzer und eiskalter Intrigant. Haase nickte den Leuten zu, legte ein in Geschenkpapier gewickeltes Päckchen auf den Tisch und dazu ein DIN-A4-Kuvert, auf dem mit goldenen Klebebuchstaben die Zahl 40 prangte.
Dornbacher schüttelte den Kopf. Ein jämmerlicher Anblick. Er wusste ja, was in dem Päckchen war: eine vergoldete Armbanduhr, die im Internet für 25 Euro angeboten wurde. Und im Kuvert steckte eine Urkunde mit den besten Glückwünschen der Geschäftsführung für vierzigjährige Firmenzugehörigkeit. Der junge Schnösel würde ein paar scheinheilige Phrasen dreschen, die anderen kurz von ihren Handys aufblicken, um ihm, dem Jubilar, einen schlaffen, feuchten Händedruck zu spendieren, ihr Gläschen Asti Spumante kippen und schnell wieder hinter ihre Computer eilen, bevor der Mittagsbetrieb in der Kantine begann. Wie trostlos. Aber Alfred Dornbacher erwartete nichts anderes.
Er war das letzte Fossil der alten Firma. Mit achtzehn Jahren hatte er nach seiner Feinmechanikerlehre hier zu arbeiten begonnen. Der damalige Chef und Alleininhaber der Maschinenbaufirma förderte den jungen Mann persönlich, auch als der Betrieb wuchs und wuchs.
Alfred Dornbacher war schon immer ein Bastler und Tüftler gewesen. Deswegen war diese kleine Maschinenfabrik der reinste Glücksfall für ihn gewesen. Der Job war sehr interessant, und er durfte anfangs noch nach Feierabend in der Firma an seinen privaten Ideen arbeiten. Aber je mehr die Firma expandierte und dann marketingwirksam von Maschinenbaufabrik Matzeler in Matzeler Metal Industries – MMI umbenannt wurde, desto weniger gern wurde das gesehen. Kurz bevor der alte Chef dann die Firma Knall auf Fall verkaufte, gelang Alfred Dornbacher eine Sensation. Er hatte die Ansaugmechanik einer Exzenterpumpe so mit der Rotationswellensteuerung gekoppelt, dass das fertige Gerät für die Erdölförderung eine Sensation werden würde. Der Chef war begeistert, bezahlte alle Kosten für die Patentanmeldung, und Alfred Dornbacher hoffte auf eine gute Abfindung. Doch der Chef dachte nicht daran, das Patent zu übernehmen. Stattdessen legte er Dornbacher einen Vertrag vor, der eine Lohnerhöhung mit Inflationsausgleich vorsah, sowie eine Beschäftigungsgarantie für die gesamte Patentlaufzeit. Und für die Nutzung der Patentrechte bot er ihm noch ein hübsches Sümmchen.
Dornbacher war Techniker und kein Kaufmann. Er hatte keine Ahnung, wie er das Patent sonst hätte vermarkten sollen. Und er dachte, was gut für die Firma ist, ist auch gut für ihn. MMI – die Firma. Seine Firma. Alle, die seit zwanzig Jahren mit ihm zusammenarbeiteten, sahen das so. MMI war ihre Firma. Und deshalb unterschrieb er den Vertrag ohne zu zögern. Und dann sagte der Chef noch zu ihm:
"Pass auf, Alfred. Ich gebe dir noch einen Rat. Verkauf das Patent niemals, denn das erhält dir deinen Arbeitsplatz!"
Es war ein guter Rat, denn kurz darauf verkaufte der alte Chef die Firma. Aus familiären Gründen, wie gemunkelt wurde.
Die neue Besitzergruppe baute alles um. Werkhallen, Kundenbindungen, Produktpalette und – Personal. Es wurde gnadenlos verjüngt. Dann wurde der Betrieb weiterverkauft, und Investoren aus China bestimmten die Marschrichtung. Neue Steuerungssysteme wurden eingeführt, alles verlagerte sich ständig, und letztendlich war von der alten Belegschaft nur noch Alfred Dornbacher im Betrieb, umgeben von jungen, hungrigen, billigen, technikaffinen Bachelorabsolventen mit Zeitverträgen, die ein völlig anderes Technikbild hatten, als er. Sie sprachen nicht einmal dieselbe Sprache, sondern nur noch in kryptischen Abkürzungen, deren Bedeutung sich ständig änderte.
Doch das war Alfred Dornbacher ziemlich egal. Denn die ganzen Innovationen, die entwickelt und auf den Markt gebracht wurden, erwiesen sich als lahme Enten oder völlige Flops. Ein Produkt dagegen brachte der Firma noch immer den Hauptteil des Gewinns und sicherte einen treuen Kundenstamm: die geniale Exzenterpumpe von Alfred Dornbacher. Anfangs hatten die neuen Eigentümer versucht, ihm das Patent abzukaufen, aber es dann bleiben lassen. Es war ja egal, sie hatten das Nutzungsrecht, und Dornbachers Gehalt war es nicht wert, überhaupt darüber nachzudenken. Und Dornbacher war zufrieden damit, zumal er die Abfindung seines alten Chefs als Reserve gut angelegt hatte. Allerdings verdross ihn das schlechte Betriebsklima schon sehr. Die Belegschaft wechselte ständig. Jeder sägte am Stuhl des anderen, die Zwietracht war förmlich mit Händen zu fassen. Inzwischen war die Fertigung der Exzenterpumpe völlig automatisiert worden. Womit früher 200 Dreher, Feinmechaniker und Präzissionsschweißer ihr Geld verdient hatten, produzierten nun 24 KUKA-Roboter Tag und Nacht. KUKA Augsburg – auch so eine Firma, die sich aus Geldgier an die Chinesen verkauft hatte.
Alfred Dornbacher war nur noch ein altes Inventar, das mal hier, mal dort für gewisse Tätigkeiten eingesetzt wurde. Er war völlig allein. Nein, nicht völlig. Denn da war noch ein obsoletes Fossil in der Firma. Frau Weber. Als Dornbacher schon drei Jahre in der Firma arbeitete, hatte sie als Bürolehrling angefangen und war dann vom alten Chef als persönliche Sekretärin übernommen worden. Und seit dieser Zeit waren Agnes Weber und Alfred Dornbacher befreundet – irgendwie. Sie waren immer bei der förmlichen Anrede geblieben, aber gingen im Laufe der Jahre miteinander um wie ein altes Ehepaar. Scherzhaft meinte Frau Weber manchmal, dass sie wohl mal gemeinsam im Altersheim landen würden. Sie hatte ebenso einen irgendwie gestalteten Arbeitsvertrag vom alten Chef bekommen, der ihre Beschäftigung garantierte, aber mehr wusste Dornbacher nicht. Jedenfalls war sie es, die ihm mehrere Wochen vor seinem 40jährigen Jubiläum verriet, was Sache war. Zufällig hatte sie es mitbekommen, als die zuständigen Leute darüber sprachen. Dass sie mit im Raum war, störte die Herren nicht; sie wurde ebenso nebenbei wahrgenommen wie die alte, staubige Yuccapalme im Eck. Als sie Dornbacher erzählte, was sie gehört hatte, fiel er aus allen Wolken.
Als Techniker waren ihm juristische Dinge, Verträge, schriftliche Vereinbarungen immer nur lästig gewesen. Und so war ihm gar nicht bewusst, dass Patente nur eine Geltungsdauer von 20 Jahren haben. Die Rechte auf seine Erfindung würden genau am Tage seines Jubiläums erlöschen, und die Firma konnte weiterproduzieren, ohne auf ihn Rücksicht nehmen zu müssen. Und, so erzählte Frau Weber weiter, seine Entlassungspapiere würde er am nächsten Tag auf dem Tisch haben. Knallhart. Mit 58 Jahren würde er auf der Strasse stehen.
Ilse Weber hatte ihm mitfühlend über den Arm gestrichen und gesagt:
"Tut mir sehr leid, Herr … tut mir leid, Alfred."
"Danke … Ilse. Bleiben wir beim 'Du'?"
"Ja, sehr gerne, Alfred."
"Okay. Ich muss nachdenken."
Alfred Dornbacher sah auf seine Swatch. Punkt 10 Uhr.
Er atmete tief durch, spürte das Pochen an den Schläfen und stürzte in die Kantine hinein. Dabei warf er mehrere Stühle um und stieß wütende Beschimpfungen aus, bis er die wie blöde Schafe glotzenden Jubiläumsgäste erreichte. Mit beiden Händen griff er in die Häppchenplatte und bewarf die Kollegen mit Wurst- und Käseschnittchen. Dann griff er sich eine Sektflasche, presste den Daumen auf die Öffnung, schüttelte kurz und bespritzte die wie gelähmt dastehende Bande an Heuchlern im Stil des Siegers eines Formel-1-Rennens. Kreischend wandten sich die Frauen ab, und die Männer starrten schockiert auf ihre tropfenden Business-Anzüge. Als Dornbacher an der Tischkante die Flasche zerschlug und mit dem abgebrochenen Hals brüllend auf sie zuging, ergriffen sie wie Hasen die Flucht. Nur Abteilungsleiter Haase stand noch wie eine Wachsfigur mit offenem Mund da. Dornbacher stopfte ihm ein Häppchen hinein, drehte ihn um seine Achse und beförderte ihn mit einem Tritt in den Allerwertesten in Richtung Küche. Zum Finale warf er noch das Geschenkpäckchen in hohem Bogen Richtung Theke, wo es blubbernd in einem Topf Gulasch versank. Endlich tänzelte er pfeifend Richtung Ausgang, wo er sich in der Realität wiederfand.
Noch mal blickte er auf die Uhr. Ja, so ein Auftritt wäre schön und befreiend gewesen, aber auch dumm. Wie sagen noch mal die Klingonen? 'Rache ist ein Gericht, das am besten kalt serviert wird.' Also marschierte er gemächlich zur Festtafel, schüttelte schlaffe, feuchte Hände, bedankte sich artig und ließ Haases Gesülze mit freundlicher Miene über sich ergehen.
Drei Jahre später, San Sebastián de la Gomera.
Alfred Dornbacher schlug den Wirtschaftsteil der Zeitung auf, las einen Artikel und lachte laut auf.
MMI insolvent. Die Firma Matzeler Metal Industries – MMI - hat Konkurs angemeldet. Das ehemals erfolgreich geführte Familienunternehmen wechselte in der Vergangenheit mehrfach den Besitzer und war zuletzt von einer chinesischen Investorengruppe übernommen worden. Die betriebswirtschaftliche Situation war seitdem von starken Schwankungen geprägt, da die neu entwickelten Produkte sich auf dem Markt nicht durchsetzen konnten. Einziges Standbein war zuletzt die Produktion einer Exzenterpumpe, mit der MMI Weltmarktführer bei Erdölpumpen war. Vor zwei Jahren lief das Patent aus, und der schärfste Konkurrent, PetroPump Inc. begann sofort, die erfolgreiche Konstruktion zu kopieren. Hauptursache der Insolvenz von MMI allerdings ist, dass genau zu diesem Zeitpunkt alle von der Firma ausgelieferten Pumpen nach kurzer Zeit versagten und eine Ursache bis heute nicht gefunden wurde. Softwarefehler der Fertigungsroboter wies der Hersteller, die Firma KUKA, von sich. Auch die Hardware sei fehlerfrei. Eine abschließende Erklärung konnten zahllose Gutachten nicht finden, sodass nach Ablauf des Verfahrens MMI wohl der Vergangenheit angehören wird.
Alfred Dornbacher legte die Zeitung beiseite, winkte dem Camarero und bestellte eine Flasche Castillo Perelada.
"Software, hardware", murmelte er dann grinsend. "In der Technik gibt es auch noch andere Möglichkeiten, die Produktion zu sabotieren, ihr Pfeifen!" Dann fiel ihm ein, dass jetzt wohl auch Ilse Weber arbeitslos werden würde. Er beschloss, sie anzurufen.
Das Geld, das ihm PetroPump Ltd. für seine kleine, aber geniale und nicht nachweisbare Manipulation auf ein Nummernkonto in der Schweiz überwiesen hatte, würde für sie beide weit über die Option 'Altersheim' hinaus reichen…
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Tag der Veröffentlichung: 18.03.2017
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